Die himmlische Tafel - Donald Ray Pollock - E-Book
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Die himmlische Tafel E-Book

Donald Ray Pollock

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Beschreibung

Georgia, 1917. Der Farmer Pearl Jewett will sich durch seine Armut auf Erden einen Platz an der himmlischen Tafel verdienen – und seine drei Söhne darben mit ihm, ob sie wollen oder nicht. Nachdem Pearl von den Entbehrungen ausgezehrt stirbt, müssen sich die jungen Männer allein durchs Leben schlagen. Auf gestohlenen Pferden und schwer bewaffnet plündern sie sich ihren Weg durchs Land. Dabei folgen sie den Spuren ihres großen Helden "Bloody Bill Bucket", einem Bankräuber aus einem Groschenroman, neben der Bibel das einzige Buch, das die Jewett-Brüder kennen … Einige Hundert Meilen entfernt, im Süden Ohios, wird Ellsworth Fiddler von einem Trickbetrüger um sein ganzes Geld gebracht. Als sein Weg den der schießwütigen Jewetts kreuzt, wendet sich sein Schicksal unerwartet zum Guten. Die Brüder hingegen müssen einsehen, dass der Himmel, den man sich gemeinhin ausmalt, oft schlimmer ist als die Hölle, der man entfliehen will.

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Seitenzahl: 620

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Donald Ray Pollock

Die himmlische Tafel

Roman

Aus dem Englischenvon Peter Torberg

liebeskind

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unterdem Titel »The Heavenly Table« bei Doubleday, New York.

© Donald Ray Pollock 2016© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2016Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: CorbisUmschlaggestaltung: Sieveking, München

ISBN 978-3-95438-069-5

Für Patsy, immer,und für Barney,den besten Hund, den es je gab,verstorben am 1. Oktober 2015

1

Als sich 1917 an der Grenze zwischen Georgia und Alabama ein weiterer höllischer August langsam dem Ende zuneigte, weckte Pearl Jewett eines Morgens seine Söhne mit einem kehligen Bellen, das eher nach Tier als nach Mensch klang. Die drei jungen Burschen erhoben sich schweigend aus ihren Ecken in der Hütte, die nur aus einem einzigen Raum bestand, und zogen ihre verdreckte, vom Schweiß des Vortags noch feuchte Kleidung an. Eine räudige Ratte huschte den steinernen Kamin hinauf und ließ Mörtelbrocken in den kalten Rost rieseln. Mondlicht fiel durch Spalten der rissigen Wände aus Rundhölzern und lag in milchigen Streifen auf dem roten Lehmboden. Die Jungen stießen beinah mit den Köpfen an die niedrige Decke, sie trafen sich in der Mitte der Kammer zum Frühstück, und Pearl gab jedem von ihnen einen faden Klumpen aus Mehl und Wasser, den er am Abend zuvor in einem Rest Fett ausgebacken hatte. Das musste bis zum Abend reichen, dann bekamen sie alle etwas von dem kranken Schwein, das sie im Frühling geschlachtet hatten, dazu eine Pampe aus gekochten Kartoffeln und wildem Gemüse auf einen zerbeulten Blechteller gespachtelt von einer Hand, die nie sauber war, aus einem Topf, der nie ausgewaschen wurde. Hin und wieder regnete es, ansonsten war ein Tag wie der andere.

»Ich hab letzte Nacht mal wieder zwei von diesen Niggern gesehen«, sagte Pearl und starrte durch die grob herausgeschnittene Öffnung hinaus, die als einziges Fenster diente. »Hockten da draußen in dem Tulpenbaum und sangen ihre Lieder. Die hatten richtig ihren Spaß dabei.« Dem Landbesitzer Major Thaddeus Tardweller zufolge waren die letzten Bewohner der Hütte, eine vielköpfige Familie Mulatten aus Louisiana, alle vor ein paar Jahren am Fieber gestorben und draußen im Gestrüpp am Rande des nun leeren Schweinepferchs begraben worden. Weil jedermann fürchtete, dass sich die Krankheit an einem Ort, wo sich Schwarz und Weiß vermischt hatten, noch halten könnte, hatte er niemand dazu überreden können, hier zu leben, bis im vergangenen Herbst der alte Mann und seine Söhne halb verhungert nach Arbeit gesucht hatten. In letzter Zeit hatte Pearl diese Gespenster überall gesehen. Am Morgen zuvor hatte er fünf gezählt. Grauhaarig und ausgemergelt, mit offen stehendem Mund und einem Hosenstall, der von der undichten Blase ganz gelbfleckig war, fühlte er sich, als müsste er sich ihnen jeden Augenblick anschließen. Er biss in seinen Frühstücksklumpen und fragte: »Habt ihr sie auch gehört?«

»Nein, Pap«, antwortete Cane, der Älteste, »ich glaub nicht.« Mit dreiundzwanzig sah Cane so gut aus, wie es sich der Sohn eines Farmpächters nur erhoffen konnte; er hatte das Beste von beiden Eltern geerbt: die große, drahtige Gestalt seines Vaters und die wohlgeformten Züge und dichten dunklen Haare der Mutter. Aber das harte, hoffnungslose Leben überzog sein Gesicht bereits mit feinen Fältchen und sprenkelte seinen Bart grau. Er war der Einzige in der Familie, der lesen konnte, denn er war schon alt genug gewesen, damit seine Mutter es ihm mit der Bibel und einem alten Schulbuch beibringen konnte, das sie sich bei einer Nachbarin geliehen hatte, bevor sie starb; Fremde hielten ihn zumeist für den Einzigen der Sippe, der irgendeine Zukunft hatte oder eigentlich überhaupt so etwas wie Verstand. Er besah sich den schmierigen Keksklumpen in seiner Hand und entdeckte ein drahtiges weißes Haar darin, das mit einem schmutzigen Daumenabdruck in den Teig geknetet war. Heute war die Morgenration noch kleiner als üblich, doch dann fiel ihm ein, dass er Pearl am Vortag gesagt hatte, sie müssten sparsamer sein, wenn der Sack Mehl bis zum Herbst reichen sollte. Er zupfte das Haar aus seinem Frühstück und schaute zu, wie es zu Boden sank, bevor er in den Klumpen biss.

»Das Einzige, was ich gehört hab, war die alte Ratte, die hier rumgehuscht ist«, meinte Cob. Er war der Mittlere, klein und gedrungen, sein Kopf so rund wie eine Kichererbse, die wässrig grünen Augen schienen immer ein wenig zu schielen, als habe man ihm gerade eins mit einem Kantholz übergebraten. Cob war zwar kräftig für zwei, aber er war schon immer eher etwas langsam gewesen und schlug sich hauptsächlich damit durch, dass er sich an Cane hielt und nicht allzu sehr klagte, ganz gleich, wie tief die Scheiße oder wie klein der Frühstücksklumpen war. Selbst eine genaue Vorstellung von Uhrzeit ging über seinen Verstand. Offen gesagt war er das, was man damals im Allgemeinen als Dummkopf bezeichnete. Fast überall fand man so einen Kerl, wie er in der Nähe der Dorfpumpe hockte und auf ein freundliches Howdy oder die milde Gabe eines braven Bürgers wartete, der vorbeikam und genügend Mitleid hatte, um zu wissen, dass es nur der Gnade Gottes zu verdanken war, dass er nicht selbst dort traurig, zerlumpt und einsam hockte. Wahrscheinlich wäre Cob wohl auch so geendet und hätte seine Tage an einer Straßenecke verbracht und mit einer rostigen Blechdose um Reste und gelegentlich um eine Münze gebettelt, wenn Cane nicht auf ihn aufgepasst hätte.

Der alte Mann wartete einen Augenblick, ob der Jüngste auch etwas zu sagen hatte, und fragte dann: »Was ist mit dir, Chimney? Hast du sie gehört?«

Chimney stand mit seinem pickligen, dreckverschmierten Gesicht da und starrte verwirrt vor sich hin. Er dachte immer noch an das Flittchen mit den krummen Zähnen und den fetten Titten, das der heisere Schrei des alten Mannes vor ein paar Minuten verscheucht hatte. Am Abend zuvor hatte Cane, wie an den meisten Abenden, wenn Pearl auf seiner Decke schon schlief und es noch nicht zu dunkel war, um etwas zu sehen, seinen Brüdern laut aus Das Leben von Bloody Bill Bucket vorgelesen, einem zerschlissenen, wasserfleckigen Groschenroman, der die kriminellen Machenschaften eines ehemaligen Soldaten der Konföderierten verherrlichte, der zum Bankräuber geworden war und im gesamten Alten Westen Angst und Schrecken verbreitet hatte. Deshalb hatte Chimney die letzten paar Stunden damit verbracht, von Schießereien auf sonnenverbrannten Wüstenebenen zu träumen und von Weiberschlitzen, die nach Honig schmeckten. Er sah zu seinen Brüdern hinüber, die wie ein paar junge Hunde gähnten, sich kratzten, etwas aßen, das genauso gut ein Klumpen Lehm hätte sein können, und diesem verrückten Mistkerl zuhörten, der von seinen schwarzen Kumpeln aus der Geisterwelt faselte. Ihm war natürlich klar, dass Cob Pearls Blödsinn abkaufte; das bisschen Hirn in seinem Schädel machte nicht mal einen Teelöffel voll. Aber warum spielte Cane die ganze Zeit mit? Das ergab doch keinen Sinn. Verflucht, Cane war klüger als sie alle zusammen. Seiner alten Mutter oder seinem Vater gegenüber loyal zu sein, war ja bis zu einem gewissen Punkt ganz in Ordnung, fand Chimney, ganz egal, wie verrückt oder senil sie geworden waren, aber was wurde denn aus ihnen selbst? Wann würden sie endlich mal anfangen zu leben?

»Ich rede mit dir, Junge«, sagte Pearl.

Chimney besah sich den graugrünen Schimmel, der am Fuß der Hüttenwände wuchs. Ein einfaches Ja oder Nein würde nicht reichen, nicht an diesem Morgen. Vielleicht weil er der Jüngste in der Familie war, hatte Aufsässigkeit schon immer seinen Charakter geprägt, und wann immer er trotzig oder angepisst war, neigte der Siebzehnjährige dazu, zu sagen oder zu tun, was ihm gerade in den Kopf kam, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Wieder dachte er an die reizende Schlam pe in seinem Traum, doch das Bild ihres Hinterns voller Grübchen und ihre sinnliche Stimme verblassten bereits und würden bald durch die erbärmliche Knochenarbeit ausgelöscht werden, wenn er einen weiteren fast vierzig Grad heißen Tag lang die Axt schwingen würde. »Hört sich für mich gar nicht mal so schlecht an«, sagte er schließlich zu Pearl. »Rumliegen, in den Zähnen stochern und Musik machen. Himmel, warum haben die eigentlich den ganzen Spaß?«

»Was hast du gesagt?«

»Ich hab gesagt, so wie es in diesem gottverfluchten Loch hier läuft, würde ich auf der Stelle sogar mit einem toten Nigger tauschen.«

Es wurde ganz still, der alte Mann zog seine hängenden Schultern hoch und verzog den Mund zu einem düsteren Grinsen. Pearl ballte die Fäuste und wollte im ersten Augenblick den Jungen umhauen, doch bis er sich vom Fenster umgedreht hatte, hatte er es sich schon anders überlegt. Es war zu früh am Morgen, um Blut fließen zu lassen, selbst wenn es gerechtfertigt gewesen wäre. Stattdessen trat er auf Chimney zu und sah ihm in das schmale, dreieckige Gesicht und die kalten, frechen Augen. Manchmal fiel es dem Alten schwer zu glauben, dass der Junge sein eigen Fleisch und Blut war. Natürlich war Cob immer eine Enttäuschung gewesen, aber wenigstens hatte er ein gutes Herz und tat, was man ihm sagte, und Cane, nun, nur ein Trottel konnte etwas an ihm auszusetzen haben. Aus Chimney hingegen wurde man einfach nicht schlau. Den einen Tag schuftete er wie ein Hund und weigerte sich am Tag darauf, auch nur einen Schlag zu tun, ganz gleich, wie sehr Pearl ihm auch drohte. Oder er überließ Cob seinen Teil des Abendessens, nur um sich umzudrehen und ihm einen Streich zu spielen, während Cob aß. Er konnte sich einfach nicht entscheiden, ob er gut oder böse sein wollte, also setzte er alles daran, beides zu sein. Und nicht nur das, er war auch noch völlig verrückt nach Weibern, schon von Anfang an, als er merkte, dass sein Pimmel steif wurde. Und es war ihm gleichgültig, wer es mitkriegte; zwei, drei Mal in der Nacht konnte man ihn unter seiner Decke wichsen hören, vor allem, wenn Cane ihm wieder aus diesem gottverfluchten Buch vorgelesen hatte, das sie hüteten wie eine Reliquie. Pearl dachte über eine Geschichte nach, die er mal von einem Auktionator bei einem Viehverkauf gehört hatte, dass nämlich die Nachkommen schwächer würden, je älter der Hengst, nicht nur vom Körperbau her, sondern auch im Kopf war. »Und das gilt nicht nur für die Tiere«, hatte der Mann gesagt. »Ich kannte da einen alten Knaben daheim, der sich eine junge Frau genommen hat und mit neunundfünfzig beschloss, noch einen von seiner Art in die Welt zu setzen, bevor er endgültig austrocknete. Das arme Ding kam so irre auf die Welt wie die, die sie drüben in Memphis in die Klapsmühle sperren.«

»Was ist mit dem Kind passiert?«, hatte Pearl gefragt.

»Hat es an irgendeinen Bananenheini in Südamerika unten verscherbelt, der so was sammelt«, hatte der Auktionator erwidert. Damals hatte Pearl das als typisches Gerede abgetan, um den Preis für ein Paar Jungbullen in die Höhe zu treiben, doch nun wurde ihm klar, dass vielleicht doch was Wahres dran war. Er hasste es, das zuzugeben, doch allem Anschein nach hatte er schon einen Teil seiner Manneskraft eingebüßt, als Lucille und er Cob gezeugt hatten, und als er Chimney in den Ofen gesteckt hatte, war sein Saft wohl nicht mehr frisch gewesen, sondern offenkundig sauer.

Und doch, vielleicht, weil Chimney der Jüngste war oder weil ihm erst noch der zottelige Bart wachsen musste, den seine Brüder trugen, erinnerte sein Sohn ihn noch immer am stärksten an seine verstorbene Frau. Pearl beugte sich vor und sah dem Jungen noch fester in die Augen, als würde er in ein dunstiges Portal in die Vergangenheit linsen. Chimney sah seine Brüder an und aß das letzte Stück von seinem Klumpen. Der Atem des Alten stank nach Magengasen und ranzigem Bratfett. Irgendwo in der Nähe fing ein einsamer Vogel zu zwitschern an, und plötzlich erinnerte sich Pearl an eine längst vergangene Nacht, in der er Lucille nach einem Scheunentanz nach Hause brachte, nur ein paar Wochen vor ihrer Hochzeit. Der Herbsthimmel hatte vor Sternen geglitzert, und der schwache Duft der Heckenkirsche hatte noch in der kühlen Luft gehangen. Er konnte den Schotter unter ihren Schritten knirschen hören. Lucilles Gesicht tauchte vor ihm auf, jung und schön wie beim ersten Mal, als er sie gesehen hatte, doch gerade als er die Hand ausstrecken und sie an der Wange berühren wollte, brach Chimney den Bann. »Zum Teufel, ja«, sagte er, »vielleicht sollten wir die Nigger fragen, ob sie nicht mit uns …«

Ohne jede Vorwarnung zuckte Pearls Hand nach vorn und packte den Jungen an der Kehle. »Spuck’s aus«, knurrte er. »Spuck’s aus.« Chimney versuchte sich loszureißen, aber der Griff des Alten, gestählt durch jahrelanges Pflügen und Hacken und Ernten, war fest wie ein Schraubstock. Mit abgedrückter Luftröhre legte sich sein Widerstand bald, und er schaffte es nur noch, ein paar Krümel auszuspucken, die auf den Haaren an Pearls Handgelenk landeten.

»Pap, er hat sich nichts dabei gedacht«, sagte Cane und trat auf die beiden zu. »Lass ihn los.« Eigentlich fand er ja, dass sein Bruder verdiente, dass ihm die Scheiße aus dem Leib gepresst wurde, und sei es nur aus dem Grund, dass er einem ständig auf die Nerven ging, aber Cane wusste auch, wenn sich sein Vater schon derart früh am Morgen so aufregte, würde er sie heute draußen doppelt so hart schuften lassen. Dabei war es schon schwer genug, mit dem bisschen Essen im Bauch auch nur gemächlich zu arbeiten.

»Ich habe genug von seinem frechen Mundwerk«, fauchte Pearl durch zusammengebissene Zähne. Dann schnaubte er und drückte noch fester zu, offenbar entschlossen, dem Jungen das Maul für immer zu stopfen.

»Ich hab gesagt, lass ihn los, verdammt«, wiederholte Cane, dann packte er den Alten am anderen Arm und zerrte ihn mit einer solchen Gewalt hinter dessen Rücken, dass ein lauter Knall den Raum erfüllte. Pearl stieß einen durchdringenden Schrei aus, riss sich von Cane los und schubste Chimney weg. Der Junge hustete und spuckte den Rest seines Frühstücksklumpens auf den Boden, und sie schauten im dämmrigen Licht zu, wie der Alte alles mit dem Schuh in den Boden rieb, während er sich den Schmerz aus der Schulter walkte. Niemand sagte noch ein Wort. Selbst Chimney war sprachlos.

Als Pearl fertig war, folgten ihm alle im Gänsemarsch aus der Hütte. Cob blieb am Brunnen stehen und schöpfte einen Eimer Wasser, dann trugen sie ihn, zusammen mit ihrem Werkzeug – drei Doppelbeile, ein paar Macheten und ein rostiger Säbel mit abgebrochener Spitze –, am Rand eines langen grünen Baumwollfelds entlang. Als die Sonne sich über die Hügel im Osten schob (sie sah aus wie das blutunterlaufene Auge eines verkaterten Kneipenhockers), erreichten sie ein sumpfiges Stück Land, das sie für Major Tardweller rodeten. Er hatte ihnen einen Bonus von zehn Legehennen versprochen, falls sie den Job in sechs Wochen schafften, und Cane schätzte, dass sie das beim bisherigen Tempo vielleicht gerade so schaffen konnten. Er zog sein zerlumptes Hemd aus und legte es über den Segeltucheimer, um Schnaken und Moskitos fernzuhalten, dann begann ein neuer Arbeitstag. Als am Nachmittag nur warmes Wasser in ihren Gedärmen herumgluckerte, konnten sie an nichts anderes mehr denken als an das kranke Schwein, das in der Räucherkammer hing.

2

Am selben Vormittag wollte mehrere Hundert Meilen entfernt im südlichen Ohio ein Farmer namens Ellsworth Fiddler seinen Sohn wecken, stellte aber fest, dass der schon aufgestanden und verschwunden war. Er stand einen Augenblick da und besah sich Eddies leeres Bett, dann ging er zur Scheune in der vagen Hoffnung, ihn dort zu finden, doch auch hier keine Spur von ihm. Er kehrte ins Haus zurück, sah nach, ob seine Frau Eula noch schlief, dann ging er in den Keller unter der Küche. Wie er befürchtet hatte, fehlten mindestens zwei Krüge von seinem Brombeerwein. »Ich hätte ihm nie den ersten Schluck geben dürfen«, murmelte er und erinnerte sich an letztes Weihnachten. Der Feiertag war bedrückend gewesen, vor allem weil im September zuvor Ellsworth und seine Frau all ihre Ersparnisse an einen Trickbetrüger in einem karierten Anzug verloren hatten; er hatte gedacht, einen Schluck mit Eddie zu teilen, würde den Jungen ein wenig aufmuntern. Sein eigener Vater hatte ihm jeden Abend ein Glas genehmigt, seit er zwölf gewesen war, und er war doch auch ein anständiger Mensch geworden, oder nicht? Im Nachhinein hätte er es allerdings besser wissen müssen. Eddie hatte schon immer zu Tagträumerei geneigt, hatte gern geflunkert und war arbeitsscheu, und schon ein Glas kräftiger Cider konnte mit solchen Leuten merkwürdige Dinge anstellen. Und tatsächlich, seit dem ersten Schluck unten im Keller, als sie zuhörten, wie Eula in der Küche hin und her ging und den Weihnachtsvogel stopfte, einen zähen, sehnigen Truthahn, den er bei Roy Cox gegen ein altes Zaumzeug eingetauscht hatte, war der Junge obendrein auch noch ein wahrer Schluckspecht geworden.

Ellsworth tauchte gerade aus dem Keller auf, als Eula in die Küche kam. »Was machst du denn da?«, fragte sie.

»Ich suche Eddie«, antwortete Ellsworth nervös. »Er ist nicht im Bett.«

»Er ist weg, meinst du?«

»Na ja, ich kann ihn nicht finden.«

»Und selbst wenn du ihn nicht finden kannst, warum sollte er dann um sechs Uhr früh im Keller sein?«

»Keine Ahnung«, antwortete Ellsworth. »Ich wollte nur …«

Eula schüttelte den Kopf und ging in das Zimmer des Jungen, um selbst nachzusehen. Ellsworth wartete, ob sie nach ihrer Rückkehr etwas sagen würde, doch sie zündete nur das Reisig im Herd an und schöpfte Wasser für den Kaffee in einen Topf. Ellsworth ging nach hinten zur Scheune hinaus und fütterte das Maultier; ein paar Minuten später rief Eula ihn zum Essen, und er setzte sich, um ein paar Eier und einen Teller zähen, faden Haferbrei zu essen. Himmel, dachte er, letztes Jahr um diese Zeit hatte es Würstchen mit Soße gegeben, vielleicht sogar Schweinskoteletts. Er war es leid, über den Betrug nachzudenken, doch schon die kleinste Kleinigkeit erinnerte ihn daran, sogar sein Frühstück. Da war ein Schmerz in ihm, der nie nachließ, der wohl für den Rest seines Lebens an ihm nagen würde. Eines strahlenden Nachmittags Ende September vergangenen Jahres hatte ein Mann auf einer Fuchsstute ihn und Eddie auf der Straße angehalten und beiläufig gefragt, ob er wohl jemanden wüsste, der daran interessiert sein könnte, fünfzig Guernsey-Kühe für zwanzig Dollar das Stück zu kaufen. »Warum denn so billig?«, hatte Ellsworth argwöhnisch gefragt. Er wusste genau, dass Henry Robbins ein paar Wochen vorher mehr als das Doppelte für ein paar Holsteiner Kälber bezahlt hatte.

»Na ja, um ganz ehrlich zu sein«, meinte der Mann, »ich bin knapp bei Kasse. Meine Frau ist krank geworden, und der Doktor meint, sie hält keine sechs Monate mehr durch, wenn ich sie nicht in wärmeres Klima bringe.«

»Ach«, meinte Ellsworth, »tut mir leid, das zu hören.«

»Schwindsucht«, fuhr der Mann fort. »Nolie war noch nie bei bester Gesundheit, nicht mal, als ich sie vor fast zwanzig Jahren geheiratet habe, aber das war mir egal. Ist es mir auch heute noch. Ist ja nicht ihre Schuld, dass sie so kränklich geboren wurde. Ich würde sogar einen Pakt mit dem Teufel eingehen, damit sie nur einen weiteren Atemzug machen kann. So wie ich das sehe, ist ein Mann, der nicht alles tut, um sein Ehegelübde zu halten, kein richtiger Mann.« Er zog ein schmutziges Taschentuch aus der Jackentasche und wischte sich die Augen trocken. »Na, jedenfalls ist das der Grund, warum ich so eilig verkaufen muss.«

Ellsworth beeindruckten die Worte des Mannes; ihm ging es mit Eula ganz ähnlich, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er so weit gehen und sich auf einen Pakt mit dem Teufel einlassen würde, ganz gleich, wie schlimm es stand. »Wie viel würden die Kühe denn alle zusammen kosten?«, hatte er gefragt, weil er so große Zahlen nicht ohne Hilfe ausrechnen konnte.

»Tausend Dollar«, hatte Eddie sich gemeldet.

»Stimmt«, sagte der Mann. »Der Bursche hat einen klugen Kopf auf den Schultern, nicht?«

»Schätze schon«, murmelte Ellsworth bei sich und sah an dem Mann vorbei zu einer Gilbammer hinüber, die gerade ein paar Meter entfernt in einem Holzapfelbaum gelandet war. Eula und er hatten tausend Dollar beiseitegelegt, aber das war alles, was sie besaßen, und sie hatten Jahre gebraucht, um es sich zusammenzusparen. Aber wenn er sie überzeugen konnte, hätte er mehr Vieh als sonst jemand in der Gemeinde. Kaufte er sie nicht, dann tat das im Lauf des Tages mit Sicherheit ein anderer. Die Gelegenheit war einfach zu gut, um sie sich entgehen zu lassen. »Ich muss das erst mit meiner Frau besprechen«, sagte er.

»Ich weiß genau, was Sie meinen«, entgegnete der Mann. »Ich gebe auch keinen Cent aus, ohne es vorher mit Nolie zu bereden.«

Der Mann war ihnen nach Hause gefolgt und hatte auf dem Hof gewartet. Ellsworth hatte Eula am Küchentisch bei ihrem nachmittäglichen Kaffee vorgefunden. Er ging auf und ab, erklärte ihr die Situation in immer leuchtenderen Farben auf zwanzig verschiedene Arten und unterbrach sich ab und zu, um sie daran zu erinnern, dass er sich mit Rindern so gut auskannte wie Henry Robbins, wenn nicht besser. »Wir könnten eine der besten Milchfarmen in der ganzen Gegend haben«, sagte er zu Eula. »Oder wir bringen sie zur Versteigerung und verdoppeln unser Geld. So oder so, das ist die Chance unseres Lebens.« Natürlich war sie dagegen gewesen, wie er es sich schon gedacht hatte, doch nachdem er unablässig eine Stunde lang auf sie eingeredet hatte, gab sie widerstrebend nach. Sie ging ins Schlafzimmer und kehrte mit dem Geldglas zurück, das sie unter einer losen Diele hinter der Kommode versteckt hatte. »Aber schau dir diese Kühe gut an, bevor du ihm das hier gibst«, mahnte sie.

Drei Stunden später kamen Ellsworth, Eddie und der Mann durch ein weites, robustes Tor zu einer großen Farm zwischen ein paar bewaldeten Hügeln in Pike County. Ellsworth ließ bewundernd den Blick über die welligen grünen Weiden und die Felder voller Mais und Heu schweifen und betrachtete die frisch gestrichene Scheune, die verstreuten Nebengebäude und das zweistöckige Ziegelhaus, das etwas zurückgesetzt zwischen ein paar großen Eichen stand. »Ein hübsches Fleckchen haben Sie hier«, stellte er fest.

»Ja«, sagte der Mann. »Der Herr hat es gut mit mir gemeint.«

Ellsworth hatte sich überlegt, was wohl mit dem Land passieren würde, wollte aber nicht fragen. Schließlich musste der Mann schon bei seinem Viehbestand in die Knie gehen. Später erinnerte er sich, dass es ihn ein wenig überraschte, wie weich die Hand des Mannes gewesen war, als sie das Geschäft per Handschlag besiegelten. Und dann war da noch das karierte Jackett und die Hose, die er getragen hatte – noch so ein Warnzeichen, das Ellsworth in seiner Eile, das Missgeschick eines anderen zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen, in den Wind geschlagen hatte, wie er später zu seiner Schande eingestehen musste. »Nun, ich hoffe, Ihrer Frau geht es bald wieder besser«, hatte er gesagt und zugeschaut, wie der Mann das Geld eingesteckt hatte, ohne es überhaupt zu zählen, und ihm dann auf der Rückseite eines alten Briefumschlags mit einem Bleistiftstummel eine Quittung ausstellte.

»Das hoffe ich auch«, hatte der Mann gesagt. »Ich wüsste nicht, was ich ohne sie machen soll.« Als er das sagte, zitterte seine Stimme, und wann immer Ellsworth den Zwischenfall im Geiste durchging, war es genau das, was ihn am meisten in Rage brachte. Manchmal stellte er sich den schmierigen Schurken in einer verräucherten Kaschemme vor, die tausend Dollar in der Tasche, wie er vor dem Abschaum seiner Kumpane zwischen Gelächter und Getränkerunden für alle damit prahlte, wie er das Landei umgarnt und einen raffinierten, betrügerischen Faden nach dem anderen gesponnen hatte. Denn wie sich herausstellte, hatte der Mann von Anfang an keinerlei Ansprüche auf die Rinder.

Doch Ellsworth bekam erst später mit, dass er reingelegt worden war. In den folgenden zwei Tagen trieben Eddie und er knapp die Hälfte der Herde die sieben Meilen zu ihrer Farm, immer vier, fünf Tiere auf einmal. Am dritten Morgen dann, als sie gerade mit einer weiteren Gruppe durchs Tor ziehen wollten, tauchte der echte Besitzer der Farm auf, der in der Woche zuvor bei einem Familientreffen in Yellow Springs gewesen war. Zum Glück war Abe McAdams ein vernünftiger Mensch. Er schickte nach dem Constable und hielt in aller Ruhe eine Schrotflinte auf Ellsworths Kopf gerichtet, während sie warteten, aber es hätte noch schlimmer kommen können. Niemand hätte McAdams einen Vorwurf gemacht, wenn er die beiden über den Haufen geschossen hätte. Schließlich tauchte der Constable in einem Model T auf, mit einem weißen Stern auf der Tür. Zu dem Zeitpunkt ging McAdams schon nicht mehr davon aus, dass die beiden ihm wirklich das Vieh hatten stehlen wollen, aber Constable Sykes, ein Mann, der schon so viele falsche Unschuldsbeteuerungen gehört hatte, dass es einer Konzerthalle das Dach weggepustet hätte, bestand darauf, die beiden zu verhaften und einzubuchten, zumindest, bis er ein paar Untersuchungen angestellt hatte. Keiner von den beiden war schon jemals zuvor in einem Automobil gefahren, und Ellsworth, dem schon ganz schlecht war, weil man ihn so übers Ohr gehauen hatte, übergab sich mehrmals auf die Trittbretter, bevor sie zum Gefängnis von Pike County kamen. Alle, von dem zahnlosen Kerl in der Nachbarzelle, der seine Frau verprügelt hatte, bis zu der Meute an Schaulustigen, die sich vor dem vergitterten Fenster versammelten, fragten sich, wie dumm der Farmer nur hatte sein können. Nicht wenige boten ihm alles Mögliche zum Kauf an: einen Landsitz auf einem Hügel für fünfzig Cents, eine garantiert echte Locke vom Haupte Jesu für zwei Kippen, die Baltimore & Ohio Railroad für ein Dutzend brauner Eier. Sich ihre Witze anhören zu müssen, war schon schlimm genug, doch viel schlimmer war es, Eddie zu sehen, der seit ihrer Verhaftung kein Wort gesagt hatte und sich mit dem Gesicht zur Wand auf einer Pritsche zusammenrollte, als könne er seinen Anblick nicht ertragen. Eine Stunde vor Sonnenuntergang wurden sie schließlich freigelassen. »Und was ist mit dem Kerl, der mein Geld gestohlen hat?«, fragte Ellsworth beim Hinausgehen.

Der Constable zuckte mit den Schultern. »Da würde ich mir keine allzu großen Hoffnungen machen. Ich halte die Augen offen, aber ich schätze, der alte Knabe ist längst über alle Berge. Sorgen Sie dafür, dass das Vieh wieder zu seinem rechtmäßigen Besitzer zurückkommt.«

An jenem Abend zu Eula zurückzukehren, war das Härteste, was er je im Leben hatte tun müssen. Wenn sie ihn nur mit ihren Fäusten traktiert hätte, ihn verflucht oder angespuckt hätte. Aber nein; abgesehen von einem kaum hörbaren Luftschnappen, als ihr aufging, was er ihr da erklärte, sagte sie gar nichts. Wochenlang ging sie wie benommen umher, aß nicht, schlief nicht, atmete manchmal kaum, so schien es. Er fürchtete schon, sie würde sich was antun. Jeden Nachmittag kehrte er von den Feldern oder aus der Scheune zurück voller Angst, was er zu Hause vorfinden würde. Doch eines Novembermorgens, zwei Monate nach dem Betrug, hörte er, wie sie bei sich sagte: »Dann müssen wir eben wieder von vorn anfangen, das ist alles.« Sie stand am Herd und bereitete das Frühstück, schürzte die Lippen und nickte, als würde sie dem zustimmen, was ein anderer gesagt hatte. Danach kam sie wieder zu sich, und wenn Ellsworth auch wusste, dass sie ihm seinen Leichtsinn und seine Dummheit vielleicht nie verzeihen würde, so musste er sich zumindest keine Sorgen darüber machen, dass sie verrückt werden oder eine Tasse Rattengift schlucken würde.

Er kratzte den letzten Rest Haferbrei aus dem Teller und erhob sich. Eula hatte die ganze Zeit kein Wort gesagt, sondern stand nur da, starrte aus dem Fenster und trank ihren Kaffee. »Also«, meinte Ellsworth, »sag ihm, wenn er auftaucht, er soll zu dem Feld gegenüber von Mrs. Chesters Haus kommen. Und eine Hacke mitbringen.«

»Und was, wenn er nicht auftaucht?«

»Das sollte er besser, bei Gott«, sagte Ellsworth. »Da ist schon alles ganz zugewuchert.«

3

Das Leben war zu Pearl Jewett nicht immer so hart gewesen. Früher hatte er mal eine eigene Farm gehabt, drüben in North Carolina, nur ein paar Morgen, aber groß genug, um damit über die Runden zu kommen, wenn man bereit war, sich den Arsch aufzureißen. Das Leben war so gut, wie es sich ein ungebildeter Farmer ohne Geburtsrecht in jenen Tagen nur wünschen konnte, und Pearl dankte dem Allmächtigen aufrichtig dafür. Er war in seiner Jugend ein ziemlicher Trinker und Radaubruder gewesen, hatte aber eine neue Seite aufgeschlagen, als er Lucille kennenlernte, und nach ihrer Heirat fiel er nur noch betrunken vom Wagen, wenn sie in den Wehen lag. Deshalb hatten die recht merkwürdigen Namen, die er seinen Söhnen verpasst hatte, keine besonderen Bedeutungen, sondern waren einfach nur das Ergebnis dessen, was passiert, wenn ein Mann, der schon seit einer Weile nichts mehr trinkt, zu viel Whiskey schluckt und dann darauf besteht, seinen Willen durchzusetzen. Bei Cane hatte er die Inspiration von einem Gehstock, den ihm jemand in einer wüsten Kneipe über den Kopf gezogen hatte; bei Cob handelte es sich um einen halb abgenagten Maiskolben, den er in seiner Gesäßtasche entdeckte, nachdem er unter der Veranda eines Gasthauses namens The Rebel Inn wieder zu sich gekommen war; bei Chimney wiederum war es ein Ofenrohr gewesen, von dem er sich ziemlich sicher war, dass er einem Nachbarn dabei geholfen hatte, es aus einem Blech zu fabrizieren; als Gegenleistung hatte er eine Tasse Schnaps bekommen, der wie schlammiges Kerosin geschmeckt und ihm noch tagelang taube Finger und Zehen eingebracht hatte. Lucille wären christliche Namen wie John und Luke und Adam lieber gewesen, aber sie fand, es hätte schlimmer enden können, und war einfach dankbar dafür, dass er wieder daheim war und geradeaus gehen konnte. Er verzichtete auf vieles, sogar auf den Tabak, um den Platz in der Kirchenbank der First Baptist Church of Righteous Revelation im nahe gelegenen Hazelwood bezahlen zu können, und in den folgenden Jahren marschierten seine junge Familie und er jeden Sonntagmorgen bei Wind und Wetter zum Gottesdienst. Pearl war besonders stolz darauf, dass seine Frau neben dem Prediger zu den wenigen Gemeindemitgliedern gehörte, die aus der Bibel lesen konnten, und deshalb hatte er sie schnell als Freiwillige gemeldet, nachdem der letzte Laienlektor, ein selbstgefälliger Mann mit geschmeidiger Stimme namens Sorghum Simmons, rückfällig geworden und mit der Frau eines Diakons und dem Geld eines Geschäftspartners durchgebrannt war – trotz Lucilles Schüchternheit, die manchmal so groß war, dass sie ihm, Pearl, kaum in die Augen schauen konnte. Woche für Woche musste er sie dazu überreden, nach vorn zu gehen, wobei er sich sagte, es sei nur zu ihrem Besten. Als sie das erste Mal am Sonntag im Bett liegen blieb und klagte, wie schwach sie sich fühle und wie schwindlig ihr sei, dachte er folglich, sie würde nur simulieren, deshalb vergingen mehrere Monate, bis ihm klar wurde, dass sie wirklich krank war.

Bis dahin hatte Lucille ziemlich an Gewicht verloren, und ihre schlaffe Haut hatte die trübe graue Farbe einer Regenwolke angenommen. Pearl verpfändete das Land, um Ärzte zu holen. Einer von ihnen ließ sie zur Ader, ein anderer verschrieb teure Elixiere, ein Dritter setzte sie auf eine Diät aus geronnener Milch und rohen Zwiebeln, doch nichts schien zu helfen. Dann ging ihm das Geld aus, und er konnte nur noch zusehen, wie sie langsam dahinsiechte. Was sie niederstreckte, blieb bis zur Nacht der Totenwache ein Rätsel. Pearl saß allein da und leistete ihren sterblichen Überresten im dämmrigen, flackernden Schein einer einzelnen Kerze Gesellschaft, als er bemerkte, dass ihre Zungenspitze zwischen den Lippen herausragte. Er beugte sich vor, um das zu ändern, da bemerkte er eine leichte Bewegung. Mein Gott, dachte er und sein Herz schlug schneller, kann es sein, dass sie noch lebt? »Herr Jesus«, fing er zu beten an, dann reckte sich ein Wurm, kaum breiter als ein Ringfinger und nicht dicker als ein paar Blatt Papier, ein paar Zentimeter aus ihrem Mund heraus. Pearl sprang vom Bett zurück und warf dabei den Stuhl um, schaffte es aber, an der Tür stehen zu bleiben. Er stand da und lauschte auf das leise Atmen seiner Söhne, die im Nebenzimmer schliefen, während er versuchte, sein Herz zu beruhigen, das ihm wild in der Brust pochte. Schaudernd dachte er an einige der Worte, die Lucille das letzte Mal in der Kirche gelesen hatte, als sie noch gesund genug dafür gewesen war: »Wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt.« Er wusste zwar nicht mehr, wie die Textstelle weiterging, aber er war sicher, Reverend Hornsby hatte in seiner Predigt erläutert, dass dies eine angemessene Beschreibung der Hölle sei. Er debattierte mit sich, was zu tun war. Seine Frau mit diesem Ding im Körper zu begraben, kam nicht infrage, aber er hatte keine Ahnung, wie er es entfernen sollte, ohne sie aufzuschneiden, doch allein die Vorstellung, das zu tun, war ihm unerträglich. Er trat vor und sah, wie weitere fünf Zentimeter des Wurms herauskrochen, und der blinde Kopf richtete sich auf und bewegte sich hin und her, als wolle er erst einmal die Lage in dieser neuen Welt sondieren. Pearl ging im Zimmer auf und ab und kämpfte gegen den Drang an, den Wurm mit bloßen Händen zu zerquetschen. Zum ersten Mal seit Jahren lechzte er nach einem Schluck. Das Einzige, was er tun konnte, entschied er, war abzuwarten, also setzte er sich wieder hin und verbrachte die kommenden Stunden damit, zuzuschauen, wie sich das Geschöpf aus ihr her auswand.

Kurz nach Sonnenaufgang glitt das letzte Stück des Wurms aus Lucilles Mund und fiel mit einem leisen, fast unhörbaren Plopp auf ihre Brust. Pearl sah aus dem Fenster über den Hof hinaus auf die öden, mit Unkraut überwucherten Felder. Lucilles Sterben hatte im Frühling begonnen und den ganzen Sommer über gedauert. Bald würde der Mann von der Bank kommen und sein Geld verlangen, doch Pearl hatte es nicht. Er stand auf und wiederholte laut die Worte aus der Bibellesung: »Wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt.« Er dachte eine Weile darüber nach, dann drehte er sich zum Bett um, wickelte den Wurm wie ein nasses Seil auf und trug ihn hinaus. Vor dem Haus rollte er ihn aus und fixierte die beiden pulsierenden Enden mit Steinen, die er von der Umrandung von Lucilles Blumenbeeten nahm. Zwei Pfauenhennen, mehr war von seinem Tierbestand nicht übrig geblieben, kamen ums Haus herbeigeeilt und pickten ungestüm nach dem Wurm. Er packte sie mit je einer Hand und schlug ihnen an einem Verandapfosten die Köpfe ein. Dann ging er ins Haus, trank eine kalte Tasse Kaffee und weckte seine Söhne. Am späten Vormittag trugen Cane und er Lucille aus dem Haus und begruben sie im Schatten einer Magnolie, wo sie immer gesessen hatte, um Bohnen auszuhülsen und in der Bibel zu lesen. In den darauffolgenden Tagen knabberten die Jungs an Hühnerknochen und schmückten das Grab mit allem, was sie an hübschen Dingen finden konnten; Pearl saß schweigend da und schaute zu, wie die sengende Sonne von Carolina den Wurm in einen silbrigen, ledrigen Streifen verwandelte. Als der Wurm in Pearls Augen genug ausgetrocknet war, stopfte er die Überreste zusammen mit ein paar Pfauenhennenfedern in einen leeren Kaffeebohnensack und nähte ihn wie ein Leichentuch zu. Von da ab, und das war nun schon fast vierzehn Jahre her, hatte er des Nachts seinen Kopf auf diesen Sack gebettet; er sollte ihn auch daran erinnern, dass nichts in diesem weltlichen Leben gewiss ist, nur der Tod.

4

Als Eddie auch zum Abendessen nicht nach Hause kam, wusste Ellsworth, dass etwas nicht stimmte. Der Junge blieb nie so lange fort, ganz egal, wie sehr er sich hatte volllaufen lassen. Der Farmer stand auf der Veranda, paffte seine Maiskolbenpfeife und hörte Eula in der Küche herumhantieren. Er hoffte bei Gott, dass der Dummkopf nicht besoffen in einem Teich ertrunken oder über den Hügel verschwunden war und sich bei einer dieser Frauen in Slab Holler, vor denen die Männer in Parkers Laden die jungen Burschen immer warnten, die Syphilis geholt hatte. Was für ein Durcheinander. Er hatte zwar stets sein Bestes versucht, das Ausmaß des Schlamassels vor Eula zu verbergen, in das Eddie immer wieder geriet, aber es wurde von Mal zu Mal schwerer. Ellsworth wusste nicht mal, warum er das immer noch tat, außer um ihr die Sorgen zu ersparen. Einen Augenblick lang fragte er sich, was wohl schlimmer wäre – ihn mit dem Gesicht nach unten in irgendeinem Schlammloch zu finden oder mit ansehen zu müssen, wie er von seinem kranken Pillermann blind und wahnsinnig wurde.

»Ich kann mir keinen Reim drauf machen«, sagte er, als er schließlich den Mut aufgebracht hatte, ins Haus zu gehen. »Meinst du, er ist vielleicht mit den Hess-Jungs angeln gegangen?« Eula würdigte ihn keiner Antwort, wischte sich die roten Hände an der Schürze ab und ging zum Herd zurück. Ellsworth setzte sich und trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Er sah sich im Raum um und bemerkte, dass sie die beiden ausgeblichenen Bilder an der hinteren Wand umgehängt hatte, Fotos von tropischen Inseln aus einem Magazin, das Eddie mit zehn Jahren eines Freitags aus der Schule mitgebracht hatte; er hatte erklärt, Mr. Slater, der Lehrer, habe das Magazin in den Papierkorb geworfen. Das erste Mal, dass er ihn bei einer Lüge ertappt hatte, erinnerte sich Ellsworth. Am darauffolgenden Nachmittag hatte er Slater auf der Straße getroffen, der gerade zu Eddie wollte, um ihn nach dem Exemplar des National Geographic zu fragen, das aus seiner Schreibtischschublade verschwunden war. Ein anderer Schüler hatte behauptet, Eddie damit gesehen zu haben. »Ich weiß nicht, ob er das Magazin genommen hat, Mr. Fiddler«, fing Slater an, »aber …«

»Er war es«, sagte Ellsworth und lief vor Scham rot an.

»Ach«, sagte der Lehrer, »Sie wussten also, dass er es gestohlen hat?«

»Nein, aber jetzt weiß ich es«, antwortete Ellsworth. Und was hatte er unternommen? Nichts. Er hatte Slater einen Vierteldollar für das verfluchte Magazin gegeben und es vor Eula verheimlicht, weil er es für besser hielt, wenn sie nichts davon wusste. Genau wie er es beim Wein getan hatte.

Ein paar Minuten später stellte sie ihm sein Essen hin, einen fleischlosen Eintopf, wie sie ihn seit letztem Herbst immer dienstags und freitags kochte, und setzte sich zu ihm. Abgesehen von einem recht großen Überbiss war sie mit ihren hellblauen Augen und der glatten milchweißen Haut fast hübsch gewesen, als sie geheiratet hatten, und all die Jahre hatte sie sich ihr Aussehen bewahrt, doch es war offenkundig, dass das letzte Jahr sie schwer mitgenommen hatte. Zwar hatte sie sich nach dem Verlust des Geldes größtenteils wieder gefangen, aber sie schien nichts mehr auf ihr Äußeres zu geben. Ihr Baumwollkleid war mit zahlreichen Spritzern befleckt, ihre Haare bildeten einen fettigen braunen Dutt oben auf dem Kopf. Selbst vom anderen Ende des Tischs konnte er ihren strengen Schweißgeruch nur schwer ignorieren. »Isst du denn nichts?«, fragte er und butterte sich eine Scheibe Brot.

»Du musst diesen Wein wegkippen«, sagte Eula mit ruhiger, aber entschlossener Stimme. »Wenigstens das, was noch davon übrig ist.« Sie hatte sich entschieden. Es musste etwas wegen Eddie unternommen werden, bevor es zu spät war. Erst vor zwei Wochen hatte er den Vormittag in seinem Zimmer verbracht und wieder mal seine angeblichen Bauchschmerzen auskuriert, dann war er mit der Schrotflinte aus dem Haus geschlichen und hatte in Pickles, die Katze, die in den vergangenen zehn Jahren ihre engste Vertraute gewesen war, ein Loch geschossen. Natürlich schwor er auf der Stelle, es sei nur ein Unfall gewesen, und dessen war sie sich auch ziemlich sicher, dennoch, fand sie, gehörte ihm eine Lektion erteilt. Doch Ellsworth war nur noch einfallsreicher geworden, wenn es darum ging, gegenüber dem Jungen Nachsicht walten zu lassen. Im Nachhinein wusste sie eigentlich nicht, warum sie etwas anderes erwartet hatte. Ellsworth war schon immer weichherziger und vertrauensseliger gewesen, als für ihn gut war, und Eddie hatte im Lauf der Jahre gelernt, wie er diese Gutmütigkeit bei jeder passenden Gelegenheit ausnutzen konnte.

Ellsworth legte das Brot hin und schaute weg, während er einen Schluck Buttermilch trank. Er war zweiundfünfzig, hatte ein freundliches, leicht demütiges Gesicht und schütteres graues Haar, das Eula ihm mit einer Schneiderschere stutzte. Er konnte noch immer schneller arbeiten als die meisten anderen Männer der Gemeinde, doch manchmal wachte er jetzt in der Früh auf und fragte sich, wie lange das noch gut ging. Seit der Peinlichkeit im letzten Herbst waren Gesicht und Bauch runder geworden, trotz Eulas Rationierungen, und in letzter Zeit ging er leicht gebückt, was meist aussah, als würde er auf dem Boden nach einem Nagel suchen, der ihm aus der Tasche gefallen war, oder nach dem entscheidenden Hinweis bei einem Rätsel, das er unentwegt zu lösen suchte. In vielerlei Hinsicht hatte ihnen der Betrüger mehr als nur Geld gestohlen.

Als Ellsworth an jenem Abend von der Feldarbeit nach Hause gekommen war und Eula ihm erzählt hatte, dass Eddie Pickles erschossen hatte, war er sofort zu dessen Zimmer gestürmt. Er riss die Tür auf, der Junge sprang vom Bett, und ein Buch, das neben ihm gelegen hatte, fiel zu Boden. Er war erst vor ein paar Minuten damit fertig geworden, die Katze zu verscharren, und glänzte noch vor Schweiß. »Was zum Teufel ist nur los mit dir?«, hatte Ellsworth gebrüllt.

»Es war ein Unfall, ich schwöre«, beteuerte Eddie.

»Ein Unfall? Wie kann so etwas ein Unfall sein?«

»Ich bin gestolpert, und das Gewehr ist losgegangen. Ich hab das nicht gewollt.« Im Prinzip sagte Eddie tatsächlich die Wahrheit. Nachdem er den Vormittag über heimlich vom Wein seines Vaters getrunken und erfolglos in einem zerlesenen Buch mit dem Titel Tom Jones nach den schlüpfrigen Stellen gesucht hatte, von denen Corky Routt gesprochen hatte, war ihm langweilig geworden, und er hatte beschlossen, die Schrotflinte aus dem Schrank zu stibitzen und ein paar Vögel abzuballern. Er war über den Hinterhof gewankt und Pickles war ein paar Meter vor ihm herstolziert, als er stolperte und hinfiel. Die Flinte, deren Abzug ziemlich leicht ging, hatte gefeuert, als sie auf den Boden knallte, und er hatte eine Minute dagelegen und geflucht, bevor er sich aufgerichtet und gesehen hatte, dass der Schuss die Katze fast in zwei Stücke gerissen hatte.

Ellsworth sah die blutunterlaufenen Augen des Jungen und fragte: »Du hast schon wieder getrunken, richtig?«

»Nein«, beteuerte Eddie nervös, »aber so wie Mom getobt hat, wäre es mir fast lieber gewesen.«

Ellsworth schüttelte den Kopf. Er versuchte ja alles, seinen Sohn zu lieben und ihn so zu nehmen, wie er war, dennoch ertappte er sich wieder mal dabei, dass er sich wünschte, er wäre mehr wie Tom Taylors Sohn Tuck, groß und knochig, der schon mit zehn Jahren Maultiere beschlagen konnte. Er hatte Schuldgefühle, wann immer er solche Gedanken hegte, aber er wartete nun schon seit Jahren darauf, dass der Junge zur Vernunft kam und sich nützlich machte. Nicht ein einziges Mal hatte er Eddie geschlagen, für jede Form von Grausamkeit hatte er gar nicht die Nerven – ob es nun darum ging, Hunde zu treten, Pferde zu peitschen, Katzen zu ersäufen oder Kinder zu schlagen –, aber jetzt bedauerte er sein weiches Herz. Fünfzig Morgen allein zu bewirtschaften, war harte Arbeit, und er wurde nicht jünger. Er fragte sich langsam, ob Eddie, mit seiner langsamen Art, diesen dünnen Handgelenken und der zottligen blonden Mähne, die ihm stets in die Augen fiel, nicht besser ein Mädchen geworden wäre. Dann hätte er zumindest eine Chance auf einen kräftigen Schwiegersohn gehabt, der mit anpacken konnte. Aber das Ganze war nun mal ein Kompromiss, und was immer ein Mann tat, am Ende bereute er meistens, nicht das andere getan zu haben. »Was ist das für ein Buch, das du da hast?«, fragte er.

»Ähm«, stammelte Eddie, »es geht um einen Mann, der …«

»Ist mir völlig egal, worum es geht. Wo hast du das her?«

»Corky hat es mir geliehen.«

»Dann gehst du jetzt auf der Stelle zu ihm rüber und bringst es zurück.«

»Ja, Sir.«

»Und das meine ich ernst«, betonte Ellsworth. »Lesen kannst du wieder, wenn du zur Vernunft gekommen bist.« Eula hatte darauf bestanden, dass Eddie die sechste Klasse beendete, bevor er von der Schule gehen durfte, und der Farmer war davon überzeugt, dass der Großteil der Probleme des Jungen mit seiner Bildung zu tun hatte. Anders gesagt, er hatte gerade genug Bildung mitgekriegt, um ihn für die wirkliche Welt zu versauen. Ellsworth hatte das schon erlebt, meist bei so flatterhaften Wesen wie lüsternen alten Jungfern und kurzsichtigen Verkäufern, die zu viel Zeit totzuschlagen hatten. Die steckten ihre Nasen in ein Buch, und plötzlich war Ross County, Ohio, nicht mehr gut genug für sie. Und ehe man sich’s versah, verstrickten sie sich in irgendeine Abartigkeit, wie diese alte Wilkins, die es irgendwie geschafft hatte, sich an einem Bettpfosten innerlich aufzureißen, oder sie hauten auf der Suche nach ihrer ›Bestimmung‹ in eine größere Stadt wie Dayton oder Toledo ab. Manchmal vermischten sich diese beiden Impulse aber so sehr, dass es auf dasselbe herauskam, wie bei dem jungen Fletcher; die Polizei fand ihn niedergemetzelt in einem Hotelzimmer in Cincinnati, an seinen Kopf war eine Frauenperücke geklebt, und sein Pimmel lag unter dem Bett, achtlos weggeworfen wie ein Schuh.

Ellsworth spürte, wie seine Frau ihn über den Tisch hinweg anstarrte; sie erwartete eine Antwort wegen des Weins. Er stellte sein Glas ab und räusperte sich. »Ich verstehe nicht, was das mit Eddies Verschwinden zu tun haben soll«, sagte er schließlich.

»Deine Seite der Familie hat schon immer zu sehr dem Alkohol zugesprochen, das weißt du«, erwiderte Eula.

»Das stimmt nicht. Onkel Peanut kam gut zurecht, bis seine Frau mit diesem Zigeuner durchgebrannt ist.«

»Gut zurecht? Meine Güte, Ells, du redest von einem Mann, der bei Jack Eliots Fischgrillen mal für eine Flasche Schwarzbrand einen Hundehaufen gegessen hat, und das war lange bevor er sich jemals mit Jolene Carter zusammengetan hat. Nein, ich meine es ernst. Vielleicht wird Eddie ein Trinker werden, aber nicht auch noch mit unserer Hilfe. Du schüttest den Wein weg und Schluss.«

Die Buttermilch stieg ihm wie heiße Lava in die Kehle, und Ellsworth musste ein paar Mal schlucken, um sie bei sich zu behalten. Die ganze Mühe, die er sich mit dem Wein gemacht hatte, doch bei ihr hörte es sich an, als sei es keine große Sache, diese Fässer auszukippen wie Omas Nachttopf. Er wusste, sie hatte ja recht, aufgebracht zu sein, aber Himmel noch mal, es musste doch einen anderen Weg geben. Die zwei Tassen, die er am Abend trank, waren das Einzige, worauf er sich an den meisten Tagen noch freuen konnte. Er sah zu der Kellertür hinüber, die in der Küchenecke in den Dielenboden eingelassen war. »Und was, wenn ich ein Schloss dranmache?«, fragte er, nachdem er sich ziemlich sicher war, dass er die Buttermilch nicht über den Tisch spucken würde.

»Ein Schloss? Woran denn?«

»An die Kellertür«, antwortete er schnell. »Dann kommt er nicht dran. Parker hat welche drüben im Laden. Vorhängeschlösser.«

Eula bemerkte die leicht zittrige Verzweiflung in seiner Stimme und wurde für einen Augenblick schwach. Vielleicht kann das ja funktionieren, dachte sie und rieb sich die Stirn. Sie wollte schon nachgeben, als sie aus dem Fenster sah und ihr Blick auf Pickles Grab im Hinterhof fiel. Der Junge war betrunken gewesen, als er die Katze erschossen hatte; daran zweifelte sie keinen Augenblick. Zum Teil war es auch ihre Schuld, das wusste sie; wenn sie schon früher etwas gesagt hätte, dann wäre Pickles vielleicht noch am Leben. Aber wenn Ellsworth seinen Wein schützen wollte, dann hätte er an so etwas wie ein Schloss schon viel früher denken können. »Nein«, entschied sie, »ich bleibe dabei.«

»Warum denn nicht?«

Sie seufzte und antwortete: »Weil wir hier von unserem Sohn reden. Tu es einfach und bring es hinter dich.« Sie trank einen Schluck Kaffee und besah sich die fast leeren Regale, in denen sie ihre Vorräte aufbewahrte. »Aber wo du gerade vom Laden redest …«

»Ja?«

»Na, das hat mich an was erinnert.«

»Was denn?«

»Wir haben fast keinen Zucker und kein Salz mehr«, fuhr sie fort, »und ich sollte mich langsam ans Einkochen machen. So wie es aussieht, ist der Garten wohl das Einzige, was uns über den Winter bringt.« Sie stand auf und ging zur Küche hinaus. »Am besten, du gehst morgen zu Parkers Laden und kümmerst dich darum.«

»Und was ist mit Eddie?«, fragte Ellsworth. »Meinst du nicht, ich soll nach ihm suchen?«

Eula blieb stehen und stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab. Ihr war schwindlig, und sie blieb einen Augenblick stehen und wandte ihm den Rücken zu. Eine Welle tiefer Gefühle lief durch ihren Körper, und sie schauderte. Ihr Sohn war verschwunden, ihre Katze tot, und zu allem Überfluss fiel ihr plötzlich ein, dass Zucker und Salz das wenige Geld verschlingen würden, das sie noch hatten. Das musste man sich mal vorstellen, letztes Jahr um diese Zeit hatten sie tausend Dollar angespart gehabt. Sie biss sich auf die Lippe und unterdrückte den Drang, in Tränen auszubrechen.

Von seinem Platz aus sah Ellsworth, wie ihre schmalen Schultern zu zittern begannen. Peinliche Stille erfüllte den Raum, und er fragte sich, ob er aufstehen und sie in den Arm nehmen sollte. Doch gerade als er seinen Stuhl nach hinten schob, wischte sie sich über die Augen und sagte: »Ich nehme an, Eddie wird nach Hause kommen, wenn er so weit ist. Wahrscheinlich albert er nur ein wenig herum.« Dann ging sie weiter ins Schlafzimmer. Lange saß Ellsworth da und starrte den Eintopf an, der auf seinem Teller kalt wurde. Als er schließlich davon ausging, dass sie eingeschlafen war, stieg er mit der Laterne in den Keller hinunter. Er sah sich um, fand fünf leere Krüge und nahm die Holzdeckel von den beiden Weinfässern. Nachdem er die Krüge gefüllt hatte, trug er sie in die Scheune und versteckte sie auf dem Speicher. Dann kehrte er in den Keller zurück. Es waren noch mindestens zehn, fünfzehn Liter übrig. Er schöpfte sich einen Becher voll und trank ihn schnell, dann setzte er sich mit einem weiteren vollen Becher auf die Treppe.

5

Nachdem Pearl seine Frau verloren und die Bank ihm die Farm genommen hatte, wanderte er mit seinen Söhnen ziellos wie Nomaden durch einen schroffen, verarmten Süden, der noch immer durch einen Krieg darniederlag, für den selbst er zu jung war, um sich daran erinnern zu können. Auf Schritt und Tritt begegneten ihnen Korruption und Verfall, und ihre Lage verschlechterte sich immer weiter. Pearl betete zu Gott, ihnen doch den Weg ein wenig zu erleichtern, doch so hart sie auch schufteten, ihre Taschen blieben leer, und die vier schafften es nur mit Mühe, dem Verhungern einen Schritt voraus zu bleiben. Pearl begriff das nicht. Er saß am Feuer des einfachen Lagers, das sie für die Nacht aufgeschlagen hatten, Pearl aß dürren Mais und schimmliges Brot, ging in Gedanken sein Leben durch und versuchte sich daran zu erinnern, ob er irgendetwas getan hatte, um ein solches Schicksal zu verdienen. Er wusste, dass er ab und an gesündigt hatte, aber nicht mehr als die meisten und sicherlich weniger als so mancher andere. Stolz war schon immer sein größter Fehler gewesen, und er wusste, dass es ein eitler, selbstsüchtiger Akt gewesen war, Lucille dazu zu zwingen, in der Kirche zu lesen, und trotzdem, war es nicht an Gott zu vergeben? Wenn schon nicht seinetwillen, dann der Söhne wegen? Zweifel schlichen sich in seine Gedanken, und das machte ihm noch mehr Sorgen als die Frage, woher die nächste Mahlzeit kommen sollte.

Als Pearl den Eremiten am Foggy River kennenlernte, war Lucille schon seit zehn Jahren tot, und der Wurm, der sie getötet hatte, war in seinem Kissen zu Staub zerfallen. An jenem Nachmittag saß er benommen am Flussufer, während die Jungs im Fluss mit Händen Fische zu fangen versuchten. Sie hatten schon seit ein paar Tagen nichts mehr gegessen, und Pearl hatte nicht mehr die Kraft, ihnen zu helfen. Das gelegentliche zischende Geräusch, das vor ein paar Monaten in seinem Kopf aufgetaucht war, hatte sich in letzter Zeit zu einem unablässigen Knistern entwickelt, so als würde sein Gehirn in einer Pfanne angebraten, und schon seit Wochen hatte er nie länger als ein, zwei Minuten am Stück geschlafen.

Der Mann trat aus dem Wald und setzte sich wortlos neben Pearl, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Pearl, dem plötzlich die Anwesenheit eines anderen zu Bewusstsein kam, schreckte auf, schaute sich um und sah einen gebeugten missgebildeten Fremden mit einer Angelrute aus Eschenholz, der nichts als schmutziges, zerschlissenes Sackleinen trug. Auf der Stirn hatte er ein Geschwür, so groß wie ein Silberdollar, das feuerrot glühte. Pearl erinnerte das an das Bild von einem Heiden, der sein ganzes Leben an einen Baum gekettet in einem Haufen Lumpen verbracht hatte und dessen Augen vom Starren in die Sonne zu schwarzen Murmeln verbrannt waren. Ein pockennarbiger Missionar, der gerade aus einem fernen Land zurückgekehrt war, hatte es in der First Baptist Church of Righteous Revelation herumgezeigt und Spenden erbettelt. Pearl fragte sich, ob er wohl träumte. »Sie sind wohl schon eine Weile unterwegs«, sagte er schließlich zu dem Mann.

Der Fremde nickte. »Sehen Sie den kleinen weißen Vogel da drüben in der Zypresse?«, fragte er und zeigte mit seiner Rute hinüber.

Pearl beschattete sich mit einer Hand die Augen und blinzelte über den Fluss. »Ja, ich sehe ihn.«

»Ich folge ihm schon seit fünfzig Jahren. Er führt mich überallhin, wohin ich gehen muss.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass ein Vogel so lange lebt«, meinte Pearl.

»Oh, der da stirbt nie.«

»Wie wollen Sie das wissen?«, fragte Pearl.

»Na ja«, meinte der Einsiedler, »ich habe gesehen, wie ihn eine Schrotflinte weggepustet hat, wie ihn Pantherkrallen zerteilt haben und wie ihn sogar mal eine Bande von Nichtsnutzen drüben bei Turlington vor ein paar Jahren in Brand gesteckt hat, und trotzdem sitzt er hübsch wie eh und je da in dem Baum. Der kommt immer wieder.«

Pearl dachte eine Weile nach und fragte: »Sind Sie eine Art Prediger?«

Der Mann zuckte mit den knochigen Schultern. »Gott spricht ab und zu mit mir, und sein Vogel zeigt mir den Weg. Sonst nichts.«

Ehe er sich’s versah, erzählte Pearl dem Mann von Lucille und dem Wurm und ihrem harten Schicksal seither. Er gestand, dass er sich schon zu fragen begonnen hatte, ob es Gott überhaupt gibt, denn warum würde ER manche schlecht behandeln und andere davonkommen lassen? Das ergab doch keinen Sinn. Unter gar keinen Umständen standen seine armseligen Verfehlungen für die Mühsal, die seine Familie und er zu erdulden hatten. Als Pearl geendet hatte, saß der Mann eine ganze Weile stumm da und strich sich über den langen, verfilzten Bart. Dann betrachtete er seine schwieligen Füße. Er beugte sich vor und zupfte mit seinen knotigen Fingern an einem der großen Zehennägel. Ohne auch nur zusammenzuzucken, riss er sich den Nagel ab und hielt ihn Pearl hin.

»Das siehst du ganz falsch, mein Freund«, erklärte der Mann. »In Wahrheit bist du auserwählt. Gott gibt dir die Möglichkeit zur besseren Auferstehung, genau wie deiner Frau. Solange man nicht etwas von dem Leid der Welt trägt, kann es keine Erlösung geben. Und keine Gnade. Das sollte dich nicht überraschen, wenn du mal darüber nachdenkst. Schau dir nur an, was er den Juden erlaubt hat, seinem eigenen Sohn anzutun. Die meisten von uns kommen noch verdammt gut weg im Vergleich zu dem Leid, das an jenem Tag geschah. Aber die, die man heutzutage ›Prediger‹ nennt, wollen den Menschen ja gar nicht die Wahrheit sagen. Der alte Satan hat sie zu dem Irrglauben überlistet, dass der Weg zur Erlösung so gut wie umsonst zu haben ist. Manche stolzieren sogar in ihren feinsten Sachen herum und behaupten, der Herr will, dass wir alle reich sind. Wie kann ein Mann, der solche Lügen verbreitet, nachts ruhig schlafen? Gott dazu benutzen, sich die eigenen Taschen vollzustopfen? Das reinste Sakrileg, das ist es. Warte nur ab, diese Leute werden am Tag des Jüngsten Gerichts am heißesten brennen. Eine Schande, dass ihre Schäfchen mit ihnen schmoren werden. Nein, man sollte alles Leid willkommen heißen, das einem widerfährt, wenn man erlöst werden will.«

»Glauben Sie das wirklich?«, fragte Pearl und starrte auf den blutigen Zeh des Mannes, während er sich an den Biberhut und die Kalbslederhandschuhe erinnerte, die Reverend Hornsby damals in der Kirche in Hazelwood doch ein wenig zu stolz zur Schau getragen hatte.

»Freund, deine Jungs und du, ihr könntet mich auf der Stelle in dem Fluss da ersäufen, und das wäre die größte Gnade, die mir je zuteilgeworden ist.«

»Ich weiß nicht«, meinte Pearl, »ich verstehe ja, dass es einem durchaus guttut, ab und zu mal draußen in der Kälte zu schlafen und zu darben, aber Mister, wir sind kurz vorm Verhungern.«

Der Einsiedler lächelte. »Ich habe seit über einer Woche nichts gegessen, nur ein paar Kaulquappen und die Geschöpfe, die ich in meinem Bart gefunden habe. Mehr will ich auch gar nicht haben.«

»Wenn das alles stimmt«, sagte Pearl, »was kriege ich denn für dieses ganze Ausgleichen, von dem Sie da reden?«

»Nun, eines Tages wirst du an der himmlischen Tafel speisen«, antwortete der Mann. »Danach wird es keine Streiterei mehr um die Reste geben, das verspreche ich dir.«

»An der himmlischen Tafel?«, wiederholte Pearl. Davon hatte er noch nie gehört, und er fragte sich, ob er an dem Sonntag, als Reverend Hornsby darüber gepredigt hatte, wohl gedöst hatte.

»Ganz genau«, sagte der Einsiedler und ließ den Zehennagel fallen. »Aber denk daran, nur diejenigen, die den Versuchungen dieser Welt widerstehen, werden jemals dort sitzen.«

»Dann wollen Sie also damit sagen, dass die, denen es hier auf Erden gut geht, niemals das Gelobte Land sehen werden?«

»Ihre Chancen sind gering, wenn überhaupt. Zu viele Flecken auf der weißen Weste, zu viele Wünsche im Herzen.«

Pearl schaufelte eine Handvoll sandiger Erde auf und ließ sie durch die Finger rieseln. Offenkundig war der alte Mann ein Denker. »Also, dann habe ich noch eine Frage«, sagte er. »Was ist mit dem Lärm in meinem Kopf? Ich würde den Rest meines Lebens geben für nur eine Nacht ohne den Lärm.«

»Beug dich mal zu mir hin«, meinte der Mann. Er legte ein Ohr an das von Pearl und hielt den Atem an. Von ferne sahen die beiden aus wie erschöpfte Liebende, die dem Wasser nachschauten. Eine blauflügelige Libelle schwebte über ihren grauen Köpfen und schoss dann in ein Gestrüpp aus braunen Rohrkolben davon. »Herrje«, meinte der Einsiedler, nachdem er ein paar Minuten lang auf das Summen in Pearls Kopf gelauscht hatte, »hört sich glatt so an, als schlüpfte da drin gleich ein Stern aus.«

»Glauben Sie, es geht jemals wieder weg?«

»Ach, ich denke schon«, antwortete der Mann. »Das ist das Gute an diesem Leben hier. Nichts darin dauert ewig.« Dann sah er zu dem Vogel in der Zypresse hinüber und griff nach seiner Rute. »War nett mit dir zu plaudern, Bruder, aber ich sehe, mein kleiner Freund will weiter. Wer weiß? Vielleicht werden wir eines Tages auch Flügel haben.« Als er stand, brach unten am Wasser ein ziemlicher Lärm aus, und Cane johlte und warf einen großen Katzenwels ans Ufer. Der Mann sah den Fisch im Schlamm zucken und schüttelte den Kopf. »Sag ihnen lieber, sie sollen das Ding wieder ins Wasser werfen«, ermahnte er Pearl.

»Das kann ich nicht machen, Mister. Das ist ihr Abendessen.«

»Merk dir meine Worte«, sagte der Mann, »wenn du sie den Wels essen lässt, dann wird’s nicht lange dauern, und die Jungs wollen alles auf die leichte Art erreichen.« Dann ging er hinunter zum Fluss und machte sich daran, ihn zu überqueren. An der tiefsten Stelle stieg ihm das Wasser bis über die Brust, und sein Bart schwamm plötzlich oben und trieb vor seinem Gesicht wie eine Boje. Alle möglichen Insekten eilten in den Schnurrbart hoch, und Pearl beobachtete, wie der weiße Vogel vom Baum heruntergeflogen kam, die Insekten nacheinander aufpickte und sie auf die ausgestreckte Zunge des Einsiedlers legte.

Kaum war der Mann zwischen den Bäumen verschwunden, kam das Knistern in Pearls Kopf stotternd zum Stehen und verstummte für immer. Eine Weile lang versank er in völlige, allumfassende Stille, und in diesem wunderbaren Augenblick sah er Gott in einem neuen Licht. Wenn das Leben hart war, dann gab es dem Einsiedler zufolge zumindest einen guten Grund dafür, einen erstklassigen sogar. Von da an schien Pearl absichtlich der Straße zu folgen, die den größten Kummer versprach, und das Einzige, was ihn zufriedenstellte, war das Schlimmste, was passieren konnte. In der Hoffnung, diesen