Die Hottentottenwerft - Ludwig Fels - E-Book

Die Hottentottenwerft E-Book

Ludwig Fels

4,8

Beschreibung

Ludwig Fels hat einen gewaltigen Roman geschrieben, der das Drama der Literatur, auch den kleinen Existenzen die Ungeheuerlichkeit des Lebens zuzubilligen, überaus eindringlich erzählt.Crispin Mohr muss weit fort, um seiner Vergangenheit zu entkommen. Er lässt Pappenheim hinter sich, die Mutter, seinen versehrten Vater, eine unglückliche Liebe, und meldet sich als einfacher Reitersoldat zu den sogenannten Schutztruppen in die Kolonie Deutsch-Südwest. Dem, was er sich erträumt, kommt er aber auch in der neuen Heimat in Afrika, Deutschlands fernster Ferne, nicht näher. Als er sich in Hulette verliebt, die Enkelin eines Stammesführers, die als Faustpfand eines trügerischen Scheinfriedens mit der Kolonialmacht zum Opfer politischer Interessen und rassistischer Gewaltfantasien wird, entscheidet er sich für sein Schicksal: für eine Liebe, die keine Zukunft hat.Es ist ein finsteres Kapitel deutscher Geschichte, das Ludwig Fels hier aufschlägt und aus dem er eine Geschichte von biblischer Wucht erzählt. »Die Hottentottenwerft« ist ein Roman über Sehnsucht und Stolz, über den Lebenshunger eines jungen Mannes, der bis zu seinem Untergang an einem Traum festhält, welcher ihn zwischen die Fronten von Leben und Tod geraten lässt. Schmerzlich-schön, schonungslos hart und klar, mit dem glühend-visionären Pathos eines Trauer- und Freudengesangs.

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Die Hottentottenwerft

© 2015 Jung und Jung, Salzburg und Wien

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-99027-062-2

LUDWIG FELS

Die Hottentottenwerft

Roman

Werft (niederdeutsch Wurthe, Worthe, Warp, Wurp), Bezeichnung der zum Schutz vor den Fluten an der deutschen Nordseeküste in der Marsch von Menschenhand aufgeworfenen Wohnhügel für einzelne Gebäude und Gehöfte, auch wohl für ganze Dörfer (s. Deich). In Südafrika heißen so die Siedelungen der Eingebornen, besonders der Hottentotten, Herero und Ovambo. Bei jenen beiden Völkern sind die Werften bloße, oft in der Form des Krals (s. Kral) auftretende, offene Anhäufungen der bienenkorbförmigen Hütten; bei den Ovambo hingegen bildet die W. ein förmliches Labyrinth. Um die ganze W. läuft eine hohe, in sich geschlossene Palisadenwand; vom Eingang aus ziehen sich dann vielverschlungene, ebenfalls mit Palisaden eingezäunte Wege, die oft in Sackgassen enden, zwischen den Hütten und zu ihnen hin.

Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 536

 

Die bösen Masken mischen sich unter die guten Masken. Und Masken tragen in diesem Land alle.

Dany Laferrière

Die Welt gehört nicht dir. Vielleicht gehörst du der Welt, aber das ist etwas anderes.

Peter Behrens, Das Gesetz der Träume

Also spricht der Herr: Aus deinem eigenen Hause lasse ich Unheil über dich herabkommen! Wegraffen werde ich deine Frauen vor deinen Augen! Ich werde sie andern geben, die mit deinen Weibern bei hellem Sonnenschein schlafen werden.

2. Samuel 12,11

I. NEBELTRINKER

Auf, auf! ihr Brüder und seid stark,der Abschiedstag ist da!Schwer liegt er auf der Seele, schwer,Wir sollen über Land und Meerins heiße Afrika.

Daniel Schubart

Im Traum, als das Schiff himmelwärts gehoben wurde, um wieder zurückzufallen in die Täler zwischen den Wogen, sah er sich zum ersten Mal in Uniform. Sie stand ihm gut; ihm gefiel ihre verwaschene Farbe. Er stolzierte in ihr vor dem Spiegel herum, und Seffie, die im Bett lag, klatschte Beifall. Als er sich verbeugte, rutschte ihm die Feldmütze, die ihm eine Nummer zu klein war, vom Kopf. Er bekam sie gerade noch an ihrem kornblumenblauen Schirm zu fassen. Seffies Hände lagen gefaltet auf der Bettdecke, und ihre Augen baten ihn darum, jetzt bitte nichts zu sagen.

Zu Befehl!

Sie rückte etwas zur Seite, als er sich neben sie auf die Bettkante setzte. Er nahm ihre Hände und legte sie um sein Geschlecht, war atemlos. Endlich küßte er sie, und trotz ihrer Nacktheit glich sie keiner der Frauen auf den kolorierten Fotografien, die sein Vater im Haus versteckt gehalten hatte.

Gnädiges Fräulein!

Sag nichts, dachte er, als sie etwas sagen wollte. So verging die Zeit. Die Zeit war eine schwarze Woge, die Fenster und Türen zuschlug und sie im Traum in tiefe Kälte hüllte.

In der neununddreißigsten Nacht hielt die SS Friederick Walbaum auf die Küste zu. Die Sintflut hatte länger gedauert.

Nach Anbruch der Dämmerung wurden sie geweckt, und als er sich aufsetzte, spürte er, wie das Schiff in der Dünung schaukelte. Er packte seinen Tornister und ging nach oben an Deck.

Kalt, dachte er. »Kalt«, sagte jemand.

An der Reling standen ein paar Kameraden, rückten eng zusammen, stemmten sich gegen den Wind.

Sie standen da und froren. Sie hatten sich vorgestellt, von der Sonne empfangen zu werden, ein hitziges Willkommen. Sie schwiegen jetzt alle.

Hinter den Gebilden des Nebels waren die Schläge einer gewaltigen Brandung zu hören, schwerer, nasser Wind zerrte an ihren Gesichtern. Der Atem des Wassers, der Wüste. Die Tiere unten in den Laderäumen witterten das Land; ihre flehenden Stimmen machten es ihnen leicht, zu schweigen.

Als der Nebel sich etwas gelichtet hatte, sah er eine Reihe Palmen, die im Wind tanzten. Dann wurde es wärmer, und der Himmel klarte auf, ein viel zu hoher Himmel mit einer viel zu großen Sonne, die an ihren Strahlen herabzuhängen schien. Er sah Menschen am Ufer. Es sah alles so aus wie auf den graubraunen Ansichtskarten, auf denen die Erde und der Himmel unabänderlich wirkten; manchmal, erinnerte er sich, hatte er an den Gesichtern der Personen gekratzt, hatte ihre Köpfe zwischen Daumen und Zeigefinger zerrieben, bis das Papier zu Flocken zerfiel.

»Gibt sogar eine Kirche«, sagte der Kamerad neben ihm.

Er hielt sich längst nur noch mit einer Hand an der Reling fest, den Tornister zwischen den Knien, stolz, daß er diese Reise gemacht hatte, und froh, daß sie nun zu Ende war. Das, was er sah, war Deutschlands fernste Ferne, Deutsch-Südwest, Afrika.

Und ich bin hier!

Ja, du!

Er war hier. Bald würde er das Land betreten, war sicher, daß die Erde ihn trug. Er bedauerte, daß niemand da war, um ihn zu fotografieren, wenn er den ersten Schritt an Land tat.

Am Strand sprangen jetzt die Kruboys aus den Brandungsbooten, beugten ihre Rücken und trugen die Passagiere huckepack durch die schäumenden Brecher den Strand hinauf. Als alle Zivilpassagiere ausgeschifft worden waren, kam die Reihe an das Kontingent.

Zuerst wurden die Pferde in ihren Transportboxen aus den Laderäumen gehievt und auf ein Pontonfloß hinuntergelassen, das an einer Stahltrosse festgemacht war und von einer Dampfwinde an Land gezogen wurde. Dort sprangen sie zurück in die Brandung, ein panisches Ballett, und es dauerte, bis man sie aneinandergeleint hatte.

Nach den Pferden wurden Rinder aus dem Pinzgau ausgeladen, die zur Auffrischung der hiesigen Herden bestimmt waren. Ihre massigen Leiber klatschten hart ins Wasser, und sie muhten verloren, als sie von der Kälte gepackt wurden; einige, die nicht schnell genug waren, gingen in der Brandung unter, die sie von hinten überrollte, die Zungen mit Sand bedeckt, als sie wieder auftauchten.

Als letztes wurden zwei kanarische Kamele von Bord gebracht. Als sie an Land gewatet waren und die Dünen sahen, liefen sie los, und die Kruboys hatten zu tun, sie wieder einzufangen.

Das Kommando: Reiter Mohr!

Vom Kapitän, der zur Verabschiedung auf die Brücke gekommen war, wurden in alphabetischer Reihenfolge ihre Namen aufgerufen, und einer nach dem andern bestieg den Korb mit dem brusthohen Gitter, hockte sich auf den festgenieteten Eisenschemel, wurde vom Kran hochgezogen und über die Reling hinausgeschwenkt, um in die Pinassen hinuntergelassen zu werden, die in der Dünung wippten. Vögel stürzten sich schreiend ins Meer.

»Hier! Reiter Mohr, Pappenheim!« Ich komme, komme, dachte er, fiel fast auf die rutschigen Planken.

Der Horizont kippte hin und her, als die Kruboys losruderten. Hinter der Stadt begannen die Dünen der Wüste, die den ganzen Horizont einnahmen und auf deren Kämmen Heerscharen von Geistern den Sand aufzuwirbeln schienen.

Entlang der Promenade stand eine Reihe von Gebäuden, das Hafenamt, weißgetüncht, zweistöckig, der palastähnliche Bau der Zollbehörde, seitlich zurückversetzt, das Bezirksamt, das die deutsche Flagge gehißt hatte, dann das im schönsten Ocker gehaltene Postgebäude, daneben ein Hotel, umgeben von grünem Rasen und weißen Bänken vorm Portal, schaukelnd auf einem Teppich aus Farnen und Blumen, weiter entfernt ein unverputzter Leuchtturm und eine Halde riesiger Steinblöcke, an der im Bau befindlichen Mole.

Sie sammelten sich hinter der Linie der Brandung. Plötzlich lagen sie einander in den Armen, und niemand wußte etwas zu sagen.

Ein Hund kam zum Strand heruntergelaufen, biß ins Wasser.

Und wenn Soldat und OffzierGesund ans Ufer springt,Dann jubeln wir, ihr Brüder, ha!Nun sind wir ja in Afrika.Und alles dankt und singt.

SS FRIEDERICK WALBAUMKAPITÄN GERD GERHARDTBORDBUCH, 24. NOV. 1903

Die Ladung ist gelöscht, Vogelkot und Straußenfedern; eine Fracht Diamanten wäre mir lieber gewesen. Mit an Bord waren 43 Mann Nachschub zur Aufstockung der Deutschen Schutztruppe in Südwest, junge Männer aus allen Gegenden Deutschlands. Mindestens die Hälfte der neuen Soldaten war während der Überfahrt seekrank und lag darnieder. Unter den Tieren war es noch schlimmer. Die zwei Kamele zeigten sich besonders anfällig für Seekrankheit. Das Schiff stinkt wie ein Stall, in dem Männer wohnten. Die Mannschaft hat ihren dreitägigen Landurlaub angetreten, den sie sich wohlverdient hat. Einige Rückkehrer haben für die Rückfahrt gebucht, ca. 10 Personen. Mußte einen der Kruneger den hiesigen Polizeiorganen übergeben, weil er dabei ertappt wurde, als er Passagiergepäck stehlen wollte. Ich denke an Hilde in der Heimat, ich weiß nicht, woher sie ihre vielgeprüfte Treue nimmt und jedesmal so viel davon, mir meine lange Abwesenheit zu verzeihen. Die weiblichen Passagiere sind wie auf jeder Fahrt in der Minderheit, Frauen und Mädchen, denen auf Kosten des Deutschen Frauenbundes die Einreise als Dienstmädchen ins deutsche Schutzgebiet kostenlos ermöglicht wird; während der Passage bleiben die Damen von den mitreisenden männlichen Passagieren isoliert. Ich bin schon beim dritten Glas Wein. Wenn ich weitertrinke, wird es Krieg geben. Prosit, Afrika! Ich gehe heute etwas früher schlafen.

Mohr versuchte etwas Besonderes zu spüren.

Aber es gelang ihm nicht.

Er war da.

Und das war alles.

Genug für den Moment.

»Und?« sagte Katzenschlager, der neben ihm stand und die Feldmütze abgenommen hatte.

»Was und?«

»Wo sind sie jetzt, die Wilden?«

Glatzel sagte: »Müßten längst um uns rumtanzen.«

»In Pelzmänteln«, sagte Rubyniak, und Mohr spürte seinen Atem im Nacken. »Du sagst ja gar nichts?«

»Redet nicht mit jedem«, sagte Katzenschlager. »Ist sich zu fein dazu?«

»Komischer Kamerad!« sagte Glatzel. Er machte eine Verbeugung vor Mohr, stieß ihn leicht mit dem Kopf in den Bauch.

»Nicht anfassen!« sagte Mohr.

»Habt ihr gehört?« sagte Rubyniak.

Mutter, dachte er, Frau Mutter. Aber das war alles zu groß, zu riesig für ihren Namen. Denk dir den Sand und das Meer weg, dann ist es wie daheim. Es gibt Bierhäuser, Weinhäuser, was willst du mehr?

Sie warteten, bis sie ihre Tornister und Schlafrollen ausgehändigt bekamen, und als sie schon schwer genug trugen, wurden ihnen auch noch Sättel und Zaumzeug aufgepackt. Sie machten sich fertig zum Abmarsch. Hinter ihnen zerschellten die Wogen, und dann zerschellte der ganze Himmel unter ihren Tritten, als sie im gleißenden Licht zur Garnison marschierten. Kruboys liefen neben ihnen her und lachten über jene, die ihren Sattel auf dem Kopf trugen. Nachdem sie eine Reihe von Lagerschuppen und Blechhütten passiert hatten, machte die Hauptstraße eine scharfe Krümmung und führte durch die Vorstadt zur Feste hin, die auf einer künstlichen Erhebung errichtet worden war.

Das von Rost marmorierte Eisentor war weit geöffnet, die Mannschaft der Garnison zu ihrem Empfang auf dem Exerzierplatz angetreten. Sie nahmen Aufstellung, und Rubyniak kam neben ihm zu stehen. Ab und zu orgelte eine Bö in den Zinnen und fuhr auf sie nieder wie eine Lawine aus Luft. Neben der Kommandantenvilla befand sich ein Zwinger, in dem ein bulliger Hund im Maschendraht hing.

Garnisonskommandant Hauptmann Suck hielt eine Begrüßungsansprache, er hatte einen rheinländischen Dialekt. »Das«, sagte er und zeigte in die Runde, »ist also Afrika! Aber« – und hier machte er eine oft geübte Pause – »das deutsche Afrika! Unser Afrika! Und wir, meine Herren, werden mit Ihrer Hilfe und Tatkraft dieses deutsche Afrika zu etwas machen, wie es die Welt so noch nicht gesehen hat. Die Eisenbahnlinie zur Hauptstadt ist fast fertiggestellt, und es wird nicht mehr allzulange dauern, bis die letzten Streckenabschnitte in Betrieb genommen werden können. Ich sage es frank und frei: Die Probleme, die wir mit den hiesigen Eingeborenen haben, sind trotz unserer militärischen Präsenz nicht als behoben zu betrachten, und der engere Kontakt zu ihnen unterliegt der Kontrolle der deutschen Kolonialverwaltung in Berlin. Viele dieser Menschen, Untertanen des Kaisers wie wir alle, sprechen zwar inzwischen mehr oder weniger leidlich unsere Sprache, aber am besten verstehen sie immer noch den Griff zur Waffe.«

Er rieb sich die Hitze von den Lippen und legte dar, wie wichtig die Aufstockung der Schutztruppe auf diesem deutschen Vorposten für die Kolonie sei, als ein heißer Windstoß die Flagge am Mast blähte; er schwieg ergriffen, als hätte Gott oder der Kaiser höchstselbst ein Zeichen gesandt.

»Dieses Land, dieses unser Deutsch-Südwest, in Besitz zu nehmen, hat Blut, Schweiß und Tränen gekostet, doch jeder Tropfen, der vergossen wurde, hat sich gelohnt, ist ein Geschenk ans Vaterland! Denkt an die Heimat! Denkt an die Heimat an dieser, ihrer fernsten Front! Diese Front, Männer, ist das Band, das uns mit der Heimat verbindet. Unzertrennlich und für immerdar! Also willkommen!«

Sie standen in Reih und Glied, schwitzten erbarmungslos, denn die Sonne war durch die Wolken gekommen, und ihr lähmendes Licht legte sich über alles.

Als der Kommandant seine Rede beendet hatte, trat ein Komitee festtäglich gekleideter Frauen und Mädchen vor, an denen die heimischen Putzmacherinnen ihre Phantasie vergeudet hatten. Sie schwenkten Büschel grüner Ähren, und sie, denen das alles galt, schwenkten ihre Feldmützen und brüllten Hurra.

Jeder. Ein paarmal.

Und der Hund starrte sie an.

Dann ließ Hauptmann Suck abrücken, und nachdem sie ihr Quartier bezogen und sich um die besten Plätze in den Stockbetten gerauft hatten, verstauten sie ihre Habe in den Spinden und suchten den Waschraum auf, um sich zu säubern.

Hinterher wurden sie von Feldwebel Weibel mit dem Garnisonskomplex vertraut gemacht. Er führte sie einmal um den Exerzierplatz, zeigte ihnen die Mannschaftskantine, die neben dem Offizierskasino lag, dann die Kommandantur, das Lazarett, den Arrestblock und als letztes die Stallungen.

In den Stallungen empfing sie Dr. Patarga, Rittmeister und Roßarzt, der sie launig im Namen der Gäule begrüßte, die Zunge etwas schwer vom Sprechen mit den Tieren. Es roch nach Klauenfett und Hafer. Als er ihnen alles gezeigt hatte, trat ein Schwarzer aus dem Schatten des Futterschobers, er trug zerschlissenes Zeug am Leib und wurde ihnen von Dr. Patarga als »Waddie« vorgestellt, »unser berühmter Bastardkundschafter«. Waddie, sagte er, sei ein Khoisan aus Angola, der auf seiten der Briten gegen die Buren gekämpft hatte, desertiert war und seither als Kundschafter in der Schutztruppe diente. Waddies Gesicht war fast dunkelblau, mit einem Stich ins Gelbliche, und als er lächelte, zeigte er tadellose Zähne. Er trug seine drahtigen Haare etwas zu lang und hatte sich winzige Perlen in die Strähnen geflochten, die von seinen Schläfen herabhingen und funkelten, wenn er den Kopf bewegte. Waddie hatte, da niemand mit einem Eingeborenen zusammen in einem Raum schlafen wollte, seine Kammer im Stall, gleich neben der Veterinärstation des Arztes. Mohr gefiel der Geruch im Stall, die Pferde in den Boxen schienen in grauem Licht zu baden; sein Atem klang trocken und alles erinnerte ihn ein wenig an die herrschaftlichen Stallungen des Grafen von Pappenheim.

MISSIONAR PATER GERMANO TRÖTSCHEHEMALS MISSIONSSTATION HOPADESSABAHR’S HOTEL ZUM FÜRSTEN BISMARCK, ZIMMER NR. 27AN HAUPTMANN SUCK, SWAKOPMUND

Mein sehr verehrter Herr Hauptmann, es ist zu heiß heute, um Ihnen ausufernd zu schreiben, aber ich habe Erfreuliches zu berichten, nämlich, daß unser Kaptein Ximenz nun endlich seine Zustimmung gegeben hat, seine Enkelin nach Swakopmund zu expeditieren. Eingedenk dessen, daß sie, wie zwischen Ihnen und Kaptein Ximenz vereinbart, gewissermaßen als Faustpfand des Friedens dienen soll, bin ich mehr als erleichtert. Das Mädchen ist auf den Namen Hulette getauft, leicht zu merken. Hulette spricht schon leidlich unsere Sprache und singt schön. Es hat mir viel Zeit und Mühe und noch mehr Geduld gekostet, unserm Kaptein die Zustimmung abzuringen, das Mädchen Ihrer Obhut anzuvertrauen, zumalen es da in Hopadessa einen jungen Mann gibt, dem sie als künftige Ehefrau versprochen ist und der mich tätlich bedrohte, als er davon erfuhr, daß Hulette Hopadessa verlassen müsse. Natürlich mag Herr Feldkaplan von Wilhelmi recht damit haben, daß er den Gottesdiensten, die er in der Garnison abhält, regeren Zulauf verschaffen kann, wenn sich bei den Mannsleuten herumgesprochen hat, daß ein Hottentottenkind dort die heiligen Lieder singt, so Gott der Herr will! Nichtsdestotrotz lag mir Kaptein Ximenz noch bis zuletzt in den Ohren, besorgt um ihre Unschuld, obwohl ich ihm eingehend versicherte, daß Sie, verehrter Hauptmann, das Mädchen kraft Ihres Ranges vor Nachstellungen bewahren würden, selbst an Orten, die der wahre Christenmensch sonst tunlichst meidet. Sobald das Mädchen sich in Herrn Jauchs Obhut befindet, der sich anerbötig machte, ihr eine Anstellung in seinem Restaurationsbetrieb zu gewähren, reise ich ab, hoffend, daß mich die Heimat noch kurieren kann. Ich hinterlasse ein paar Heiden weniger und etliche bekehrte Landstriche. Auch die Seele ist nur ein Fleckchen im Wildwuchs des Leibes.

Ich erlaube mir, Sie ergebenst zu grüßen

als Ihr Germano Trötsch

HAUPTMANN KONRAD SUCKGARNISON SWAKOPMUNDAN MISSIONAR BRUDER PATER GERMANO TRÖTSCHBAHR’S HOTEL ZUM FÜRSTEN BISMARCK, ZIMMER NR. 27

Mein hochverehrter Freund und Bruder Germano Trötsch,

Ihren Ruf aus der Einöde Ihres komfortablen Hotelzimmers habe ich vernommen, ich verstehe Ihre Beweggründe vollkommen, und trotzdem tut es mir leid, daß dieses Land durch Ihre Abreise einen aufrechten, gerechten Mann verliert; es ist sicher nicht Ihre letzte gute Tat, daß Sie das Mädchen nach Swakopmund geleitet haben, und mein Freund, der Kaptein, mag ganz und gar unbesorgt sein: das Mädchen steht unter meiner Obhut und meinem persönlichen Schutz, und wer ihm auch nur ein Haar krümmt, den bringe ich zur Räson. So eine Kaserne ist zwar eine Männerwelt, in der die Damen an allen Ecken und Enden fehlen, aber auch hier gelten Anstand und Kavalierstum. Wir sind, weil wir den vaterländischen Rock tragen, weder Menschenfresser noch Kinderschänder, und die Garnison Swakopmund ist keine Strafkolonie, wenn Sie die Güte haben, mich zu verstehen. Ihrem Schützling wird es an seinem neuen Platz unter den Fittichen des Kneipiers Jauch an nichts fehlen, und mein hochverehrter Freund, der Kaptein, ist jederzeit höchst willkommen, sich vom untadeligen Verhalten meiner Männer, auch außerhalb des Kasernengeländes, zu überzeugen. Es sind junge Leute, die hier dienen, und erstrebenswert für die meisten von ihnen ist, sich nach Ende der Dienstzeit hier niederzulassen, also ganz im Geiste des kolonialen Gedankens, der schon in der Bibel von Gott formuliert wurde und in dem Befehl gipfelt, sich die Erde untertan zu machen.

Unserm verehrten Artingkofer auf Farm Gunsbewys gelang dies vortrefflich, und er findet hoffentlich viele Nachahmer. Sie haben dort gewiß eine erbauliche Rast abgehalten. Wissen Sie, wenn ich bei meinen Ausritten die Möwen in der Wüste sehe, weiß ich, daß die Wunder nicht enden.

Gute Reise, Bruder Pater Germano Trötsch!

Gez. Hauptmann Konrad Suck

BRUDER PATER GERMANO TRÖTSCHPOSTAMT SWAKOPMUNDAN HAUPTMANN KONRAD SUCKGARNISON SWAKOPMUND

Hochverehrter Herr Hauptmann Suck,

ach, haben Sie herzlichen Dank für Ihre Zeilen, die mich auf dem Weg in die Heimat begleiten werden. Wissen Sie, dieser junge Mann, dieser Josephat, so sein Name, so heißt er, ist uns bis zu Artingkofers Farm Gunsbewys gefolgt. Herr Artingkofer hat den lästigen Kerl schließlich mit der Peitsche verjagt. Nebenbei: Hulette und Artingkofers Jüngste, Cilly, haben sich sofort in die Haare gekriegt, und so mußten wir schleunigst unseren Ritt fortsetzen. Wir schlossen uns dem Wagen eines Faßmachers an, was diesen Kerl Josephat auf Abstand gehalten hat.

P.S.: Ich schreibe Ihnen diese Zeilen im hiesigen Postamt. Auf der Promenade sind überall Ihre Soldaten zu sehen. Dies ist alles in allem ein tröstlicher Anblick zum Abschied, denn im nächsten Moment werde ich die Gangway der Melita Bohlen besteigen. Fast, daß es eine Flaschenpost geworden wäre! Muß nun schließen! Was für ein Genuß! Ich habe vollbracht, was ich konnte. Seien Sie gegrüßt und grüßen Sie Herrn Feldkaplan von Wilhelmi auf das herzlichste von mir!

Ihr Pater Bruder Germano Trötsch

Um Land und Leute kennenzulernen, hatten die Neuankömmlinge an ihrem ersten Abend in Afrika Ausgang bis zum Wecken bekommen, und obwohl sie alle sehr euphorisch waren, legten sie in größter Sorgfalt ihre Ausgehuniformen an und machten sich stadtfein.

Mohr schloß sich ein paar seiner Kameraden an und ging mit ihnen hinunter nach Swakopmund, tauchte ein in den Abend der Stadt; sogar ein Auto mit tellergroßen Scheinwerfern fuhr auf der Hauptstraße. Sie genossen die Blicke der Passanten und flanierten herausfordernd an Bahr’s Hotel Zum Fürsten Bismarck vorbei, wechselten die Straßenseite und gingen zwischen dem Voigt’schen Store und Jauch’s Bierhaus zurück Richtung Ozean. Die Sanddünen vorm Horizont waren bereits in rosa Licht getaucht, und auf der Veranda von Jauch’s Bierhaus saßen Männer an blankgeschrubbten Holztischen und tranken das dunkle Gold der Sonne aus dickwandigen Steinkrügen.

»Später«, sagte Rubyniak.

»Warum später, warum nicht jetzt?« fragte Glatzel.

»Weil wir noch nicht wissen, wo wir sind«, sagte Mohr.

»Jedenfalls sind wir nicht in Pappenheim«, sagte Katzenschlager.

Sehnsüchtig sahen sie hinüber, dann gingen sie wortlos weiter.

Rubyniak fragte Mohr, ob er schon ein Wort Afrikanisch beherrsche.

»Du?«

»Olewampe.«

»Klingt italienisch«, sagte Glatzel.

»Spanisch«, sagte Katzenschlager.

Sie blieben stehen, und Mohr roch ihren Atem, als sie lachten. Dann gingen sie weiter, gingen so lange, bis die Hauptstraße aufhörte und die Vorstadt anfing, die nichts weiter war als ein Viertel aus Blechhütten und Holzverschlägen, das sich tief in die beginnende Nacht fortsetzte. Hier wohnten die Eingeborenen, die es zu etwas Wohlstand gebracht hatten. Ein Trampelpfad führte hinab zum Ufer des Swakop Rivier, das Gerippe eines Tiers lag im Schlamm, der Schädel grell gebleicht.

»So wie Deutschland ist das noch lange nicht«, sagte Mohr.

Er sprang die Böschung hinunter zum Fluß. Geröll brach unter seinen Schritten weg, eine schüttere Schilfnarbe war alles, was am Ufer wuchs. In der Mitte des Flusses ein paar morastige Inseln, mit Gestrüpp und Schilf bewachsen. Das Wasser, seicht und brackig, roch warm. Drüben am jenseitigen Ufer gab es keine menschlichen Behausungen mehr; ein paar von Unwettern geschundene Akazien verloren sich vor den kupferfarbenen Dünen, die jetzt, am Ende der Dämmerung, wie versteinert wirkten. Er stellte sich vor, wie es wäre, hinüberzugehen und drüben dann einfach weiter, mit jedem Schritt hinaus aus den Kammern der Erinnerung, endlich davonschwebend, hinein ins vollkommen Unbekannte für die nächsten hundert Jahre oder mehr. Näher war er der Wildnis nie gewesen als jetzt. Das Schweigen und die Stille da draußen waren gewaltiger als alle seine Gedanken. Denn alles, was du bist, bist immer du, dachte er. Seine Mutter watete durchs Wasser. Sie trug einen Koffer voll junger Störche. Als er ihr rief, legte sie den Koffer auf das Wasser, er schaukelte und die Vögel darin zappelten und stießen ihre Köpfe ins Wasser.

Ein Steinchen traf Mohr im Genick, und Rubyniak rief: »Komm endlich!«

Mit ein paar Sätzen sprang Mohr die Böschung hinauf, nasser Sand klebte an seinen Stiefeln, und er stampfte ein paarmal heftig auf. Die Sichel des Mondes war wie aus Glas.

»Was war los da unten?« wollte Glatzel wissen.

»Nackte Weiber beim Bade!« sagte Katzenschlager.

»Hat mich an die Altmühl erinnert«, sagte Mohr.

»An die Altmühl?« fragte Rubyniak.

»Bei Regen ist es bestimmt grün hier«, sagte Mohr.

»Wenn’s hier regnet, sind wir längst in der Wüste«, sagte Rubyniak.

»Trotzdem«, sagte Mohr.

Dort, wo die Altmühl eine nach links gekrümmte Schleife durch waldige Hügel zog und flußabwärts die grauen Dächer des nächsten Dorfes zu erkennen waren, lag auf einer weich fließenden Anhöhe das Anwesen der Zentners inmitten von Wiesen und Weiden. Das Haupthaus, ein Stück höher im Hang liegend als die Wirtschaftsgebäude, war ein stattlicher Bau mit einer Eckveranda voller Blumenkübel. Als er sich näherte, hetzten Zentners Hunde knurrend auf ihn zu, sprangen ihn an und brachten ihn zu Fall. Er spürte ihren feuchten Atem im Genick, versuchte sich totzustellen. Laß meine Hunde in Ruhe, sagte Zentner. – Hab ihnen nichts getan. – Ich kenn dich. – Kenn Sie auch. – Du kannst zu mir kommen, wenn du Arbeit suchst, aber ins Büro im Steinbruch, nicht hierher! – Ich brauch Ihre Arbeit nicht, sagte er, stand auf und zog den Musterungsbescheid aus seiner Jackentasche. Ich brauch Ihre Arbeit nicht, sagte er, ich geh nach Afrika. – Wo wohnst du? – Am Niederländersteig, sagte er. – Kenn ich deinen Vater? – Heißt Mohr. – Mohr? – Hat bei Ihnen gearbeitet. – Mohr? – Hat ein Bein verloren. Und ein paar Finger an einer Hand. – Tragisch, sagte Zentner, kann man nichts machen. – Tun Sie die Hunde weg! – Aus! rief Zentner. Wie heißt meine Tochter? Mohr machte ein paar Schritte. Nur weg. – Seffie, rief er. Blieb nicht stehen. – Seffie wie? brüllte der Mann. Zentner, rief er. Hau ab! Hau endlich ab! Und laß dich hier nie wieder blicken!

Auf dem Rückweg vom Fluß alberten sie wie Kinder herum. Wo die ersten Häuser anfingen, begegneten sie einer Eingeborenenfrau, und Glatzel und Katzenschlager begannen eng umschlungen zu tanzen, während Rubyniak einen tiefen Diener vor ihr machte. Sie lachten, als die Frau die Straßenseite wechselte, und sahen ihr nach, bis sie in einer dunklen Gasse verschwand. Und dort in der Dunkelheit wurde sie umarmt und geküßt, stundenlang … Und während sie weitergingen, dachte Mohr gerührt, daß jedem, der in dieser Nacht geboren oder erweckt wurde, das Glück der Liebe ins Gesicht geschrieben stehen müßte. Wer hat Durst? Wer hat Geld? Jeder gab, was er hatte. Mohr sogar ein bißchen mehr. Weil sie auf ihn gewartet hatten. Sie tollten übern Bahnhofsvorplatz, schlugen sich ausgelassen die Feldmützen vom Kopf. Als sie dann langsamer gingen, sagte Rubyniak, nie zuvor habe er weißere Augen gesehen als die der Frau von gerade …

Auf der Veranda von Jauch’s Bierhaus war kein Platz mehr zu kriegen, obwohl ein ziemlich frischer Wind aufgekommen war. Sie gingen in die Gaststube und setzten sich an einen Tisch neben der Tür zur Küche. Die Augen tränten ihnen vom Rauch, und es dauerte, bis ein Kellner an ihren Tisch kam, um ihre Bestellung aufzunehmen; er kassierte sofort, als er das Bier brachte. Mohr zahlte die erste Runde. Ihre Krüge klackten, als sie anstießen, und sie seufzten, als sie getrunken hatten, und warteten, daß der Geschmack des Fremdseins vergehen würde. Dann hoben sie wieder ihre Krüge und prosteten dem Löwenkopf zu, der über der Tür zur Küche an der Wand hing; der Löwe gähnte, und eines seiner Augen hatte einen Sprung. DAS POUSSIEREN MIT DEM PERSONAL IST STRENGSTENS VERBOTEN! war auf einem Schild über der Schank zu lesen. Die Kellner, die die Tabletts stemmten, hatten Muskeln wie Gewichtheber. In der Küche arbeiteten ein paar dunkelhäutige Frauen. Unter den Gästen befanden sich Matrosen der SS Friederick Walbaum, die in einem bewundernswerten Zustand der Trunkenheit waren. Mohr zwinkerte dem Löwen zu und zählte, die Hände unterm Tisch, sein Geld, bestellte in einem Anfall menschlicher Größe wieder eine Runde. Sein Vater schleppte die Krüge an den Tisch, sagte: Die Mutter heiratet dich!

Er stand auf, fragte einen der Kellner nach dem Abort.

»Im Hof!«

Er kam an der Durchreiche zur Küche vorbei, weiter hinten stand die Tür zur Feststube offen, die fast so groß wie ein Tanzsaal war. Der Abort befand sich hinter einer Brettertür und bestand aus nicht viel mehr als einer ausgeschachteten Grube, die mit rohen Bohlen abgedeckt war, in die man ein kreisrundes Loch gesägt hatte. Im Pissoir lief ringsum eine geteerte Rinne, in der aufgequollene Zigarrenreste und ein paar ziemlich große Fliegenkadaver lagen, die im Schwall ein Stückchen mitrutschten. Als er fertig war und seine Stiefelkappen mit einem Fetzen Zeitungspapier gereinigt hatte, hörte er draußen den Gesang einer Frau. Durch eine vergitterte Luke sah er weit hinten im Niemandsland der Nacht die Rückfront eines Gebäudes, die durchbrochen war von einer Reihe schmaler, kleiner Fenster, die innen mit Wachspapier beklebt waren, durch das rötliches Licht schimmerte, fernen Tieraugen ähnlich; irgendwo ein paar schnelle Schläge auf einer Trommel, die noch schneller erstarben. Einer der Kellner stellte sich neben ihn an die Rinne und sagte: »Also, ich würde da nicht hingehn! Jedenfalls nicht allein!«

»Und was ist das?«

»Das Tingeltangel.« Dann fragte er: »Neu hier?«

»Seit heute«, sagte Mohr.

»Neu und jung«, sagte der Mann. »Bleib auf deiner Seite!«

Dann ging er hinaus.

Auf dem Weg zurück schaute Mohr in die Spülküche, wo ein paar schwarze Frauen mit Geschirr hantierten; sie trugen nasse Schürzen, und Schweiß glitzerte in ihren Haaren. Sie machten einander auf ihn aufmerksam, er grinste, als sie kicherten, machte einen Diener vor ihnen, so wie es Rubyniak getan hatte, und als er wieder aufsah, drohte ihm eine der Frauen mit einer gußeisernen Pfanne, und die Jüngste unter ihnen spitzte ihre Lippen und tat, als würde sie ihn küssen. Ihr Kuß flog zu ihm, und das Geräusch, das sie dazu machte, ging ihm durch und durch.

»Danke«, sagte er.

Als er immer noch nicht wegging, spritzte sie ihn mit Spülwasser naß, und er machte einen Schritt zurück, um seine Uniform zu schützen.

»Ich heiße Crispin«, sagte er.

Sie sagte nichts.

»Und du?«

Eine der Frauen packte sie im Genick und zog sie fort in den Dampf, sagte: »Laß das, Hulette!«

Und dann, als er rücklings über die Schwelle trat, lachten sie und klapperten mit Tiegeln und Töpfen, eine Musik, durch die die Stimme des Mädchens drang, das noch lauter als die andern lachte. Ihre Zunge war von einem Rosa, wie er es nie zuvor gesehen hatte.

»Da hinten waren Weiber«, sagte er.

Setzte sich und versuchte zu lächeln.

»Die müssen arbeiten«, sagte Rubyniak.

»Eine hat mir ganz gut gefallen«, sagte er.

»Leg dich bloß nicht mit den Kellnern an«, sagte Rubyniak. Er saß jetzt vor einem Glas Schnaps, fixierte Glatzel und Katzenschlager, die ihre Gläser schon geleert hatten. Dann stürzte er mit einem wilden Schrei den Schnaps hinunter.

Ein Kellner kam an den Tisch und sagte: »Noch einmal und du fliegst raus!«

Rubyniak flatterte mit den Armen wie mit Flügelstummeln und sang:

Heiß ist die Liebe,kalt ist der Schnee, ja Schnee;Scheiden und Meiden,ja das tut weh.

Dann stierte er wieder Glatzel und Katzenschlager an.

»Na schön«, sagte Katzenschlager und bestellte drei Bier, als säße Mohr nicht mit am Tisch, aber Glatzel bezahlte die Runde, und er und Katzenschlager tranken zusammen aus einem Glas.

Die Matrosen fingen an, Heimatlieder zu singen. Mohr ließ für sich und Rubyniak einen Schnaps kommen, und als er Glatzels und Katzenschlagers gierige Augen sah, gab er trotz allem auch für sie einen aus. Gebenedeit seist Du!

»Auf die Kameradschaft!« rief Rubyniak, rief es so laut, daß ihm der Kellner von ferne drohte.

»Auf die leeren Gläser!«

Und als keiner von ihnen sein Glas erhob, rief er: »Auf die Kellner, meine Herren!«

Mohr hielt den Kellner fest, der Rubyniak am Kragen packte, zeigte auf den Löwenkopf: »Was ist mit seinem Aug passiert?«

»Geburtsfehler.«

»Sag die Wahrheit!«

»Gibt keine!«

»Danke, Kamerad!« sagte Mohr. »Habt ihr gehört, was er gesagt hat? Er hat gesagt, es gibt keine Wahrheit!«

Rubyniak stellte sein Schnapsglas auf den Kopf. »Das ist die Wahrheit!«

»Interessant«, sagte Mohr.

Dann sagten sie nicht mehr viel, belauerten einander, ob einer vielleicht noch eine Runde spendieren würde, aber niemand war betrunken genug, und so brachen sie auf. Im Hinausgehen winkte Mohr dem Löwenkopf zu und dachte an seine Mutter und daran, was sie sagen würde, wenn sie ihn jetzt gesehen hätte.

Trink nicht soviel, Bub!

An diesem seinem ersten Abend hier in Afrika war er länger draußen geblieben, um sich die Nacht anzusehen. Die Sterne füllten den ganzen Himmel aus, und Gottes Größe und Gewalt waren widergespiegelt in jedem einzelnen von ihnen. Sie hatten einen wilden Glanz, und der ganze Himmel lohte von ihrem Licht und ließ die Bajonette der Wachtposten erglänzen, die auf der Galerie zwischen den Bastionen patrouillierten, als stünde der Feind tief schlafend am Horizont. Zuckerweißes Licht auf dem Blechdach des Munitionsdepots. Der Exerzierplatz verlassen, menschenleere Ödnis. Die Tür des Offizierskasinos klappte im Nachtwind auf und zu, bis sie von jemandem zugezogen wurde. In sich hörte er noch die Matrosen in Jauch’s Bierhaus Lieder aus der Heimat singen, und es machte die Nacht noch fremder. Als er sich müde genug fühlte, ging er zurück in die Schlafbaracke, wo Rubyniak, Glatzel und Katzenschlager auf seinem Bett hockten und Karten spielten.

»Runter von meinem Bett!« sagte Mohr.

Sie griffen sich ihre Karten, und Katzenschlager machte ein angestrengtes Gesicht und furzte, bevor er aufstand.

»Sau«, sagte Mohr.

»Zu mir?« fragte Katzenschlager.

Rubyniak zog Katzenschlager weg.

»Ich hatt’ einen Kameraden«, stimmte Glatzel an.

Mohr schüttelte seine Wolldecke aus, ein Wunder, daß keine Sterne herausfielen.

An den Längswänden der Baracke standen Stockbetten im Abstand von einem Meter, am Kopfende die Spinde mit den Habseligkeiten der Männer. Der Fußboden bestand aus geölten Bohlen, die im Mittelgang durchgesackt waren. Die Fensterluken waren mit Fliegendraht bespannt, es roch nach Petroleum und Unterzeug.

Die Matratze war klumpig, die Wolldecke kratzig. Mohr lag da, dachte an Schlaf und wehrte die Angriffe der Roßbremsen ab, die aus der Badestube hereinflogen, die sich im Anbau befand. Irgendwo im Quartier onanierte jemand, mechanisch keuchend. Im ersten Traum ging seine Mutter mit ihm zum Bahnhof.

Frau Mutter, sagte er, ich lasse Sie nachkommen, sobald es geht.

Ach, sagte sie, ich glaube es ja!

Paar Jahre, sagte er, dann krieg ich ein Stück Land!

Er nahm sie in den Arm. Und sie blickte über die Schulter, ob jemand Zeuge davon geworden war, zog ihn in die Kirche und nahm ihn an der Hand, als wäre er wieder ihr kleiner Junge, ging mit ihm vor bis zum Kreuz, an dem Jesus hing. Sie sahen ihn an, und er richtete seine Augen gen Himmel, als gäbe es weder Sonnenschein noch Wolkenschatten, nur das unendlich ferne Gesicht seines Vaters vor den Schatten des Todes.

Wenn du nicht mehr da bist, mag ich gar nicht mehr heim, sagte sie.

Mama, sagte er.

Draußen ging sie auf einmal sehr schnell, und er trug seinen Ranzen aus Rohhaut und hätte am liebsten nach ihrer Hand gefaßt.

In jedem Garten sangen Vögel, ihre Stimmen blau wie der Himmel. Nach den letzten Häusern kam der Bahnhof, hinter den Gleisen der Fluß.

Er zeigte ihr sein Billett, dann sagte sie: Da kommt der Zug.

Ja.

Hast alles?

Ja.

Jetzt gehst du!

Ich muß.

Kommst wieder?

Ich komm immer wieder.

Hast wirklich alles?

Ja.

Schreibst du mir?

Ja.

Alles!

Ja.

Sie kramte hastig in ihrer Tasche, drückte ihm eine Schneekugel in die Hand.

Da, sagte sie. Fügte hinzu: Nimms! Ist bloß für dann, wenn du Heimweh hast. Sie senkte verlegen den Kopf.

Was ist?

Hab dich gern!

Nicht weinen, hatte er gesagt und: Schau, die Leute schauen schon! Und schwarzer Rauch aus der Lokomotive hatte um sie getanzt, als sie einander in den Armen lagen, und in seinen Armen hätte er auch noch Platz für Seffie gehabt. Dann hatten sie sich voneinander gelöst, und er hatte seinen Ranzen genommen und war in den Waggon gestiegen.

Er setzte sich in die Holzklasse, und als der Zug anrollte, riß er das Abteilfenster auf, winkte seiner winkenden Mutter, die, kleiner werdend, am Ende der Gleise verschwand. Eine Weile fuhr der Zug an der Altmühl entlang, und an der nächsten Station schüttelte er die Schneekugel, die schon etwas zerkratzt war, und es fing an, rings um das Brautpaar zu schneien. Schnee stob der Braut unter den Schleier, und Schnee bedeckte den Zylinder des Bräutigams. Sie standen bis zu den Waden im Weiß.

Um fünf Uhr morgens kam Feldwebel Weibel, die Trillerpfeife blasend, durch den Mittelgang zwischen den Betten marschiert, und Rubyniak ließ seinen Kopf von der oberen Bettstatt herunterhängen und sagte: »Seffie.«

Seine Matratze staubte bei der geringsten Bewegung.

»Sie heißt also Seffie!« sagte er.

Mohr sagte nichts.

»Du redest im Schlaf.«

»Und was sag ich?«

»Seffie. Schöner Name. Gefällt mir«, sagte Rubyniak.

»Dann träum du doch von ihr!«

Im Waschraum kamen Rinnsale trüben Wassers aus den Hähnen, und ihnen war abgeraten worden, davon zu trinken. Das Wasser wurde täglich aus der Stadt mit Tankwagen angeliefert und in die Garnisonszisterne eingespeist, es roch nach Lebewesen.

Vor der Latrine hatte sich eine Schlange gebildet, und niemandem ging es schnell genug voran.

Die morgendliche Körperertüchtigung, die Feldwebel Weibel anordnete, fand auf dem Exerzierplatz statt und diente dazu, den letzten Rest Müdigkeit zu vertreiben. Nach Liegestützen und Kniebeugen ging es im Gleichschritt zum Reitplatz, wo eine Herde Pferde auf der Suche nach Grashalmen herumtrottete. Rittmeister Dr. Patarga, der sich der Fliegen kaum zu erwehren vermochte, oblag die Zuteilung der Reittiere. Als erstes ließ er Männer und Pferde Blickkontakt aufnehmen, und dann, als er das Zeichen gab, kletterten die Männer über die Koppel und hetzten lockend und schwitzend ihrem auserwählten Pferd hinterher. Mohr hatte sich einen Rappschimmel mit weißem Abzeichen auf der Stirn ausgesucht, das Fell mauvefarben und an manchen Stellen ins Beige spielend, ein kräftig gebautes Tier mit wachen Augen und einer Art, den Kopf zurückzuwerfen, die Mohr so noch nie gesehen hatte, selbst nicht bei den edelsten Pferden im Stall des Grafen von Pappenheim. Nach ein paar Bocksprüngen ließ es sich Zügel und Zaumzeug anlegen. Dr. Patarga sagte ihm den Namen: Perilo.

Die Kinnketten der Kandaren klirrten leise, als sich die Kolonne Richtung Stallung in Marsch setzte. Dort tränkten und fütterten sie ihre Tiere, und die Offiziere, die im Offizierskasino frühstückten, schauten durch die weit geöffneten Fenster zu, wie sie Mist aus den Boxen karrten.

Nachdem die Pferde versorgt waren, gab es Malzkaffee und Graubrot mit Marmelade für die Männer.

Dann begann der Drill.

Sprung auf und nieder!

Die Sonne stieg empor wie ein Geschoß, explodierte über ihren Köpfen.

Anfangs empfanden sie es geradezu als Auszeichnung, derart gedrillt zu werden, dann aber, als es nicht endete und die Kommandos und Qualen ineinander übergingen, vermengten sich Wehrlosigkeit und Erschöpfung.

»Fängt ja nett an«, sagte Rubyniak.

Am Rand des Platzes stand Hauptmann Suck im Schatten eines Sonnensegels, und von weitem wirkte er wie ein Dompteur, der nach jeder gelungenen Nummer seine Daumen zu küssen schien, wenn er sich den Schweiß abwischte.

»Vier Jahre«, sagte Mohr, »vier Jahre!«

Schnappte wie ein Fisch an Land.

Sie lagen im Dreck, bewegten sich nicht, und Mohr dachte an Gras und Schnee. Dann kam Feldwebel Weibel im Laufschritt heran und fragte, warum ihn die Herren nicht zum Picknick einladen würden? Scheuchte sie ein paarmal im Laufschritt um den Platz und rannte vorneweg, um Suck und den Offizieren zu imponieren. Mohr legte an Tempo zu, tat, als wäre er drauf und dran, den Feldwebel hinter sich zu lassen, als ihm jemand auf die Hacken trat und ihn aus dem Tritt brachte. Er fing sich, lief weiter, ein Stück mit Waddie neben sich, der mißbilligend den Kopf schüttelte. Mohr verstand, fiel zurück.

Und so ließen sie sich schinden, ließen sich schinden und schleifen, bis sie sich selber Feind waren und das Gewicht ihres Blutes sie niedersinken ließ. Waddie war in die Hocke gegangen und hatte ihnen die ganze Zeit reglos zugeschaut. Manchmal dauert die Geburt länger als das Sterben.

Dies nun als Dank für meinen Fall …

Nach dem mittäglichen Essenfassen wurde der Befehl ausgegeben, die Neuen hätten sich in Dienstuniform mit den Pferden zur Parade zu sammeln. Und so traten sie alle an, in vollem Wichs traten sie an, ihre Pferde, akkurat gestriegelt, glänzten wie eingeölt und waren mit Schabracken geschmückt, auf denen klauenbewehrte Adler flatterten. Die Militärkapelle nahm zuvorderst Aufstellung, ihre Trompeten und Posaunen schienen wie aus Gold gemacht. Hinter ihr ritten die Offiziere hoch zu Roß, allen voran Kommandant Hauptmann Suck, dessen schneeweiße Uniform nur schlecht verbarg, daß er zur Korpulenz neigte. Ihm folgten Feldkaplan von Wilhelmi, Rittmeister Dr. Patarga und andere Chargen des Stabs, und Feldwebel Weibel ritt in den Fahnen ihres Staubs dahin.

Vor den ersten Häusern bog der Trupp zur Promenade ab, und an der halbfertigen Mole blies der Hornist Salut und die Schiffe draußen auf Reede hißten ihre Flaggen, um sie zu grüßen, neue Männer, die Hurra riefen, als versuchten sie den Ozean zu überbrüllen. Dann machten sie kehrt und ritten zum Amtssitz des Distriktchefs des Kolonialkorps, wo der Amtsinhaber ihnen zu Ehren auf die Balustrade trat und sie alle willkommen hieß und sich glücklich schätzte wegen des Schutzes, den sie durch ihre gebieterische Anwesenheit diesem Lande Deutsch-Südwest angedeihen ließen. Und sie schwangen ihre Hüte und Feldmützen mit den schwarz-weiß-roten Kokarden und hörten erst auf damit, als der Distriktchef in seine Amtsräume zurückging.

Wohin sie auch kamen, standen die Bürger Swakopmunds Spalier, schwenkten Fähnchen und hielten ihre Kinder hoch, damit sie einen Blick auf die Reiter erhaschen konnten, und sie ritten ganz langsam an ihnen vorbei, um den Staub niedrig zu halten.

Vorm Voigt’schen Store hatte sich eine Horde betrunkener Kiphkhas zusammengerottet. Als sie vorbeidefilierten, sprang ein junger Kiphkha aus ihrer Mitte und warf einen Stein in den Pulk der Reiter. Kamerad Elchlepp wurde am Kopf getroffen. Elchlepp hielt sich die Hände vors Gesicht und war viel zu erschrocken, um einen Laut von sich zu geben. Ohne auf das Kommando zu warten, zügelten sie ihre Pferde und saßen ab. Der junge Kiphkha, der den Stein geworfen hatte, ging ihnen sogar entgegen, als sie vorrückten, so, als wäre er erfreut, ihre Bekanntschaft zu machen. Er sang mit schriller Stimme ein Lied und klatschte rhythmisch in die Hände, hörte erst auf, als Waddie den Stein aufhob, ein faustgroßer Brocken, und ihm damit mit solcher Wucht auf den Kopf schlug, daß er das Weiße in den Augen zeigte und in die Knie ging. Während sie noch darauf warteten, daß der junge Kiphkha bluten oder schreien würde, kamen zwei Polizeidiener gerannt und droschen mit Knüppeln auf ihn ein.

»Au«, sagte Rubyniak jedesmal, wenn die Knüppel aufklatschten; er sagte es sehr oft, und Elchlepp sagte undeutlich, er solle endlich den Mund halten, weil er davon Kopfweh kriege. Er setzte sich einfach auf den Boden, lange bevor der junge Kiphkha in einer Wolke von Staub niedersank.

Sie schauten zu, wie der Kiphkha von den Polizeidienern links und rechts untergefaßt und zur Polizeistation geschleift wurde, die unten am Ende der Straße zwischen dem Prinzessin-Rupprecht-Heim und dem Rohbau des Hohenzollernhauses lag, und sie kamen sich fast so vor wie im Krieg. Mittlerweile waren die Bürger mehr an der Züchtigung interessiert als an der Parade.

Der Feldscher kümmerte sich um Elchlepp, der noch immer auf der Straße hockte wie einer der betrunkenen Hottentotten. Waddie sagte zu Suck, er kenne den Kerl, er sei aus Hopadessa, einer von Ximenz’ Leuten, sagte, der Kerl habe heißes Blut, Kriegerblut, und sei einem Mädchen hinterher, das der Kaptein nach Swakopmund gegeben habe.

Suck ließ sich den Stein reichen, wog ihn in der Hand. »Es geht los, Männer! Wollen wir uns glücklich schätzen, daß unserm Kameraden nichts Ernsteres zugefügt wurde!« Mit diesen Worten ließ er den Stein fallen. Er sah aus wie ein halb begrabener Kinderkopf, als er da unten im Straßenstaub lag, und Waddie hob ihn auf und roch daran.

Der Feldscher und Elchlepp blieben vorm Voigt’schen Store zurück, als der Trupp sich wieder in Bewegung setzte. Sie ritten Richtung Bahnhof, dessen Portal mit einer Girlande geschmückt worden war. Herr Livonius, der Stationsvorsteher, beehrte sie mit einer kleinen Ansprache, die darin gipfelte, daß er sie als Garanten der Pünktlichkeit betrachte, damit diese deutsche Tugend endlich auch hierzulande verbreitet werde. Sie ließen ihn hochleben, und seine Gattin, eine bläßliche Person, die ihm zur Seite stand, erschrak bei ihrem heiseren Gebrüll.

Dann querten sie wie bei einer Ehrenrunde den Schienenstrang, der ins Land hinausführte, in ein Land, von dem sie nicht viel mehr wußten, als daß es unwegsam war und, wie es hieß, schwerlich zu befrieden; sie hätten viel darum gegeben, wenn just in diesem Moment ein Zug angekommen wäre, blumenbekränzt die Lokomotive und die Waggons voll winkender, leichtbekleideter Damen. Sie folgten ein Stück der Trasse, bis die Dünen der Wüste vor ihnen lagen, gestrählt vom Meerwind. Alles blieb still und einsam da draußen, in dieser Zukunft, die ihnen bevorstand, dann machten sie kehrt und ritten in leichtem Trab zurück.

Auf dem baumbestandenen Vorplatz der Dreifaltigkeitskirche hatten sie eine Art Feldmesse hinter sich zu bringen, die Feldkaplan von Wilhelmi für die Soldaten ausrichtete; er stellte sie unter Gottes Schutz und segnete sie. Am Ende wurden die Glocken geläutet, und ihr Klang rollte hinaus in die Täler der Wüste, und in der Kirche, deren Tor weit offen stand, spielte jemand einen Choral auf einem Harmonium, erhaben und süß, so daß einige von ihnen niederknieten; sogar Waddie hielt die Hände gefaltet und schaute zu Boden, wo der Schatten mit Blättern spielte.

Nach der Messe ging es in loser Formation zu Jauch’s Bierhaus, das zur Feier des Tages mit Fähnchen und Girlanden geschmückt war. Gäste und Kellner drängten sich auf der Veranda und empfingen sie mit erhobenen Krügen. Der Kneipier trat heraus und verkündete, daß alle Neuankömmlinge hier und heute auf einen Schluck seine Gäste seien, sie zu bewirten sei ihm freudige Pflicht dem Vaterland gegenüber. Und begeistert riefen sie »Bravo!« und »Hurra!«, ihre Stimmen wie verdorrt. Das Kommando zum Absitzen kam von Hauptmann Suck höchstpersönlich. Als sie abgesessen hatten, banden sie ihre Pferde am Querbalken an. Waddie blieb bei den Tieren und bewachte sie.

Denn der Abend kam. Und dahinter die Nacht.

Der Friedhof der Sterne.

In der Feststube, wo die Offiziere Platz genommen hatten, waren die Tische zu einer langen Tafel zusammengerückt worden. Mohr und seine Kameraden bekamen Plätze vorne in der Gaststube zugewiesen, wo es bald so eng wurde, daß für die Kellner mit ihren Tabletts kaum noch ein Durchkommen war. Als dann Hauptmann Suck mit einem Krug Bier in der Hand auf ihr Wohl anstieß und in seinem Trinkspruch die »langersehnte Auffrischung der militärischen Ressourcen im kolonialen Lebenskampf« hervorhob, taten sie ihm Bescheid, tranken stehend, und nach dem Absingen der Nationalhymne ließen sie Deutschland hochleben und tranken weiter.

Der Kneipier trat an den Hauptmann heran und übergab ihm mit wichtiger Miene ein Kuvert, das schon etwas zerdrückt war.

»Vom Häuptling«, sagte er.

Suck riß das Kuvert auf, las.

Er las lange.

Dann dankte er Jauch und ging zurück in die Feststube.

Auf Kosten des Hauses wurde jedem Mann eine Eierspeise mit aufgeschnittener Siedewurst serviert, die etwas wäßrig und fettlos schmeckte. Eng hockten sie zusammen, wie in Reih und Glied, aßen und tranken, während das Gerücht die Runde machte, daß die Honoratioren und Offiziere in der Feststube Sachen verspeisten, die entschieden fleischiger rochen als das, was sie auf ihre Teller geladen bekommen hatten. Das Freibier, stellte sich heraus, war pro Person auf einen halben Liter bemessen, und alles, was sie danach tranken, hatten sie selbst zu berappen – im Gegensatz zu den Offizieren, die vermutlich den ganzen Abend umsonst zechten.

Elchlepp kam an ihren Tisch. Sein Gesicht war verfärbt, und um die Stirn trug er einen Verband. Sie umarmten ihn.

Rubyniak sagte: »Du schaust aus wie ein Held!«

Jeder ließ ihn aus seinem Krug trinken.

»Ihr seid so gut zu mir«, sagte Elchlepp.

»Ich würde das Schwein in Stücke haun«, sagte Glatzel.

»Das machen die schon«, sagte Katzenschlager.

»Der«, sagte Mohr, »hat ja noch Flaum am Arsch gehabt.«

»Hört euch den Herrn Negeraff an«, sagte Katzenschlager.

Glatzel hielt ihm den Mund zu.

Zu spät, denn Mohr hatte ihm schon sein Bier ins Gesicht geschüttet, war aufgesprungen und hatte sich über den Tisch geworfen. Katzenschlager krachte vom Stuhl und trat von unten gegen den Tisch, daß sie alle ihre Krüge festhalten mußten. Feldwebel Weibel kam aus der Feststube herbeigeeilt und befahl Benimm. Hinter seinem Rücken machte sich Rubyniak einen Spaß daraus, dem Zähne bleckenden Löwenkopf zuzuprosten.

Bald wurde ihnen langweilig.

Sosehr sie sich auch umblickten, keine hübsche Dame schwebte zwischen den Tischen und setzte sich ihnen auf den Schoß. Manchmal erschien eine der Bambusen oder Bimbettas aus der Spülküche in der Gaststube, um verschüttetes Bier aufzuwischen; ihre Schürzen waren farblos und so lang, daß sie fast auf dem Boden schleiften. Und niemals, wie Mohr feststellen mußte, niemals war das Mädchen, das ihn naßgespritzt hatte, unter ihnen.

Sie tranken viel und immer schneller.

Zählten ihr Geld unterm Tisch.

»Wer zahlt die nächste Runde?«

Wer stirbt zuletzt?

»Prost, Löwe!«

Schauten den Kellnern bei der Arbeit zu.

Mohr ging nach hinten zu den Aborten, ließ sich alle Zeit der Welt, rieb sich das Gesicht sauber für den Fall, daß das Mädchen ihn sehen sollte, so von Kopf bis Fuß herausgeputzt.

Als er herauskam, lehnte der Hauptmann im Türrahmen zur Spülküche und versuchte sich in leutseligen Gebärden.

»Pardon, Herr Hauptmann«, sagte Mohr.

»Gestattet«, sagte Suck, machte Platz.

Mohr dankte, wagte einen Blick. Die Frauen standen unbewegt da, während der Hauptmann mit ihnen schäkerte; das Mädchen hatte sich halb hinter ihnen versteckt. Suck machte einen Schritt, ließ sich nicht davon abbringen, ihm unters Kinn zu fassen. Dann lachte er und tat so, als wollte er ihr einen Kuß geben; ihre Lippen hatten die Farbe von Heidelbeeren.

Am Tisch erzählte Mohr, was der Hauptmann sich herausgenommen hatte, aber seine Kameraden kümmerten sich nicht darum. Auf einmal fühlte er sich feige und schämte sich, daß er nicht dazwischengetreten war.

»Ich liebe dich«, sagte Rubyniak zu Mohr, als Mohr die nächste Runde bestellte.

Das Geld seiner Mutter.

Oh, er kannte ein reiches Mädchen.

Er trank, und es war, als würde er vom Trinken Durst bekommen.

Wo liegt Pappenheim, Mohr?

Nicht in Afrika, Herr Lehrer!

Brav! Setzen!

»Wißt ihr was?« sagte Katzenschlager. »Ich frag Waddie, wo es Huren gibt.«

Er kämpfte sich durch die schweren, verschwitzten Leiber nach draußen. Mohr dachte an die Huren und wie sie wohl aussahen und ob sie blauschwarze Lippen hatten. Die Märchen des Alltags hatten alle etwas mit Lügen zu tun – und der Lust, nicht die Wahrheit zu sagen. Katzenschlager kam zurück und sagte, Waddie habe gesagt, hinten im Hof gebe es ein Kabuff mit roten Fenstern. Weil jetzt überall gesungen wurde, verstanden sie ihr eigenes Wort nicht mehr. Der Lärm hörte sich gut an, schickte die Träume auf Reisen, und für einen Moment gab es zwischen Vorwärts und Zurück keinen Unterschied. Mohr dachte an Seffie, so oft hatte er schon versucht sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn er sie wenigstens ein einziges Mal geküßt hätte; er konnte nicht einmal Bilder für ihren Körper erfinden. Haut und Haar, hin oder her. Er schlief am Tisch ein. Seine Mutter arbeitete im Garten, goß Salatköpfe.

Mutter! rief er.

Er zeigte ihr seinen Gestellungsbefehl, sie sah gar nicht auf.

Da steht, daß ich tauglich bin für die Kolonien.

Tauglich, mich zu verlassen!

Mama, sagte er, schämte sich, Mutter!

Sie sagte: Warum so weit weg? Warum gleich so weit? Aber geh nur! Geh mit Gott! Ich komm, sobald ich kann! Morgen! Vielleicht schon morgen!

Er hielt es am Tisch nicht mehr aus; irgend etwas trieb ihn hinaus. Er schluckte, als ihm ein Schwall Bier zurück in den Mund floß, vermischt mit saurem Schaum, aber er mußte sich nicht übergeben, mußte nur heulen wegen etwas, das mächtiger war als Wut, Haß oder Zorn. Er ging an den Aborten vorbei und durch die Hintertür.

Und weiter übern Hof, der mit Fässern und Kisten vollgestellt war. Aus dem Küchentrakt fiel eine matte Lichtbahn, und dahinter, tiefer in der Finsternis, war in Umrissen die Rückfront des Voigt’schen Store zu erkennen; davor erstreckte sich eine Brache, die jetzt, in der Nacht, undurchdringlich schien. Er bemerkte einen Trampelpfad, der sich wie eine schmale Schneise durch Gestrüpp und Gerümpel zog und sich in der Finsternis verlor. Die Nacht ein kaltes nasses Tuch, in der Luft ein Geruch wie von verfaultem Fisch und Flieder. Eine Gestalt tauchte auf, verschwand wieder, ein Hauch von Stimmen und Schatten, die Wärme von Körpern, die Hitze der Gewalt, die sie verströmten. Mohr blieb stehen, spürte, daß jetzt jemand hinter ihn getreten war, drehte sich um, wollte zurück.

»Freund oder Feind?«

»Ich weiß nicht!«

»Er weiß nicht! Schwarz oder Weiß? Mann oder Frau?«

Bekam einen Stoß vor die Brust, stolperte rückwärts, sah zwei Reihen Zähne, groß wie die des Löwen.

»Hier ist nichts für dich, Kamerad!«

»Bin nicht dein Kamerad!«

Der Mann schlug die Hacken zusammen, sagte etwas wie Jawoll. Zu spät sah Mohr, daß er ausgeholt hatte. Es fühlte sich an wie der Schlag einer Keule, die ihn zwischen Kinn und Hals traf, und sein Herz begann wie eine Trommel zu schlagen; er spürte klebrige Nässe von seiner Schläfe rinnen, fühlte sich wie die Schnecke, die den Igel überholen wollte, wenn er sich richtig an das Märchen erinnerte.

»Weißt du, warum?«

»Nein«, sagte er.

»Ihr schlagt uns, wir schlagen euch. Gut?«

Er rannte weg, als Rubyniak in den Hof kam und Mohrs Namen rief.

Rubyniak holte Dr. Patarga aus der Feststube. »Unser Herr Feldscher ist leider unpäßlich«, sagte er. Mohr mußte den Oberkörper freimachen, und die Kameraden hörten zu singen auf, als der Doktor mit heißem Wasser, das er sich aus der Spülküche hatte kommen lassen, die Wunden betupfte.

»Erst Elchlepp, jetzt Sie«, sagte Dr. Patarga, verlangte ein sauberes Handtuch, wickelte es Mohr um den Kopf. »Wie fühlen Sie sich?«

»Irgendwie«, sagte Mohr.

»Wenn Sie auf keine dummen Gedanken kommen, werden Sie ganz gesund«, sagte Dr. Patarga.

Dann kam Weibel, fragte, was vorgefallen sei.

»Erste Feindberührung«, sagte Dr. Patarga.

Rubyniak sah zu, wie Mohr Hemd und Uniformrock anzog. Elchlepp, Katzenschlager und Glatzel waren schon gegangen. Mohr bekam von Jauch zur schnelleren Genesung einen Schnaps spendiert, trank die Hälfte, gab das Glas Rubyniak, der es austrank.

In der Spülküche war das Licht gelöscht. Die Kellner hatten sich am Stammtisch versammelt, machten Kassensturz und tranken ihr Feierabendbier. Rubyniak stand auf, schleifte seinen Stuhl hinter sich her bis untern Löwenkopf. Er stieg auf den Stuhl, steckte seinen Kopf in den Rachen des Löwen und brüllte, bis die Kellner aufsprangen, ihn herunterzogen und hinausbeförderten.

Mohr folgte ihm. Draußen riß er sich das Handtuch herunter.

Waddie kam mit ihren Pferden.

»Ich geh lieber«, sagte Rubyniak.

Hob die Hand zum Gruß.

»Tut’s weh?« fragte Waddie.

»Ja«, sagte Mohr, »aber ich weiß nicht, wo.«

Er saß auf, tauchte in den Wind. Sand wehte durch die Luft, lag weiß auf den Dächern der Häuser. Du bist ein Neuer? Was heißt das?