Einführung in die Nationalökonomie - Rosa Luxemburg - E-Book

Einführung in die Nationalökonomie E-Book

Rosa Luxemburg

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Beschreibung

Dieses "Lehrbuch" spiegelt Rosa Luxemburgs seit 1907 an der sozialdemokratischen Parteischule gehaltene Vorlesungen. Das durch ihren Tod unvollständig gebliebene Manuskript wurde erst 1925 publiziert. Durch eine wirtschaftsgeschichtliche Betrachtung versucht die Autorin in sechs Kapiteln das Wesen des Kapitalismus zu ergründen. Bemerkenswerterweise können ihre damaligen Gedankengänge uns heute für die Analyse der neoliberalen Durchdringung jedes Lebensbereiches dienlich sein. Diese E-Book-Ausgabe ist für wissenschaftliches Arbeiten geeignet. Sie ist seitengetreue erfasst nach der von Paul Levi posthum 1925 in Berlin herausgegebenen Auflage und zitierfähig.

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Impressum Veröffentlicht im heptagon Verlag Berlin 2012 www.heptagon.de ISBN: 978-3-934616-51-6 Der Text ist ursprünglich erschienen auf der CD-ROM: »Rosa Luxemburg: Schriften und Reden, herausgegeben von Günter Regneri. Berlin 2006.« Am linken Seitenrand ist die Seitennummerierung des Originalbuchs angegeben, deshalb ist das E-Book zitierfähig, nach: »Rosa Luxemburg: Einführung in die Nationalökonomie, herausgegeben von Paul Levi, Berlin 1925.« Die originalen Seitenzahlen der Printausgabe sind als pagelist

1. Was ist Nationalökonomie?

I.

Die Nationalökonomie ist eine merkwürdige Wissenschaft. Die Schwierigkeit und der Streit der Meinungen beginnt schon bei dem ersten Schritt, den man auf ihr Gebiet tut, schon bei der allerelementarsten Frage: Was ist der eigentliche Gegenstand dieser Wissenschaft? Der einfache Arbeiter, der nur eine ganz vage Vorstellung davon hat, was die Nationalökonomie lehrt, wird seine Unklarheit der eigenen mangelhaften allgemeinen Bildung zuschreiben. Doch teilt er sein Mißgeschick diesmal in gewissem Sinne mit vielen gelehrten Doktoren und Professoren, die über die Nationalökonomie dickbändige Werke schreiben und Vorlesungen für die studierende Jugend an den Universitäten halten. So unglaubwürdig es klingt, so ist es doch Tatsache, daß die meisten Fachgelehrten der Nationalökonomie einen sehr verschwommenen Begriff davon haben, was der wirkliche Gegenstand ihrer Gelehrsamkeit ist.

Da es Brauch bei den Herren Fachgelehrten, mit Definitionen zu arbeiten, das heißt, das Wesen der kompliziertesten Dinge in einigen wohlgeordneten Sätzen zu erschöpfen, so versuchen wir zur Probe von einem amtlichen Vertreter der Nationalökonomie zu erfahren, was diese Wissenschaft im Grunde genommen sei. Hören wir zunächst, was der Senior der deutschen Professorenwelt, der Verfasser einer Unzahl erschreckend dicker Lehrbücher über die Nationalökonomie, der Begründer der sogenannten »historischen Schule«, Wilhelm Roscher, darüber zu sagen weiß. In seinem ersten großen Werke »Grundlagen der Nationalökonomie. Ein Hand- und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende«, das 1854 erschienen ist und seitdem 23 Auflagen erlebt hat, lesen wir im 2. Kapitel § 16:

»Wir verstehen unter Nationalökonomie, Volkswirtschaftslehre, die Lehre von den Entwicklungsgesetzen der Volkswirtschaft, des wirtschaftlichen Volkslebens (Philosophie der Volkswirtschaftsgeschichte nach v. Mangoldt). Sie knüpft sich, wie alle Wissenschaften vom Volksleben, einerseits an die Betrachtung des einzelnen Menschen an; sie erweitert sich auf der anderen Seite zur Erforschung der ganzen Menschheit.«

Verstehen nun die »Geschäftsmänner und Studierenden«, was die Volkswirtschaftslehre ist? Es ist eben – die Lehre von der Volkswirtschaft. Was ist eine Hornbrille? Eine Brille in Horneinfassung. Was ist ein Packesel? Ein Esel, auf den Lasten gepackt werden. Ein höchst einfaches Verfahren in der Tat, um kleinen Kindern den Gebrauch zusammengesetzter Worte zu erläutern. Das Üble dabei ist nur, daß, wer vorher den Sinn der fraglichen Worte nicht verstand, auch nicht klüger wird, ob die Worte so oder anders gestellt werden.

Wenden wir uns an einen anderen deutschen Gelehrten, an den jetzigen Lehrer der Nationalökonomie an der Berliner Universität, der eine Leuchte der amtlichen Wissenschaft ist, berühmt »weit über die Lande, bis an das blaue Meer«, an den Professor Schmoller. In dem großen Sammelwerk deutscher Professoren: »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, herausgegeben von Professor Conrad und Professor Lexis, gibt Schmoller in einem Aufsatz über die Volkswirtschaftslehre, auf die Frage, was diese Wissenschaft sei, die folgende Antwort: »Ich möchte sagen, sie ist die Wissenschaft, welche die volkswirtschaftlichen Erscheinungen beschreiben, definieren und aus Ursachen erklären sowie als ein zusammenhängendes Ganzes begreifen will, wobei freilich vorausgesetzt ist, daß die Volkswirtschaft vorher richtig definiert sei. Im Mittelpunkt der Wissenschaft stehen die bei den heutigen Kulturvölkern sich wiederholenden typischen Erscheinungen der Arbeitsteilung und -organisation, des Verkehrs, der Einkommensverteilung, der gesellschaftlichen Wirtschaftseinrichtungen, welche, an bestimmte Formen des privaten und öffentlichen Rechts angelehnt, von gleichen oder ähnlichen psychischen Kräften beherrscht, ähnliche oder gleiche Anordnungen oder Kräfte erzeugen, in ihrer Gesamtbeschreibung eine Statik der gegenwärtigen wirtschaftlichen Kulturwelt, eine Art durchschnittlicher Verfassung derselben darstellen. Von da aus hat die Wissenschaft dann die Abweichungen der einzelnen Volkswirtschaften voneinander, die verschiedenen Formen der Organisation da und dort zu konstatieren gesucht, hat gefragt, in welcher Verbindung und Folge die verschiedenen Formen vorkommen, und ist so zu der Vorstellung der kausalen Entwicklung der Formen auseinander und der historischen Aufeinanderfolge wirtschaftlicher Zustände gekommen; sie hat so zu der statischen die dynamische Betrachtung gefügt. Und wie sie in ihrem ersten Auftreten schon vermöge sittlich historischer Werturteile zur Aufstellung von Idealen kam, so hat sie diese praktische Funktion stets bis auf einen gewissen Grad beibehalten. Sie hat neben der Theorie stets praktische Lehren fürs Leben aufgestellt.«

Uff! Holen wir Atem. Wie war's also? Gesellschaftliche Wirtschaftseinrichtungen – privates und öffentliches Recht – psychische Kräfte – Ähnliches und Gleiches – Gleiches und Ähnliches – Statistik – Statik – Dynamik – durchschnittliche Verfassung – kausale Entwicklung – sittlich-historische Werturteile. ... Dem gewöhnlichen Sterblichen wird sicher bei alledem so dumm, als ging' ihm ein Mühlrad im Kopfe herum. In seinem beharrlichen Wissensdrang und in blindem Vertrauen auf den professoralen Weisheitsborn wird er sich Mühe geben, den Gallimathias zweimal, dreimal mit Anstrengung durchzunehmen, um irgendeinen greifbaren Sinn herauszufinden. Wir fürchten, es wird vergebliche Mühe sein. Es ist eben nichts als klingende Phrasen, als geschraubtes Wortgebimmel, was hier geboten wird. Und dafür gibt es ein untrügliches Zeichen: Wer klar denkt und die Sache, von der er spricht, selbst gründlich beherrscht, drückt sich auch klar und verständlich aus. Wer sich dunkel und verstiegen ausdrückt, wo es sich nicht um reine Gedankenbilder der Philosophie oder Hirngespinste der religiösen Mystik handelt, zeigt nur, daß er über die Sache selbst im unklaren ist oder aber der Klarheit aus dem Wege zu gehen Ursache hat. Wir werden später sehen, daß die dunkle und verwirrende Sprache der bürgerlichen Gelehrten über das Wesen der Nationalökonomie kein Zufall ist, daß in ihr vielmehr beides zum Ausdruck kommt: sowohl die eigene Unklarheit der Herren wie auch ihre tendenziöse, verbissene Abneigung gegen die wirkliche Aufklärung der Frage.

Daß die unklare Bestimmung des Wesens der Nationalökonomie in der Tat eine strittige Frage ist, kann ein äußerer Umstand plausibel machen. Es ist dies die Tatsache, daß über das Alter der nationalökonomischen Wissenschaft die widersprechendsten Ansichten geäußert worden sind. Ein bekannter alter Geschichtsschreiber und ehemals Professor der Nationalökonomie an der Pariser Universität, Adolf Blanqui – Bruder des berühmten Sozialistenführers und Kommunekämpfers August Blanqui – beginnt z.B. das erste Kapitel seiner 1837 erschienenen »Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung« mit folgender Inhaltsüberschrift: »Die politische Ökonomie (dies der französische Ausdruck für Nationalökonomie) ist älter, als man denkt. Die Griechen und die Römer hatten bereits die ihrige.« Andere nationalökonomische Geschichtsschreiber, wie z.B. der ehemalige Dozent an der Berliner Universität Eugen Dühring, halten es für wichtig, umgekehrt zu betonen, die Nationalökonomie sei viel jünger, als man gewöhnlich denke, diese Wissenschaft sei eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden. Um auch sozialistische Urteile hierüber anzuführen, so macht Lassalle 1864 im Vorwort zu seiner klassischen Streitschrift wider Schulze-Delitzsch »Kapital und Arbeit« die folgende Äußerung:

»Die Nationalökonomie ist eine Wissenschaft, für die erst Anfänge existieren und die noch zu machen ist.«

Hingegen hat Karl Marx seinem ökonomischen Hauptwerk »Das Kapital«, dessen erster Band drei Jahre später, gleichsam als die Erfüllung der von Lassalle ausgesprochenen Erwartung erschienen ist, den Untertitel »Kritik der politischen Ökonomie« gegeben. Auf diese Weise stellt Marx sein eigenes Werk außerhalb der bisherigen Nationalökonomie, betrachtet diese als etwas Abgeschlossenes, Fertiges, an dem er seinerseits Kritik übt. Es ist klar, daß eine Wissenschaft, von der die einen behaupten, sie sei fast so alt wie die geschriebene Geschichte der Menschheit, die anderen, sie sei kaum anderthalb Jahrhunderte alt, die dritten, sie sei überhaupt noch erst in den Windeln, wieder andere aber, sie habe bereits abgelebt und es sei Zeit, sie kritisch zu bestatten – es ist klar, daß eine solche Wissenschaft ein ziemlich eigenartiges und verwickeltes Problem darstellt.

Ebenso übel wären wir aber beraten, wenn wir einen von den amtlichen Vertretern dieser Wissenschaft fragen würden, wie denn eigentlich die merkwürdige Tatsache zu erklären sei, daß die Nationalökonomie, wie das ja jetzt vorherrschende Meinung, erst so spät, kaum vor etwa 150 Jahren, entstanden sei? Der Professor Dühring z.B. wird uns unter großem Wortschwall auseinandersetzen, daß die alten Griechen und Römer über nationalökonomische Dinge noch gar keine wissenschaftlichen Begriffe, sondern bloß »unzurechnungsfähige«, »oberflächliche«, »allergewöhnlichste« Ideen aus der täglichen Erfahrung hätten, das Mittelalter aber überhaupt höchst »unwissenschaftlich« gewesen sei. Welche gelehrte Erklärung uns offenbar um keinen Schritt vorwärtsbringt, abgesehen davon, daß sie, zumal in ihren Verallgemeinerungen über das Mittelalter, auch ganz irreführend ist.

Eine andere originelle Erklärung bringt Professor Schmoller fertig. In demselben Aufsatz, den wir oben aus dem »Handwörterbuch der Staatswissenschaften« angeführt haben, gibt er das Folgende zum besten:

»Jahrhundertelang waren einzelne privat- und sozialwirtschaftliche Tatsachen beachtet und beschrieben, einzelne volkswirtschaftliche Wahrheiten erkannt, in den Moral- und Rechtssystemen wirtschaftliche Fragen erörtert worden. Zu einer besonderen Wissenschaft konnten die einzelnen hierhergehörigen Teile sich erst vereinigen, als die volkswirtschaftlichen Fragen zu früher nie geahnter Bedeutung für die Leitung und Verwaltung der Staaten im 17.–19. Jahrhundert gelangten, zahlreiche Schriftsteller sich mit ihnen beschäftigten, eine Unterweisung der studierenden Jugend in ihnen nötig wurde und zugleich der Aufschwung des wissenschaftlichen Denkens überhaupt dazu führte, die gesammelten volkswirtschaftlichen Sätze und Wahrheiten zu einem selbständigen durch gewisse Grundgedanken – wie Geld und Tauschverkehr, staatliche Wirtschaftspolitik, Arbeit und Arbeitsteilung – verbundenen Systeme zu verknüpfen, wie es die bedeutenden Schriftsteller des 18. Jahrhunderts versuchten. Seither besteht die Volkswirtschaftslehre oder Nationalökonomie als selbständige Wissenschaft.«

Faßt man der langen Rede kurzen Sinn zusammen, so erhalten wir die Belehrung: einzelne nationalökonomische Beobachtungen, die lange Zeit zerstreut vorlagen, haben sich zu einer besonderen Wissenschaft zusammengeschlossen, als ein Bedürfnis der »Leitung und Verwaltung der Staaten«, d.h. der Regierungen danach vorlag und als es zu diesem Zwecke nötig wurde, an den Universitäten die Nationalökonomie zu lehren. Wie wundervoll, wie klassisch ist diese Erklärung für einen deutschen Professor! Erst wird aus einem »Bedürfnis« der hochwohllöblichen Regierung heraus ein Katheder gegründet, auf dem ein diensteifriger Professor Platz nimmt. Alsdann muß natürlich auch die entsprechende Wissenschaft geschaffen werden, denn was sollte der Professor sonst wohl lehren? Wer denkt da nicht an jenen Hofzeremonienmeister, der behauptete, die Monarchien müßten immer bestehenbleiben; denn gäbe es diese nicht, zu was wäre er, der Hofzeremonienmeister, auf der Welt? Doch der Kern der Sache: Die Nationalökonomie ist entstanden, weil die Regierungen der modernen Staaten diese Wissenschaft brauchten. Die Bestellung der Obrigkeit ist die eigentliche Geburtslegitimation der Nationalökonomie. Der Denkweise eines heutigen Professors, der als wissenschaftlicher Kammerdiener der jeweiligen Reichsregierung in ihrem Auftrage für eine beliebige Flottenvorlage, Zoll- oder Steuervorlage »wissenschaftliche« Agitation treibt oder als Hyäne des Schlachtfeldes während eines Krieges chauvinistische Völkerverhetzung und geistigen Kannibalismus predigt, entspricht es nun freilich vollkommen, sich einzubilden, daß das Geldbedürfnis der Fürsten, die Interessen der »fürstlichen Schatzkammern«, daß ein Kommandowort der Regierungen genügt, um selbst eine ganz neue Wissenschaft aus dem Boden zu stampfen. Für die übrige, nicht vom Fiskus besoldete Menschheit wird eine solche Vorstellung indes ihre Schwierigkeiten haben. Vor allem aber gibt uns auch diese Erklärung nur ein neues Rätsel auf. Denn nun müssen wir fragen: Was ist geschehen, daß um das 17. Jahrhundert herum, wie Professor Schmoller behauptet, die Regierungen der modernen Staaten plötzlich ein Bedürfnis verspüren, ihren lieben Untertanen nach wissenschaftlichen Grundsätzen das Fell über die Ohren zu ziehen, während sie dies jahrhundertelang zuvor mit gutem Erfolg ohne solche Grundsätze in altvaterischer Weise besorgten? Sollten nicht auch hier die Dinge auf den Kopf gestellt werden und die neumodischen Bedürfnisse der »fürstlichen Schatzkammern« vielleicht selbst nur eine bescheidene Folge jenes großen geschichtlichen Umschwungs gewesen sein, aus dem die neue Wissenschaft der Nationalökonomie um die Mitte des 19. Jahrhunderts entsprossen ist?

Kurzum: nachdem wir erst von den Zunftgelehrten nicht erfahren haben, was die Nationalökonomie eigentlich behandelt, wissen wir erst recht nicht, wann und weshalb sie entstanden ist.

II.

Eins steht jedenfalls fest: In all den Definitionen der bürgerlichen Gelehrten, die wir eben angeführt haben, ist stets die Rede von der »Volkswirtschaft«. Nationalökonomie ist auch nur ein Fremdwort für Volkswirtschaftslehre. Der Begriff der Volkswirtschaft steht im Mittelpunkt der Ausführungen bei allen offiziellen Vertretern dieser Wissenschaft. Was ist nun eigentlich die Volkswirtschaft? Professor Bücher, dessen Werk über »Die Entstehung der Volkswirtschaft« sich in Deutschland und im Auslande einer großen Berühmtheit erfreut, gibt darüber folgende Auskunft:

»Die Gesamtheit der Veranstaltungen, Einrichtungen und Vorgänge, welche die Bedürfnisbefriedigung eines ganzen Volkes hervorruft, bildet die Volkswirtschaft. Die Volkswirtschaft zerfällt wieder in zahlreiche Einzelwirtschaften, welche durch den Verkehr miteinander verbunden und dadurch voneinander mannigfach abhängig sind, daß jede für alle anderen gewisse Aufgaben übernimmt und von anderen für sich solche Aufgaben übernehmen läßt.«

Versuchen wir, auch diese gelehrte »Definition« in der Sprache gewöhnlicher Sterblicher zu verdeutschen.

Wenn wir zunächst von der »Gesamtheit der Einrichtungen und Vorgänge« hören, welche die Bedürfnisse eines ganzen Volkes zu befriedigen bestimmt sind, so müssen wir an alles mögliche denken: an Fabriken und Werkstätten, an Ackerbau und Viehzucht, an Eisenbahnen und Warenhäuser, nicht minder aber an Kirchenpredigten und Polizeiwachen, an Ballettdarbietungen, Standesämter und Sternwarten, an Parlamentswahlen, Landesväter und Kriegervereine, an Schachklubs, Hundeausstellungen und Duelle – denn alles dies und noch eine endlose Kette anderer »Einrichtungen und Vorgänge« dient heute dazu, »die Bedürfnisse eines ganzen Volkes zu befriedigen«. Die Volkswirtschaft wäre dann alles zusammen, was zwischen Himmel und Erde vorgeht, und die Nationalökonomie würde eine Universalwissenschaft sein »von allen Dingen und noch einigen mehr«, wie ein lateinisches Sprichwort sagt.

Die weitherzige Definition des Leipziger Professors muß offenbar eine Einschränkung erfahren. Wahrscheinlich wollte er nur von »Einrichtungen und Vorgängen« sprechen, die zur Befriedigung materieller Bedürfnisse eines Volkes dienen oder richtiger: zur Befriedigung der Bedürfnisse durch materielle Dinge. Auch dann wäre die »Gesamtheit« noch reichlich zu weit gegriffen und würde wieder leicht ins Nebelhafte verschwimmen. Doch suchen wir uns darin, so gut wir vermögen, zurechtzufinden.

Alle Menschen brauchen, um leben zu können, Speise und Trank, ein schützendes Obdach, in kälteren Zonen Kleider, ferner allerlei Gerätschaften zum täglichen Gebrauch im Hause. Diese Dinge mögen einfacher oder verfeinerter, spärlicher oder reichlicher bemessen sein, immerhin sind sie für jede menschliche Gesellschaft zur Existenz unentbehrlich und müssen deshalb von den Menschen – da gebratene Tauben nirgends in den Mund fliegen – ständig hergestellt werden. In allen Kulturzuständen kommen noch allerlei Gegenstände hinzu, die der Verschönerung des Lebens und der Befriedigung geistiger, sozialer Bedürfnisse dienen, sowie Waffen zum Schutze vor Feinden: bei den sogenannten Wilden Tanzmasken, Bogen und Pfeil, Götzenbilder, bei uns Luxusgegenstände, Kirchen, Maschinengewehre und Unterseeboote. Zur Herstellung dieser sämtlichen Gegenstände gehören wiederum verschiedenartige Naturstoffe, woraus, und verschiedene Werkzeuge, womit sie hergestellt werden. Auch jene Stoffe, wie Steine, Holz, Metall, Pflanzen usw., werden der Erdrinde durch menschliche Arbeit abgewonnen, und die Werkzeuge, die dabei benutzt werden, sind gleichfalls Produkte menschlicher Arbeit.

Wollen wir uns vorläufig mit dieser grob behauenen Vorstellung zufriedengeben, so könnten wir uns die Volkswirtschaft etwa so denken: jedes Volk schafft ständig durch eigene Arbeit eine Menge zum Leben notwendiger Dinge – Nahrung, Kleidung, Baulichkeiten, Hausrat, Schmuck, Waffen, Kulturgegenstände usw. –, desgleichen Stoffe und Werkzeuge die für die Herstellung jener unentbehrlich sind. Die Art und Weise nun, wie ein Volk alle diese Arbeit verrichtet, wie es die hergestellten Güter unter seine einzelnen Mitglieder verteilt, wie es sie verbraucht und in ewigem Kreislauf des Lebens von neuem herstellt, all das zusammen bildet die Wirtschaft des gegebenen Volkes, eine »Volkswirtschaft«. Das wäre so ungefähr der Sinn des ersten Satzes in der Definition des Professors Bücher. Doch gehen wir in der Erläuterung weiter.

»Die Volkswirtschaft zerfällt wieder in zahlreiche Einzelwirtschaften, welche durch den Verkehr miteinander verbunden und dadurch voneinander mannigfach abhängig sind, daß jede für alle anderen gewisse Aufgaben übernimmt und von anderen für sich solche Aufgaben übernehmen läßt.« Hier stehen wir vor einer neuen Frage: Was sind das für »Einzelwirtschaften«, in die jene »Volkswirtschaft«, die wir uns erst mühsam zurechtgedacht haben, zerfallen soll? Das nächstliegende ist wohl, daß wir uns darunter die einzelnen Hausstände, Familienwirtschaften zu denken haben. In der Tat besteht jedes Volk in den sogenannten Kulturländern aus einer Anzahl Familien, und jede Familie führt auch in der Regel eine »Wirtschaft« für sich. Diese Privatwirtschaft besteht darin, daß die Familie, sei es aus der Beschäftigung ihrer erwachsenen Mitglieder, sei es aus sonstigen Quellen gewisse Geldeinnahmen bezieht, womit sie wiederum ihre Bedürfnisse an Nahrung, Kleidung, Wohnung usw. bestreitet, wobei, wenn wir an eine Familienwirtschaft denken, uns gewöhnlich im Mittelpunkt dieser Vorstellung die Hausmutter, die Küche, der Wäscheschrank und die Kinderstube erscheinen. Sollte die »Volkswirtschaft« in solche »Einzelwirtschaften« zerfallen? Wir geraten in eine gewisse Verlegenheit. Bei der Volkswirtschaft, wie wir sie uns eben konstruiert haben, handelt es sich vor allem um die Herstellung all jener Güter, die als Nahrung, Kleidung, Wohnung, Möbel, Werkzeuge und Stoffe zum Leben und zur Arbeit gehören. Im Mittelpunkt der Volkswirtschaft steht die Produktion. In den Familienwirtschaften hingegen handelt es sich nur um den Verbrauch der Gegenstände, die sich die Familie für ihr Einkommen fertig verschafft. Wir wissen, daß sich die meisten Familien in den modernen Staaten heutzutage fast alle Lebensmittel, Kleidung, Möbel usw. in den Läden, auf dem Markte fertig kaufen. In der Hauswirtschaft wird nur aus eingekauften Lebensmitteln die Speise zubereitet, oder es werden höchstens aus gekauften Stoffen Kleider verfertigt. Nur in ganz zurückgebliebenen ländlichen Gegenden findet man wohl noch Bauernfamilien, die sich das meiste zum Leben durch eigene Arbeit in der Wirtschaft verschaffen. Freilich gibt es andererseits auch in den modernen Staaten viele Familien, die gerade zu Hause verschiedene Industrieprodukte in Massen herstellen: so die Hausweber, die Konfektionsarbeiter; es gibt auch, wie wir wissen, ganze Dörfer, wo man Spielzeug und dergleichen in der Hausindustrie verfertigt. Allein gerade hier gehört das von den Familien verfertigte Produkt ausschließlich dem Unternehmer, der es bestellt und bezahlt, nicht das geringste Stück davon geht in den eigenen Verbrauch, in die Wirtschaft der heimarbeitenden Familie über. Für die eigene Wirtschaft kaufen sich die Heimarbeiter aus ihrem kärglichen Lohn genau so alles fertig wie die anderen Familien. Wir kämen also mit dem Bücherschen Satz, die Volkswirtschaft zerfalle in viele Einzelwirtschaften, mit anderen Worten etwa zu dem Resultat: die Herstellung der Existenzmittel eines ganzen Volkes »zerfällt« in lauter Verbrauch der Lebensmittel durch Einzelfamilien – ein Satz, der stark nach einem blühenden Unsinn aussieht.

Noch ein anderer Zweifel steigt auf. Die »Einzelwirtschaften« sollen nach Professor Bücher auch noch »durch den Verkehr miteinander verbunden« und voneinander gänzlich abhängig sein, da »jede für alle anderen gewisse Aufgaben übernimmt«. Welcher Verkehr und welche Abhängigkeit mag damit gemeint sein? Ist es etwa der Verkehr freundschaftlicher und nachbarlicher Art, der zwischen verschiedenen Privatfamilien stattfindet? Doch was sollte dieser Verkehr wohl mit Volkswirtschaft und mit Wirtschaft überhaupt zu tun haben? Ist es doch, wie jede tüchtige Hausfrau behauptet, für die Wirtschaft und für den Hausfrieden um so gedeihlicher, je weniger Verkehr von Haus zu Haus mit Nachbarn stattfindet. Und gar was die besagte »Abhängigkeit« betrifft, ist es gar nicht auszudenken, welche »Aufgaben« die Hauswirtschaft des Rentiers Meyer für die Wirtschaft des Gymnasialoberlehrers Schulze und für alle anderen übernommen haben soll. Wir sind offenbar ganz vom Wege abgeirrt und müssen die Frage von einem anderen Ende anfassen.

Die einzelnen Familienwirtschaften können es also augenscheinlich nicht sein, in die die »Volkswirtschaft« des Professors Bücher zerfällt. Sollten es nicht die einzelnen Fabriken, Werkstätten, landwirtschaftlichen Betriebe und dergleichen sein? Ein Umstand scheint zu bestätigen, daß wir diesmal auf richtiger Fährte sind. Es wird in allen diesen Betrieben auch wirklich verschiedenes hergestellt, produziert, was zur Erhaltung des ganzen Volkes dient, und es besteht andererseits auch wirklich Verkehr und gegenseitige Abhängigkeit unter ihnen. Eine Hosenknopffabrik z.B. ist gänzlich auf die Schneiderwerkstätten angewiesen, in denen sie Abnehmer für ihre Ware findet, während die Schneider wiederum Hosen nicht gut ohne Hosenknöpfe verfertigen können. Andererseits brauchen die Schneiderwerkstätten Stoffe, und damit sind sie auf Woll- und Baumwollwebereien angewiesen, die ihrerseits von der Schafzucht und vom Baumwollhandel abhängen usw. Hier können wir tatsächlich einen weitverzweigten Zusammenhang der Produktion bemerken. Zwar ist es etwas hochtrabend, von »Aufgaben« zu sprechen, die jeder dieser Betriebe »für alle anderen übernimmt«, dieweil es sich um den ordinärsten Verkauf von Hosenknöpfen an Schneider, von Schafwolle an die Spinnereien und dergleichen handelt. Aber solche Blüten müssen wir nun einmal als unvermeidliches Professoralkauderwelsch hinnehmen, das die profitlichen Geschäftchen der Unternehmerwelt mit etwas Poesie und »sittlichen Werturteilen« zu umwinden liebt, wie Professor Schmoller so schön sagt. Allein hier steigen uns noch ärgere Zweifel auf. Die einzelnen Fabriken, landwirtschaftlichen Betriebe, Kohlengruben, Eisenwerke sollen ebensoviele »Einzelwirtschaften« sein, in welche die Volkswirtschaft »zerfällt«. Aber zum Begriff einer »Wirtschaft«, wenigstens so wie wir uns die Volkswirtschaft vorgestellt haben, muß offenbar in einem gewissen Umkreis sowohl die Herstellung von Lebensmitteln wie ihr Verbrauch, sowohl Produktion wie Konsumtion gehören. In den Fabriken, Werkstätten, Gruben und Werken wird jedoch lediglich produziert, und zwar für andere produziert. Verbraucht werden hier nur die Stoffe, woraus, und die Werkzeuge, womit gearbeitet wird.[1] Das fertige Produkt hingegen geht im Betriebe garnicht in den Verbrauch ein. Nicht ein Hosenknopf wird von dem Fabrikanten und seiner Familie, geschweige von den Fabrikarbeitern, nicht ein Eisenrohr von dem Eigentümer der Eisenwerke in der Familie verbraucht. Ferner: wie wir auch näher die »Wirtschaft« bestimmen wollen, immerhin müssen wir darunter etwas Ganzes für sich, einigermaßen Geschlossenes verstehen, eine annähernde Herstellung und Verbrauch der wichtigsten Lebensmittel, die zur Existenz des Menschen gehören. Die einzelnen heutigen Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe liefern aber, wie jedes Kind weiß, nur je ein einzelnes, höchstens ein paar Produkte, die zum menschlichen Unterhalt nicht entfernt ausreichen würden, ja, die meisten noch gar nicht konsumierbar, erst ein Teil eines Lebensmittels oder ein Stoff dazu oder ein Werkzeug sind. Die heutigen Produktionsbetriebe sind eben lauter Bruchstücke einer Wirtschaft, die für sich allein vom wirtschaftlichen Standpunkt gar keinen Sinn und Zweck haben, die gerade dadurch schon dem ungeschulten Blick auffallen, daß sie jedes für sich gar keine »Wirtschaft«, sondern nur ein formloses Splitterchen von einer Wirtschaft darstellen. Sagt man also: die Volkswirtschaft, d.h. die Gesamtheit der Einrichtungen und Vorgänge, die zur Befriedigung der Bedürfnisse eines Volkes dienen, zerfalle wieder in Einzelwirtschaften, als da sind: Fabriken, Werkstätten, Gruben usw., so könnte man ebensogut sagen: die Gesamtheit der biologischen Einrichtungen, die zur Ausführung aller Funktionen des menschlichen Organismus dienen, ist der Mensch selbst, dieser zerfällt wieder in viele Einzelorganismen, als da sind: Nase, Ohren, Beine, Arme usw. In der Tat ist eine heutige Fabrik ungefähr in dem Maße eine »Einzelwirtschaft«, als die Nase ein Einzelorganismus ist.

So gelangen wir auch auf diesem Wege zu einer Absurdität; ein Beweis, daß die auf lauter äußerlichen Merkmalen und Wortspaltungen aufgebauten kunstvollen Definitionen der bürgerlichen Gelehrten augenscheinlich Grund haben, sich in diesem Falle um den wahren Kern der Sache herumzudrücken.

Versuchen wir selbst, den Begriff der Volkswirtschaft einer näheren Prüfung zu unterziehen.

III.

Man erzählt uns von den Bedürfnissen eines Volkes, von der Befriedigung dieser Bedürfnisse in einer zusammenhängenden Wirtschaft und auf diese Weise von der Wirtschaft eines Volkes. Die Nationalökonomie soll die Wissenschaft sein, die uns das Wesen dieser Volkswirtschaft erklärt, d.h. die Gesetze, nach denen ein Volk seinen Reichtum durch die Arbeit schafft, vermehrt, an die einzelnen verteilt, verbraucht und von neuem schafft. Es soll also das Wirtschaftsleben eines ganzen Volkes sein, was den Gegenstand der Untersuchung bildet, im Gegensatz zur Privatwirtschaft oder Einzelwirtschaft, was diese letztere immer bedeuten mag. So trägt auch in scheinbarer Bestätigung dieser Auffassung, das 1776 erschienene epochemachende Werk des Engländers Adam Smith, den man den Vater der Nationalökonomie nennt, den Titel: »Der Reichtum der Nationen«.

Gibt es aber, so müssen wir vor allem fragen, in Wirklichkeit so etwas wie die Wirtschaft eines Volkes? Führen die Völker jedes einen besonderen Haushalt, ein geschlossenes wirtschaftliches Leben für sich? Die Ausdrücke: Volkswirtschaft, Nationalökonomie werden besonders in Deutschland mit Vorliebe gebraucht, so richten wir denn unsere Blicke auf Deutschland.

Durch die Hände deutscher Arbeiter und Arbeiterinnen werden alljährlich in der Landwirtschaft und Industrie ungeheure Mengen von allerlei Gebrauchsgütern produziert. Wird dies alles aber etwa zum Eigengebrauch der im Deutschen Reich wohnenden Bevölkerung hergestellt? Wir wissen, daß ein enormer und mit jedem Jahr wachsender Teil der deutschen Produkte nach anderen Ländern und Weltteilen, für andere Völker ausgeführt wird. Die deutschen Eisenwaren gehen nach verschiedenen benachbarten Ländern in Europa, ferner nach Südamerika, nach Australien; Leder und Lederwaren gehen aus Deutschland nach allen europäischen Staaten; Glassachen, Zucker, Handschuhe wandern nach England; Pelzfelle nach Frankreich, England, Österreich-Ungarn; der Farbstoff Alizarin nach England, nach den Vereinigten Staaten, nach Indien; Thomasschlacken, die als Dungmittel dienen, nach den Niederlanden, nach Österreich-Ungarn; Koks nach Frankreich; Steinkohle nach Österreich, Belgien, nach den Niederlanden, der Schweiz; elektrische Kabel nach England, Schweden, Belgien; Spielzeug nach den Vereinigten Staaten; deutsches Bier, Indigo sowie Anilin und andere Teerfarbstoffe, deutsche Arzneien, Zellulose, Goldwaren, Strümpfe, baumwollene und wollene Stoffe und Kleider, deutsche Eisenbahnschienen werden fast nach sämtlichen handeltreibenden Ländern der Welt verschickt.

Aber auch umgekehrt ist das deutsche Volk auf Schritt und Tritt bei der Arbeit wie im täglichen Verbrauch auf Erzeugnisse fremder Länder und Völker angewiesen. Wir essen Brot aus russischem Getreide und Fleisch von ungarischem, dänischem, russischem Vieh; der Reis, den wir verzehren, stammt aus Ostindien und aus Nordamerika; der Tabak aus Niederländisch Indien und aus Brasilien; wir beziehen Kakaobohnen aus Westafrika, Pfeffer aus Indien, Schweineschmalz aus den Vereinigten Staaten, Tee aus China, Obst aus Italien, Spanien und aus den Vereinigten Staaten; Kaffee aus Brasilien, Zentralamerika und Niederländisch-Indien; Fleischextrakt aus Uruguay, Eier aus Rußland, Ungarn und Bulgarien; Zigarren von der Insel Kuba, Taschenuhren aus der Schweiz, Schaumweine aus Frankreich, Rindshäute aus Argentinien, Bettfedern aus China, Seide aus Italien und Frankreich, Flachs und Hanf aus Rußland, Baumwolle aus den Vereinigten Staaten, aus Indien, Ägypten, feine Wolle aus England; Jute aus Indien; Malz aus Österreich-Ungarn; Leinsaat aus Argentinien; gewisse Sorten Steinkohle aus England, Braunkohle aus Österreich, Salpeter aus Chile; Quebrachoholz zum Gerben aus Argentinien, Nutz- und Bauholz aus Rußland, Korkholz aus Portugal, Kupfer aus den Vereinigten Staaten, Zinn aus Niederländisch-Indien, Zink aus Australien, Aluminium aus Österreich-Ungarn und Kanada, Asbest aus Kanada, Asphalt und Marmor aus Italien, Pflastersteine aus Schweden; Blei aus Belgien, den Vereinigten Staaten, Australien; Graphit von Zeylon, phosphorsalzigen Kalk aus Amerika und aus Algerien, Jod aus Chile ...

Vom einfachsten Nahrungsmittel des täglichen Gebrauches bis zu den ausgesuchtesten Gegenständen des Luxus und den notwendigsten Stoffen und Werkzeugen stammt das meiste direkt oder indirekt, ganz oder in irgendeinem Bestandteil aus fremden Ländern, ist Produkt fremder Volksarbeit. Wir lassen somit, um in Deutschland leben und arbeiten zu können, fast sämtliche Länder, Völker, Weltteile für uns arbeiten und arbeiten unsererseits für alle Länder.

Um uns den enormen Umfang dieses Austausches zu vergegenwärtigen, werfen wir einen Blick auf die offizielle Statistik der Einfuhr und Ausfuhr. Nach dem »Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich« 1914 gestaltet sich der Gesamteigenhandel (d.h. ohne die nur über Deutschland zur Durchfuhr gelangenden fremden Waren) wie folgt:

Deutschland hat im Jahre 1913 eingeführt: an Rohstoffen für 5262 Millionen M. an halbfertigen Waren für 1246 Millionen M. an fertigen Waren für 1776 Millionen M. an Nahrungs- und Genußmitteln für 3063 Millionen M. an lebenden Tieren für 289 Millionen M. -------------- im ganzen für 11638 Millionen M. oder beinahe für 12 Milliarden Mark.

In demselben Jahre hat Deutschland ausgeführt: an Rohstoffen für 1720 Millionen M. an halbfertigen Waren für 1159 Millionen M. an fertigen Waren für 6642 Millionen M. an Nahrungs- und Genußmitteln für 1362 Millionen M. an lebenden Tieren für 7 Millionen M. -------------- im ganzen für 10891 Millionen M.

oder beinahe für 11 Milliarden Mark. Zusammen beläuft sich der jährliche Außenhandel Deutschlands somit auf mehr als 22 Milliarden.

Dasselbe aber, was in Deutschland, ist in größerem oder geringerem Maße auch in den anderen modernen Ländern der Fall, d.h. gerade in jenen, mit deren Wirtschaftsleben sich die Nationalökonomie ausschließlich befaßt. Alle diese Länder produzieren füreinander, zum Teil auch für die entlegensten Weltteile, lassen sich aber auch ihrerseits auf Schritt und Tritt Erzeugnisse sämtlicher Weltteile bei Konsumtion wie bei Produktion zunutze kommen.

Wie soll man angesichts eines so enorm entwickelten Austausches die Grenzen zwischen der »Wirtschaft« eines Volkes und eines anderen ziehen, von ebenso vielen »Volkswirtschaften« sprechen, als wären es ökonomisch ganze, für sich zu betrachtende Gebiete?

Nun, der zunehmende internationale Warenaustausch ist freilich keine Entdeckung, die etwa den bürgerlichen Gelehrten unbekannt wäre. Die offiziellen statistischen Erhebungen mit ihren alljährlich veröffentlichten Berichten haben die einschlägigen Tatsachen längst zum Gemeingut aller Gebildeten gemacht; der Geschäftsmann, der Industriearbeiter kennt sie überdies aus dem täglichen Leben. Die Tatsache des rapid zunehmenden Welthandels ist heute so allgemein bekannt und anerkannt, daß sie nicht mehr bestritten oder angezweifelt werden kann. Allein wie wird diese Tatsache von dem Fachgelehrten der Nationalökonomie aufgefaßt? Als rein äußerer loser Zusammenhang, als Ausfuhr des sogenannten »Überschusses« in den Erzeugnissen eines Landes über den Eigenbedarf und als Einfuhr des zur eigenen Wirtschaft »etwa Fehlenden«, – ein Zusammenhang, der sie durchaus nicht hindert, nach wie vor von der »Volkswirtschaft« und der »Volkswirtschaftslehre« zu sprechen.

So verkündet z.B. Professor Bücher, nachdem er uns des langen und breiten über die heutige »Volkswirtschaft« als die höchste und letzte Entwicklungsstufe in der Reihe der geschichtlichen Wirtschaftsformen belehrt hat:

»Es ist ein Irrtum, wenn man aus der (im liberalistischen Zeitalter erfolgten) Erleichterung des internationalen Verkehrs schließen zu dürfen meint, die Periode der Volkswirtschaft gehe zur Neige und mache der Periode der Weltwirtschaft Platz. – Gewiß sehen wir heute in Europa eine Reihe von Staaten, welche der nationalen Selbständigkeit in ihrer Güterversorgung insofern entbehren, als sie erhebliche Mengen ihrer Nahrungs- und Genußmittel aus dem Auslande zu beziehen genötigt sind, während ihre industrielle Produktionstätigkeit weit über das nationale Bedürfnis hinausgewachsen ist und dauernd Überschüsse liefert, die auf fremden Konsumtionsgebieten ihre Verwertung finden müssen. Aber das Nebeneinanderbestehen solcher Industrie- und Rohproduktionsländer, die gegenseitig aufeinander angewiesen sind, diese »internationale Arbeitsteilung« ist nicht als Zeichen anzusehen, daß die Menschheit eine neue Stufe der Entwicklung zu erklimmen im Begriffe steht, die unter dem Namen der Weltwirtschaft den früheren Stufen gegenübergestellt werden müßte. Denn einerseits hat keine Wirtschaftsstufe volle Selbstherrlichkeit der Bedürfnisbefriedigung auf die Dauer garantiert; jede ließ gewisse Lücken bestehen, die so oder so ausgefüllt werden mußten. Andererseits hat jene sogenannte Weltwirtschaft bis jetzt wenigstens keine Erscheinungen hervortreten lassen, die von denen der Volkswirtschaft in wesentlichen Merkmalen abweichen, und es steht sehr zu bezweifeln, daß solche in absehbarer Zukunft auftreten werden«.2

Noch kühner ist Professor Büchers jüngerer Kollege Sombart, der schlankweg erklärt, daß wir nicht in die Weltwirtschaft hineinwachsen, sondern gar umgekehrt uns immermehr von ihr entfernen: »Die Kulturvölker, so behaupte ich vielmehr, sind heute (im Verhältnis zu ihrer Gesamtwirtschaft) nicht wesentlich mehr, sondern eher weniger durch Handelsbeziehungen untereinander verknüpft. Die einzelne Volkswirtschaft ist heute nicht mehr, sondern eher weniger in den Weltmarkt einbezogen als vor hundert oder fünfzig Jahren. Mindestens aber ... ist es falsch, anzunehmen, daß die internationalen Handelsbeziehungen eine verhältnismäßig wachsende Bedeutung für die moderne Volkswirtschaft gewinnen. Das Gegenteil ist richtig.« Professor Sombart ist überzeugt, daß »die einzelnen Volkswirtschaften immer vollkommenere Mikrokosmen (d.h. kleine abgeschlossene Welten) werden, und daß der innere Markt für alle Gewerbe den Weltmarkt immer mehr an Bedeutung überflügelt«.3

Diese funkelnde Narretei, die allen täglichen Wahrnehmungen des Wirtschaftslebens ungeniert ins Gesicht schlägt, unterstreicht aufs glücklichste jene verbissene Abneigung der Herren Zunftgelehrten gegen die Anerkennung der Weltwirtschaft als einer neuen Entwicklungsphase der menschlichen Gesellschaft, – eine Abneigung, die wir uns wohl zu merken, und deren verborgenen Wurzeln wir nachzugehen haben.

Weil also schon auf den »früheren Wirtschaftsstufen«, z.B. zu König Nebukadnezars Zeiten, »gewisse Lücken« im Wirtschaftsleben der Menschen durch den Austausch ausgefüllt wurden, so hat der heutige Welthandel gar nichts zu besagen, und es bleibt bei der »Volkswirtschaft«. Dies die Meinung Professor Büchers.

Wie bezeichnend für die Roheit der geschichtlichen Auffassung eines Gelehrten, dessen Ruhm gerade auf angeblich scharfsinnigen und tiefen wirtschaftshistorischen Einblicken beruht! Den internationalen Handel verschiedenster, durch Jahrtausende getrennter Kultur- und Wirtschaftsstufen bringt er einem abgeschmackten Schema zuliebe ohne weiteres unter einen Hut. Freilich, es gibt und es gab keine Gesellschaftsform ohne Austausch. Die ältesten vorgeschichtlichen Funde, die rohesten Höhlen, die der »vorsintflutlichsten« Menschheit als Wohnräume dienten, die primitivsten Gräber aus der Vorzeit, sie alle sind schon Zeugen eines gewissen Austausches der Produkte zwischen weit entfernten Gegenden. Der Austausch ist so alt wie die Kulturgeschichte der Menschheit, er ist seit jeher ihr ständiger Begleiter und ihr mächtigster Förderer gewesen. In dieser allgemeinen und in ihrer Allgemeinheit ganz vagen Erkenntnis ertränkt nun unser Gelehrter alle Besonderheiten der Epochen, der Kulturstufen der Wirtschaftsformen. Wie in der Nacht alle Katzen grau sind, so sind im Dunkel dieser professoralen Theorie alle himmelweit verschiedenen Gestalten des Austausches ein und dasselbe. Der primitive Austausch einer Botokudenhorde in Brasilien, die hier und da gelegentlich ihre eigenartig geflochtenen Tanzmasken gegen kunstvoll verfertigte Bogen und Pfeile einer anderen Horde austauscht; die glänzenden Warenlager Babylons, wo die Pracht der orientalischen Hofhaltung aufgestapelt war; der antike Markt Korinths, wo am Neumond orientalische Linnen, griechische Tonwaren, Papier aus Tyrus, syrische und anatolische Sklaven für die reichen Sklavenhalter feilgeboten wurden; der mittelalterliche Seehandel Venedigs, der Luxusgegenstände für die europäischen Feudalhöfe und Patrizierhäuser lieferte, – und der heutige kapitalistische Welthandel, der Orient und Okzident, Nord und Süd, sämtliche Ozeane und Weltwinkel in sein Netz gespannt hat, der alles – vom täglichen Brot und Zündholz des Bettlers bis zum ausgesuchtesten Kunstgegenstand des reichen Liebhabers, vom einfachsten Bodenprodukt bis zum kompliziertesten Werkzeug, von den menschlichen Arbeitshänden, der Quelle alles Reichtums, bis zu den Mordwerkzeugen des Krieges – jahrein, jahraus in ungeheuren Massen hin und her wälzt, – das alles ist unserem Professor der Nationalökonomie ein und dasselbe: bloßes »Ausfüllen« »gewisser Lücken« im selbständigen Wirtschaftsorganismus! ...

Vor 50 Jahren erzählte Schultze von Delitzsch den deutschen Arbeitern, jedermann produziere heute zunächst für sich selbst die gewonnenen Produkte, aber, »die er nicht für sich selbst gebrauche«, gebe er »im Austausch gegen die Produkte der anderen hin«. Die Antwort Lassalles auf diesen Unsinn bleibt unvergeßlich:

»Herr Schultze! Patrimonialrichter! Haben Sie denn gar keinen Begriff von der wirklichen Gestalt der heutigen gesellschaftlichen Arbeit? Sind Sie denn nie aus Bitterfeld und Delitzsch herausgekommen? In welchem Jahrhundert des Mittelalters leben Sie denn eigentlich noch mit allen Ihren Anschauungen? ... Haben Sie denn gar keine Ahnung davon, daß sich die heutige gesellschaftliche Arbeit gerade dadurch charakterisiert, daß jeder das produziert, was er für sich selbst nicht gebrauchen kann? Haben Sie gar keine Ahnung davon, daß dies seit der großen Industrie so sein muß, daß hierin die Form und das Wesen der heutigen Arbeit liegt und daß ohne die schärfste Festhaltung dieses Punktes keine einzige Seite unserer heutigen ökonomischen Zustände, keine einzige unserer heutigen ökonomischen Erscheinungen begriffen werden kann?

Nach Ihnen produziert also Herr Leonor Reichenheim auf Wüstegiersdorf zunächst das Baumwollgarn, das er für sich gebraucht. Den Überschuß desselben, den ihm seine Töchter nicht mehr zu Strümpfen und Nachtjacken verarbeiten können, tauscht er aus.

Herr Borsig produziert zunächst Maschinen für seinen Familienbedarf. Die überschüssigen Maschinen verkauft er dann.

Die Trauermagazine arbeiten zunächst vorsorglich für die Todesfälle in der eigenen Familie. Was dann, indem diese zu spärlich ausfallen, an Trauerstoffen noch übrigbleibt, tauschen sie aus.

Herr Wolff, der Eigentümer des hiesigen Telegraphenbureaus, läßt zunächst die Depeschen zu seiner eigenen Belehrung und Vergnügen kommen. Was dann, nachdem er sich hinreichend an ihnen gesättigt, noch übrigbleibt, tauscht er mit den Börsenwölfen und Zeitungsredaktionen aus, die ihm dagegen mit ihren überschüssigen Zeitungskorrespondenzen aufwarten! ...

Also: Das ist eben der unterscheidende, scharf festzuhaltende Charakter der Arbeit in früheren Gesellschaftsperioden, daß man damals zunächst für den eigenen Bedarf produzierte und den Überschuß abgab, d.h. vorherrschend Naturalwirtschaft trieb. Und das ist wieder der unterscheidende Charakter, die spezifische Bestimmtheit der Arbeit in der modernen Gesellschaft, daß jeder nur produziert, was er durchaus nicht braucht, d.h. daß jeder Tauschwerte produziert, wie früher vorherrschend Nutzwerte.

Und begreifen Sie nicht, Herr Schultze, daß dies die notwendige und immer mehr um sich greifende Form und Art der Arbeitsverrichtung ist in einer Gesellschaft, in welcher sich die Teilung der Arbeit so weit entwickelt hat wie in der modernen Gesellschaft?«

Was Lassalle hier Schultzen von dem kapitalistischen Privatbetrieb klar zu machen sucht, trifft heute mit jedem Tage mehr auf die Wirtschaftsweise so stark entwickelter kapitalistischer Länder zu, wie England, Deutschland, Belgien, die Vereinigten Staaten, in deren Fußtapfen die übrigen Länder, eines nach dem anderen, treten. Und die Irreführung der Arbeiter durch den fortschrittlichen Patrimonialrichter aus Bitterfeld war nur viel naiver, aber nicht gröber als die tendenziöse Polemik eines Bücher oder eines Sombart heute gegen den Begriff der Weltwirtschaft.

Ein deutscher Professor liebt als pünktlicher Beamter in seinem Ressort die Ordnung. Der Ordnung zuliebe pflegt er auch die Welt hübsch sauber in die Schubfächer eines wissenschaftlichen Schemas einzuschachteln. Und genau wie er seine Bücher auf den Regalen aufstellt, so hat er auch die verschiedenen Länder auf zwei Regalen verteilt: hier Länder, die Industrieprodukte herstellen und davon »einen Überschuß« haben; dort Länder die Landbau und Viehzucht treiben, und deren Rohprodukte jenen anderen Ländern mangeln. Daraus entsteht und darauf beruht der internationale Handel.

Deutschland ist eines der industriellen Länder der Welt. Nach dem Schema müßte es den regsten Austausch mit einem agrarischen Großstaat wie Rußland führen. Wie kommt es nun, daß Deutschlands wichtigste Partner im Handel die beiden anderen industriellsten Länder: die Vereinigten Staaten Nordamerikas und England, sind? Der Austausch Deutschlands mit den Vereinigten Staaten belief sich nämlich 1913 auf 2,4 Milliarden Mark, mit England auf 2,3 Milliarden Mark; Rußland kommt erst an dritter Stelle in Betracht. Und speziell was die Ausfuhr betrifft, so ist gerade der erste Industriestaat der Welt der größte Abnehmer für die deutsche Industrie: mit 1,4 Milliarden Mark Jahreseinfuhr aus Deutschland steht England an der Spitze und läßt alle anderen Staaten weit hinter sich. Das Britische Reich mit seinen Kolonien aber nimmt ein ganzes Fünftel der gesamten deutschen Ausfuhr auf. Was sagt das professorale Schema zu diesem merkwürdigen Phänomen?

Hie Industriestaat – dort Agrarstaat, dies ist das starre Gerippe der weltwirtschaftlichen Beziehungen, mit dem Professor Bücher und die meisten seiner Kollegen operieren. Nun, Deutschland war in den sechziger Jahren ein Agrarstaat; es führte einen Überschuß an landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus und mußte sich mit den nötigsten Industriewaren von England versehen lassen. Seitdem hat es sich selbst in einen Industriestaat und den nächsten Rivalen Englands verwandelt. Die Vereinigten Staaten machen dasselbe, was Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, in einer noch kürzeren Frist durch; sie sind gerade jetzt mitten im Wandel begriffen. Noch sind sie neben Rußland, Kanada, Australien und Rumänien das größte Weizenland der Welt, und noch waren nach der letzten Zählung (freilich aus dem Jahre 1900) ganze 36% ihrer Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. Zugleich aber schreitet die Industrie der Union mit beispielloser Geschwindigkeit vorwärts, so daß sie neben der englischen und der deutschen als gefährliche Nebenbuhlerin auftritt. Und wir geben einer hohen nationalökonomischen Fakultät die Preisaufgabe, zu definieren, ob die Vereinigten Staaten im Schema des Professors Bücher in der Rubrik Agrarstaat oder in der Rubrik Industriestaat unterzubringen seien. Rußland folgt langsam auf derselben Bahn und wird – sobald es die Fesseln einer veralteten Staatsform abgestreift hat – dank der ungeheuren Bevölkerung und dem unerschöpflichen Naturreichtum – mit Siebenmeilenstiefeln das Versäumte nachholen, um vielleicht noch vor unseren Augen, die wir heute leben, als mächtiger Industriestaat Deutschland und England und der amerikanischen Union an die Seite zu treten, wo nicht sie zu überflügeln. Die Welt ist also nicht ein starres Gerippe, wie die Weisheit eines Professors, sondern sie bewegt sich, lebt, verändert sich. Der polarische Gegensatz zwischen Industrie und Landwirtschaft, aus dem der internationale Austausch allein entspringen soll, ist also selbst ein fließendes Element; er wird immer weiter aus dem Kreis der modernen Kulturwelt an ihre Peripherie verdrängt. Was geschieht aber mittlerweile mit dem Handel innerhalb dieses Kulturkreises? Nach der Bücherschen Theorie müßte er immer mehr zusammenschrumpfen. Anstatt dessen wird er – o Wunder! – gerade zwischen den Industrieländern immer gewaltiger.

Nichts ist so lehrreich wie das Bild, das uns die Entwicklung unseres modernen Wirtschaftsgebietes in dem letzten Vierteljahrhundert bietet. Trotzdem wir seit den achtziger Jahren in allen Industrieländern und Großstaaten in Europa wie in Amerika wahre Orgien der Schutzzöllnerei, d.h. der gegenseitigen künstlichen Absperrung der »Volkswirtschaften« erleben, ist die Entwicklung des Welthandels im gleichen Zeitraum nicht bloß nicht zum Stillstand gekommen: sie ist in eine rasende Karriere verfallen. Wie dabei gerade die zunehmende Industrialisierung und der Welthandel Hand in Hand gehen, dies kann ein Blinder an den drei führenden Ländern: England, Deutschland und den Vereinigten Staaten ablesen.

Kohle und Eisen sind die Seele der modernen Industrie. Nun stieg von 1885 bis 1910 die Kohlengewinnung: in England von 162 auf 269 Millionen Tonnen in Deutschland von 74 auf 222 Millionen Tonnen in den Vereinigten Staaten von 101 auf 455 Millionen Tonnen

Die Roheisengewinnung stieg in derselben Zeit in England von 7,5 auf 10,2 Millionen Tonnen in Deutschland von 3,7 auf 14,8 Millionen Tonnen in den Vereinigten Staaten von 4,1 auf 27,7 Millionen Tonnen

Gleichzeitig stieg der jährliche Außenhandel (Einfuhr und Ausfuhr) von 1885 bis 1912: in England von 13 auf 27,4 Milliarden Mark in Deutschland von 6,2 auf 21,3 Milliarden Mark in den Vereinigten Staaten von 5,5 auf 16,2 Milliarden Mark

Nimmt man aber den gesamten Außenhandel (Einfuhr und Ausfuhr) aller wichtigeren Länder der Erde in der jüngsten Zeit, so ist er von 105 Milliarden Mark im Jahre 1904 auf 165 Milliarden Mark im Jahre 1912 gestiegen. Das bedeutet ein Wachstum um 57% binnen 8 Jahren! In der Tat ein so atemraubendes Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung, wie davon die ganze bisherige Weltgeschichte kein annäherndes Beispiel zu bieten hat! »Die Toten reiten schnelle.« Die kapitalistische »Volkswirtschaft« scheint Eile zu haben, die Grenzen ihrer Existenzfähigkeit zu erschöpfen, die Gnadenfrist ihrer Daseinsberechtigung abzukürzen. Was sagt aber zu alledem das Schema von »gewissen Lücken« und von dem schwerfälligen Tanz zwischen Industriestaat und Agrarstaat?

Doch es gibt im modernen Wirtschaftsleben solcher Rätsel noch mehr.

Betrachten wir etwas aufmerksamer die Tabellen der deutschen Einfuhr und Ausfuhr, statt uns mit Gesamtsummen der ausgetauschten Warenwerte oder nur mit ihren großen allgemeinen Kategorien zu begnügen, lassen wir zur Probe die wichtigsten Warengattungen des deutschen Handels vor uns Revue passieren.

Einfuhr/Ausfuhr nach/von Deutschland: Es wurden im Jahre 1913 nach Deutschland eingeführt (in Millionen Mark): Baumwolle roh: 607 Weizen: 417 Schafwolle roh: 413 Gerste: 390 Kupfer roh: 335 Rindshäute: 322 Eisenerze: 227 Steinkohlen: 204 Eier: 194 Felle und Pelzwerk: 188 Chilesalpeter:172 Rohseide: 158 Kautschuk: 147 Nadelholz gesägt: 135 Baumwollengarn: 116 Wollengarn: 108 Nadelholz roh: 97 Kalbfelle: 95 Jute: 94 Maschinen aller Art: 80 Lamm-, Schaf- und Ziegenfelle: 73 Baumwollenwaren: 72 Braunkohlen: 69 Wolle gekämmt: 61 Wollenwaren: 43 Es wurden im Jahre 1913 von Deutschland ausgeführt (in Millionen Mark): Maschinen aller Art: 680 Eisenwaren: 652 Steinkohlen: 516 Baumwollenwaren: 446 Wollenwaren: 271 Papier und Papierwaren: 263 Felle und Pelzwerk: 225 Eisen in Stäben: 205 Seidenwaren: 202 Koks: 147 Anilin- und andere Teerfabrikate: 142 Kleider: 132 Kupferwaren: 130 Oberleder: 114 Lederwaren: 114 Spielzeug: 103 Eisenblech: 102 Wollengarn: 91 Eiserne Röhren: 84 Rindshäute: 81 Eisendraht: 76 Eisenbahnschienen usw.: 73 Roheisen: 65 Baumwollengarn: 61 Kautschukwaren: 57

Zwei Tatsachen springen hier auch dem oberflächlichen Beobachter sofort in die Augen. Die erste ist, daß ein und dieselbe Warengattung mehrfach in beiden Rubriken, wenn auch mit verschiedenen Beträgen, figuriert. Deutschland setzt für enorme Summen Maschinen im Auslande ab, es bezieht aber gleichzeitig für die ansehnliche Summe von 80 Millionen Mark im Jahre Maschinen aus dem Auslande. Ebenso werden Steinkohlen aus Deutschland ausgeführt und zugleich ausländische Steinkohlen nach Deutschland eingeführt. Dasselbe bezieht sich auf Baumwollenwaren, Wollengarne und Wollenwaren, dasselbe auf Rindshäute und Pelzfelle und noch auf viele andere Waren, die nicht in der Tabelle aufgezählt sind. Vom Standpunkte des kahlen Gegensatzes zwischen Industrie und Landwirtschaft, der unseren Professor der Nationalökonomie wie Aladins Zauberlampe alle Geheimnisse des modernen Welthandels beleuchten hilft, ist diese merkwürdige Duplizität ganz unbegreiflich, ja sie wirkt wie eine vollendete Absurdität. Wie denn nun? Hat Deutschland an Maschinen einen »Überschuß über den eigenen Bedarf«, oder hat es darin umgekehrt »gewisse Lücken«? Und an Steinkohle und an Baumwollenwaren? Und an Rindshäuten? Und an hundert anderen Dingen! Oder wie sollte eine »Volkswirtschaft« gleichzeitig und an denselben Produkten ständig etwaigen »Überschuß« und »gewisse Lücken« aufweisen können? Aladins Lampe flackert unsicher. Offenbar ist die beobachtete Tatsache nur zu erklären, wenn wir annehmen, daß zwischen Deutschland und den anderen Ländern komplizierte, tiefgreifende wirtschaftliche Zusammenhänge bestehen, eine weitverzweigte, ins einzelne gehende Arbeitsteilung, die gewisse Sorten derselben Produkte in Deutschland für das Ausland, andere Sorten im Auslande für Deutschland bestellen läßt, ein tägliches Hinüber und Herüber schafft und einzelne Länder nur als organische Teile eines größeren Ganzen erscheinen läßt.

Jedermann muß ferner schon auf den ersten Blick auf die Tabelle von der Tatsache frappiert sein, daß Einfuhr und Ausfuhr hier nicht als zwei getrennte, etwa hier durch »Lücken« der eigenen Wirtschaft, dort durch ihre »Überschüsse« erklärte Erscheinungen auftreten, daß sie vielmehr miteinander ursächlich verkettet sind. Die enorme Baumwolleneinfuhr Deutschlands ist ganz augenscheinlich nicht durch den eigenen Bedarf der Bevölkerung bemessen, vielmehr soll sie von vornherein die große Ausfuhr von Baumwollenstoffen und Kleidern aus Deutschland ermöglichen. Ebenso der Zusammenhang zwischen der Einfuhr von Wolle und der Ausfuhr von Wollenwaren, desgleichen zwischen der enormen Einfuhr fremder Erze und der enormen Ausfuhr von Eisenwaren in jeglicher Gestalt, und so auf Schritt und Tritt. Deutschland führt also ein, um ausführen zu können. Es schafft sich künstliche »gewisse Lücken«, um diese Lücken hintennach in ebenso viele »Überschüsse« zu verwandeln. Der deutsche »Mikrokosmos« erscheint so von vornherein in allen seinen Maßstäben als ein Splitter eines größeren Ganzen, als eine Werkstatt in der Welt.

Doch schauen wir uns diesen »Mikrokosmos« in seiner »immer vollkommeneren« Selbstherrlichkeit einmal genauer an. Denken wir uns, daß durch irgendeine soziale oder politische Katastrophe die deutsche »Volkswirtschaft« wirklich von der übrigen Welt abgeschnitten, auf sich gestellt wäre. Welches Bild böte sich da unseren Augen?

Fangen wir mit dem täglichen Brot an. Der deutsche Ackerbau weist eine doppelt so große Ertragsfähigkeit auf als in den Vereinigten Staaten; er nimmt in bezug auf seine Qualität unter den Agrarstaaten der Welt die erste Stelle ein und steht nur dem noch intensiveren Ackerbau Belgiens, Irlands und der Niederlande nach. Vor 50 Jahren gehörte Deutschland mit seiner damals noch viel rückständigeren Landwirtschaft zu den Kornkammern Europas, es ernährte andere Länder mit dem Überschuß an eigenem Brot. Heute reicht der deutsche Ackerbau trotz seiner Ertragsfähigkeit nicht entfernt hin, das eigene Volk und den eigenen Viehstand zu ernähren: ein Sechstel der Nahrungsmittel muß vom Auslande bezogen werden. Das heißt mit anderen Worten: Sperren Sie die deutsche »Volkswirtschaft« von der Welt ab, und ein Sechstel der Bevölkerung, über 11 Millionen Deutsche sind ihrer Lebensmittel beraubt!

Das deutsche Volk verzehrt jährlich für 220 Millionen Mark Kaffee, für 67 Millionen Kakao, für 8 Millionen Tee, für 61 Millionen Reis; es verbraucht für etwa ein Dutzend Millionen verschiedene Gewürze und für 134 Millionen Mark fremde Tabakblätter. Alle diese Erzeugnisse, ohne die der Ärmste heute sein Leben nicht fristen kann, die zu den täglichen Gewohnheiten, zu unserer Lebenshaltung gehören, werden in Deutschland gar nicht (oder wie beim Tabakbau nur in geringen Mengen) erzeugt, weil das deutsche Klima hierfür ungeeignet ist. Schließen Sie Deutschland dauernd von der Welt ab, und die Lebenshaltung des deutschen Volkes, die seiner heutigen Kultur entspricht, bricht zusammen.

Nach der Ernährung kommt die Kleidung in Betracht. Die Leibwäsche sowie die gesamte Kleidung der breiten Volksmassen sind heute fast ausschließlich aus Baumwolle, die Wäsche des reicheren Bürgertums aus Leinwand, die Kleider aus feiner Wolle und Seide. Baumwolle und Seide werden in Deutschland gar nicht erzeugt, ebensowenig der hochwichtige Textilstoff Jute, ebensowenig die feinste Wolle, deren Monopol in der ganzen Welt England innehat; an Hanf und Flachs hat Deutschland ein großes Defizit. Sperren Sie Deutschland dauernd von der Welt ab, entziehen Sie ihm die Rohstoffe und den Absatz im Auslande, und das deutsche Volk in allen seinen Schichten ist seiner notwendigsten Kleidung beraubt, die deutsche Textilindustrie, die heute zusammen mit der Bekleidungsindustrie 1.400.000 erwachsene und jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen ernährt, ist ruiniert.

Gehen wir weiter. Das Rückgrat der heutigen Großindustrie ist die sogenannte schwere Industrie: die Maschinenproduktion und die Metallbearbeitung; das Rückgrat dieser sind aber Metallerze. Deutschland verbraucht (1913) jährlich etwa 17 Millionen Tonnen Roheisen. Seine eigene Gewinnung an Roheisen beträgt gleichfalls 17 Millionen Tonnen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, die deutsche »Volkswirtschaft« decke so ziemlich ihren Bedarf an Eisen selbst. Zur Gewinnung von Roheisen gehören aber Eisenerze, und da finden wir, daß die eigene Förderung Deutschlands nur etwa 27 Millionen Tonnen zum Werte von über 110 Millionen Mark beträgt, während 12 Millionen Tonnen höherwertige Eisenerze für mehr als 200 Millionen Mark, Erze, ohne die die deutsche Metallindustrie gar nicht auskommen könnte, aus Schweden, Frankreich und Spanien bezogen werden.

Ungefähr dasselbe Bild sehen wir in bezug auf die anderen Metalle. Bei einem Jahresverbrauch von 220.000 t Zink hat Deutschland eine Eigengewinnung von 270.000 t, von denen 100.000 t ausgeführt werden, während mehr als 50.000 t fremden Metalls den deutschen Bedarf mitdecken müssen. Die benötigten Zinkerze werden wiederum nur zum Teil in Deutschland gefördert: nämlich etwa eine halbe Million Tonnen im Werte von 50 Millionen Mark. 300.000 t höherwertige Erze für 400 Millionen Mark müssen vom Auslande bezogen werden. An Blei führt Deutschland 94.000 t fertigen Metalls und 123.000 t Erze ein. Endlich was das Kupfer betrifft, so ist die deutsche Produktion bei einem Jahresverbrauch von 241.000 t mit ganzen 206.000 t auf die Ausfuhr vom Auslande angewiesen. Vollends wird Zinn ganz von auswärts bezogen. – Sperren Sie Deutschland dauernd von der Welt ab, und mit dieser Zufuhr des wertvollsten Metalls sowie mit dem enormen Absatz der deutschen Eisenerzeugnisse und deutscher Maschinen im Auslande schwindet die Existenzbasis der deutschen Metallbearbeitung, die 662.000 Arbeiter beschäftigt, und der Maschinenindustrie, bei der 1.130.000 Arbeiter und Arbeiterinnen ihr Brot finden. Mit der Metall- und Maschinenindustrie müßte aber eine ganze Reihe anderer Gewerbezweige, die von jenen Rohstoffe und Werkzeuge beziehen, wie auch solcher, die ihnen Roh- und Hilfsstoffe liefern, namentlich also der Kohlenbergbau und endlich auch solcher, die für die gewaltigen Arbeiterarmeen dieser Industriezweige Lebensmittel produzieren, zusammenbrechen.

Erwähnen wir nur noch die chemische Industrie mit ihren 168.000 Arbeitern, die für die ganze Welt produziert. Erwähnen wir die Holzindustrie, die heute 450.000 Arbeiter beschäftigt, die aber ohne ausländisches Bau- und Nutzholz zum größten Teil ihren Betrieb schließen müßte. Erwähnen wir die Lederindustrie, die ohne ausländische Häute wie auch ohne den großen Absatz im Auslande mit ihren 117.000 Arbeitern auf dem Pflaster liegen würde. Erwähnen wir die Edelmetalle Gold und Silber, die das Geldmaterial und als solches die unentbehrliche Basis des ganzen heutigen Wirtschaftslebens bilden, die aber in Deutschland so gut wie gar nicht produziert werden. Stellen wir uns das alles lebendig vor, und fragen wir dann: Was ist die deutsche »Volkswirtschaft«? Das heißt, vorausgesetzt, daß Deutschland wirklich und dauernd von der übrigen Welt abgeschnitten wäre und seine Wirtschaft ganz allein führen müßte, was würde aus dem heutigen Wirtschaftsleben und somit aus der ganzen heutigen Kultur Deutschlands werden? Ein Produktionszweig würde nach dem anderen zusammenbrechen, einer den anderen in den Abgrund ziehen, eine enorme Proletariermasse ohne Beschäftigung, die ganze Bevölkerung beraubt der notwendigsten Nahrungs- und Genußmittel und der Kleidung, der Handel beraubt seiner Basis des Edelmetallgeldes, die ganze »Volkswirtschaft« – ein Haufen von Trümmern, ein zerschmettertes Wrack! ...

So sehen die »gewissen Lücken« im deutschen Wirtschaftsleben aus und so der »immer vollkommenere Mikrokosmos«, der sich selbstgefällig im blauen Äther der professoralen Theorie wiegt.

Doch halt! Und der Weltkrieg von 1914, die große Probe aufs Exempel der »Volkswirtschaft«? Hat er nicht die Bücher und Sombart aufs glänzendste gerechtfertigt? Hat er nicht der neidischen Welt gezeigt, wie vortrefflich der deutsche »Mikrokosmos« dank der strammen staatlichen Organisation und der Leistungsfähigkeit der deutschen Technik auch in hermetischer Abschließung vom Weltverkehr existenzfähig, gesund und kräftig ist? Hat nicht die Ernährung des Volkes ohne fremde Landwirtschaft vollauf ausgereicht, und ist nicht das Räderwerk der Industrie ohne Zufuhr aus dem Auslande, ohne Absatz dorthin munter in Bewegung geblieben?

Sehen wir uns die Tatsachen an.

Zunächst die Ernährung. Sie war nicht entfernt von der deutschen Landwirtschaft allein bestritten. Mehrere Millionen erwachsener männlicher Bevölkerung, zur Armee gehörig, wurden fast während der ganzen Dauer des Krieges von fremden Ländern erhalten: von Belgien, Nordfrankreich und zum Teil von Polen und Litauen. Zur Ernährung des deutschen Volkes wurde also die Fläche der eigenen »Volkswirtschaft« um das ganze Areal der okkupierten Landstriche Belgiens und Nordfrankreichs, im zweiten Kriegsjahre um den westlichen Teil des Russischen Reiches vergrößert, die mit ihren landwirtschaftlichen Erzeugnissen in hohem Maße den Ausfall in der deutschen Zufuhr decken mußten. Das ergänzende Gegenstück dazu bildete das grauenhafte Defizit in der Ernährung der einheimischen Bevölkerung jener fremden Landstriche, die ihrerseits – wie z.B. in Belgien – auf dem Wege der Wohltätigkeit von Produkten der amerikanischen Landwirtschaft erhalten wurde. Die zweite Ergänzung bildete in Deutschland die Verteuerung sämtlicher Lebensmittel um 100 bis 200 % und die erschreckende Unterernährung breitester Schichten der einheimischen Bevölkerung.

Ferner das industrielle Räderwerk. Wie konnte dieses im Betrieb erhalten werden ohne die Zufuhr fremder Rohstoffe und anderer Produktionsmittel, deren ungeheuere Wichtigkeit wir kennengelernt haben? Wie konnte ein solches Wunder geschehen? Das Rätsel löst sich auf die einfachste Weise und ohne jedes Wunder. Die deutsche Industrie konnte in Tätigkeit bleiben einzig und allein deshalb, weil sie eben mit den unentbehrlichen ausländischen Rohstoffen fortlaufend gespeist wurde, und zwar bezog sie diese auf dreifachem Wege: erstens aus großen Vorräten, die Deutschland an Baumwolle, an Wolle, an Kupfer in verschiedener Gestalt usw. bereits im Lande besaß und nur aus ihren Schlupfwinkeln hervorzulocken und flüssig zu machen brauchte; zweitens aus den Vorräten, die es wiederum in fremden Ländern: Belgien, Nordfrankreich, zum Teil Polen und Litauen kraft militärischer Okkupation mit Beschlag belegte und für die eigene Industrie nutzbar machte; drittens endlich aus der fortlaufenden Zufuhr vom Auslande, die durch die Vermittlung neutraler Länder (und aus Luxemburg) auch im Laufe des ganzen Krieges nicht aufgehört hatte. Fügt man hinzu, daß die unentbehrliche Voraussetzung dieser ganzen »Kriegswirtschaft« und ihres glatten Fortganges auch noch ein enormer Vorrat ausländischen Edelmetalls war, das in den deutschen Banken aufgeschatzt lag, so erweist sich, daß die hermetische Abschließung der deutschen Industrie und des Handels von der Außenwelt eine ebensolche Legende war, wie die ausreichende Ernährung der deutschen Bevölkerung durch die einheimische Landwirtschaft, und daß die angebliche Selbstherrlichkeit des deutschen »Mikrokosmos« im Weltkriege somit auf zwei Ammenmärchen beruhte.

Endlich der Absatz der deutschen Industrie, den wir in so hohem Maße in allen Weltgegenden festgestellt haben. Er wurde während der Kriegsdauer durch den eigenen Kriegsbedarf des Staates ersetzt. Mit anderen Worten hatten die wichtigsten Industriezweige: Metall-, Textil-, Leder-, chemische Industrie, eine Ummodelung erfahren und wurden in ausschließliche Lieferungsindustrien für die Armee verwandelt. Da die Kosten des Krieges von den deutschen Steuerzahlern gezahlt werden, so bedeutete diese Umwandlung der Industrie in Kriegsindustrie, daß die deutsche »Volkswirtschaft«, statt einen großen Teil ihrer Produkte ins Ausland zum Austausch zu schicken, ihn der fortlaufenden Vernichtung im Kriege preisgab, mit dem so entstehenden Verlust aber vermittelst des öffentlichen Kreditsystems die zukünftigen Ergebnisse der Wirtschaft auf Jahrzehnte hinaus belastete.

Nimmt man alles zusammen, dann ist es klar, daß das wunderbare Gedeihen des »Mikrokosmos« im Kriege nach jeder Richtung ein Experiment darstellte, von dem es nur eine Frage war, wie lange es hingezogen werden kann, ohne daß das künstliche Gebäude wie ein Kartenhaus zusammenstürzt.