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Im gebirgigen Südwesten Chinas verlassen fünfzehn asiatische Elefanten ihr Revier und beginnen eine Wanderung nach Norden. Niemand weiß, wohin die Tiere unterwegs sind. Die Bilder der wandernden Giganten gehen um die Welt. Die anfängliche Faszination schlägt in Entsetzen um, als die Elefanten auf ihrer Route Häuser zerstören und Menschen angreifen. Der schwedische Zoologe Peter Danielsson erkennt darin ein Alarmzeichen, doch seine Warnungen bleiben ungehört. Stattdessen wird eine Großwildjagd organisiert, um dem Spuk ein Ende zu machen. Bis plötzlich überall auf der Welt Tiere beginnen, sich bedrohlich zu verhalten ...
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Seitenzahl: 530
Veröffentlichungsjahr: 2025
Im gebirgigen Südwesten Chinas verlassen fünfzehn asiatische Elefanten ihr Revier und beginnen eine Wanderung nach Norden. Niemand weiß, wohin die Tiere unterwegs sind. Die Bilder der wandernden Giganten gehen um die Welt. Die anfängliche Faszination schlägt in Entsetzen um, als die Elefanten auf ihrer Route Häuser zerstören und Menschen angreifen. Der schwedische Zoologe Peter Danielson erkennt darin ein Alarmzeichen, doch seine Warnungen bleiben ungehört. Stattdessen wird eine Großwildjagd organisiert, um dem Spuk ein Ende zu machen. Bis plötzlich überall auf der Welt Tiere beginnen, sich bedrohlich zu verhalten …
Thilo Winter ist ein deutscher Schriftsteller und Wissenschaftsjournalist. Seine Reportagen berichten über den Einsatz von Gentechnik in der Archäologie, über die Anpassung von Tieren an die Welt der Menschen und über die Suche nach den ältesten Bakterien der Erde. Winter arbeitet u.a. für SPIEGEL GESCHICHTE, BILD DER WISSENSCHAFT und SPEKRUM DER WISSENSCHAFT. Er studierte Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Ethnologie.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2025 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: René Stein, Kusterdingen
Umschlaggestaltung: Kristin Pang
Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock.com: Volodymyr Burdiak | Vandathai
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-6115-4
luebbe.de
lesejury.de
Der Tag, an dem das Dorf Shuanxi zerstört wurde, begann mit einem Fest.
Shenmi trat aus dem Haus, um die Laterne über der Tür anzuzünden. Sie war die Letzte, die anderen Dorfbewohner hatten ihre Lichter schon Stunden zuvor aufgesteckt, da war es noch gar nicht richtig dunkel gewesen; einige hatten sogar schon am Morgen mit den Vorbereitungen für das Mondfest begonnen. Dabei war es doch dazu da, den aufgehenden Vollmond in diesem September willkommen zu heißen, ihn mit den Laternen anzulocken, damit er sein Licht über den Feldern ausgoss. Nur der vom Mondlicht gesegnete Reis versprach eine gute Ernte.
Shenmi lächelte. Sie konnte die Ungeduld der Bauern verstehen. Immerhin lag das letzte Mondfest schon vier Jahre zurück – Jahre, in denen es so wenig geregnet hatte wie nie zuvor in der Provinz Yunnan. Die Reispflanzen waren verkümmert. Wegen der Dürre und Missernten hatten drei der neun Familien aus Shuanxi inzwischen aufgegeben, hatten ihre Höfe verlassen und waren nach Kunming gezogen, um sich in der Stadt als Tagelöhner zu verdingen. Die anderen hatten durchgehalten, darunter Shenmi und ihr Vater, und in diesem Jahr war ihre Hartnäckigkeit belohnt worden.
Der Regen war zurückgekehrt. So viel Wasser war auf die Felder gefallen, dass man meinen konnte, die Natur wollte in kürzester Zeit nachholen, was sie zuvor versäumt hatte. Auf den Terrassen, die an den Hängen der Hügel angelegt waren, leuchtete der Reis in Smaragdgrün. Der Regen lief über die Ränder der Geländestufen und verwandelte das Land in ein Wasserspiel.
Jetzt hing der Himmel voller Kürbisse. Gelb, rot und rund schmückten Laternen die einzige Straße im Dorf. Auf das Seidenpapier waren schwarze Drachen getuscht, die Beherrscher des Wassers, und mit kunstvollen Schriftzeichen der Name des Ortes. Shuanxi bedeutete »doppeltes Glück«.
Shenmi holte die Schachtel mit den Zündhölzern unter ihrer Schärpe hervor. Mit einem letzten Blick zum Himmel vergewisserte sie sich, dass es an diesem Abend keinen Regen geben würde, dass kein Guss die Lichter würde verlöschen lassen. Merkwürdig: Erst wünschte man sich das Wasser herbei, dann hoffte man darauf, dass es trocken blieb. Sie schüttelte den Kopf. Der Mensch ist ein merkwürdiges Tier.
Ein Schrei ließ Shenmi innehalten. Sie legte den Kopf schief und lauschte. Irgendetwas streunte durch die Nacht. Allerdings hatte sie in ihren siebzehn Lebensjahren noch nie ein Tier so rufen hören, weder die Stumpfnasenaffen noch die Schwarzhalskraniche klangen so, auch nicht der Kleine Panda, wenn er nach einer Partnerin suchte. Shenmi wartete, aber der Laut wiederholte sich nicht.
Sie riss das Zündholz an, hütete die kleine Flamme in der hohlen Hand und reckte sich, um das Licht in der Laterne zu entfachen, doch sie reichte nicht an den Docht heran. Selbst wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte und das Zündholz am äußersten Ende hielt, fehlte eine Handbreit. Shenmi presste die Lippen zusammen. Sie war klein und leicht, ihre Füße von der Landarbeit kräftig. Eine ganze Weile konnte sie auf den Zehen balancieren, dabei sogar ein wenig hüpfen. Die Laterne mit der Kerze hing trotzdem zu weit oben.
Das Zündholz erlosch. Shenmi sank auf die Fersen zurück und stieß die Luft aus. Wie um sie zu verhöhnen, erklang Musik aus der Versammlungshalle, dem größten Gebäude des Dorfes. Nun würde sie zu spät kommen. Wäre sie doch nicht so vorsichtig gewesen! Es gab keinen Regen. Der Vollmond schien ihr ins Gesicht. Es war ihr, als spürte sie sein Licht auf den Wangen und der Stirn. Komm, schien er ihr zuzurufen, singe, tanze, iss und trinke.
Das wollte sie ja! Aber nicht, bevor die Laterne vor ihrem Haus leuchtete.
Eine Brise kam auf. Die roten und gelben Lichter entlang der Straße schaukelten – die Drachen tanzten im Takt der Musik. Der Rhythmus von Trommeln war von der Versammlungshalle her zu hören, dazu erklang die aufpeitschende Melodie einer Bambusflöte. Mehrere Menschen im Dorf spielten dieses traditionelle Instrument, aber Shenmi erkannte den Stil ihres Vaters sofort. Niemand spielte die Shakuhachi so wie er.
Sie seufzte. Ihrem Vater wäre es leichtgefallen, das Licht über der Tür zu entzünden. Er war hochgewachsen und hatte die Laterne ohne große Mühe dort angebracht, aber Shenmi hatte ihn fortgeschickt, und nun war auch die Gelegenheit verstrichen, ihn aus der Halle zu holen.
Pah! Sie würde es auch ohne ihn schaffen! Sorgte sie nicht für ihn und den Haushalt, seit ihre Mutter vor acht Jahren gestorben war? Dabei half ihr schließlich auch keiner. Also zog sie das nächste Zündholz aus der Schachtel und sprach ein kleines Gebet darüber. Dann warf sie einen finsteren Blick zur Laterne hinauf. Wenn es ihr jetzt nicht gelang, würde sie … würde sie … Was konnte sie schon tun? Sie war nur ein Hani-Bauernmädchen.
Es fiel Shenmi schwer, die Haarnadel aus ihrer kunstvoll gesteckten Frisur zu ziehen. Eine Stunde hatte sie vor dem Spiegel verbracht, um ihr kräftiges schwarzes Haar zu drei perfekten Knoten zu winden – in solchen Momenten vermisste sie ihre Mutter besonders. Wohl oder übel musste sie ihren Kopfschmuck opfern. Sie riss sich ein Haar aus und band damit das Zündholz an die Haarnadel. Dann entzündete sie es, hielt die Konstruktion in die Höhe und stellte befriedigt fest, dass sie den Docht der Kerze mit diesem Trick erreichen konnte.
Im nächsten Moment wurde sie an den Hüften gepackt und in die Höhe gehoben. Die Flamme stieß gegen die Laterne, das Zündholz stach durch das Seidenpapier und setzte es in Brand.
»Loslassen!«, rief sie. Noch bevor ihre Füße den Boden berührten, wusste sie, wer sie da rücklings überfallen hatte. Sie fuhr herum. »Hani Tao!« Die Empörung in ihrer Stimme war so hell und voll wie der Mond. »Was fällt dir ein? Schau, was du angerichtet hast!«
Zwischen ihr und dem jungen Mann schwebten glühende Papierfetzen zu Boden. Shenmi trat sie aus. So böse, wie sie es mit ihrem rundlichen Gesicht vermochte, funkelte sie ihr Gegenüber an. Tao war groß, so groß, dass er den Kopf beugen musste, wenn er eines der Häuser betrat. Niemand sonst im Dorf hatte so breite Schultern und so große Hände. Dennoch hatte Shenmi keine Mühe, jetzt Taos Finger von ihrer Taille zu streifen. Mehr Anstrengung kostete es sie, nicht die Beherrschung zu verlieren, als sie Taos Lächeln sah. Seine Zähne blitzten im Mondlicht, und seine tiefen braunen Augen funkelten freudig und erwartungsvoll.
»Heute ist Mondfest«, sagte er mit Bestimmtheit und klang dabei so, als halte er sich für den Erfinder des Fests, vielleicht sogar für den Vater des Mondes selbst.
Shenmi wusste, worauf Tao hinauswollte, doch sie beschloss, nicht darauf einzugehen. Sie wich einen Schritt zurück und zeigte auf die verkohlten und zertretenen Papierfetzen. »Wie soll ich denn nun die Drachen ehren?«
Er schaute zu dem Drahtgeflecht über der Tür, lediglich ein Gerippe war von der Laterne übrig geblieben. »Ich wollte dir doch nur helfen, das Licht anzuzünden. Du sahst so klein und hilflos aus.«
»Ich brauche deine Hilfe nicht, Hani Tao. Und das Mondfest ist für mich vorbei.«
Ihre Worte wischten das Lächeln aus seinem Gesicht. »Vorbei? Aber wir waren doch verabredet.«
Seine Enttäuschung drang durch ihren Zorn und versetzte ihr einen Stich. Seit Jahren, seit sie Kinder waren, wurde sie von Tao umworben. Bei den Hani-Bauern war es üblich, dass sich junge Paare während des Mondfestes verlobten. Nach altem Glauben übertrug sich dann die Fruchtbarkeit der Felder auf die Braut und versprach reichen Kindersegen. In den vergangenen Jahren hatte Shenmi Tao hingehalten, hatte angeführt, dass ihre Verbindung unter keinem guten Stern stehe, wenn es keinen Regen gab, wenn der Reis nicht wuchs. Erst dann, wenn die Drachen zurückkehrten, werde es so weit sein. Und das war nun der Fall.
Ein flaues Gefühl breitete sich in ihr aus. Angst. Vor einer Veränderung in ihrem Leben. Davor, was der riesige Tao mit ihr anstellen mochte. Davor, dass sie sich fortan um zwei Männer würde kümmern müssen – und in der Folge auch noch um Kinder. Der Gedanke ließ sie erschauern. Andererseits war das der Weg, den jedes Hani-Mädchen ging. Ihre Mutter hatte ihn beschritten und ihre Großmutter, ihre Nachbarinnen und die Frauen in den umliegenden Dörfern. Shenmi war sich ihrer Pflicht bewusst. Außerdem gab Tao einen ganz passablen Gatten ab. Er trank nicht, war gut zu seinem Vieh und arbeitete hart.
Sie schaute ihn lange an. Sie konnte dafür sorgen, dass er sich davonschlich wie ein geprügelter Hund. Das wäre so leicht. Shenmi scharrte mit den Zehen durch die Reste des Seidenpapiers. »Triff mich nach dem Tanz im Reisfeld meines Vaters. Beim Schrein des Jadekaisers.« Das Lächeln kehrte auf Taos Gesicht zurück. Shenmi zögerte. Hatte sie es ihm zu leicht gemacht? Das ließ sich ändern. »Bis dahin sorgst du für eine neue Laterne, ich erwarte nichts weniger als die größte und schönste des Dorfes.« Damit ließ sie ihn stehen und lief auf die Versammlungshalle zu. Die Musik klang verführerisch. Shenmi wollte tanzen.
*
In diesem Jahr feierten die Bewohner von Shuanxi, als wären sie selbst die Drachen. Jedenfalls konnte sich Shenmi an kein Mondfest erinnern, bei dem die Stimmung so ausgelassen gewesen war und sogar die alte Helian Cui mit dem Gehstock den Takt zur Musik geklopft hatte – ihre miesepetrige Miene legte sie dabei allerdings nicht ab. Shenmi ließ sich von den Klängen davontragen. Sie tanzte mit jedem Mann des Dorfes, und als der letzte von ihnen sie küssen wollte, erinnerte sie sich an Tao. Mittlerweile durfte er genug Zeit für seine Aufgabe gehabt haben. Nun würde sich zeigen, ob er es ernst mit ihr meinte. Sie gab vor, einen Moment verschnaufen zu wollen, und löste sich von der tanzenden Menge.
Die Gelegenheit zu verschwinden kam, als die jungen Männer damit begannen, das Dach abzudecken, um das Mondlicht hereinzulassen. Das Ritual war Teil des Mondfestes. Alle schauten gebannt zur Decke der Halle hinauf und applaudierten jedes Mal, wenn ein Büschel Stroh zu Boden segelte. Die Frauen löschten die Lichter, damit das Mondlicht seine Wirkung besser entfalten konnte. Shenmi schnappte sich zwei Mondkuchen und schlüpfte durch die Tür ins Freie.
Tatsächlich hing über der Tür ihres Hauses eine neue Laterne. Sie war größer als die alte, schöner war sie allerdings nicht. Der Drache darauf war von zittriger Hand gezeichnet und glich eher einem Huhn. Statt des Dorfnamens hatte Tao ihrer beider Vornamen auf das Seidenpapier gemalt. Die Laterne schwang im Wind, und als das Huhn tanzte, musste Shenmi lachen.
Da hörte sie den Schrei. Es war derselbe wie zuvor, aber kräftiger diesmal, näher. Der Laut explodierte in der Nacht. Bestimmt war es der Schrei eines Tiers, trotzdem klang er nicht wild wie etwa der Ruf des Schneeleoparden, den Shenmi bei einer Wanderung in den Bergen einmal gehört hatte. Dieser Ruf klang wie ein Befehl. Aber von wem? Und wer sollte das Kommando befolgen? Shenmi schmeckte etwas Metallisches auf der Zunge, die Luft schien sich elektrisch aufgeladen zu haben.
Sie warf einen Blick zurück zur Versammlungshalle, dort zeigte sich niemand; entweder hatten die anderen den Schrei nicht gehört, oder sie maßen ihm keine Bedeutung bei. Vermutlich wussten die Alten, welches seltene Tier so rief. Kurz überlegte Shenmi, ob sie zum Fest zurückkehren sollte, dann entschied sie sich dagegen. Wenn sie Tao noch länger warten ließ, würde er sich vielleicht von ihr abwenden. Und so viele Männer in ihrem Alter gab es im Dorf nicht.
Shenmi lief die unbefestigte Straße Richtung Süden aus dem Dorf hinaus, ließ die letzten Häuser hinter sich, huschte an den Scheunen vorbei. Das Mondlicht modellierte die Pflüge aus der Dunkelheit heraus, an den Karren lehnten Reisstampfer und Bambusdämpfer, die tiefen Atemzüge der Ochsen waren zu hören. Vielleicht hatten die Zugtiere geschrien, vielleicht hatte ihnen der Vollmond einen Traum von Freiheit eingeflüstert. Gewiss gab es eine Erklärung. Sich zu fürchten, an einem Abend wie diesem, war töricht. Mit einem Mal fühlte sich Shenmi, als würde sie noch immer tanzen, aus dem Dorf heraus, in ein neues Leben. Mit Tao. Vielleicht.
Von Shuanxi aus war es einfach, die Reisterrassen zu erreichen, denn das Dorf lag auf der Kuppe eines Hügels, und die Felder erstreckten sich unterhalb an den Hängen. Shenmi lief den Plankenpfad entlang, die Blätter der Reispflanzen raschelten in der Brise. Sie zog die Schuhe aus und tappte barfuß durch den Reis, das kühle Wasser umschmeichelte ihre Fesseln. Der Geruch von nasser Erde und reifen Pflanzen lag in der Luft, mischte sich mit dem von blühenden Wildblumen, die an den Rändern der Felder wuchsen. Das Aroma war so einladend, dass Shenmi am liebsten die ganze Nacht zwischen den Reispflanzen herumgelaufen wäre. Sie war sicher, dass der Mond auf sie herablächelte.
Beim Schrein des Jadekaisers hielt sie inne. Das kleine Bauwerk erhob sich auf einem Felssockel am Rand der dritten Terrasse. Es war an einer Stelle errichtet, wo die Felder in die ungebändigte Natur übergingen, und hatte die Aufgabe, zwischen den Geistern beider Welten zu vermitteln.
Die Gittertür des Schreins war geschlossen, und Tao war nirgendwo zu sehen. Er hatte sich doch nicht etwa davongemacht? Das lidlose Auge des Mondes stand am Himmel und schien Shenmi direkt anzusehen.
»Tao?« Shenmi flüsterte. Irgendetwas hielt sie davon ab, die Stimme zu erheben.
Ein Rascheln ließ sie zusammenfahren. Das Geräusch war vom Saum der Felder gekommen, von dort, wo der lichte Wald begann. Sie hielt sich eine Hand gegen die Brust, um ihr schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Ihre Lippen formten Taos Namen, doch kein Laut drang aus ihrem Mund. Sie trat ganz dicht an den Schrein heran, um sich in seinem Schatten zu verstecken.
Sie schrie auf, als sich Arme um ihren Leib schlangen. Tao zog sie an sich. »Da bist du ja endlich«, keuchte er in ihr Ohr. »Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.«
»Vielleicht wäre das besser gewesen.« Shenmi versuchte, zu Atem zu kommen. »So wie du mit mir umspringst.«
Augenblicklich lockerte sich sein Griff, aber die Hände blieben, wo sie waren. »Hast du die Laterne gesehen? Hat sie dir gefallen?«, fragte Tao. Sein warmer Atem roch nach bitterem Baijiu. Er hatte sich Mut angetrunken.
»Die Laterne ist groß«, erwiderte Shenmi, »und hässlich. Genau wie du.« Sie konnte nicht anders, sie musste lachen.
Tao stimmte ein. Dann sagte er: »Willst du die Laterne meines Lebens sein?«
Diesmal blieb Shenmi das Herz beinahe stehen. »Deine Komplimente sind genauso ungelenk wie du selbst«, protestierte sie und hoffte, dass er nicht hörte, wie hingerissen sie von ihm war.
Sein Gesicht kam näher. Das Mondlicht tanzte auf seiner Nasenspitze. Sie legte die Hände gegen seine Wangen, raue fleischige Wangen, auf denen frische Bartstoppeln zu spüren waren.
Etwas raschelte im Wald. Ein dumpfes Klopfen war zu hören. Holz splitterte.
Shenmi erstarrte. Taos Lippen trafen auf ihren Mund, aber sie erwiderte den Kuss nicht, stattdessen schob sie ihn weg. »Was war das?«
»Irgendein Tier. Ein Nachtvogel, der die Affen aufscheucht. Komm her!« Er packte sie an der Taille, so wie vorhin im Dorf, hob sie hoch wie ein Blatt Papier und presste sie gegen den Schrein. Dann stemmte er die Hände rechts und links von ihrem Kopf gegen die Wand.
Sie konnte nicht mehr weg, ob sie wollte oder nicht. Aber sie wollte keinen Augenblick länger hierbleiben. »Lass uns verschwinden«, sagte sie. »Hier treibt sich etwas in der Nähe herum. Oder jemand. Hast du vorhin die Schreie gehört?«
»Das waren Feng und Nong E. Die beiden haben sich auf der Terrasse über uns verabredet. Ich kann noch viel lauter schreien. Du musst mir nur einen Grund geben.«
Shenmi versuchte, einen von Taos Armen beiseitezuschieben, doch seine Hand war scheinbar mit den Ziegelsteinen verwachsen.
Er beugte sich vor und brachte seine Lippen neben ihr Ohr, so dicht, dass er mit seinem Kinn ihr Ohrläppchen berührte. »Hab keine Angst, Shenmi«, flüsterte er. Sein Atem, den sie vorhin noch als warm und aromatisch empfunden hatte, stank nach Schnaps. Die Wärme seines Körpers verwandelte sich in einen Glutofen, der ihr den Schweiß aus den Poren trieb.
»Aber da ist etwas im Wald.« Ihr gefiel das Flehen in ihrer Stimme nicht, aber sie konnte es nicht unterdrücken.
»Jaja. Ich werde dich beschützen«, raunte Tao. Seine Stimme war noch tiefer geworden. Er legte eine Hand auf ihre linke Brust und biss in ihren Hals, dass sie zusammenzuckte. Dann presste er sich mit seinem großen schweren Körper an sie.
Jetzt wünschte sich Shenmi, dass der Schrei von vorhin noch einmal erklingen würde. Er würde Tao zur Besinnung bringen, würde ihm beweisen, dass sie allen Grund hatte, furchtsam zu sein. Was hier geschah, war falsch. Alles in ihrem Körper sträubte sich dagegen, von Tao festgehalten zu werden. Sie wollte davonlaufen.
Ein Zischen erklang, gefolgt von einem Platschen. Es hörte sich an, als habe jemand einen schweren Stein aus großer Höhe in den Reis herabfallen lassen. Shenmi lugte über Taos Schultern hinweg, da war ein Schatten, der die Nacht verdunkelte. Er wuchs und wuchs, schließlich verdeckte er den Mond und saugte dessen Licht in sich auf.
»Tao!«, schrie sie.
Er löste sich abrupt von ihr. »Was ist denn? Stell dich nicht so an. Ich habe dein Spielchen mit der Laterne mitgemacht, und zum Dank führst du dich auf wie ein kleines Mädchen. Du …«
Dass er plötzlich verstummte, lag vermutlich an dem Entsetzen in Shenmis Blick. Tao fuhr herum, dann sah er, was sie so in Angst versetzte.
Im nächsten Moment rannte er los. Seine Füße klatschten auf das Wasser, als er den Hang hinaufjagte. »Die Drachen«, rief er in Richtung der Häuser. »Die Drachen sind gekommen.« Das Dorf antwortete mit dem Klang niemals enden wollender Musik.
Shenmi nahm Taos Flucht nur am Rand ihres Bewusstseins wahr. Zwar wurde sie nicht länger von dem schweren Leib des jungen Mannes gegen den Schrein gedrückt, rühren konnte sie sich trotzdem nicht.
Der Schatten ragte über dem Reisfeld auf. Er war so hoch wie ein Haus – und er hatte Flügel. Sie flappten an den Umrissen seiner undeutlich zu erkennenden Gestalt. Dann schoben sich Wolken vor den Mond.
Waren wirklich die Drachen gekommen? Shenmi fühlte sich der Tradition und dem alten Glauben verbunden, aber dass es tatsächlich Drachen gab, daran hatte sie nie richtig geglaubt. Da erkannte sie, dass hinter dem Schatten, der auf sie zukam, weitere folgten. Das Krachen und Splittern im Wald kehrte zurück. Jetzt waren auch die Affen zu hören, ihre Schreie hallten durch die Nacht. Es war zwar dunkel, aber für die Natur war die Nacht zum Tag geworden. Die Welt stand kopf.
Der vordere Schatten trat auf Shenmi zu, die anderen setzten nach. Mit jedem Schritt bebte die Erde, und der Gong im Schrein vibrierte durch die Erschütterung. Nun war sie doch davon überzeugt, dass etwas Übernatürliches vor sich ging. Sie sank auf die Knie und begann zu beten.
Auf einmal stieg ihr ein bekannter Geruch in die Nase, eine Mischung aus Gras, Staub und Dung. Das Aroma erinnerte sie an die Ausdünstungen der Ochsen im Stall an einem heißen Tag. Den Duft von Drachen hatte sich Shenmi anders vorgestellt, viel edler und mit einer Note von Feuer und Rauch.
Als sich der Mond wieder durch die Wolken stahl, erkannte sie, dass eine Herde Elefanten auf sie zutrottete. Die Augen der großen Tiere blitzten im silbrigen Licht, die Stoßzähne glänzten, und die Rüssel strichen durch den Reis und verursachten jenes zischende Geräusch, das sie vorhin gehört hatte. Nun war zudem ein tiefes Rumpeln zu hören.
Ihr Erschrecken verwandelte sich in Erstaunen. Es gab keine Elefanten in diesem Teil von Yunnan – ebenso wenig wie Drachen. Mit zitternder Hand tastete Shenmi nach etwas, mit dem sie sich wehren konnte, einem Stock oder Stein, aber ihre Finger glitten nur über glatten Fels.
Zum Davonlaufen war es zu spät. Das Leittier hatte den Schrein erreicht. Der Elefant stapfte so nah an Shenmi vorbei, dass sie ihn mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können. Sie hielt den Atem an und schaute zu der majestätischen Gestalt auf. Wie zuvor die Wolken verdunkelte jetzt der Leib des Tiers den Mond. Und mit einem Mal wusste Shenmi, dass die Elefanten nicht Weisheit und Glück brachten, wie es allgemein angenommen wurde, sondern Unheil und Zerstörung.
Es dauerte eine Weile, bis die Herde an dem Schrein vorbeigezogen war, und Shenmi schaute den massigen Körpern hinterher. Sie hielten nicht an, um die Felder zu plündern, sie zogen den Hügel hinauf wie ein träger Sturm und hielten auf Shuanxi zu.
Peter
Was für ein Theater! Die Kameras klickten, und die Blitzlichter flackerten. Dabei wusste jeder, dass moderne Kameras keine mechanischen Geräusche von sich gaben und dass die Lichtempfindlichkeit digitaler Technik so hoch war, dass Fotografen kaum noch Blitzgeräte benötigten. Schon gar nicht an einem sonnigen Spätsommermorgen im Freien.
Aber so lief es halt, wenn die chinesische Regierung – und sei es nur die Provinzregierung von Yunnan – zu einem offiziellen Termin einlud. Diese Leute wollten den ganzen Zirkus, die volle Aufmerksamkeit, das komplette Programm. Sie wollten, dass alle Welt zusah und staunte.
Das würden sie bekommen! Peter würde schon dafür sorgen, dass es was zum Staunen gab. Nur ahnten die Chinesen noch nichts davon. So ruhig, wie es ihm möglich war, ging er auf die Absperrung zu und reihte sich in die Schlange der Wartenden ein, holte den Ausweis hervor und betrachtete ihn. Der Mann auf dem Foto sah beinahe aus wie er selbst. Helle Haut. Ein eigensinniger Zug lag um seinen Mund. Die kupferfarbenen Augen strahlten Intelligenz aus – und Ungeduld mit dem Fotografen. Das sandfarbene Haar war kurz geschnitten und zu einem Scheitel gekämmt. Es war Peters Vater, der ihm von dem Foto entgegenblickte, aber ebenso hätte er einen kleinen Spiegel in der Hand halten können.
Peter hatte sich unter dem Namen Abel Söneland in die Gästeliste eintragen lassen. Den Ausweis, einen Führerschein, hatte er sich von seinem alten Herrn geliehen, ohne dessen Wissen. Vater und Sohn verband eine starke Ähnlichkeit, der Altersunterschied war nur erkennbar, wenn sie nebeneinanderstanden. Was nicht mehr häufig vorkam.
Um der Ähnlichkeit willen hatte Peter sich den kleinen Zopf abgeschnitten, den er sonst im Nacken trug. Die Brille mit dem schwarzen Rand hatte er nicht auswechseln müssen. Vielleicht, das gestand Peter sich schweren Herzens ein, hatten er und Abel auch denselben Geschmack.
Peter rieb mit dem Daumen über das Bild. Wenn sein Vater von diesem Missbrauch erfuhr, würde es das ohnehin zerrüttete Verhältnis der beiden Männer vollends zerstören. Aber hier ging es nicht darum, die kümmerliche Bande einer schwedischen Familie zusammenzuhalten, hier ging es um etwas viel Größeres.
Mit der Schlange rückte er langsam nach vorn. Die Septembersonne brannte auf sein dichtes Haar. Er war schlaksig und hochgewachsen, deshalb fiel es ihm nicht schwer, über die vor ihm wartenden Chinesen hinwegzublicken. An der Absperrung kontrollierten zwei Männer in dunklen Anzügen die Zugangskarten, Presseausweise und was man ihnen sonst noch unter die Nase hielt. Weiter vorn, am Flussufer, flammte das Blitzlichtgewitter mit unverminderter Heftigkeit auf. Die Honoratioren und Wissenschaftler, die das Staudammprojekt vorstellen würden, das sie »Drachenmauer« nannten, standen in einer Reihe vor einem Podium. Sie lächelten so dauerhaft in die Kameras, dass Peter schon vom Zusehen Lippenkrämpfe bekam.
Sein Telefon klingelte. Er griff hinter sich und zog den Apparat aus der Seitentasche des Lederrucksacks, ohne diesen von den Schultern zu nehmen. Seine Arme waren lang, er hatte dieses Merkmal von seiner Mutter geerbt. Affenarme hatte sein Vater sie immer genannt und mit seinem beißenden Zynismus angefügt, dass Peter damit wohl besser im Wald leben sollte. Dass sein Sohn einmal Zoologe werden und tatsächlich so viel Zeit wie möglich in der freien Natur zubringen würde, hatte sich Abel Söneland, der berühmte Archäologe, wohl nicht träumen lassen.
Peter schaute auf das Display. Das gab es doch nicht! Ausgerechnet in diesem Augenblick rief sein Vater an! Sein Daumen schwebte über der roten Taste, dann überlegte er es sich anders und tippte auf die grüne. »Danielsson.« Er wusste, dass es seinen Vater auf die Palme brachte, wenn er sich mit dem Mädchennamen seiner Mutter meldete. Nach ihrem Tod hatten sich die beiden Männer so gestritten, dass Peter die Namensänderung im Einwohnermeldeamt von Stockholm beantragt und seinem Vater eine Kopie der Meldebescheinigung per Post geschickt hatte.
»Wo steckst du?« Abels Stimme klang so nah, als stände er direkt neben Peter. Ein Grund mehr, auf moderne Kommunikationsmittel zu verzichten.
»In Kunming«, gab Peter zurück. »Das hatte ich dir doch geschrieben.« Also gut, die digitale Technik hatte auch Vorteile. Immerhin konnte er sich mit seinem Vater schriftlich austauschen und musste nicht mehr so oft mit ihm sprechen.
»Kunming? Das liegt in China.«
Die Schlange rückte ein Stück weiter vor. Die Blitzlichter erloschen. Die Leute vor dem Podium schüttelten sich die Hände.
»Du kennst dich aus, Papsen. Dann weißt du bestimmt auch noch, dass ich einer der wenigen Experten weltweit für die Erforschung und Rettung der Zwerggans bin. Und einige der wenigen noch lebenden Exemplare überwintern nun mal in China.«
»Red keinen Unsinn. Erledige, was du da unten zu erledigen hast, und dann such dir schleunigst einen Flug nach Teotihuacán. Ich brauche deine Hilfe.«
Vor Überraschung blieb Peter die Sprache weg. Sein Vater bat ihn um Hilfe? Was wollte der alte Archäologe von ihm? »Teotihuacán? Das liegt in Mexiko.« Zu spät fiel ihm auf, dass er genauso redete wie Abel.
»Ich erklär dir alles, wenn du hier ankommst. Ich habe ein Zimmer in meinem Hotel für dich gebucht. Reserviert ab morgen. Für Verpflegung zahlst du selbst.«
»Aber …« Peter musste nicht auf das Display schauen, um zu wissen, dass sein Vater die Verbindung unterbrochen hatte. Er drückte die Rückruftaste, doch Abel ging nicht ran. Natürlich nicht!
Ihm blieb keine Zeit sich aufzuregen, denn jetzt ging es ein gutes Stück vorwärts, und ehe er es sich versah, stand er vor den Kontrolleuren. Die beiden Chinesen lächelten ihm freundlich zu und verbeugten sich, ihr Körperumfang und die Muskeln, die ihre Jacketts an Schultern und Armen ausbeulten, ließen keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie niemanden einlassen würden, der dazu nicht berechtigt war.
»Ihre Einladung, bitte«, sagte der linke Sicherheitsmann auf Englisch, während der rechte eine Hand ausstreckte, um das gewünschte Dokument in Empfang zu nehmen.
Peter reichte ihm den Ausweis. »Abel Söneland«, sagte er und zeigte dasselbe ungeduldige Gesicht wie sein Vater auf dem Passbild.
Der rechte Sicherheitsmann schüttelte den Kopf. »Ihre Einladung, Sir«, wiederholte er.
Hinter sich hörte Peter das Scharren von Schuhsohlen. »Ich bin Abel Söneland.« Natürlich kannte der Mann den Namen des schwedischen Archäologen nicht, dazu war er zu jung. Aber damit hatte Peter gerechnet. »Rufen Sie Chen Akeno an.«
Der Name des Parteisekretärs ließ die beiden Männer erstarren. Peter hielt ihnen einen Zettel entgegen. »Hier, das ist die Telefonnummer von seinem Büro.«
Die Sicherheitsleute besprachen sich auf Mandarin, dann winkte der eine Peter zur Seite, während der andere damit fortfuhr, die Einladungskarten der Gäste zu überprüfen.
Peter schluckte gegen die Trockenheit in seiner Kehle an. Jetzt kam es darauf an. Er spielte hoch, doch der Einsatz war jedes Risiko wert. Der Sicherheitsmann drehte ihm den Rücken zu, einen Rücken so breit wie eine Talsperre. Dabei sprach er in ein Gerät, das ihm aus dem rechten Ohr ragte. Seine Stimme klang leise, unterwürfig und aufgeregt. Vermutlich hätte er nicht gedacht, dass er einen so wichtigen Anruf tätigen würde, nicht an diesem Morgen und vermutlich auch an keinem anderen Morgen in seinem Leben.
Nach einer Weile nickte der Mann, verbeugte sich vor seinem unsichtbaren Gesprächspartner und blaffte laut »Shide«, was jawohl bedeutete. Dann wandte er sich wieder Peter zu. Nach einem letzten prüfenden Blick auf das Passbild gab er ihm den Ausweis zurück und bat ihn, durch die Absperrung zu treten.
Als Peter das Dokument entgegennahm, zitterten seine Finger leicht. Erschrocken schaute er den Sicherheitsmann an. Hatte der etwas bemerkt? Der Chinese hielt den Ausweis fest, sein Blick tastete über Peters Gesicht, dann kehrte das Lächeln auf seine Lippen zurück, und er verbeugte sich ein weiteres Mal.
Geschafft! Ein befreiendes Lachen stieg in Peters Innerem auf, und er musste sich eine Hand vor den Mund halten, damit es nicht auf verräterische Weise aus ihm herausplatzte. Doch schon beim Anblick des Podiums wurde er wieder ernst. Der lange Tisch für die Redner war mit rotem Tuch verkleidet und stand direkt am Ufer des Panlong. Es war ein geschickter Zug, das Staudammprojekt nicht in einer Kongresshalle zu präsentieren, sondern die Natur als Kulisse zu wählen. So wurden die Männer und Frauen auf dem Podium von leuchtenden Farben eingerahmt: dem Blau und Grün des sanft dahinströmenden Flusses und den Blüten der Asiatischen Iris, der Blauen Gauklerblume und des Gilbweiderichs. Die Luft war klar und frisch an diesem Dienstagmorgen und brachte den Geruch von Tannennadeln von den Bergen herunter, gemischt mit dem Aroma des Wassers. Vor dem Podium waren Stuhlreihen aufgestellt, die Platz für etwa dreihundert Gäste boten. Zwischen dem Gestühl und der Bühne knieten die Fotografen. Ihre Bilder hatten sie längst im Kasten, aber scheinbar waren sie dazu angehalten worden, in Bereitschaft zu bleiben, denn in ihren Posen sahen sie aus wie Adoranten, jene Gläubige, die auf den Knien zu den Göttern auf dem Podium beteten.
Peter entdeckte einen Platz in der Mitte einer Stuhlreihe. Dort würde er von anderen Gästen umgeben sein und nicht so leicht von den Sicherheitskräften erreicht werden können, was ihm kostbare Minuten verschaffen konnte. Entschuldigungen auf Englisch und Mandarin murmelnd, zwängte er sich an den Wartenden vorbei und ließ sich auf den mit einem roten Kissen gepolsterten Stuhl nieder. Er zog den Rucksack von den Schultern und stellte ihn zwischen seine Trekkingschuhe, an denen noch der verkrustete Schlamm seiner Wanderung entlang des Flussufers klebte. Am Abend zuvor hatte er nach den Überwinterungsplätzen der Zwerggänse gesucht und tatsächlich einige gefunden – gleich neben der Baustelle der Drachenmauer. Die Entdeckung hatte die letzten Zweifel beseitigt: Der Bau des Staudamms musste verhindert werden.
Peter musterte die Leute auf dem Podium. Der Mann in der Mitte war Long Chenfa, ein Abgesandter des Innenministeriums in Beijing, der daneben Ruan Yun, der Provinzgouverneur. Die anderen kannte Peter nicht, sie mussten Honoratioren aus Kunming sein, Wissenschaftler und Ingenieure. Eine einzige Frau war unter dem guten Dutzend Männer. Sie saß am äußersten Ende des Tisches und lächelte ihrem Nebenmann zu, der offenbar versuchte, sie zu beeindrucken, jedenfalls meinte Peter das an dessen Gesten zu erkennen.
Nachdem ein Gong ertönt war, endete das Summen der Gespräche. Spannung lag in der Luft. Wie auf Befehl verschränkten die Leute auf dem Podium die Hände auf dem roten Tischtuch.
Dann begann der Panlong, über die Ufer zu treten und in den Himmel zu fließen.
Peter
Natürlich hatte Peter mit einem technischen Feuerwerk gerechnet, mit Videos und Animationen in höchster Qualität, von den überhitzten Prozessoren zwanzig miteinander verbundener Supercomputer errechnet. Trotzdem war er sprachlos, als er sah, was sich vor seinen Augen abspielte.
Der Fluss stieg aus der Landschaft empor, um durch die Luft zu fließen. Natürlich war das nur eine Projektion, aber sie war so perfekt, dass Peter für einen Augenblick glaubte, es sei die Wirklichkeit. Dass es den Menschen um ihn herum genauso erging, war an dem Schnaufen der Erstaunten zu hören, dem die Stille der Atemlosen folgte.
Der Panlong schwebte in seiner vollen Breite in die Höhe und begann sich vor aller Augen zu drehen. Digitale Wassertropfen regneten von den künstlichen Ufern herab und fielen in den echten Fluss. Das fliegende Flussbett neigte sich, bis die Zuschauer es aus der Sicht eines Vogels oder – was wahrscheinlicher war – einer Drohne betrachten konnten. Nun setzte Musik ein, es ertönten Klänge wie im chinesischen Nationalzirkus, mit scheppernden Becken, Pauken und Fanfaren. Mitten auf dem schwebenden Fluss erschienen die Umrisse eines Bauwerks, es war nicht schwer zu erraten, dass es sich um die Silhouette des künftigen Staudamms handeln sollte – der Drachenmauer. Dann wurde die Darstellung deutlicher, bis der Damm schließlich majestätisch zwischen den Ufern des Panlong thronte. Das Wasser hinter der Mauer begann sich zu stauen und bildete einen See; was Monate dauern würde, geschah in Sekunden. Die Landschaft, bis dahin in dunklem Grün abgebildet, begann nun in den herrlichsten Farben zu erblühen. Überall rings um Damm und See sprossen Herbstblumen, ganze Felder von Selleriegrün, Pflaumenblau, Buttergelb, Kastanienbraun und einem geradezu mörderischen Rot vereinten sich zu einem bonbonbunten Bild. Peter schloss die Augen – die Aufdringlichkeit der Farben verursachte ihm ebenso Übelkeit wie die Lüge dahinter. Der Damm würde kein Leben hervorbringen, im Gegenteil.
Als Nächstes erlebten die Zuschauer eine Kamerafahrt das Bauwerk hinunter, bis es über ihren Köpfen aufragte, dann schoss die Drohne die Wand hinauf wie ein Fahrstuhl mit Raketenantrieb, und man sah die Straße, die oben auf dem Damm die Ufer des Panlong miteinander verbinden würde. Menschen gingen darauf spazieren, sie trugen gelbe Schutzhelme und hielten Werkzeuge und zusammengerollte Pläne in den Händen, einige schauten auf und winkten. Die gesamte Dammstraße war mit Flaggen geschmückt, sie flatterten im Wind und trugen Schriftzeichen. Peters Mandarin reichte aus, um die gängigen Schlagworte des chinesischen Patriotismus, des Fortschritts und der Einigkeit entziffern zu können.
Nun öffnete sich die Staumauer an vier Stellen, und Wasser sprudelte hervor, stürzte in Zeitlupe die Wand herab. Das Wasserkraftwerk hatte seinen Betrieb aufgenommen. Der Anblick versetzte Peter einen Stich. So weit durfte er es nicht kommen lassen.
Das Donnern des herabstürzenden Wassers vermischte sich mit dem Applaus der Gäste. Peter hielt seine Hände gefaltet, womit er sich einen fragenden Blick seines Nebenmanns einhandelte. Auf dem Podium trat ein junger Mann ans Mikrofon, stellte sich als Moderator vor und begrüßte die Gäste. Sein Anzug war modisch und beinahe geckenhaft geschnitten; er wies Elemente der traditionellen chinesischen Kleidung auf, die fließende Seide war mit Goldapplikationen besetzt.
Peter krallte beide Hände in die Sitzfläche. Der Moderator stellte die Männer auf dem Podium vor, dann bat er die ganz links sitzende Frau zu sich. Niemand, so sagte er, könne so viel zu dem Staudammprojekt sagen wie Dayan Sui, »die erste Ingenieurin, die erste Frau, die einen Damm in China baut, und die schönste Chrysantheme des Tages«.
Die Aufgerufene erhob sich und ging mit weit ausholenden Schritten nach vorn, wobei sie nach ihrem auf Schulterhöhe geschnittenen dunklen Haar tastete. Die Geste schien unnötig, denn ihre Frisur hatte keine Finessen, die in Unordnung hätten geraten können. Trotzdem wiederholte sie den Griff. Das ließ sie unsicher wirken, doch der Eindruck verschwand, als sie sich vor das Mikrofon stellte. Der Moderator wollte ihr dabei helfen, den Ständer auf ihre Höhe einzustellen, aber sie zischte ihn an. Auch wenn er tapfer lächelte, seine Entrüstung konnte er kaum verbergen.
Peter schätzte die Ingenieurin auf Anfang vierzig. Ihre Haut hatte den bronzenen Ton von Menschen, die sich viel im Freien aufhalten. Ihre Wangen und ihre Stirn schimmerten, und ihre Hände bearbeiteten den Mikrofonständer so energisch, als wollte sie ihn würgen. Trotzdem führte sie ihre Bewegungen präzise aus, und es lag ein Hauch Eleganz darin. Als ihr Blick schließlich über die Gesichter der Gäste streifte, nahm Peter ein Funkeln in ihren Augen wahr. Er beugte sich vor, nicht nur, um besser hören zu können.
Dayan Sui stellte sich als Technische Leiterin des Staudammprojekts vor. Sie bedankte sich bei den Regierungsvertretern für das Vertrauen, das diese in ihre Fähigkeiten setzten, und versprach, die Erwartungen zu erfüllen. Eine ganze Weile verging mit Dankesworten und Floskeln, bevor sie endlich zur Sache kam.
Die Ingenieurin bezeichnete den Panlong als wildes Tier, das gebändigt werden müsse; mit gesenkter Stimme beschwor sie die Zahl der Menschen, die bei Hochwasser ihr Leben hatten lassen müssen – eine fünfstellige Zahl in den vergangenen hundert Jahren –, und machte eine dramatische Pause. Dabei faltete sie die Hände wie eine Marmormadonna. Fing sie am Ende etwa noch an zu beten?
Nun war es aber genug! Peter reckte den rechten Arm in die Höhe. Dayan Sui schien ihn nicht zu bemerken, fuhr mit dem Vortrag fort, beschrieb die Schönheit des Staudamms und die Vorteile, die er bringen würde: Wohlstand durch Energie aus den Kraftwerken, Wohlstand durch die Unternehmen, die sich in Kunming ansiedeln würden, Wohlstand durch Arbeitsplätze, Wohlstand, Wohlstand, Wohlstand.
»Was ist mit der Natur?«, rief Peter in den nächsten Satz der Rednerin hinein, alle Regeln der Etikette missachtend. »Der Damm wird viel zerstören.«
Dayan Sui kam für die Dauer eines Wimpernschlags ins Stocken, dann redete sie einfach weiter, folgte ihrer auswendig gelernten Ansprache, als sei nichts geschehen. Peter stand auf. »Der Bau dieses Damms wird das Ökosystem des Panlong drastisch verändern und Probleme für die Tierwelt verursachen.«
Endlich verstummte die Ingenieurin. Nun war die Reihe an Peter, sich nicht unterbrechen zu lassen. »Die Fließgeschwindigkeit des Wassers wird durch den Damm gebremst«, fuhr er fort. »Das stört das ökologische Gleichgewicht des Habitats. Außerdem hat der Fluss dann nicht mehr genug Kraft, Müll davonzuschwemmen. Durch diese beiden Faktoren wird die Wasserqualität sinken. Brutstellen von Vögeln und Laichplätzen von Fischen droht die Vernichtung, damit kommt es zur Abwanderung von Tierarten. Die Folgen für die Menschen in den Dörfern entlang des Flusses sind unabsehbar.«
Eine Bewegung von links ließ Peter innehalten. Durch die Stuhlreihen näherte sich eine junge Frau in einem weiten weißen Anzug und lächelte ihm zu. Peter hatte mit dem Einschreiten des Sicherheitspersonals gerechnet, doch hatte er Kerle wie die beiden Männer am Eingang erwartet.
Die Weißgekleidete entschuldigte sich in alle Richtungen, als sie sich durch die Reihen zwängte. Schließlich erreichte sie Peter und verbeugte sich. »Bitte«, sagte sie mit sanfter Stimme, »Dayan Sui kann diese Fragen mit Ihnen nach der Präsentation erörtern. Hier ist die Telefonnummer ihres Büros.« Sie hielt ihm eine Karte hin.
Peter ärgerte sich über sich selbst, weil er sich aus dem Konzept bringen ließ. Diese Leute waren clever. Die Ingenieurin nutzte die Gelegenheit jedoch nicht, sondern stand wie versteinert vor dem Mikrofon. Er bedankte sich für die Karte und steckte sie in seine Hemdtasche. Dann sah er sich um. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Gut so! Aller Ohren hoffentlich auch. Zwei Kameramänner hatten ihn ebenfalls ins Visier genommen. Mit ein bisschen Glück würde er es in die Nachrichtensendung am Abend schaffen. Dann wäre seine Mission erfüllt: den Tieren am Panlong eine Stimme zu geben.
Er öffnete seinen Rucksack, zog ein Bündel Papier hervor, hielt es in die Höhe, das war seine Art, Flagge zu zeigen – die Flagge der Wissenschaft. »Das hier sind die Ergebnisse einer Untersuchung am Xiaolangdi Damm, am Gelben Fluss. Zwölf Jahre lang haben Zoologen dort die Lebensweise und die Verbreitung der Silberkarpfen untersucht und mit Zahlen aus der Zeit vor dem Bau des Damms verglichen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Laichzeiten der Tiere durch die veränderten Umweltbedingungen verzögern und der Laich eine um 5,28 Prozent verminderte Qualität aufweist. Insgesamt gab es 16,23 Prozent weniger Fische. In einigen Teilen des Flusses verschwanden die Silberkarpfen sogar vollständig. Diese Zahlen stammen aus den Jahren vor dem Dammbau, 1980 bis 1990, und aus der Zeit danach, den Jahren 2006 bis 2018. Das bedeutet, es sind relevante Daten, keine Schlaglichter aus einer übereilt angefertigten Studie.« Peter musste pausieren, um Luft zu holen. Sein Herz schlug schnell. Er versuchte, sich nicht weiter zu ereifern, denn wer keinen Atem hat, verliert.
Die Frau in Weiß hielt ein Mobiltelefon hoch, dann zog sie die Hand zurück und ging in Richtung Bühne davon. Sie hatte ihn fotografiert. Peter beschloss, das zu ignorieren. »Was sagen Sie dazu?«, rief er der Ingenieurin zu.
»Danke für diese Hinweise«, erwiderte sie kühl. »Was das Müllproblem betrifft: Dessen sind wir uns bewusst. Im Budget des Dammbaus ist eine Summe für die Entfernung von Abfall aus dem Wasser im unmittelbaren Dammbereich enthalten.«
»Und was sagen Sie zu den Folgen für die Fischpopulation?«, hakte Peter nach.
»Zum einen«, kam die Antwort, »ist der Panlong nicht der Gelbe Fluss. Es gibt hier keine Silberkarpfen.«
Bevor Peter protestieren und die reiche Tierwelt des hiesigen Stroms aufzählen konnte, fuhr Dayan Sui fort: »Und diese Untersuchung, die Sie da zitieren, von wem stammt die?«
Peter kannte die Namen auswendig. »Collier, Fentin-Santacruz, Colita und Schmidtlein.«
»Waren chinesische Forschende beteiligt?«, wollte sie wissen.
»Ich …« Peter blätterte zu der Liste derjenigen, die mitgewirkt hatten. Darauf standen mehrere asiatisch klingende Namen, die aber weiter hinten aufgeführt waren; überdies ließ sich nicht erkennen, ob es sich um Chinesen handelte.
»Meine Damen und Herren«, wandte sich die Ingenieurin wieder an das Publikum. »Wir alle hier wissen, dass die westlichen Industrienationen mit allen Mitteln versucht haben, den Staudamm am Gelben Fluss in Misskredit zu bringen. Die Untersuchung, die unser Gast uns dankenswerterweise vorgestellt hat, ist Teil dieser Propaganda, einzig und allein dazu gedacht, Chinas technologische Entwicklung zu behindern. Die Staaten, aus denen die genannten Forschenden kommen, haben Angst davor, dass unsere große Nation sie überflügeln könnte.« Sie ließ einen Augenblick verstreichen. »Und diese Angst haben sie zu Recht.«
Applaus brandete auf. Peter ballte eine Faust um die Papiere und rief in den Beifall hinein: »Die Vernichtung von Lebensraum durch Staudämme betrifft nicht nur China. Weltweit verhindern diese Anlagen die Fischwanderung. Die Tiere erreichen ihre Laichgründe nicht mehr. In einigen Teilen der Welt sind die Bestände bis zu sechzig Prozent zurückgegangen. Das ist gleichbedeutend mit der Zerstörung der Biodiversität in Flüssen. Nicht nur hier. Aber hier als Nächstes.«
Ein Windstoß kam den Fluss hinunter, die Männer auf dem Podium mussten die vor ihnen liegenden Papiere festhalten, und Dayan Sui presste eine Hand gegen ihren Kopf, als ihr Haar in Bewegung geriet. Das Mikrofon verstärkte das Rauschen der Bö, und für einen Moment war die Landschaft am Panlong ringsumher von einem orkanhaften Tosen erfüllt. Peter konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Natur ihm zustimmte.
Es war der Ingenieurin anzusehen, dass sie ihren Vortrag fortsetzen wollte, aber im Widerstreit damit lag, dass sie Peter zunächst in die Schranken weisen musste. Sie trat von einem Bein aufs andere, schien die Blicke der Honoratioren hinter sich zu spüren. Ein bisschen tat Peter die Frau leid.
Das änderte sich, als die Weißgekleidete auf die Bühne stieg und der Ingenieurin ihr Telefon reichte, jenes Gerät, mit dem sie Peter zuvor fotografiert hatte. Dayan Sui strich mit einer energischen Geste über den Bildschirm, dann sprach sie mit fester Stimme ins Mikrofon. »Peter Danielsson. Sie sind aus Schweden zu uns gekommen. Sie sind Zoologe und waren einmal an der Universität von Stockholm beschäftigt.«
Oh nein! Peter wusste, was jetzt folgen würde.
»Sie waren auch einmal für eine große internationale Tierschutzorganisation tätig.« Dayan Sui schüttelte theatralisch den Kopf. »Man hat Sie aus allen Positionen entfernt. Sie sind mehrfach vorbestraft. Wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, Beamtenbeleidigung, versuchter Körperverletzung und Nötigung.« Sie hielt sich eine Hand gegen die linke Wange. »Wegen Einbruchs und Diebstahls.«
»Der Diebstahl ist eine Lüge«, rief Peter empört. »Eine Verleumdung dieser Tierfänger, die …« Da erst bemerkte er, dass er ihr in die Falle gegangen war und die anderen Vorwürfe stillschweigend bestätigt hatte.
»Es wäre besser für Sie, wenn Sie die Veranstaltung jetzt verließen«, forderte ihn Dayan Sui mit einer Stimme auf, die vor Überlegenheit nur so strotzte. »Und China ebenfalls. Sonst müssen Sie die Konsequenzen tragen.«
Blicke bohrten sich wie Speere in Peters Rücken und in seine Brust. Die Animation des digitalen Flusses stand still, das Gewässer hing in der Luft, und es schien, als rausche auch der echte Panlong nicht länger.
Peter hielt die Papiere in die Höhe. »Falls Sie daran interessiert sind … ich lasse Ihnen die Untersuchungsergebnisse hier. Ihnen allen.« Er legte den Stapel auf das rote Kissen seines Stuhls, setzte den Rucksack auf und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Das Schweigen, das ihm folgte, war so laut, dass es ihm noch Stunden später in den Ohren dröhnte.
Sui
Dieser Schwede! Was fiel ihm ein, in ihren großen Auftritt zu platzen? Für diesen Augenblick hatte Sui gelebt! Um heute an diesem Ort zu sein, auf dem Podium vor mehr als dreihundert Menschen zu stehen und den Staudamm zu präsentieren, für dessen Bau sie die verantwortliche Ingenieurin war, hatte sie sich als junge Frau erst gegen ihre Mutter und dann gegen eine ganze Horde Männer durchsetzen müssen: bei der Vergabe der Studienplätze an der Technischen Universität in Fuzhou, bei der Bewerbung um einen Job im Bauministerium und beim Konkurrenzkampf unter den Kollegen um die Leitung des Drachenmauer-Damms am Panlong. Und dann, im Moment ihres Triumphes, hebt dieser Kerl seine Hand und versucht sie zu maßregeln.
Sui stürmte in ihr Büro, gefolgt von Ling Jia. Die Schritte ihrer Assistentin waren maßvoll, wie immer. Brachte diese Frau denn nichts aus der Fassung? Sui schleuderte ihre Umhängetasche auf das dunkelblaue Sofa und fegte dabei die Blumenvase mit der einzelnen rosa Dahlie vom Beistelltisch. Die Vase polterte auf das Parkett, und eine kleine Wasserlache ergoss sich über den Boden.
»Ich kümmere mich darum«, kündigte Jia an und krempelte ihre weiße Anzugjacke auf.
Mit Mühe verkniff sich Sui einen bissigen Kommentar. Sie lief ins Bad und starrte in den Spiegel. Dann riss sie sich die dunkle Perücke vom Kopf, ließ das groteske Ding ins Waschbecken fallen und fuhr sich durch die graue Mähne, die darunter hervorgekommen war – ihr echtes Haar.
Sie verdrängte die Erinnerung an jenen Tag. Das lag weit zurück. Langsam atmete sie aus. Nachdem sie ihre Lungen von ihrem rauen Atem befreit hatte, um Einklang in ihrem Innern zu schaffen, lachte ihr Spiegelbild sie aus. Ihr Schopf sah aus wie ein Vogelnest nach einem Taifun. Sie strich das lange Silberhaar glatt, kämmte es erst mit den Fingern, dann mit dem groben Holzkamm und schließlich mit der roten Bürste. Die Farbe der Bürste hatte sie gewählt, weil das Rot durch ihre hellen Strähnen zog wie Blut, das durch Adern rann. In diesen Momenten fand Sui Gefallen an ihrem Makel. Sie und ihre Mutter waren die einzigen Menschen, die davon wussten. Und das musste so bleiben, denn eine Frau ihres Alters, deren Haar bereits ergraut war, schien für das Bauministerium untragbar zu sein; dort war jedes optische Detail mit einer Botschaft aufgeladen. So galt eine Frau ohne hochhackige Schuhe als bescheiden und unterwürfig – in Suis Position unmöglich. Trug sie hingegen Absätze, durften die nicht so hoch sein, dass sie damit ihre Vorgesetzten überragte. Das Haar der ansonsten gut aussehenden Chinesin war grau? Das entsprach aber nicht den Vorstellungen, also musste eine Perücke her. Alles war eine Frage der Ausgewogenheit, und die galt es zu erreichen, das galt für die Arbeit am Bauprojekt ebenso wie für das eigene Aussehen. Der Architekt des Staudamms kam zu Besuch, um sich den Fortgang der Arbeiten zeigen zu lassen – was war seine Lieblingsfarbe? Entsprechend suchten Sui und ihre Mitarbeiterinnen ihre Kleidung aus und schmückten den Empfangsraum des Büros. Wäre sie ein Mann, würde niemand von ihr einen solchen Aufwand verlangen, der einer Demütigung gleichkam. Ihre Mutter hatte recht behalten: Sie war in eine Männerwelt eingedrungen, und nun musste sie nach den dort herrschenden Regeln leben.
Sie legte die Bürste auf die Ablage unter dem Spiegel. Ihr Haar hatte sie gebändigt, das Silber floss in Kaskaden ihren Nacken entlang und bis über die Schultern. Es war wie der Panlong: am schönsten, wenn es frei sein konnte. Leider gab es diese Momente immer nur für kurze Zeit.
Es klopfte an der Badezimmertür. »Telefon, Sui.« Das war Jias Stimme, fließend wie Seide, aber doch kraftvoll. »Soll ich rangehen?«
Sui schluckte. »Ich komme«, rief sie, fischte die Perücke aus dem Waschbecken, schüttelte sie aus und zupfte sie zurecht. Das Kunststück, ihr echtes Haar mit der einen Hand so zu halten, dass sie das Kunsthaar mit der anderen darüberziehen konnte, beherrschte sie nach all den Jahren. Die Bewegung war Teil ihres Nervensystems geworden. Jetzt noch rasch die grauen Spitzen unterstecken. Perfekt!
Sui öffnete die Tür, schenkte Jia ein Lächeln und ging zu der Sitzgruppe, wo ihre Umhängetasche stand wie ein Schaustück in der Auslage eines luxuriösen Geschäfts – Jias hatte sie wohl so drapiert. Sui zog das Telefon daraus hervor, auf dem Display stand der Name ihrer Mutter.
»Hallo Ma«, sagte Sui.
»Hast du es schon im Fernsehen gesehen?« Die Stimme von Dayan Bao war die einer zweihundertjährigen Eiche, deren morsche Äste im Wind knarrten.
Die Worte ihrer Mutter riefen Rührung in Sui hervor. Damit hatte sie nicht gerechnet: dass ihre Mutter sich nach dem Verlauf der Präsentation erkundigte. In der Regel ignorierte die Siebzigjährige alles, was mit dem Beruf ihrer einzigen Tochter zu tun hatte. »Die berichten schon im Fernsehen davon?«, hakte Sui nach. »Das geht aber schnell.«
»Wie lange sollen sie denn damit warten?« Bao bellte ein Lachen heraus. »Das Dorf ist doch schon gestern Nacht zerstört worden.«
Sui runzelte die Stirn. »Was für ein Dorf?« Dann ging es ihrer Mutter doch nicht um den Erfolg der Tochter. Ein Brennen breitete sich in Suis Kehle aus. Das Gefühl war ihr wohlbekannt.
»Vergiss deinen Staudamm mal für einen Augenblick und informier dich darüber, was in der Welt vor sich geht. Schalt den Fernseher ein, kleine Sui.«
»Ma, ich habe jetzt keine Zeit für so was.« Trotzdem griff sie nach der Fernbedienung des Bürofernsehers und seufzte. »Welches Programm?«
»Alle berichten darüber, mein Kind.«
Sui schaltete Kanal eins ein. Auf YETV, dem Bildungskanal von Yunnan, war ein junger Mann zu sehen; er stand vor einer Tafel, die das Modell der Drachenmauer zeigte. Die Berichterstattung über das Projekt hatte tatsächlich schon begonnen. »Ma, ich habe jetzt wirklich keine Zeit.«
»Kanal vier«, kam es aus dem Apparat.
Sui wechselte zu YNTV, dem Nachrichtensender. Dort war ein Waldbrand zu sehen, gefilmt aus einem Helikopter. Der Kameramann hatte Mühe, sein Aufnahmegerät ruhig zu halten. Rauchschwaden flogen vorbei und verdeckten die Sicht, der Pilot steuerte in eine andere Position, dann war das Flammenmeer direkt unterhalb des Hubschraubers zu erkennen. Ein Waldbrand. So etwas war hier um diese Zeit eher selten, zumal die vergangenen Monate mit viel Regen gesegnet gewesen waren. Sui erkannte Häuser in den Flammen – oder das, was davon übrig geblieben war. Sie schaltete den Ton lauter.
Ein Reporter berichtete über eine Feuersbrunst im Dorf Shuanxi, im Süden, die durch Elefanten aus dem Xishuangbanna-Nationalpark ausgelöst worden sei. Eine Herde von fünfzehn Tieren war in der Nacht mitten durch Shuanxi gezogen und hatte Laternen mit brennenden Kerzen zu Boden gerissen, die an den Häusern aufgehängt gewesen waren, weil die Bewohner das Mondfest gefeiert hatten. Da die Flammen trockenes Holz und Stroh blitzschnell in Brand gesetzt und die Elefanten darauf panisch reagiert hatten, war das Ausmaß der Zerstörung enorm. Tote hatte es nicht gegeben. Aber zwei Dorfbewohner waren mit Verbrennungen ins Krankenhaus gebracht worden, nachdem sie versucht hatten, das Feuer zu löschen. Das Bild im Fernsehen veränderte sich, jetzt war eine junge Frau zu sehen, höchstens siebzehn oder achtzehn; ihr Gesicht war mit Ruß beschmiert, durch den Tränen helle Rinnen gewaschen hatten. Sie trug festliche Kleidung, die an vielen Stellen schmutzig und zerrissen war, und erzählte irgendetwas von Drachen.
Sui schaltete den Fernseher stumm. »Das ist furchtbar, Ma, aber ich habe Wichtigeres zu tun, als die Nachrichten zu verfolgen.«
»Sie kommen«, sagte Bao. »Sie kommen. Und alles wird sich ändern.« Das schaffte nur ihre Mutter: Schlechte Nachrichten mit ein paar Worten noch schlechter zu machen. »Es sind nur ein paar Elefanten«, sagte Sui. »Nichts weiter. Man wird sie einfangen und dorthin zurückbringen, wohin sie gehören.«
Eine Bewegung im Augenwinkel lenkte ihre Aufmerksamkeit weg vom Fernsehbildschirm. Jia winkte von ihrem Empfangstisch herüber und formte mit den Lippen stumme Worte.
»Ma, ich muss Schluss machen. Ich melde mich, sobald ich …« Da bemerkte sie, dass Bao aufgelegt hatte.
»Sui. Das Büro des Gouverneurs hat gerade eine Nachricht geschickt. Er will, dass du eine Stellungnahme zu den Ereignissen bei der Präsentation abgibst.«
Das hatte Sui befürchtet. Eiswasser lief ihren Rücken hinunter. Sie hielt noch immer die Fernbedienung in der Hand und kehrte zurück zu YETV, dem Bildungskanal. Dort lief Werbung, von der Präsentation war nichts zu sehen.
»CNN«, rief Jia. Sui schaltete weiter.
Da stand sie, vor der Kulisse der perfekten Animation, mit ihrer perfekt sitzenden Perücke und ihrem perfekt ausgewählten Kostüm, während sie die perfekt vorbereitete Rede hielt. Das Bild wackelte, die Aufnahme eines Amateurs, vermutlich mit dem Mobiltelefon. Und dann …
Der Schwede schoss aus den Stuhlreihen empor wie ein Delfin aus dem Meer und konfrontierte sie mit seinen lächerlichen Forschungsergebnissen. Jetzt erkannte Sui, was dieser Danielsson mit seinem Auftritt beabsichtigt hatte: Er wollte die Aufmerksamkeit der Presse, und er hatte sie bekommen. Die chinesischen Medien hatten den Störversuch des Schweden zwar ignoriert, aber irgendjemand hatte die Kamera seines Telefons auf Danielsson gerichtet und die Aufnahme an CNN weitergegeben – und wer weiß an wen noch.
Der Damm war gebrochen, bevor er gebaut war.
Sui
Die Tuschezeichnungen an der Wand von Ruan Yuns Büro sahen wertvoll aus. Die schwarzen Federstriche auf gelbem Papier zeigten die bizarren Kalksteinformationen des Steinwaldes, die Schlucht des springenden Tigers und die Altstadt von Lijiang in einem grafischen Stil. Die Zeichnungen standen in geschmackvollem Kontrast zu den tiefrot gestrichenen Wänden des übertrieben kleinen Raums. Der Provinzgouverneur saß hinter seinem Schreibtisch und schaute zur Seite aus dem Fenster, über die Dächer von Kunming, als Sui eintrat. Statt des Anzugs, den er bei der Präsentation getragen hatte, war er nun mit einem schwarzen Tangshuang bekleidet. Beinahe verschwand er in dem weiten Gewand.
»Nehmen Sie Platz, Ingenieurin«, bat er Sui. Sie ließ sich auf dem Armstuhl aus Rosenholz nieder. Es folgten die üblichen Floskeln, Ruan erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden, ob sie schon etwas gegessen habe und wie es ihrer Mutter gehe. Sui hatte nie mit dem Gouverneur über ihre Mutter gesprochen, doch sie musste davon ausgehen, dass er wusste, wer Dayan Bao war. Dass er nach ihr fragte, war mehr als höfliches Geplauder. Er wollte etwas andeuten, vielleicht steckte sogar eine Drohung dahinter.
»Danke, es geht ihr gut«, antwortete Sui. Doch statt sich umgekehrt nach der Familie des Gouverneurs zu erkundigen, kam sie gleich zur Sache. »Sie wollten mich sprechen?«
Erst jetzt drehte sich Ruan Yun vom Fenster weg und legte beide Arme auf die Schreibtischunterlage – die blassen, fleischigen Arme eines Bürokraten. Er nahm einen Bleistift auf. Die Geste diente als Signal, dass der offizielle Teil des Gesprächs begonnen hatte. »Ich habe die unangenehme Aufgabe, Sie für Ihre schwache Leistung am heutigen Morgen zu tadeln, Ingenieurin Dayan. Sie hätten diesen Europäer aufhalten müssen. Er hätte gar nicht zu Wort kommen dürfen. Sein Auftritt ist höchst unerfreulich für die Regierung.« Er machte eine dramatische Pause. »Für die Regierung in Beijing.«
Empörung wallte in Sui auf. War es denn ihre Schuld, dass die Sicherheitsleute geschlafen hatten? »Dieser Mann hätte die Kontrollen nicht passieren dürfen«, sagte sie unverbindlich. Es wäre ein Fehler gewesen, jemand anderen verantwortlich machen zu wollen, ein Fehler, auf den Ruan Yun gewiss wartete.
Seine Stimme wurde kühler. »In den internationalen Nachrichten ist zu sehen, wie Peter Danielsson während Ihrer Rede aus dem Publikum aufspringt, das Wort ergreift und die Drachenmauer dafür verantwortlich macht, dass Tiere sterben. Es wird nicht lange dauern, bis es hier von Umweltschützern aus dem Westen wimmelt. Wie gedenken Sie darauf zu reagieren?«
Sui zögerte keinen Wimpernschlag lang. Sie hatte mit der Frage gerechnet und sich auf der Fahrt zum Büro des Gouverneurs eine Antwort zurechtgelegt. »Der Störenfried ist Zoologe und beobachtet den Zug der Zwerggänse. Diese Tiere leben im Sommer in Skandinavien und in Russland, einige überwintern bei uns, an den Ufern des Panlong.«
»Die Zwerggans«, unterbrach der Gouverneur. »Ein kleiner Vogel, der zu viel schnattert. Das ist ein passendes Bild für diesen Menschen, nicht wahr?«
»Es gibt nur noch wenige Tiere dieser Art«, fuhr Sui fort. »Am Panlong wurden zuletzt nur wenige Dutzend Paare gesichtet. Ich schlage vor, dass wir uns diese Situation zunutze machen und uns um die Überwinterungsplätze der Zwerggans kümmern, das heißt, die Tiere beobachten, füttern, zählen und sie schützen.«
Ruan Yun wippte in seinem Ledersessel vor und zurück, dabei drehte er den Bleistift zwischen seinen Fingern. »Damit tun wir aber doch genau das, was dieser Schwede verlangt. Er hat es Ihnen wohl angetan.«
»Ich mag keine Männer, die größer sind als ich«, gab Sui zurück. »Das passt nicht dazu, dass ich ihnen geistig überlegen bin.«
Zuckten die Mundwinkel Ruan Yuns etwa? Das hatte Sui noch nie erlebt. Sofort wurde der Gouverneur wieder ernst. Er schien begriffen zu haben, dass er den Scherz auch als Beleidigung auffassen konnte. »Ich verstehe nicht«, sagte er. »Warum sollten wir dem Mann einen Gefallen tun?«
»Den Gefallen tun wir uns selbst. Wir schützen eine vom Aussterben bedrohte Art. Da es nur noch wenige Tiere gibt, müssen wir nur geringe Maßnahmen ergreifen: Ein kleines Areal zum Schutzgebiet erklären zum Beispiel, das erfordert kaum Aufwand und beeinträchtigt die Bauarbeiten nicht.« Sie überließ es Ruan, das Fazit zu ziehen.
»Wir filmen die geretteten Vögel und laden westliche Fachleute ein, unseren Erfolg ebenfalls zu dokumentieren. Das wird unser Ansehen in der Welt als Tierschützer festigen, jegliche Kritik an der Drachenmauer wird verstummen. Das ist klug, Ingenieurin Dayan.« Er notierte etwas mit dem Bleistift auf seine Schreibtischunterlage.
Sui verbeugte sich und lächelte.
»Setzen Sie das sofort um«, verlangte Ruan Yun. »Beginnen Sie noch heute. Wir haben gute Nachrichten dringend nötig, denn diese Gänse kommen wie gerufen, um von den wild gewordenen Elefanten abzulenken, die im Süden alles niedertrampeln.«
Noch heute? Sui zögerte. Sie hatte alle Hände voll damit zu tun, die Baustelle zu organisieren. Außerdem … »Ich müsste zunächst herausfinden, wann die Zwerggänse überhaupt bei uns ankommen und wo genau ihre Überwinterungsplätze liegen.«
»Dann tun Sie das, und zwar schnell. Ich will die Kameras aller Journalisten auf den Damm gerichtet haben. Lassen Sie meinetwegen als Gänse verkleidete Tänzerinnen auf der Baustelle auftreten. Hauptsache, unser Staudamm steht gut da und niemand interessiert sich mehr für die Elefanten.«
»Aber die sind doch längst in den Nachrichten«, wandte Sui ein. »Ich habe vorhin selbst gesehen, wie …«
»Es geht nicht darum, was ist, sondern darum, was sein wird.« Ruan Yun legte den Bleistift weg und griff zum Hörer seines Telefons. Die Unterredung war beendet.
Sui verbeugte sich erneut und verließ mit gestrecktem Rücken das kleine Büro. Die Perücke verursachte Juckreiz an ihrer Stirn, und dahinter ballte sich ein dunkler Kopfschmerz zusammen.
Peter