Die industrielle Entwicklung Polens - Rosa Luxemburg - E-Book

Die industrielle Entwicklung Polens E-Book

Rosa Luxemburg

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Beschreibung

Im Jahr 1897 wird Rosa Luxemburg in Zürich mit einer Arbeit über 'Die industrielle Entwicklung Polens' promoviert. In ihrer Doktorarbeit beschreibt Luxemburg die Industrialisierung Russisch-Polens seit 1820. Sie konstatiert die vollständige Integration der polnischen Wirtschaft in die Gesamtökonomie des Zarenreichs und die damit einhergehende Abhängigkeit. Ihr Doktorvater, Professor Julius Wolf lobt: 'Sie erschließt ihr Thema, ohne je weitläufig zu werden, und legt Zeugnis ab ebenso von theoretischer Begabung wie von praktischem Blick.' 1898 erfolgt ein weiterer Qualitätsbeweis: Der renommierte Leipziger Verlag Duncker & Humblot publiziert 'Die industrielle Entwicklung Polens' als Buch.

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Impressum

Veröffentlicht im heptagon Verlag © Berlin 2015 www.heptagon.de ISBN: 978-3-934616-09-7 Dem Text liegen folgendes Referenzwerk zu Grunde: Rosa Luxemburg: Die industrielle Entwicklung Polens, Leipzig 1898.

Die industrielle Entwicklung Polens

Vorwort.

Obwohl das Thema der nachstehenden Abhandlung ein sehr specielles ist, glauben wir doch, daß es aus verschiedenen Gründen auch für den westeuropäischen Leser ein nicht geringes Interesse bieten dürfte. Die ökonomischen Fragen stehen heute im Vordergrunde des geistigen Lebens aller civilisierten Länder, man hat in ihnen bereits die Triebfeder des ganzen gesellschaftlichen Seins und Werdens erkannt; die politische Physiognomie, die historischen Schicksale eines Landes sind für uns ein Buch mit sieben Siegeln, wenn wir nicht sein wirtschaftliches Leben mit allen sich daraus ergebenden socialen Folgen kennen.

Es ist noch nicht lange her, daß Polens Name in der ganzen civilisierten Welt widerhallte, daß seine Geschicke alle Gemüter bewegten, alle Herzen in Erregung brachten. In der letzten Zeit hört man wenig mehr von Polen, und zwar – seit Polen ein kapitalistisches Land ist. Will man nun wissen, was aus dem alten Rebellen geworden, wohin ihn die historischen Schicksale lenken – die Antwort kann nur durch die Erforschung seiner ökonomischen Geschichte der letzten Jahrzehnte gegeben werden. Man kann die sogenannte »polnische Frage« von verschiedenen Standpunkten betrachten und diskutieren, für denjenigen aber, der in der materiellen Entwicklung der Gesellschaft den Schlüssel zu ihrer politischen Entwicklung erblickt, kann die polnische Frage nur auf Grund des ökonomischen Lebens Polens und dessen Tendenzen gelöst werden. Wir haben uns bemüht, in der folgenden Abhandlung das vorhandene Material zur Lösung der Frage zu sammeln und möglichst übersichtlich zu ordnen, wobei wir uns stellenweise auch einige direkte Fingerzeige politischer Natur erlaubt haben. Das auf den ersten Blick trockene und specielle Thema dürfte also auch für den Politiker von einigem Interesse sein.

Dies aber noch aus anderen Gründen. Wir leben in einer Zeit, wo das mächtige Reich des Nordens eine immer wichtigere Rolle in der europäischen Politik spielt. Alle Blicke richten sich beharrlich auf Rußland, und mit Besorgnis beobachtet man die erschreckenden Fortschritte der russischen Politik in Asien. Es dürfte bald für niemand ein Geheimnis sein, daß sich die wichtigsten kapitalistischen Länder auch über kurz oder lang auf eine ernste ökonomische Konkurrenz Rußlands in Asien gefaßt machen müssen. Die ökonomische Politik des Zarenreichs kann deshalb schon für den Westeuropäer nicht ganz gleichgültig sein. Polen bildet aber einen der wichtigsten und fortschrittlichsten Industrierayons des russischen Reiches, und zwar einen, in dessen Geschichte die ökonomische Politik Rußlands vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck kommt.

Das Material zu unserer Arbeit lag zerstreut in zahlreichen, vielfach einander widersprechenden, statistischen Werken, polemischen Broschüren, Zeitungsnotizen, offiziellen und nicht offiziellen Berichten, ein erschöpfendes Werk über die Geschichte der polnischen Industrie im ganzen und besonders über ihren heutigen Stand findet sich weder in der polnischen, noch in der russischen oder deutschen Literatur vor. Wir glaubten daher, das rohe und zerrissene Material verarbeiten und in möglichst fertiger Form bieten zu müssen, um den Leser zu den allgemeinen Schlüssen am leichtesten gelangen zu lassen.

Erster Teil.

Die Geschichte und der heutige Stand der polnischen Industrie

1. Die Manufakturperiode 1820–1850.

Die politischen Ereignisse versetzten Polen gegen Anfang des 19. Jahrhunderts in gänzlich neue Verhältnisse. Aus den eigenartigen naturalwirtschaftlichen, feudal-anarchischen Zuständen der Adelsrepublik, die wir in dem Polen des 18. Jahrhunderts vorfinden, geriet es durch die Teilungen unter ein Regime des aufgeklärten Absolutismus und unter die centralistisch-bureaukratische Administration von Preußen, Österreich und Rußland. Der uns hier interessierende russische Hauptteil Polens erhielt zwar sehr bald, noch als Herzogtum Warschau, und später nach dem Wiener Kongreß, eine eigene ständische Verfassung, sie war aber von derjenigen des alten Polens himmelweit verschieden, und der ganze administrative, finanzielle, militärische, gerichtliche Staatsapparat war auf einen modernen centralisierten Staat zugeschnitten. Mit den ökonomischen Verhältnissen, auf welche derselbe aufgepropft war, befand er sich im grellsten Widerspruch. Das ökonomische Leben Polens konzentrierte sich nach wie vor in dem Grundbesitz. Die im 13. Jahrhundert begonnene Entwicklung des städtischen Handwerks war im 17. Jahrhundert im Sande verlaufen, die Versuche des Magnatentums am Ende des 18. Jahrhunderts, eine Manufaktur zu schaffen, gingen ebenfalls in die Brüche. Der Grundbesitz war aber ganz und gar ungeeignet, zur Basis einer modernen Staatsorganisation zu dienen. Schon durch die Abhängigkeit von dem Weltmarkt, in die er im alten Polen seit dem 15. Jahrhundert geraten war, zu einer höchst extensiven Latifundienwirtschaft und zur äußersten Erpressung der Frohnarbeit getrieben, wurde er immer irrationeller bewirtschaftet und deshalb immer unausgiebiger. Die Kriege der letzten Epoche Polens, nachher die napoleonische Wirtschaft in dem Herzogtum Warschau, die Kontinentalsperre und mit ihr der Rückgang der Getreideausfuhr, das Sinken der Getreidepreise, die Abschaffung der Hörigkeit 1807, alle diese verschiedenartigen Schläge hagelten im Laufe von ungefähr zehn Jahren nacheinander auf den Grundbesitz und hatten ihn bis an den Rand des Ruins gebracht. Da er indessen die Haupteinnahmequelle im Lande bildete, so mußten auch die verhältnismäßig großen Kosten der neuen Administration des Landes mit ihrer ganzen Last wieder auf ihn fallen. Die zehnprozentige Einkommensteuer vom Grundbesitz, welche schon im alten Polen eingeführt, erst jetzt aber wirklich erhoben wurde, sollte nun auf 24 Prozent erhöht werden. Außerdem lasteten die Einquartierungen und Lieferungen für das Militär in Natura auf dem Adel.

Die Folge davon war, daß der Grundbesitz in kurzer Zeit in die Klauen des Wuchers fiel. Wenn das alte Polen infolge des Verfalls der städtischen Produktion und des Handels keine städtische Kapitalistenklasse besaß, so taucht gleich nach der Teilung Polens eine solche auf. Teils bestand sie aus eingewanderten Beamten und Wucherern, teils aus polnischen Emporkömmlingen, die ihre materielle Existenz der großen politischen und ökonomischen Krise des Landes verdankten. Diese neue Bevölkerungsschicht versah nun den geldbedürftigen Adel mit Kapitalien. In hohem Maße hat übrigens den Anfang zu seiner Verschuldung schon die zehnjährige preußische Herrschaft (1796–1806) gemacht, während welcher dem polnischen Adel zum erstenmal ein organisierter Bodenkredit weit eröffnet wurde.

Für den polnischen Grundbesitz bedeutete das eine förmliche Revolution. Was in den westeuropäischen Ländern im Mittelalter durch eine langsame und stete Wirkung von Jahrhunderten bewerkstelligt wurde – die Zersetzung des patrimonialen Grundbesitzes durch den Wucher – das ward in Polen, wo sich der Grundbesitz vom Wucher bis zu Ende der Republik frei gehalten hatte, jetzt in weniger als zwanzig Jahren fertig gebracht. Schon im Jahre 1821 mußte er von der Regierung des Königreiches durch eine Ausnahmsmaßregel – das Moratorium – vor dem Untergang gerettet werden.

Unter solchen Umständen wurde das Deficit gleich von Anfang an zu einer stehenden Erscheinung im Budget des Königreiches. Die Schaffung neuer Einnahmequellen für den Fiskus und neuer Gebiete ökonomischer Thätigkeit im Lande wurde deshalb für das Königreich vom ersten Augenblick an zu einer Existenzbedingung. Nach dem Vorbild anderer Staaten und von unmittelbaren Bedürfnissen getrieben, unternahm nun die Regierung die Gründung einer städtischen Industrie in Polen.

Das Jahrzehnt 1820–1830 ist die Entstehungsperiode der polnischen Industrie oder richtiger der polnischen Manufaktur.

Bezeichnenderweise ist sie ganz ähnlich der ehemaligen Entstehung des polnischen Handwerks auf dem Wege der Herbeiziehung fremder, meist deutscher Handwerker zustande gekommen. Ebenso wie im 13. Jahrhundert die polnischen Fürsten durch allerlei Privilegien fremde Arbeiter nach Polen zu locken suchten, so auch die Regierung Kongreß-Polens. Eine ganze Reihe von diesbezüglichen Zarenukasen wurde in den Jahren 1816–1824 erlassen. Die Regierung stellte unentgeltlich Häuser, Baumaterial zur Verfügung, erließ den Pachtzins, gründete den sogenannten eisernen Fonds zur Errichtung von Industriegebäuden und Wohnhäusern für Industrielle. 1816 wurde den einwandernden Handwerkern die Befreiung von allen Steuern und öffentlichen Lasten für sechs Jahre zugesichert, ihre Söhne vom Militärdienst befreit und die zollfreie Einführung ihrer Mobilien gestattet. 1820 gewährte die Regierung den Einwanderern für zehn Jahre unentgeltlichen Bezug von Baumaterial aus Staatswäldern und errichtete eigene Ziegeleien, um ihnen möglichst billige Ziegel zu liefern.

Ein Gesetz vom Jahre 1822 befreite alle industriellen Unternehmungen für drei bis sechs Jahre von der Einquartierung. 1820 und 1823 wurde verordnet, daß die Städte zu diesen Unternehmungen Plätze für sechs Jahre zinsfrei herzugeben haben. Der für Zwecke der industriellen Kolonisation 1822 gegründete Industriefonds betrug anfangs 45.000 Rubel, 1823 schon das Doppelte und von da an 127.500 Rubel jährlich.1

So mannigfache Anziehungsmittel verfehlten nicht ihre Wirkung. Bald kamen deutsche Handwerker truppweise nach Polen und siedelten sich an. Ungefähr zehntausend deutsche Familien sind zu jener Zeit in wenigen Jahren eingewandert. Auf diese Weise entstanden bald die heute wichtigsten industriellen Städte: Lodz, Zgierz, Rawa, Pabjaniz u.a. Neben Handwerkern rief die Regierung Kongreß-Polens zur Leitung ihrer Unternehmungen hervorragende Industrielle vom Auslande herbei: Coqueril aus Belgien, Fraget, Girard u.a. Die Regierung Kongreß-Polens begnügte sich jedoch nicht mit der Gewährung von Privilegien an Einwanderer und mit der Errichtung deutscher Manufakturstädte. Im Unterschied vom mittelalterlichen Handwerk konnte sich die Manufaktur nicht mit dem engen Konsumtions- und Cirkulationskreis innerhalb je einer Stadt begnügen, sie erforderte von vornherein einen Massenabsatz, daher auch einen wenigstens auf das ganze Land sich erstreckenden Warenverkehr. Deshalb mußte die Regierung gleichzeitig mit der Gründung von Manufakturkolonien eine Reihe administrativer und legislativer Reformen vornehmen, welche das Land ökonomisch zu einem Komplex vereinigen und die notwendigen juristischen Formen für den inneren Warenverkehr schaffen sollten. Die größte Bresche in die Eigentums- speciell die Grundeigentumsverhältnisse des alten Polens hatte bereits der im Herzogtum Warschau 1808 eingeführte Code Napoleon gelegt. Er hatte juristische Formen einer modernen bürgerlichen Ökonomik in ganz fertiger Gestalt auf ökonomische Zustände einer rein feudalen Naturalwirtschaft aufgepfropft. Ohne die Produktionsweise an sich im mindesten umgestalten zu können, hatte er jedoch die alten Eigentumsverhältnisse stark durchlöchert und so ihre Zersetzung beschleunigt. Durch die Abschaffung der ewigen Renten, der Fideikommisse u.a. wurde der Grundbesitz aus der Unbeweglichkeit gerissen und in die Cirkulation geschleudert. – Zugleich hatte der Code Napoleon für den Handel und die Handelsgerichtsbarkeit rechtliche Normen geliefert. 1817 wurden ferner Handels- und Manufakturkammern errichtet und das Handelsreglement zum Abschluß gebracht, im folgenden Jahre Hypothekenbücher eingeführt, 1825 die Landkreditgesellschaft gegründet.2 Seit 1819 nahm man von Staatswegen den Bau von Chausseen und die Regulierung von Wasserstraßen, 1825 die Anlage des Kanals zwischen dem Niemen und der Weichsel in Angriff.3 Die Regierung ging endlich auch, ganz wie in anderen Ländern in den Anfängen der Manufaktur, mit eigenen industriellen Gründungen voran, richtete Musterbetriebe, Musterschafzucht u. dgl. ein. Den mächtigsten Stützpunkt gab sie aber der aufkeimenden Manufaktur durch die Gründung der Polnischen Bank, die durch den Zarenukas von 1828 ins Leben gerufen und nach dem Vorbild der deutschen »Seehandlung« und der belgischen »Société générale« eingerichtet wurde. Das war eine Emissions-, Effekten-, Depositen-, Hypotheken-, Kommissions- und Industriebank zugleich. Dotiert ursprünglich mit einem Fonds im Betrage von 3 Millionen Rubel, bekam sie daneben noch Depositen-, Kautions-, geistliche, Feuerversicherungs-, Pensions- und andere Kapitalien auf Depot, was bis 1877 zusammen 282 Millionen Rubel repräsentierte. Die Bank eröffnete der Industrie, ebenso wie der Landwirtschaft Kredit. Im Laufe von 50 Jahren seit ihrer Gründung hat sie den kommerziellen und industriellen Unternehmungen allein Kredit im Betrage von 91 Millionen Rubel gewährt. Die Thätigkeit der Bank war äußerst vielseitig. Sie gründete nicht nur selbst Fabriken, betrieb den Bergbau und die Landwirtschaft, sondern sorgte auch für Verkehrsmittel. Die erste polnische Eisenbahnlinie »Warschau – Wien« 1845 war hauptsächlich das Werk der Polnischen Bank.

Die oben skizzierte Thätigkeit der Regierung war der erste wichtige Faktor der Entwicklung der Industrie in Russisch-Polen. Welche Umstände auch ihre fernere Geschichte beeinflußt haben mögen, ihre Entstehung verdankte sie unzweifelhaft der Initiative und den Bemühungen der Regierung.

Wir sehen zwar – wie gesagt – auch in anderen Ländern, in Frankreich und Deutschland z.B., die Regierungen an der Wiege der Manufaktur stehen und mit thätiger Hand in ihre Schicksale eingreifen. Hier boten aber die Regierungen ihre Unterstützung nur einer natürlichen Entwicklung der städtischen Produktion, welche von selbst und kraft objektiver Faktoren, wie die Accumulation des Handelskapitals, die Erweiterung des Absatzmarktes, die technische Entwicklung des Handwerks, zur Umwandlung in die manufakturmäßige Produktionsweise vorschritt. In Polen war die Manufaktur, ganz wie ehemals das städtische Handwerk, ein in fertiger Gestalt importiertes fremdes Produkt, welches weder in technischer noch in socialer Beziehung an eine eigene ökonomische Entwicklung Polens anknüpfen konnte. Die Thätigkeit der Regierung war hier daher der einzige positive Faktor der Entstehung der Manufaktur, und dies erklärt uns die Vorliebe, mit welcher polnische Ökonomisten und Publizisten auf dieselbe zurückkommen, dabei ihre Bedeutung in der Geschichte der polnischen Industrie im ganzen nur zu oft überschätzend. Vor allem vergessen sie aber, daß die autonome polnische Regierung in ihrer geschilderten Thätigkeit im innigsten Einvernehmen mit dem russischen Zarismus handelte, der dabei von Absichten geleitet war, die in nationaler Beziehung nichts weniger als freundlich Polen gegenüber waren.

Die Bemühungen der Regierung Kongreß-Polens fanden übrigens vom ersten Augenblick an den günstigsten Boden in den Zollverhältnissen Polens vor. Durch die Wiener Kongreßakte erfolgten für Polen in dieser Beziehung zwei wichtige Maßregeln, erstens wurde es mit Rußland vereinigt, zweitens wurde ihm der freie Handelsverkehr mit den anderen Landesteilen des ehemaligen Polens, oder, was im Grunde genommen dasselbe bedeutete, mit Deutschland und Österreich, gesichert. Was die Vereinigung mit Rußland betrifft, so wurden die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern durch den Zolltarif von 1822 und 1824 dahin reguliert, daß dieselben eigene Erzeugnisse fast zollfrei miteinander austauschten.4 Die Bedeutung dieser Neuregelung für Polen wird aber erst klar, wenn man ins Auge faßt, daß Rußland seit dem Jahre 1810 und besonders später unter der Leitung von Kankrin eine äußerste, oft an Unsinn grenzende Prohibitivpolitik Europa gegenüber befolgte, und von allen Seiten durch eine unübersteigliche Zollmauer vor fremden Fabrikaten geschützt war. Durch die Vereinigung mit Polen auf Grund der erwähnten Zolltarife wurde Rußland nun von dieser Seite den deutschen Waren zugänglich gemacht. Für Polen hatte diese Thatsache zur Folge, daß es zur Werkstatt für die Bearbeitung deutscher Halbfabrikate wurde, welche meist zollfrei nach Kongreß-Polen eingeführt, hier appretiert wurden und als polnische Fabrikate wieder fast zollfrei nach Rußland wanderten. Auf solchem Wege kam namentlich die große Tuchfabrikation Polens in wenigen Jahren in Blüte.5 Erst in den Jahren 1817 bis 1826 gegründet, erreicht sie im Jahre 1829 schon die für die damalige Zeit ansehnliche Höhe von 5.752.000 Rubel Produktionswert.6 Daß dieses überraschend rapide Wachstum fast ausschließlich dem russischen Konsum zu verdanken war, zeigt die folgende Tabelle der Ausfuhr von Wollfabrikaten nach Rußland in tausend Rubel:

1823: 1.865, 1825: 5.058, 1827: 7.218, 1829: 8.418.7 Wenn der Wert der exportierten Fabrikate nach dieser Tabelle den Wert der im Lande produzierten übersteigt, so rührt dies daher, daß außer den in Polen verfertigten Waren auch deutsche nach Polen geschmuggelte fertige Fabrikate unter polnischer Marke massenhaft nach Rußland ausgeführt wurden.

Die erwähnten Zollverhältnisse hatten aber für Kongreß-Polen noch eine andere wichtige Seite. Sie eröffneten ihm einen freien Handelsweg nach China, wohin ebenfalls polnisches Tuch in großem Umfange exportiert wurde. Dieser Export betrug nämlich in tausend Rubeln:

1824: 331, 1826: 332, 1828: 1.024, 1830: 1.070.8 Obwohl sich die ganze Ausfuhr Polens in dem ersten Jahrzehnt seiner industriellen Entwicklung eigentlich nur auf einen einzigen Zweig, die Wollproduktion, erstreckte, so war doch ihre Bedeutung für das Land eine große, da sie auch auf andere Produktionszweige belebend rückwirkte und die Einwanderung deutscher Handwerker mächtig förderte. Ein Historiker des polnischen Textilindustriecentrums, der Stadt Lodz, nennt den damaligen Tuchhandel Polens mit Rußland und China »die Haupttriebfeder der Entwicklung der Industrie«.9

Im Jahre 1831 nahm jedoch dieser Handel ein Ende. Der polnische Aufstand, der für einige Zeit die Entwicklung der Manufaktur im Lande lahmlegte, hatte noch zur dauernden Folge, daß in dem erwähnten Jahre der Zolltarif zwischen Polen und Rußland bedeutend erhöht wurde.10 Schon längst war die Konkurrenz des polnischen Tuchs in Rußland und China den russischen Fabrikanten ein Dorn im Auge. Ihre wiederholten Gesuche um Erhöhung der Zollsätze an der polnischen Grenze blieben jedoch ohne Folgen, bis der Aufstand von 1831 und mit ihm der Stillstand in der Ausfuhr polnischen Tuches nach Rußland den dortigen Industriellen die Möglichkeit gewährt hatte, das geräumte Feld durch Erweiterung der eigenen Produktion rasch in Besitz zu nehmen und so der Regierung zahlenmäßig nachzuweisen, wie sehr die »vaterländische« Industrie von der polnischen Konkurrenz bis dahin zu leiden gehabt hatte. Mit der Erhöhung des Zolltarifs und zugleich der Aufhebung des freien Transits nach China sinkt die polnische Ausfuhr rapid: 1834 betrug sie im ganzen 2.887 tausend Rubel, davon Fabrikate 2.385 tausend Rubel, 1850 betrug sie im ganzen 1.274 tausend Rubel, davon Fabrikate 755 tausend Rubel.11 Für die polnische Wollproduktion war das ein harter Schlag. Nachdem ihr Wert im Jahre 1829 – wie wir gesehen – die Höhe von 5.752.000 Rubel erreicht hatte, sank er im Jahre 1832 auf 1.917.000 Rubel und stieg erst nach und nach auf 2.564.000 Rubel 1850, also auf die Hälfte des ehemaligen Betrages.12

Für die nächsten Schicksale der polnischen Manufaktur im ganzen konnte jedoch die russische Grenzsperre von keiner großen Bedeutung sein. Weder waren damals in Rußland selbst die Bedingungen für eine wachsende Nachfrage nach Fabrikaten gegeben, noch waren auch die Verkehrsmittel zum Massentransport geeignet. Der große Tuchexport kann vorzugsweise nur durch den Bedarf der russischen Armee erklärt werden. Im übrigen hatte die polnische Manufaktur noch nicht einmal Zeit gehabt, sich einen inneren Markt zu schaffen. Nach der Sperrung der russischen Zollgrenze fährt sie daher langsam fort, durch begünstigende Regierungsmaßnahmen und besonders durch die Polnische Bank unterstützt, im Lande Fuß zu fassen. In den folgenden zwei Jahrzehnten entwickeln sich gut viele Produktionszweige, so in den dreißiger Jahren die Gerberei und die Seifenfabrikation, in den vierziger die Zuckerproduktion, ebenso in den dreißiger Jahren der Bergbau, desgleichen die Papierfabrikation.13 Dem Wachstum der Industrie in Polen waren jedoch durch die socialen Zustände des Landes ziemlich enge Schranken gezogen. Im ganzen nur die winzige Zahl von 4 bis 5 Millionen Menschen darstellend, lebte die Bevölkerung Kongreß-Polens obendrein zum größten Teil in Naturalwirtschaft. Trotz der Abschaffung der Hörigkeit im Jahre 1807 blieb die Frohnarbeit die herrschende Arbeitsweise in der Landwirtschaft und dadurch waren die Grundbesitzer, ebenso wie die Bauern vom Waren- und Geldverkehr in hohem Maße abgeschnitten. Die Städte kamen erst langsam auf, und, wenig bevölkert und arm, wie sie waren, konnten sie ebenfalls keine starke Nachfrage für die Manufakturprodukte schaffen. Die Entwicklung ist denn auch eine sehr langsame. Nach 30 Jahren seit ihrer Entstehung, in welcher Periode die polnische Manufaktur vorwiegend auf den inneren Markt angewiesen war, sehen wir sie noch in ganz zwerghaften Dimensionen befangen. Der fortschrittlichste aller Industriezweige, die Textilindustrie, wird noch in den fünfziger Jahren vorwiegend durch Handarbeit, ohne Dampfkraft, deshalb auch nur von gelernten Handwerksmeistern und Gesellen ohne eine Spur von Frauenarbeit betrieben. Im ganzen weist schon die Zersplitterung der Produktion auf ihren vorwiegend handwerksmäßigen Charakter hin, denn noch im Jahre 1857 sehen wir in Polen 12.542 »Fabriken« mit 56.364 Arbeitern und 21.278.592 Rubel Produktionswert: im Durchschnitt 4–5 Arbeiter und 1.700 Rubel Produktion auf eine »Fabrik«.14

Den obigen Verhältnissen entsprechend, spielt auch die städtische Industrie in dem socialen Leben Polens bis zu den fünfziger und sogar bis zu den sechziger Jahren nur eine untergeordnete Rolle. Tonangebend in der Ökonomik wie in der Politik des Landes blieb immer noch der Grundbesitz. Ja, die breite Masse der mittleren Grundbesitzer, diejenige, welche zur Zeit die öffentliche Meinung darstellte, betrachtete sogar die aufkeimende städtische Industrie und mit ihr die kapitalistische Wirtschaft als eine ausländische giftige Pflanze, als einen »deutschen Schwindel«, der an der verzweifelten Lage des Grundbesitzes und des ganzen Landes die Schuld trage.

2. Der Übergang zur Großindustrie 1850–1870.

Wir haben die ersten Anfänge und die Entwicklung der Industrie in Polen auf dem inneren Markte kennen gelernt. Wir haben gesehen, daß sie ihre Entstehung den Bemühungen der Regierung verdankte und daß sie infolge des beschränkten inneren Marktes bis zu den fünfziger Jahren die Formen der Manufaktur nicht abzustreifen vermochte. Hier ist aber die erste Epoche ihrer Geschichte zu Ende, und es beginnt ein neues Blatt derselben. Seit den fünfziger Jahren tritt nämlich eine Reihe neuer Faktoren auf, die, obgleich an sich sehr verschieden, in letzter Linie doch alle bewirken, daß der polnischen Produktion die russischen Absatzmärkte erschlossen werden und damit ein Massenabsatz gesichert wird. Dies bringt allmählich eine völlige Umwälzung in der polnischen Industrie hervor und verwandelt sie aus einer Manufaktur in eine echte fabrikmäßige Großindustrie. Wir können deshalb die zweite Periode in ihrer Geschichte als die großindustrielle Periode bezeichnen. Die Jahrzehnte 1850–1870 bilden die Übergangszeit von der ersten in die zweite Phase.

Es waren vier wichtige Faktoren, welche in der erwähnten Übergangsperiode die polnische Industrie revolutioniert haben.

Erstens die Abschaffung der Zollgrenze zwischen Rußland und Polen. Im Jahre 1851 wurden die Zollverhältnisse Polens nach zwei Richtungen umgestaltet. Einerseits wurde die Zollgrenze, welche es bis dahin von Rußland trennte, beseitigt, andererseits der selbständigen Handelspolitik Polens nach außen hin ein Ende gemacht, und Polen in das allgemeine russische Zollgebiet aufgenommen.15 Auf diese Weise bildet Polen seither in handelspolitischer Beziehung ein einziges Ganzes mit Rußland.16 Für Polen lag zunächst die große Bedeutung der Zollreform von 1851 darin, daß ihm nun eine vollständig freie Warenausfuhr nach Rußland ermöglicht wurde. Die polnische Manufaktur bekam so die Aussicht, für einen größeren Massenabsatz zu produzieren, die engen Schranken des inneren Marktes zu überschreiten und zur wirklichen Fabrikindustrie zu werden. Diese Erscheinungen konnten jedoch erst nach einer längeren Frist eintreten. In dem Augenblicke, wo die Zollschranke zwischen Polen und Rußland beseitigt wurde, standen noch drei wichtige Hindernisse einer wirklichen Massenausfuhr der polnischen Fabrikate nach Rußland im Wege: erstens besaß die Manufaktur in Polen, da sie bis dahin vorwiegend den Anforderungen des inneren Marktes angepaßt war, noch nicht diejenige Fähigkeit einer raschen sprungweisen Erweiterung, die eine große Fabrikindustrie in so hohem Maße charakterisiert. Zweitens waren keine modernen Verkehrsmittel zwischen Polen und Rußland vorhanden, drittens hatte auch in Rußland der innere Absatzmarkt für Fabrikate beschränkte Dimensionen, was durch das Bestehen der Leibeigenschaft und der Naturalwirtschaft bedingt war. In allen diesen Verhältnissen tritt nun aber auch bald eine vollständige Umwälzung ein.

Schon der Krimkrieg