Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes - Ted Chiang - E-Book

Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes E-Book

Ted Chiang

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Beschreibung

Geschichten, die ein ganzes Universum enthalten: Die Wahrheit über den Turmbau zu Babel; der folgenreiche Erstkontakt mit einer außerirdischen Spezies; die Verzweiflung angesichts des Verlusts eines unersetzlichen Menschen; ein Zeitreiseabenteuer der anderen Art; und ein bestürzender Ausflug an die Grenzen des wissenschaftlich Machbaren ... Kein anderer Science-Fiction-Autor hat in den letzten zwanzig Jahren auch nur ansatzweise so viel Begeisterung ausgelöst wie Ted Chiang. Kein anderer Science-Fiction-Autor wurde für ein so schmales Werk mit mehr Preisen ausgezeichnet. Nun liegt endlich auch auf Deutsch ein Auswahlband mit seinen Erzählungen vor. - "Der Turmbau zu Babel" ("Tower of Babylon" / Omni, November 1990) Ausgezeichnet mit dem Nebula Award - "Geschichte deines Lebens" ("Story of Your Life" / Starlight 2, 1998) Ausgezeichnet mit dem Nebula Award und dem Sturgeon Award - "Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes" ("Hell Is the Absence of God" / Starlight 3, 2001) Ausgezeichnet mit dem Nebula Award, dem Hugo Award und dem Locus Award - "Der Kaufmann am Portal des Alchemisten" ("The Merchant at the Alchemist's Gate" / Fantasy and SF, September 2007) Ausgezeichnet mit dem Nebula Award und dem Hugo Award - "Ausatmung" ("Exhalation" / Eclipse 2, 2008) Ausgezeichnet mit dem Hugo Award und dem Locus Award

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Ted Chiang

Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes

Ted Chiang

Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes

Deutsche Erstausgabe

Herausgegeben von Hannes Riffel & Karlheinz Schlögl

[Quellenangaben am Schluss des Bandes]

Verlag und Übersetzer danken Gerd Schubertund Robert Singer für fachlichen Beistand!

© 2011 by Ted Chiang

Mit freundlicher Genehmigung der Paul + Peter Fritz AG, Zürich

© dieser Ausgabe 2011 by Golkonda Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Hannes Riffel

Redaktion: Ilona Pritzens

Korrektorat: Robert Schekulin

Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.de]

Satz: Hardy Kettlitz

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin

EPUB: Karlheinz Schlögl

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36 | 12683 Berlin

[email protected] | www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-942396-12-7 (gedruckte Ausgabe)

ISBN: 978-3-942396-35-6 (eBook)

Der Turmbau zu Babel

Läge der Turm der Länge nach auf der Ebene von Shinar, würde man zu Fuß von einem Ende zum anderen zwei Tagesreisen benötigen. Doch da der Turm aufrecht steht, dauert es einen ganzen Monat, um von seinem Sockel bis zur Spitze emporzusteigen – wenn man denn nichts tragen musste. Aber nur wenige Menschen besteigen den Turm mit leeren Händen; das Tempo der meisten wird von Karren mit Steinen bestimmt, die sie hinter sich herziehen. Vier Monate vergehen zwischen dem Tag, an dem die Ziegel auf die Karren verladen werden, und dem Tag, an dem sie abgeladen werden, um ein Teil des Turmes zu werden.

Hillalum hatte sein ganzes Leben in Elam verbracht, und Babylon war ihm lediglich als Abnehmer von elamischem Kupfer bekannt. Die Kupferbarren wurden auf Booten transportiert, den Karun hinab zum Golf des Dscham und dann den Euphrat hinauf. Hillalum und die anderen Bergarbeiter reisten über Land, zusammen mit einer Handelskarawane schwer beladener Onager. Sie folgten einem staubigen Pfad, der von der Hochebene hinabführte und über die Steinwüste zu den grünen Feldern, die von Kanälen und Dämmen unterteilt waren.

Keiner von ihnen hatte den Turm jemals gesehen. Er wurde sichtbar, als sie noch viele Wegstunden von ihm entfernt waren: eine Linie so dünn wie eine Flachsfaser, die in der schimmernden Luft zitterte und sich aus der Lehmkruste Babylons erhob. Während sie sich näherten, wuchs die Kruste zu mächtigen Stadtmauern empor, doch alles, was sie sahen, war der Turm. Als sie den Blick schließlich auf die Flussebene senkten, bemerkten sie die Spuren, die der Turm außerhalb der Stadt hinterlassen hatte: Der Euphrat floss am Grunde eines weiten, tief liegenden Bettes, das zur Gewinnung von Lehm für Ziegel ausgehoben worden war. Südlich der Stadt waren Reihe um Reihe von Brennöfen zu erkennen, die nicht mehr brannten.

Während sie sich den Stadttoren näherten, erschien der Turm gewaltiger als alles, was Hillalum sich je vorgestellt hatte: eine einzelne Säule, deren Umfang so groß sein musste wie ein ganzer Tempel, und die dennoch so hoch aufragte, dass sie sich in der Ferne verlor. Sie alle gingen mit in den Nacken gelegtem Kopf und blinzelten in die Sonne.

Hillalums Freund Nanni stieß ihn, von Ehrfurcht ergriffen, mit den Ellenbogen an. »Da sollen wir hinauf? Bis zur Spitze?«

»Nach oben klettern, um zu graben. Das scheint mir ... unnatürlich.«

Die Bergarbeiter erreichten das Haupttor in der westlichen Mauer gerade in dem Moment, als eine andere Karawane die Stadt verließ. Während sie sich in den schmalen Schattenstreifen drängten, den die Mauer warf, rief Beli, ihr Vorarbeiter, den auf den Wachtürmen stehenden Bewaffneten zu: »Wir sind die Bergarbeiter, die aus dem Lande Elam gerufen wurden.«

Die Torwächter waren sichtlich erfreut. Einer rief zurück: »Seid ihr diejenigen, die sich durch das Himmelsgewölbe graben sollen?«

»Das sind wir.«

Die ganze Stadt feierte. Begonnen hatte das Fest vor acht Tagen, als die letzten Ziegel auf den Weg geschickt worden waren, und es würde noch zwei Tage währen. Tag und Nacht jubelte die Stadt, tanzte und schmauste.

Die Ziegelbrenner schlossen sich den Karrenziehern an – Männer, die so oft auf den Turm gestiegen waren, dass sie Beinmuskeln so dick wie kleine Baumstämme hatten. Jeden Morgen machte sich ein Trupp auf den Weg nach oben; vier Tage stiegen sie hinauf, übergaben ihre Ladung der nächsten Kolonne und kehrten am fünften Tag mit leeren Karren in die Stadt zurück. Eine Kette solcher Gruppen reichte bis zur Spitze des Turmes, doch nur die unterste Mannschaft feierte zusammen mit der Stadt. Jenen, die auf dem Turm lebten, war zuvor genug Wein und Fleisch gebracht worden, damit das Fest sich die gesamte Säule hinauf erstrecken konnte.

Am Abend saßen Hillalum und die anderen Bergarbeiter aus Elam auf Tonstühlen an einer langen Tafel voller Essen – einer Tafel unter vielen, die über den ganzen Marktplatz verteilt waren. Die Bergarbeiter unterhielten sich mit den Karrenziehern und stellten Fragen über den Turm.

»Jemand hat mit erzählt«, sagte Nanni, »dass die Maurer, die an der Spitze des Turmes arbeiten, jammern und sich die Haare raufen, wenn sie einen Stein fallen lassen, denn es dauert vier Monate, um ihn zu ersetzen. Aber niemanden kümmert es, wenn ein Mensch in den Tod stürzt. Stimmt das?«

Einer der etwas redseligeren Karrenzieher, ein Mann namens Lugatum, schüttelte den Kopf. »O nein, das ist nur eine Geschichte. Eine ununterbrochene Karawane von Ziegeln bewegt sich den Turm hinauf; Tausende von Ziegelsteinen erreichen jeden Tag die Spitze. Im Vergleich zum Verlust eines Menschen ist der Verlust eines Steines nichts.« Er lehnte sich zu ihnen herüber. »Aber es gibt etwas, das sie höher schätzen als das Leben eines Menschen: eine Kelle.«

»Warum eine Kelle?«

»Wenn ein Maurer seine Kelle fallen lässt, kann er nicht mehr arbeiten, bis man ihm eine neue hochgebracht hat. Monatelang kann er das Essen, das er verzehrt, nicht verdienen, sodass er Schulden machen muss. Der Verlust einer Kelle ist ein Grund für lautes Wehklagen. Wenn aber ein Mann stürzt und seine Kelle zurückbleibt, sind die anderen insgeheim erleichtert. Der Nächste, der seine Kelle verliert, kann die überzählige verwenden und weiterarbeiten, ohne dass er Schulden machen muss.«

Hillalum war erschüttert, und einen hektischen Augenblick lang versuchte er zu zählen, wie viele Spitzhacken die Bergarbeiter mitgebracht hatten. Dann ging ihm ein Licht auf. »Das kann nicht stimmen. Warum nimmt man nicht Ersatzkellen mit nach oben? Verglichen mit all den Ziegeln, die hinaufgeschafft werden, ist ihr Gewicht nicht von Bedeutung. Und der Verlust eines Menschen hat bestimmt eine ernsthafte Verzögerung zur Folge, außer dort oben steht jemand bereit, der zu mauern versteht. Ohne einen solchen Ersatzmann müsste man warten, bis ein neuer von ganz unten heraufgeklettert ist.«

Die Karrenzieher lachten schallend. »Den können wir nicht an der Nase herumführen«, sagte Lugatum sichtlich erheitert. Er wandte sich Hillalum zu: »Ihr beginnt euren Aufstieg also, sobald das Fest vorbei ist?«

Hillalum nahm einen Schluck aus einer Bierschale. »Ja. Ich habe gehört, dass sich uns Bergarbeiter aus einem Land im Westen anschließen, aber ich habe sie noch nicht getroffen. Weißt du etwas über sie?«

»Ja, sie kommen aus einem Land, das man Ägypten nennt, aber sie fördern nicht Erz wie ihr. Sie bauen Steine ab.«

»Auch wir in Elam graben nach Steinen«, sagte Nanni, den Mund voller Schweinefleisch.

»Nicht so wie die. Die schneiden Granit.«

»Granit?« In Elam baute man Kalkstein und Alabaster ab, aber nicht Granit. »Bist du sicher?«

»Kaufleute, die nach Ägypten gereist sind, erzählen, dass es dort steinerne Türme und Tempel gibt, aus Kalkstein und Granit errichtet, und zwar aus großen Blöcken. Und sie haben dort riesige Granitstatuen.«

»Aber Granit ist so schwer zu bearbeiten.«

Lugatum zuckte mit den Achseln. »Nicht für die. Die königlichen Architekten glauben, dass solche Steinmetze sich als nützlich erweisen könnten, wenn ihr das Himmelsgewölbe erreicht.«

Hillalum nickte. Das könnte durchaus wahr sein. Wer mochte schon wissen, was sie brauchen würden? »Bist du ihnen schon begegnet?«

»Nein, sie sind noch nicht da, aber sie sollen in ein paar Tagen eintreffen. Vielleicht kommen sie erst an, wenn das Fest vorbei ist; dann werdet ihr Elamiter alleine hinaufsteigen.«

»Du wirst uns begleiten, stimmt’s?«

»Ja, aber nur die ersten vier Tage. Dann müssen wir zurückkehren, während ihr das Glück habt, weitergehen zu dürfen.«

»Warum ist das ein Glück?«

»Ich sehne mich danach, bis zur Spitze zu gelangen. Ich habe mal mit Trupps weiter oben Karren gezogen und eine Höhe von zwölf Tagesetappen erreicht, aber weiter bin ich nie gekommen. Ihr werdet viel höher steigen.« Lugatum lächelte wehmütig. »Ich beneide euch darum, dass ihr das Himmelsgewölbe berühren werdet.«

Das Himmelsgewölbe berühren. Es mit Spitzhacken aufbrechen. Bei dieser Vorstellung fühlte sich Hillalum äußerst unwohl. »Es gibt keinen Grund, uns zu beneiden ...«, sagte er.

»Aber klar«, fiel ihm Nanni ins Wort. »Wenn wir fertig sind, werden alle Menschen das Himmelsgewölbe berühren.«

Am nächsten Morgen ging Hillalum los, um sich den Turm anzuschauen. Er stand auf dem riesigen Platz, der ihn umgab. Auf einer Seite erhob sich ein Tempel, der für sich genommen schon beeindruckend gewesen wäre, aber jetzt von niemandem mehr beachtet wurde.

Hillalum konnte geradezu spüren, wie massiv der Turm war. Es hieß, dass er so gebaut war, dass er jedem Zikkurat an Festigkeit weit überlegen war; er bestand zur Gänze aus gebrannten Ziegelsteinen, während man gewöhnliche Zikkurats lediglich aus in der Sonne getrockneten Lehmsteinen baute und gebrannte Ziegel nur für die Fassaden verwendete. Als Mörtel wurde Pech benutzt, das in den gebrannten Lehm eindrang und eine Verbindung schuf, die so hart war wie die Ziegel selbst.

Der Sockel des Turms glich den ersten beiden Stufen eines gewöhnlichen Zikkurats. Vor Hillalum ragte eine gewaltige quadratische Plattform von gut zweihundert Ellen Kantenlänge und vierzig Ellen Höhe auf, mit einer dreifachen Treppe an ihrer Südseite. Auf dieser ersten Stufe erhob sich eine weitere Ebene, eine kleinere Plattform, zu der nur die mittlere Treppe hinaufführte. Auf dieser zweiten Plattform ruhte der eigentliche Turm.

Wie eine quadratische Säule von sechzig Ellen Kantenlänge erhob er sich, und er schien das Gewicht des Himmels zu tragen. Eine langsam ansteigende Rampe, die in die Seite des Turms hineingemeißelt war, wand sich um die Säule, so wie der Lederriemen einer Peitsche um den Stil. Nein; als Hillalum genauer hinsah, erkannte er, dass es zwei ineinander verwobene Rampen gab. Die äußere Seite der Rampen war mit breiten, jedoch nicht besonders dicken Säulen gesäumt, um Schatten zu spenden. Als er seinen Blick den Turm hinaufschweifen ließ, entdeckte er Streifen, die sich miteinander abwechselten — Rampe, Steine, Rampe, Steine —, bis er sie nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Und immer höher und höher erhob sich der Turm, viel weiter, als das Auge reichte; Hillalum blinzelte, kniff die Augen zusammen, und ihm wurde schwindlig. Er stolperte ein paar Schritte zurück und wandte sich mit Schaudern ab.

Hillalum musste an eine Geschichte denken, die ihm in seiner Kindheit erzählt worden war, über die Zeit nach der Sintflut. Sie handelte davon, wie die Menschen aufs Neue die Erde besiedelten und dabei mehr Land bevölkerten als jemals zuvor. Wie die Menschen zu den Rändern der Welt segelten und sahen, wie die Meere hinabstürzten in den Nebel, um sich tief unten mit den schwarzen Wassern des Abgrundes zu vereinen. Wie die Menschen daraufhin die Größe der Welt erkannten, sie für zu klein befanden und zu sehen begehrten, was jenseits der Grenzen lag — Jahwes Schöpfung in ihrer ganzen Weite. Wie sie himmelwärts schauten und sich Gedanken über Jahwes Heimstatt machten, die über den Speichern liegen mochte, in denen sich die Wasser des Himmels befanden. Und wie sie vor vielen Jahrhunderten begannen, den Turm zu errichten, eine Säule, die sich himmelwärts reckte, eine Treppe, die es den Menschen ermöglichen sollte, aufzusteigen und die Werke Jahwes zu betrachten, und auf der Jahwe würde herabsteigen können, um die Werke der Menschen zu sehen.

Diese Geschichte hatte Hillalum stets Ehrfurcht eingeflößt, eine Geschichte über Tausende von Menschen, die sich unablässig und doch mit Freuden abmühten, denn sie arbeiteten, um Jahwe näher zu sein. Als die Babylonier auf der Suche nach Bergarbeitern nach Elam kamen, war er begeistert gewesen. Nun jedoch, da er am Fuße des Turmes stand, begehrten seine Sinne auf und beharrten darauf, dass es nichts geben dürfe, was so hoch aufragte. Wenn er an dem Turm emporblickte, kam es ihm nicht mehr so vor, als stünde er auf der Erde.

Sollte er ein solches Gebilde besteigen?

Am Morgen des Aufstiegs war die zweite Plattform vollständig mit Reihen zweirädriger Karren bedeckt. Viele davon waren mit nichts als Essen beladen: Säcken mit Gerste, Weizen, Linsen, Zwiebeln, Datteln, Gurken, Brotleibern und getrocknetem Fisch. Es gab unzählige große Tonkrüge mit Wasser, Dattelwein, Bier, Ziegenmilch und Palmöl. Andere Karren waren mit Waren beladen, wie sie in einem Basar gehandelt wurden: Bronzegefäße, Flechtkörbe aus Schilfrohr, Ballen mit Leinen, Stühle und Tische aus Holz. Auch gab es einen gemästeten Ochsen und eine Ziege, denen einige Priester Hauben über den Kopf stülpten, damit die Tiere nicht nach links oder rechts schauen konnten und Angst vor dem Aufstieg bekamen. Sie würden geopfert, sobald der Zug die Spitze erreichte.

Dann waren da Karren, die mit Hämmern, Spitzhacken und allem Nötigen für eine kleine Schmiede beladen waren. Ihr Vorarbeiter hatte auch für eine Anzahl Karren mit Holz und Schilfrohrbündeln gesorgt.

Lugatum stand neben einem Karren und zurrte die Seile fest, die das Holz hielten. Hillalum ging zu ihm. »Von wo stammt dieses Holz? Ich habe keine Wälder gesehen, seit wir Elam verlassen haben.«

»Nördlich von hier gibt es einen Wald, den man gepflanzt hat, als man mit dem Turmbau begann. Das gefällte Holz wird mit Flößen den Euphrat hinuntergebracht.«

»Ihr habt einen ganzen Wald gepflanzt?«

»Als man anfing, den Turm zu errichten, wussten die Architekten, dass man mehr Holz zum Befeuern der Brennöfen brauchen würde, als sich in der Ebene finden ließ, also haben sie einen Wald anlegen lassen. Arbeiter kümmern sich um die Bewässerung, und es ist ihre Pflicht, für jeden gefällten Baum einen neuen zu pflanzen.«

Hillalum war verblüfft. »Und das reicht für all das Holz, das benötigt wird?«

»Für das meiste jedenfalls. Viele weitere Wälder im Norden sind gerodet und ihr Holz den Fluss hinabgebracht worden.« Lugatum besah sich die Räder des Karrens, entkorkte eine kleine Flasche, die er bei sich trug, und träufelte ein wenig Öl zwischen Rad und Achse.

Nanni kam zu ihnen und blickte hinunter auf die Straßen Babylons, die sich vor ihnen ausbreiteten. »So weit oben, um auf eine Stadt herabblicken zu können, war ich noch nie.«

»Ich auch nicht«, sagte Hillalum, doch Lugatum lachte nur.

»Kommt mit mir. Die Wagen sind bereit.«

Bald darauf wurden die Männer in Zweiergruppen jeweils einem Wagen zugeteilt. An jedem Karren gab es zwei Zugstangen mit Seilschlaufen, und die Männer standen zwischen den Stangen. Um ihr Tempo zu gewährleisten, wechselten sich die Karren der Bergarbeiter mit denen der gelernten Karrenzieher ab. Lugatum und ein weiterer Mann zogen den Wagen gleich hinter Hillalum und Nanni.

»Denkt daran«, sagte Lugatum. »Bleibt immer zehn Ellen hinter dem Karren vor euch. Der Mann rechts zieht alleine, wenn ihr um eine Ecke biegt, und ihr wechselt euch jede Stunde ab.«

Ein Karren nach dem anderen rollte die Rampe hinauf. Hillalum und Nanni knieten nieder und legten sich die Schlaufen ihres Wagens über die Schulter, der eine über die rechte, der andere über die linke. Dann richteten sie sich gleichzeitig auf und hoben das Vorderteil ihres Wagens an.

»Und jetzt zieht«, rief Lugatum.

Sie stemmten sich in die Seile, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Rollte der Karren erst einmal, schien er gar nicht so schwer, und sie machten sich auf den Weg um die Plattform. Sie erreichten die Rampe, und wieder mussten sie sich kräftig ins Zeug legen.

»Das soll ein leichter Wagen sein?«, murmelte Hillalum.

Die Rampe war breit genug, damit ein Mann an einem Wagen vorbeigehen konnte. Der Boden war mit Steinen gepflastert, in die Wagenräder im Laufe der Jahrhunderte zwei tiefe Furchen gegraben hatten. Über ihnen spannte sich die Decke in Form eines Karggewölbes, dessen breite, rechteckige Steine sich überlappten, bis sie sich in der Mitte trafen. Die Säulen zu ihrer Rechten waren breit genug, um die Rampe fast in einen Tunnel zu verwandeln. Schaute man nicht dorthin, hatte man kaum noch den Eindruck, sich auf einem Turm zu befinden.

»Wenn ihr im Berg schuftet, singt ihr dann?«, fragte Lugatum.

»Wenn der Stein weich ist«, sagte Nanni.

»Dann singt eines eurer Bergwerkslieder.«

Die Aufforderung machte die Runde durch die Reihen der anderen Bergarbeiter, und kurz darauf sang der ganze Trupp.

Während sie höher und höher hinaufstiegen, wurden die Schatten immer kürzer. Geschützt vor der Sonne, umgeben nur von klarer Luft, war es hier viel kühler als in den engen Gassen der Stadt, wo die Mittagshitze Eidechsen umbringen konnte, die über die Straße krochen. Blickten sie zur Seite hinaus, konnten die Bergarbeiter den dunklen Euphrat und die sich weithin ausbreitenden grünen Felder sehen, die von im Sonnenlicht glitzernden Kanälen unterteilt wurden. Die eng beieinanderliegenden Straßen und mit Gips verputzten Gebäude Babylons bildeten ein komplexes Muster, vom dem sich umso weniger erkennen ließ, je näher es sich scheinbar an den Turm schmiegte.

Als Hillalum wieder einmal auf der Randseite an der rechten Schlaufe zog, vernahm er von der aufwärtsführenden Rampe unter ihnen einiges Geschrei. Er dachte schon daran, stehen zu bleiben und über den Rand hinunterzublicken, aber er wollte die Kolonne nicht aus dem Schritt bringen und hätte die untere Rampe sowieso nur undeutlich gesehen. »Was geht dort unten vor sich?«, rief er zu Lugatum.

»Einer von euren Bergarbeitern hat Angst vor der Höhe. Unter denen, die zum ersten Mal den Turm erklimmen, gibt es hin und wieder einen solchen Mann, der sich an den Boden klammert und nicht weiter aufwärts gehen kann. Nur wenige überkommt es allerdings schon so früh.«

Hillalum konnte das nachvollziehen. »Wir kennen eine vergleichbare Angst unter denen, die Bergarbeiter werden möchten. Manche Männer ertragen es nicht, in die Minen hinabzusteigen, aus Furcht, sie könnten verschüttet werden.«

»Wirklich?«, rief Lugatum. »Davon habe ich noch nie gehört. Wie kommst du mit der Höhe zurecht?«

»Ich spüre nichts.« Aber er warf Nanni einen Blick zu, und sie beide wussten es besser.

»Du spürst ein nervöses Kribbeln in den Handflächen, nicht wahr?«, flüsterte Nanni.

Hillalum rieb sich die Hände an den rauen Fasern des Seils und nickte.

»Ich habe es auch gespürt, vorhin, als ich dem Rand näher war.«

»Vielleicht sollten wir auch Scheuklappen tragen, wie der Ochse und die Ziege«, murmelte Hillalum im Spaß.

»Denkst du, uns überkommt die Angst auch, wenn wir noch höher steigen?«

Hillalum überlegte eine Weile. Es gefiel ihm nicht, dass einer ihrer Kameraden schon so früh die Nerven verlor. Er schob den Gedanken beiseite; Tausende stiegen ohne Furcht auf den Turm, und es wäre dumm, wenn sie sich alle von der Angst eines Mannes anstecken lassen würden. »Wir sind es nur nicht gewohnt. Uns bleiben noch Monate, um mit der Höhe vertraut zu werden. Haben wir erst einmal die Spitze des Turmes erreicht, werden wir uns wünschen, er wäre höher.«

»Nein«, sagte Nanni. »Ich glaube nicht, dass ich mir jemals wünschen werde, den Karren noch weiter ziehen zu müssen.« Sie lachten beide.

Abends aßen sie eine Mahlzeit aus Gerste, Zwiebeln und Linsen und schliefen in den engen Korridoren, die ins Innere des Turmes führten. Als sie am nächsten Morgen erwachten, waren die Bergarbeiter kaum in der Lage zu gehen, so sehr taten ihnen die Beine weh. Die Karrenzieher lachten und gaben ihnen eine Salbe, um ihre Muskeln damit einzureiben, und sie schichteten die Fracht auf den Karren so um, dass die Bergarbeiter weniger zu ziehen hatten.

Wenn Hillalum jetzt an der Seite des Turmes hinabschaute, wurden ihm die Knie weich.

In dieser Höhe blies ein stetiger Wind, und er ahnte, dass er stärker werden würde, je höher sie kamen. Er fragte sich, ob jemals einer der Arbeiter in einem unachtsamen Augenblick vom Turm geweht worden war. Und der Sturz – ein Mann hätte genug Zeit, um ein Gebet zu sprechen, bevor er auf dem Boden aufschlug. Hillalum schauderte bei dem Gedanken.

Der zweite Tag war wie der erste, vom Muskelkater in den Beinen der Bergarbeiter einmal abgesehen. Sie konnten nun viel weiter blicken, und die Größe des Landes war überwältigend; jenseits der Felder wurden die Wüsten sichtbar, und Karawanen schienen kaum mehr zu sein als Linien aus Insekten. Kein weiterer Bergarbeiter fürchtete die Höhe so sehr, dass er nicht weitergehen konnte, und ihr Aufstieg setzte sich ohne Zwischenfall fort.

Am dritten Tag hatten die Schmerzen in den Beinen der Bergarbeiter noch nicht nachgelassen, und Hillalum kam sich vor wie ein verkrüppelter alter Mann. Erst am vierten Tag fühlten sich ihre Beine besser an, und so zogen sie wieder ihre ursprüngliche Last. Ihr Aufstieg setzte sich bis zum Abend fort, als sie auf die zweite Zugmannschaft trafen, die ihnen mit leeren Karren auf der abwärts führenden Rampe raschen Schrittes entgegenkam. Die auf- und absteigenden Rampen wanden sich umeinander, ohne sich zu berühren, waren aber durch Korridore, die durch den Turm führten, miteinander verbunden. Nachdem die beiden Kolonnen in etwa auf gleicher Höhe waren, durchquerten sie den Turm, um die Wagen zu wechseln.

Die Bergarbeiter wurden den Karrenziehern der zweiten Etappe vorgestellt, und in dieser Nacht aßen sie zusammen und unterhielten sich miteinander. Am nächsten Morgen machte die erste Mannschaft die Karren für den Rückweg nach Babylon fertig, und Lugatum verabschiedete sich von Hillalum und Nanni.

»Gebt auf euren Wagen acht. Er ist den gesamten Turm öfter hinauf- und hinabgestiegen als irgendein Mensch.«

»Beneidest du auch den Karren?«, fragte Nanni.

»Nein, denn jedes Mal, wenn er die Spitze erreicht, muss er den ganzen Weg nach unten zurückkehren. Ich könnte das nicht aushalten.«

Als die zweite Mannschaft am Ende des Tages anhielt, kam der Karrenzieher hinter Hillalum und Nanni zu ihnen, um ihnen etwas zu zeigen. Sein Name war Kudda.

»Ihr habt noch nie die Sonne aus solcher Höhe gesehen. Kommt und schaut.« Der Karrenzieher ging zum Rand, setzte sich und ließ die Beine über die Kante baumeln. Er bemerkte, dass die beiden zögerten. »Kommt. Ihr könnt euch hinlegen und über den Rand blicken, wenn ihr wollt.« Hillalum wollte nicht wie ein ängstliches Kind wirken, konnte sich aber nicht überwinden, sich an den Rand eines Abgrunds zu setzen, der sich Tausende von Ellen unter seinen Füßen erstreckte. Er legte sich auf den Bauch, nur mit dem Kopf an der Kante. Nanni gesellte sich zu ihm.

»Wenn die Sonne untergeht, dann schaut an der Seite des Turmes hinunter.« Hillalum warf einen Blick nach unten und schaute dann schnell zum Horizont.

»Was ist hier am Sonnenuntergang anders?«

»Ihr müsst bedenken, dass es, wenn die Sonne hinter die Bergspitzen im Westen sinkt, in der Ebene von Shinar dunkel wird. Hier jedoch sind wir höher als die Berggipfel und können also die Sonne immer noch sehen. Die Sonne muss für uns noch weiter untergehen, bis wir Nacht haben.«

Hillalum war fassungslos. »Die Schatten der Berge markieren den Beginn der Nacht. Auf der Erde dort unten wird es früher Nacht als hier oben.«

Kudda nickte. »Ihr könnt zuschauen, wie die Nacht den Turm emporklettert, vom Boden zum Himmel. Sie bewegt sich rasch, aber ihr solltet sie sehen können.«

Er beobachtete den roten Feuerball für eine Weile, schaute dann hinab und streckte den Finger aus. »Jetzt!«

Hillalum und Nanni blickten hinunter. Am Fuße der gewaltigen Säule lag das kleine Babylon im Dunkeln. Dann kletterte die Schwärze den Turm hinauf, wie ein Vorhang, der zugezogen wurde. Sie bewegte sich so langsam, dass Hillalum glaubte, die Augenblicke zählen zu können, doch dann, als sie näher kam, beschleunigte sich die Finsternis, bis sie schneller, als er blinzeln konnte, an ihnen vorüberraste, und dann befanden sie sich im Zwielicht.

Hillalum drehte sich um und blickte nach oben, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Dunkelheit den Rest des Turmes verschlang. Allmählich wurde der Himmel dunkler, während die Sonne in weiter Ferne hinter dem Rand der Welt versank.

»Ein beeindruckender Anblick, nicht wahr?«, sagte Kudda.

Hillalum blieb ihm die Antwort schuldig. Zum ersten Mal verstand er, was die Nacht war: der Schatten der Erde selbst, der wider den Himmel geworfen wurde.

Nachdem sie zwei weitere Tage hinaufgestiegen waren, hatte sich Hillalum etwas mehr an die Höhe gewöhnt. Obwohl sie sich fast fünftausend Schritt senkrecht über dem Erdboden befanden, war er in der Lage, am Rand der Rampe zu stehen und hinaufzuschauen. Allerdings hielt er sich an einer der Säulen fest und lehnte sich vorsichtig nach hinten. Da bemerkte er, dass der Turm nicht mehr wie eine glatte Säule aussah.

Er fragte Kudda: »Es hat den Anschein, dass sich der Turm verbreitert. Wie kann das sein?«

»Sieh genauer hin. Dort oben sind hölzerne Balkone an den Seiten befestigt. Sie sind aus Zypressen gemacht und werden von Flachsseilen gehalten.«

Hillalum kniff die Augen zusammen. »Balkone? Wozu?«

»Auf ihnen wird Erde ausgebreitet, sodass man dort Gemüse anbauen kann. Wasser ist knapp in jener Höhe, weshalb Zwiebeln am weitesten verbreitet sind. Weiter oben, wo es öfter regnet, gibt es auch Bohnen.«

»Wie kann es dort oben Regen geben«, fragte Nanni, »der nicht hier unten fällt?«

Kudda sah ihn überrascht an. »Er verdunstet in der Luft, ehe er ankommt, was sonst?«

»Oh, natürlich.« Nanni zuckte mit der Schulter.

Am Ende des darauffolgenden Tages erreichten sie die ersten Balkone. Dabei handelte es sich um flache, dicht mit Zwiebeln bepflanzte Vorbauten, die an Seilen befestigt waren, welche an der Turmmauer knapp unter den nächsthöheren Balkonen festgemacht waren. In jeder Etage barg das Innere des Turmes mehrere enge Räume, in denen die Familien der Zugmannschaften lebten. Frauen saßen in den Türöffnungen und nähten Tunikas oder gruben draußen Knollen aus. Kinder spielten Fangen und jagten einander über die Rampen und zwischen den Wagen der Karrenzieher auf der Rampe hindurch; der Abgrund, der neben ihnen gähnte, schien ihnen nicht die geringste Angst zu machen. Die Turmbewohner erkannten die Bergarbeiter gleich, und alle winkten und lächelten.

Als es Zeit für das Abendessen war, wurden alle Karren abgestellt und Essen und andere Güter für die hier Wohnenden abgeladen. Die Karrenzieher begrüßten ihre Familien und luden die Bergarbeiter zum Essen ein. Hillalum und Nanni aßen bei Kuddas Familie und genossen ein Mahl aus getrocknetem Fisch, Brot, Dattelwein und Früchten.

Hillalum bemerkte, dass dieser Abschnitt des Turmes einer kleinen Stadt glich, die sich zwischen zwei Straßen erstreckte – den auf- und abwärts verlaufenden Rampen. Es gab einen Tempel, in dem die Festtage begangen wurden; es gab Richter, die Streitigkeiten regelten; es gab Geschäfte, die von den Karawanen beliefert wurden. Stadt und Karawane waren aufeinander angewiesen: Keines konnte ohne das andere bestehen. Und doch war jede Karawane im Grunde eine Reise, etwas, das an einem Ort begann und an einem anderen endete. Diese Stadt war niemals als feste Einrichtung gedacht gewesen, sie war lediglich Teil einer Jahrhunderte währenden Reise.

Nach dem Essen fragte Hillalum Kudda und seine Familie: »Hat einer von euch jemals Babylon besucht?«

Kuddas Frau, Alitum, antwortete: »Nein, warum sollten wir? Es ist ein langer Weg, und alles, was wir brauchen, haben wir hier.«

»Wollt ihr nicht einmal euren Fuß auf den Erdboden setzen?«

Kudda zuckte mit den Schultern. »Wir leben an der Straße zum Himmel; unsere ganze Arbeit dient dazu, sie auszubauen. Wenn wir den Turm verlassen, dann über die Rampe nach oben, nicht nach unten.«

Während die Bergarbeiter ihren Aufstieg fortsetzten, kam schließlich der Tag, an dem der Turm denselben Anblick bot, ob man über den Rand der Rampe nun nach oben blickte oder nach unten. Nach unten hin verlor sich der Rumpf des Turmes im Nichts, lange bevor er die Ebene zu erreichen schien. Umgekehrt waren die Bergarbeiter allerdings auch noch weit davon entfernt, die Spitze des Turmes erkennen zu können. Alles, was zu sehen war, war ein Teilstück des Turmes. Hinauf- oder hinabzublicken war furchterregend, denn sie hatten jeglichen Bezug verloren; sie waren nicht länger ein Teil des Erdbodens. Der Turm hätte ein Faden in der Luft sein können, weder mit Erde noch Himmel verbunden.

Während jener Zeit gab es Augenblicke, in denen Hillalum verzagte, sich fehl am Platze und der Welt entfremdet fühlte; es kam ihm vor, als hätte die Erde ihn aufgrund seines Unglaubens zurückgewiesen, während der Himmel sich weigerte, ihn aufzunehmen. Er sehnte sich nach einem Zeichen Jahwes, auf dass er die Menschen wissen lasse, dass er ihr Unternehmen guthieß; wie sonst könnten sie an einem Ort bleiben, der dem Geist so wenig Nahrung gab?

In dieser Höhe waren die Turmbewohner mit ihrem Schicksal völlig im Reinen; stets grüßten sie die Bergarbeiter freundlich und wünschten ihnen Glück bei ihrer Aufgabe am Himmelsgewölbe. Sie lebten inmitten der klammen Wolkennebel, sahen Stürme von oben und unten, ernteten Obst und Gemüse aus der Luft und fürchteten nie, dass dieser Ort für Menschen unangemessen sein könnte. Ihr Leben war bar göttlicher Versprechen und Ermunterungen, und dennoch waren ihnen Zweifel fremd.

Im Laufe der Wochen kamen sie dem höchsten Punkt, den Sonne und Mond erreichten, jeden Tag immer näher und näher. Der Mond tauchte die Südseite des Turmes in seinen Silberschein und leuchtete, als starre das Auge Jahwes sie an. Alsbald befanden sie sich auf einer Ebene mit dem Mond, wenn er seine Bahn zog; sie hatten die Höhe des ersten Himmelskörpers erreicht. Verwundert blinzelten sie ihm in sein narbiges Gesicht, staunten über das würdevolle Fortschreiten dieser Kugel, die jeglichen Halt verschmähte.

Dann näherten sie sich der Sonne. Es war Sommer, und so schien die Sonne fast über Babylon zu stehen, und sie kam dem Turm immer wieder sehr nahe. In diesem Bereich des Turmes lebten keine Familien, und es gab auch keine Balkone, da die Hitze stark genug war, um Gerste zu rösten. Der Mörtel zwischen den Steinen bestand nicht länger aus Pech, das weich und flüssig geworden wäre, sondern aus Tonerde, die von der Hitze buchstäblich gebacken worden war. Zum Schutz vor den Tagestemperaturen waren die Säulen hier breiter, bis sie fast eine durchgehende Mauer bildeten, welche die Rampe in einen Tunnel einschloss, nur mit schmalen Schlitzen versehen, die den pfeifenden Wind und goldene Lichtklingen hindurchließen.

Bisher hatten sich die Karrenzieher ihren Tagesablauf einigermaßen regelmäßig eingeteilt, doch nun war eine Änderung vonnöten. Jeden Morgen machten sie sich ein wenig früher auf den Weg, um ihr anstrengendes Werk möglichst bei Dunkelheit zu verrichten. Als sie sich mit der Sonne auf einer Höhe befanden, gingen sie nur noch nachts weiter. Tagsüber versuchten sie zu schlafen, nackt und in der heißen Brise schwitzend. Die Bergarbeiter machten sich Sorgen, dass sie, wenn sie denn überhaupt Schlaf fanden, vor Hitze gar nicht mehr aufwachen würden. Doch die Karrenzieher hatten diese Wegstrecke viele Male zurückgelegt und nie auch nur einen Mann eingebüßt, und schließlich ließen sie die Sonne unter sich zurück, und alles war wieder wie vorher.

Das Tageslicht schien nun aufwärts, was über die Maßen unnatürlich wirkte. Von den Balkonen hatte man einzelne Bretter entfernt, sodass das Sonnenlicht durch die Schlitze auf die Erde scheinen konnte, die man dazwischen aufgehäuft hatte. Die Pflanzen wuchsen seitwärts und nach unten, reckten sich den Sonnenstrahlen entgegen.

Dann näherten sie sich der Höhe der Sterne, kleinen, feurigen Kugeln, die überall am Himmel verstreut waren. Hillalum hätte erwartet, dass sie dichter beieinanderliegen würden, doch obwohl es viele kleinere Sterne gab, die von der Erde aus nicht zu erkennen waren, schienen sie ihm hier dünn gesät. Die Sterne befanden sich nicht alle auf einer Höhe, sondern begleiteten sie lange Zeit auf ihrem Weg nach oben. Es war schwer zu sagen, wie weit weg sie waren, da es keinen Vergleich für ihre Größe gab, doch hin und wieder glitt einer von ihnen dicht an ihnen vorbei und stellte dabei seine erstaunliche Geschwindigkeit unter Beweis. Da wurde Hillalum klar, dass alle Himmelskörper sich so schnell über das Firmament bewegten, denn sonst hätten sie die Strecke von einem Rand der Welt zum anderen nicht an einem Tag zurücklegen können.

Tagsüber war das Blau des Himmels weit blasser, als es von der Erde aus den Anschein hatte, ein Anzeichen dafür, dass sie sich dem Himmelsgewölbe näherten. Wenn Hillalum den Himmel genauer betrachtete, stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass die Sterne am Tage zu sehen waren. Von der Erdoberfläche aus konnte man sie gegen den grellen Schein der Sonne nicht erkennen, doch hier oben zeichneten sie sich deutlich ab.

Eines Tages kam Nanni auf ihn zugeeilt und sagte: »Ein Stern ist in den Turm eingeschlagen!«

»Was!« Hillalum sah sich panisch um, als ob ihm jemand einen Schlag versetzt hätte.

»Nein, nicht jetzt. Das ist schon lange her, mehr als ein Jahrhundert. Einer der Turmbewohner erzählt die Geschichte gerade – sein Großvater war dabei.«

Sie begaben sich in die Korridore im Turm und stießen auf einige Bergarbeiter, die sich um einen verhutzelten alten Mann geschart hatten. »... steckte in der Mauer fest, etwa eine halbe Meile über uns. Ihr könnt immer noch die Scharte sehen, die er hinterlassen hat; wie eine riesige Pockennarbe.«

»Was ist mit dem Stern geschehen?«

»Er brannte und zischte und war so hell, dass niemand ihn ansehen konnte. Es wurde erwogen, ihn herauszubrechen, damit er weiter seine Bahn ziehen konnte, aber er war zu heiß, um sich ihm zu nähern, und man wagte es nicht, ihn zu löschen. Wochen später hatte er sich abgekühlt und war zu einem Klumpen schwarzen Himmelsmetalls geworden, so groß, dass ein Mann kaum die Arme um ihn legen konnte.«

»So groß?«, sagte Nanni, die Stimme voller Ehrfurcht. Wenn Sterne von selbst vom Himmel fielen, fand man manchmal kleine Klumpen des Himmelsmetalls, härter als selbst die beste Bronze. Man konnte dieses Metall nicht einschmelzen, sondern nur mit dem Hammer bearbeiten, wenn es rotglühend erhitzt wurde; Amulette wurden daraus gemacht.

»In der Tat, niemand hat je davon gehört, dass ein so großer Klumpen auf der Erde gefunden worden wäre. Könnt ihr euch die Werkzeuge vorstellen, die man aus ihm hätte machen können!«

»Habt ihr etwa versucht, Werkzeuge aus ihm zu schmieden?«, fragte Hillalum entsetzt.

»O nein. Die Leute hatten Angst, ihn anzufassen. Alle stiegen vom Turm herab und warteten darauf, dass Jahwe Vergeltung üben würde, weil sie den Lauf der Schöpfung gestört hatten. Sie warteten monatelang, aber kein Zeichen wurde gesehen. Schließlich kehrten sie zurück und brachen den Stern heraus. Nun ruht er in einem Tempel, unten in der Stadt.«

Alle waren still. Dann sagte einer der Bergarbeiter: »In den Geschichten über den Turm habe ich nie etwas davon gehört.«

»Es war eine Verfehlung, etwas, worüber man nicht spricht.«

Die Farbe des Himmels wurde immer blasser, je höher sie auf den Turm stiegen, bis Hillalum eines Morgens aufwachte, an den Rand der Rampe trat und bestürzt aufschrie: Was bisher wie ein fahler Himmel ausgesehen hatte, schien nun eine weiße Decke zu sein, die sich weit über ihren Köpfen erstreckte. Jetzt waren sie nahe genug, um das Himmelsgewölbe zu sehen, um es als eine feste Schale zu erkennen, die den Himmel umschloss. Die Bergarbeiter sprachen alle im Flüsterton, starrten nach oben wie Idioten, während die Turmbewohner sie auslachten.

Im weiteren Verlauf des Aufstiegs stellten sie überrascht fest, wie nahe sie tatsächlich schon waren. Die weiße Oberfläche des Himmelsgewölbes hatte sie getäuscht – es war fast nicht wahrnehmbar, bis es plötzlich direkt über ihren Köpfen zu sein schien. Nun stiegen sie nicht mehr himmelwärts, sondern hinauf zu einer gleichförmigen Ebene, die sich endlos in alle Richtungen dahinzog.