Die Insel der großen Mutter - Gerhart Hauptmann - E-Book

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Gerhart Hauptmann

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Beschreibung

Gerhart Johann Robert Hauptmann (geboren 15. November 1862 in Ober Salzbrunn (Szczawno-Zdrój) in Schlesien; gestorben 6. Juni 1946 in Agnetendorf (Agnieszków) in Schlesien) war ein deutscher Dramatiker und Schriftsteller. Er gilt als der bedeutendste deutsche Vertreter des Naturalismus, hat aber auch andere Stilrichtungen in sein Schaffen integriert. 1912 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

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Die Insel der großen Mutter

Die Insel der großen MutterImpressum

Die Insel der großen Mutter

Dem Ufer einer herrlich und verlassen prangenden, von Gebirgen überhöhten Insel im südlichen Teil des Stillen Weltmeers näherten sich eines Tages mehrere Boote, als die Sonne grade im Mittag brütete. Es waren insofern merkwürdige Boote, als sie nicht von dunklen Männern dieses von uns so entfernten Weltteiles, sondern von europäisch gekleideten Damen dicht besetzt waren und gerudert wurden. Das Ganze sah einer Lustfahrt nicht unähnlich, zumal die Fahrzeuge im Zickzack gingen und unter immer erneutem scheinbar heiteren Kreischen ihrer Insassen oftmals den Kurs wechselten, was auf übermütige Hände am Steuer zu deuten schien.

Nun war es aber durchaus nicht Vergnügen, was diese Fahrt verursacht hatte, die Gott sei Dank bei einer vollkommen ruhigen See vor sich ging, sondern die Boote waren Rettungsboote, und die Damen waren Schiffbrüchige.

Man landete endlich in einer kleinen Bucht, nachdem man unter viel Gekreisch und Geschnatter eine geringe Brandung bewältigt hatte, mit einem unendlichen Durcheinander von Lauten der Freude, der Angst, der Besorgnis, der Zärtlichkeit, des Protestes oder der Ermutigung. Und endlich hatten weit mehr als hundert Paar kaum ein wenig durchnäßte Weiberschuhe glücklich den festen Boden erreicht.

Da nun diese Landung den zunächst wichtigsten Schritt zur Rettung darstellte und das Bewußtsein davon vom größten Teil des Damenrudels empfunden wurde, setzte sogleich ein Rausch von Rührung und Jubel ein, der sich bis zu Umhalsungen, Küssen, schluchzenden Freudentränen, ja hie und da zu mehr oder weniger wilden Tänzen steigerte. Einige freilich der Geretteten hatte der Schreck oder die Strapazen in einen totenähnlichen Schlaf, andere in einen Zustand der Schwäche, wieder andere das ganze Ereignis in stumme Verzweiflung versetzt, weshalb eine Anzahl der Frauen mit Pflege und Zuspruch aller Art um sie beschäftigt war. Nur eine der Damen, Tochter eines vielfachen Millionärs, eine achtzehnjährige junge Frau, die auf der Hochzeitsreise um die Welt mitten im höchsten Glück und außerdem grade beim Diner durch die Katastrophe überrascht worden war, eine deutsche Lady, die ihren heißgeliebten Lord verloren hatte, wurde in ihrer Verzweiflung zu einer Rasenden und rannte entweder, mit der Absicht sich zu ertränken, in die Brandungen oder brach, zurückgeholt und von vielen Armen gehalten, in Schreikrämpfe aus.

Eine der Damen rief auf einem Block erkalteter Lava, den sie, um sich Gehör zu verschaffen, erklettert hatte, in den Wirrwarr immer nur dieselben Worte hinein: »Meine Damen, was ist zu tun? Meine Damen, denken Sie an die Hauptfrage, was tun wir zu unserer weiteren Sicherheit? Was ist zu tun? Was ist zu tun?«

Dies Geschrei mit gellendem, weithin dringenden Ton, der allerdings vom Geräusch der Brandung zum Teil verschlungen wurde, hatte bald eine Anzahl Damen am Fuße des Lavablocks vereint, die aufeinander lebhaft einredeten und zwischen den Schreien Gelegenheit fanden, sich mit der Schreienden zu verständigen: es war eine ältere Malerin.

Sie stand da in einem flohbraunen Seidenkleid, wie sie im Speisesaal des Ostindienfahrers zu Tisch gesessen hatte. Der weite Ausschnitt der kostbaren Robe war mit Brüsseler Spitzen besetzt. Ihr Haar, vom Alter gebleicht, sah aus, als ob es gepudert wäre. Und da es übrigens noch gekräuselt war, so glich die ganze Person einer Rokokodame. Ihre runzlige Haut und schmutzige Hautfarbe, die stark auslaufende Kieferpartie, ein breiter, niggerhaft wulstiger Mund gaben ihr eine Eigenart, die durch zwei blitzende braune Augen reizvoll wurde. Die ganze Erscheinung hatte einen durch schön oder häßlich nicht berührten, besonderen Reiz.

»Meine Damen, wir müssen beratschlagen«, sagte sie. »Und das darf nicht so wie bisher geschehen, wo alles wie in einer Judenschule durcheinandergeplappert hat, sondern mit Ordnung und System, wie es in Parlamenten üblich ist. Deshalb schreiten wir zuvörderst zur Präsidentenwahl!« – Man hörte, wie sich das Wort »Präsidentenwahl«, »Präsidentenwahl« von Mund zu Mund längs des Strandes fortpflanzte, ein Wort, das wohl seit Erschaffung der Welt an diesem Ufer zum erstenmal vernommen ward.

Als sich die Mehrzahl der Damen um die Rednerbühne der Malerin versammelt hatte, bat diese für einige kurze Worte um Gehör.

»Meine Damen«, begann sie, nachdem man sie durch Zuruf von allen Seiten zum Reden aufgefordert hatte, »was uns zugestoßen ist, soweit es den Schiffbruch und die Landung anbetrifft, ist schon unzählige Male passiert. Aber wohl niemals seit Erschaffung der Welt hat sich eine so bekleidete und, was das Geschlecht betrifft, so einseitig ausgebildete Gesellschaft von Schiffbrüchigen auf einer Südseeinsel wiedergefunden.« – Es wurde gelacht, und das lag in der Absicht der Rednerin, die, indem sie einen unversehrten Humor blicken ließ, den Damen Mut machen wollte.

»Sie werden sagen, die ganze Sache ist nicht programmmäßig, und Cook sei verantwortlich. Jeder von Ihnen ist tatsächlich ein dicker Strich durch die Rechnung gemacht worden; dennoch möchte ich Ihnen raten, wenigstens vorläufig von einer Klage auf Schadenersatz abzustehen.« – Man lachte stärker, nur einige entrüsteten sich. Ihr Schmerz ging in Empörung über, weil sie den furchtbaren Ernst ihrer Lage verhöhnt und unterschätzt glaubten; man brachte sie aber bald zur Ruhe.

»Ich befinde mich in einem Alter«, fuhr die Sprecherin fort, »wo ich so ziemlich alles, was mir das Leben bieten konnte, genossen und also hinter mir habe. So bin ich vielleicht unter Ihnen die einzige, der dieses niedliche Abenteuer nicht durchaus unwillkommen ist. Ich glaubte nämlich nicht, daß mein Geschick noch irgend etwas Neues für mich in petto habe.

Und nun: meine Stellung zu dem Vorfall, vermöge dessen wir mit einem plötzlichen Ruck aus der Kulturwelt herausgeschleudert sind, macht mich vielleicht besonders geeignet, Ihnen, meine Damen, mit philosophischem Gleichmut voranzuschreiten und dadurch nützlich zu sein.

Es gibt hier nur eine Dame, die meinen Namen und mein Vorleben einigermaßen kennt. Es ist die Frau, deren zwölfjähriger Knabe mit uns gerettet worden ist. Für die anderen sei bemerkt: Anni Prächtel heiße ich. Viele von Ihnen lieben ja Deutschland, das Land der Barbaren, nicht. Immerhin, in Ermangelung eines besseren Vaterlands, sei nicht verschwiegen, daß ich mir in diesem Lande und dessen Hauptstadt Berlin als Malerin einen Ruf geschaffen habe. Berlin ist übrigens der Sitz des Präsidenten der deutschen Republik.«

Eine Stimme rief:

»Erstens, liebe Prächtel, kenne ich Sie. Ich bin aber nicht die Frau mit dem Knaben, sondern Frau Rosenbaum, Unter den Linden 8050, Inhaberin des bekannten Wäschegeschäfts, wo Sie früher öfters gekauft haben. Es sind also mehrere, die Sie kennen: aber bitte foppen Sie uns nicht. Sie machen ja fortgesetzt schlechte Witze.«

Fräulein Prächtel rief sofort: »Sie brauchen nur befehlen, Frau Rosenbaum, und auf der Stelle trete ich ab. Ich schmeichle mir freilich nicht, Sie könnten hier keine andre Persönlichkeit ausfindig machen, die der Situation und der Stellung als Leiterin einer weiblichen Schafherde so gewachsen wäre.«

»Wieso, wieso?« klang es von überall. »Führen Sie bitte Gründe an!«

»Dann möchte ich Ihnen Fräulein Rosita als Präsidentin vorschlagen.«

Auf diesen ohne jeden Übergang gemachten Vorschlag der Malerin erscholl ein wildes Geschrei von Verneinungen. Rosita war nämlich eine siebzehnjährige Kunstreiterin und derzeit das schönste Weib aller fünf Weltteile.

Durch diesen taktischen Winkelzug hatte Anni Prächtel sofort alle Stimmen auf ihre Seite gebracht, denn es wurde im Augenblick klar, es gab nicht eine unter den Damen, die sich durch die Schönheit der Malerin in den Schatten gestellt fühlen konnte.

Bald war die Malerin also durch Zuruf zur Präsidentin gewählt, und infolge ihres gewandten und schnellen Handelns wurden ohne Zeitverlust eine Reihe von Beschlüssen gefaßt und durchgeführt, die so zweckmäßig waren, wie sie im Augenblick sein konnten. Man teilte die Weiberherde in Zehnschaften. Nachdem Anni selbst sich an die Spitze der ersten gestellt hatte, wählte sie die vermutlich intelligentesten Frauenzimmer aus und machte jedes von ihnen in einer Zehnschaft zur Vorsteherin. Alle Führerinnen bildeten die Regierung, in der die Malerin den Vorsitz behielt. Eine allgemeine Bestandsaufnahme, wenn auch nur zum Zweck eines ungefähren Überblicks, war die erste Regierungshandlung, die man in Angriff nahm.

Gott weiß, durch welches Mißgeschick der »Kormoran« leck geworden und untergegangen war. Ja, war er überhaupt untergegangen? Er lag auf der Seite, und sein Hinterdeck wurde überspült, aber die Damen hatten ihn doch so lange gesehen, bis er als Punkt am Horizont verschwunden war. Das Unglück war bei schönstem Wetter und spiegelglatter See eingetreten. Man hatte zuerst Frauen und Kinder in die umfangreichsten Rettungsboote gebracht mit dem Gedanken, man könne sie von einer kleinen Dampfpinasse schleppen lassen. In aller Ruhe wurden Lebensmittel reichlich in die Boote verstaut, Äxte, Taue, Nägel und Handwerkszeuge aller Art, sogar Getreide, welches der »Kormoran« als Fracht führte. Alles dieses wurde von der neuen Machthaberin in Beschlag genommen.

Man hatte nach alledem, wie man aus dem Stand der Sonne schließen konnte, noch mindestens fünf Stunden bis zu ihrem Untergang. Diese Zeit wollte Anni ausnützen. Wiederum wurden fünf der kräftigsten Damen bestimmt, nachdem schon andere einen Quell vorzüglichen Wassers im nahen Felsen entdeckt hatten, wenn irgend möglich einen gewissen Gipfel zu ersteigen, der nach Annis und ihrer Räte Meinung in etwa anderthalb Stunden zu erreichen war und einen weiten Ausblick über die Insel eröffnen mußte. War sie klein oder groß, fruchtbar oder unfruchtbar, unbewohnt oder bewohnt? Alles das waren wichtige Fragen, die man auf dem Strande der Landungsbucht am Fuße einer fast kahlen Steilküste nicht beantworten konnte. Ein Umstand konnte wohl tröstlich sein: das Klima der Insel schien paradiesisch.

Zur Führerin der Erkundungstruppe wurde die schöne Miß Page, eine große und schlanke Amerikanerin, eine wahre Diana, ausgewählt. Man vertraute ihr einen der vorhandenen Brownings an. Sie wußte mit Waffen wohl umzugehen. Annis Mädchen für alles, die mit ihr gereist und mit ihr gerettet war, wurde als Adjutant der Diana mit einer Axt ausgestattet. Auguste war jeder Lage gewachsen und konnte förmlich Wunder tun. So hatte sie auch für ihre Herrin eine Höhle, sonnen- und regensicher, ausfindig gemacht und geradezu wohnlich eingerichtet. Ihr war es zu danken, wenn die Malerin allerhand Taschen, Köfferchen, ja sogar einen Koffer, Plaids und Kamelhaardecken gerettet hatte. Tatsächlich war in der Höhle sogar eine Teemaschine in Gang gebracht, und Rauch einer echten Havanna kroch längs der Wände.

Zum Empfang der letzten Befehle hatte sich Miß Page mit ihrer Truppe vor der Höhle aufgestellt, und zwar nicht mehr in großer Toilette, sondern in einem Kostüm, das von Anni und ihrer Regierung gleichsam drakonisch bei allen, aus Gründen der Stoffersparnis und mehr noch der körperlichen Tüchtigkeit, erzwungen worden war. Es machte sie, da es aus Tennisschuhen, ihrem gegürteten Hemd und nichts anderem bestand, der wahren Diana noch ähnlicher, während Auguste mit ebenderselben Kleidung nicht ebendenselben Eindruck machte. Ebensowenig das nahezu vierzigjährige, in allem Sportlichen ausgezeichnete Fräulein von Warniko, das als Waffe und Stab einen Bootshaken trug. Die zwei letzten Teilnehmer der Patrouille waren Lolo und Mucci Smith, hübsche Kinder, mütterlich aus deutschem, väterlich aus englischem Blute herstammend.

»So recht, meine Damen«, sagte die Malerin, aus ihrer Höhle hervortretend. Sie sprach schon beinahe imperatorisch, aber immer mit einem beabsichtigt heiteren Unterton. »So recht, meine Damen: wir müssen immer bedenken, daß wir unser Leben auf einer völlig neuen Basis aufzubauen gezwungen sind.

Myrmidonen«, fuhr sie dann fort, plötzlich den Rednerton bevorzugend, »ihr seid zu einer großen, der ersten großen Aufgabe, die uns hier obliegt, ausgewählt. Aus euerm Herzen sei jede Furcht, jeder Trübsinn, jedes weichliche Klagen verbannt der Dinge wegen, die nicht zu ändern sind. Die Furcht, die Angst, Trennung, Verrat, Krankheit, Hunger, Tod lauern auch in der Zivilisation. Auch da muß sich jeder sein Leben erobern. Wir haben hier ganz denselben Fall. Stellt euch vor, wir sind gelandet, um diese Insel zu erobern. Denkt, daß wir Eroberer sind. Denkt euch einfach, ihr seid Amazonen.« – Es muß gesagt werden, daß Miß Page Deutsch verstand, denn sie hatte mehrere Jahre in München, Dresden, Berlin dem Gesangsstudium obgelegen.

»Ihr gehorcht Miß Page!« schloß die Rednerin. »Daß sich keine vom Ganzen trennt! Wer nicht gehorcht, wird niedergeschossen.«

Unter Gelächter und mutigen Rufen traten die fünfe den Aufstieg an.

Die Stellung Annis wurde natürlich, wenn auch nicht öffentlich, angefochten. Ebenso selbstverständlich aber hatte die Malerin ihre versteckten Gegnerinnen sofort erkannt. Sie machte diese nach Möglichkeit unschädlich. Frau Rosenbaum wurde an die Spitze der zweiten Zehnschaft gestellt, Rodberte Kalb an die der dritten. Und Rodberte durfte sogar nach Abfertigung der ersten Unternehmung den Tee mit der Präsidentin in deren Höhle einnehmen, die von ihr scherzhaft das Weiße Haus genannt wurde. Abgesehen von der sonstigen Bedeutung dieser Bezeichnung traf sie auch insofern zu, als die Höhlung in einem weißlichen Mergel ausgebildet war.

Auch Rodberte war nicht mehr jung, aber doch wohl bedeutend jünger als die Malerin. Die letzten zehn Jahrgänge fast aller europäischen Zeitschriften enthielten einen ästhetisierenden, ethisierenden oder politisierenden Aufsatz von ihr. Eine hübsche Novelle, von ihr in französischer Sprache verfaßt – sie sprach und schrieb Englisch, Französisch und Deutsch mit gleicher Leichtigkeit –, hatte sogar die »Revue des Deux Mondes« aufgenommen. Sie hatte acht Jahre in England gelebt, war aber in Frankfurt, von einer französischen Mutter geboren, zur Welt gekommen, durch einen deutschen Vater gezeugt.

Rodberte, unnatürlich schlank, war beinahe so groß wie Miß Page. Ihr Schmuck war das reiche, blonde Haar, das sie schwer unterzubringen vermochte. Selbst Miß Pages Haarkrone übertraf die Rodbertes nicht, obgleich sonst die Amerikanerin der Kalb an Jugend, blühender Kraft des Wuchses und Adel der Gesichtszüge weit überlegen war. Aber die Kalb war bedeutend und merkwürdig. Sie bewahrte in allen Dingen gegen jeden, nicht nur gegen Miß Page, Überlegenheit. Sie konnte für keinen Engel gelten. Ihr Denken, dessen ruheloser Spiegel ihr etwas biberähnliches Antlitz war, machte vor Gottes Thron nicht halt. Vertrauter als himmlischer Hallelujagesang war ihr das feurige Element, das ihren schmalen und biegsamen Leib zu einem durch und durch brennenden machte. Die Malerin, die sie schon lange kannte, sogar gemalt und wieder und wieder studiert hatte, dachte auch jetzt, wo sie ihr in so abenteuerlicher Lage gegenübersaß: sie hat doch immer denselben marternden Hunger in sich, der dem einer Flamme ähnlich ist, die überall gierig um sich frißt, um sich auszudehnen oder nicht zu verlöschen.

»Sprechen Sie sich doch gefälligst einmal aus, liebe Rodberte: was machen Sie eigentlich im Ernst aus der Situation, in die wir verschlagen sind?« – »Gar nichts«, sagte Rodberte, »wir müssen abwarten. Vorläufig habe ich ein Gefühl, als hätte mir jemand, der sich die tückische Revanche eines Eselstritts jahrzehntelang verkniffen hat, diesen nun gründlich zuteil werden lassen. Im Bogen gleichsam ist man aus allem, was man für unverlierbar hielt, mit verblüffender Plötzlichkeit herausgesetzt. Die Geschichte mag tragisch sein, vorläufig habe ich einen diabolischen Spaß an dem diabolischen Streich, der uns gespielt worden ist. Mehrmals fragte man mich, noch im Boot, warum ich laut auflachte. Mir selbst war mein lautes Lachen unbewußt, innerlich freilich konnte ich aus dem Lachen nicht herausfinden.«

»Nun, nun, meine Gute, was war Ihnen da so lächerlich?«

Rodberte schlang Zigarettenrauch und lehnte sich geschlossenen Mundes im geretteten Deckstuhl zurück. Dann ließ sie Gelächter und Rauch zugleich aus dem Halse hervorbrechen. »Machen Sie sich nur einmal klar, gute Anni, wie und auf welche drastische Weise die Unsumme der subtilsten Probleme, die uns schlaflose Nächte gemacht haben, mit einemmal gelöst worden sind. Sie sind ganz einfach nicht mehr vorhanden. Oder gibt es für Sie zum Beispiel noch ernstlich die Frage: Was ist besser, Republik oder Monarchie, Freihandel oder Zollschranken, Frauenemanzipation, aktives und passives Wahlrecht oder Knechtung der Frau? Ob man die Jesuiten nach Deutschland hereinlassen soll, ob der Militarismus eine fluch- oder segenbringende Sache ist? Ob Marées ein Maler und Böcklin keiner ist, oder Böcklin einer und Marées keiner? Und dahinter der ganze Schwanz von Kunstfragen. Oder die quälenden Fragen: Geh' ich im Sommer nach Berchtesgaden, nach Biarritz, oder mache ich eine Nordlandfahrt? Wo verbring' ich den Winter: Berlin, Paris, Florenz oder Rom? Oder reise ich an die Riviera? Oder welches ist die beste Sektmarke: Heidsieck oder Ayala? Diese Fragen waren noch akut gestern abend beim Dinner, bevor sie samt einer Million von anderen Kulturproblemen mit den tausenden Tons des ›Kormoran‹ untergingen.« Rodberte beschloß ihren Galgenhumor: »Ich habe mich übrigens fest entschlossen, bis auf weiteres weder in ein Theater noch Konzert noch Kabarett noch in eine Gemäldeausstellung, ein Museum oder in ein Kolleg zu gehen. Auch werde ich meinem Baron den Laufpaß geben.«

Die Malerin lachte. Sie lachte gern. Sie hatte der Schicksalsgenossin schalkhaft zugehört. – »Es geht mir nicht wie Ihnen«, sagte sie. »Obgleich ich kein Buch und auch leider wenig von meinen Malutensilien gerettet habe, werde ich mich noch lange, selbst wenn wir hier verschollen bleiben sollten, mit den Kulturgespenstern herumschlagen. Freilich nur so, wie jemand, dem man seine Liegenschaften genommen, den man von seinen Schlössern und Gutshöfen vertrieben hat, immer noch im Geiste seine Felder bestellt, die Fruchtfolge disponiert, seinen Hirsch schießt, seinen Viererzug anspannen und seinen Hengst satteln läßt. Irgendwie bleibt auch der Bettler, der im Reichtum gelebt hat, bis zu seinem Tode in dessen Besitz.

Nun bitte, Rodberte, denken Sie nicht, daß ich mich etwa sonst als Bettler fühle. Wir haben ja oft genug die Zivilisation in Grund und Boden kritisiert und uns aus den verkünstelten, verschraubten und doch vielfach so unsäglich verplatteten Zuständen in die reine, unverderbte Natur zurückgewünscht. Ist uns nicht beiden noch zuletzt im Speisesaal des ›Kormoran‹ inmitten der befrackten und dekolletierten internationalen Banalität, keineswegs aus Seekrankheit, sondern einfach wegen der Gespräche und der unsäglich gemeinen Varietémusik, speiübel geworden? Schien uns wohl diese aufgeblähte, grob genußsüchtige, profitwütige, hirnlos zynische Kaufmannskultur einen Pfifferling wert? Gut, wir haben sie überwunden. Wir sind an den Busen der Natur und, wenn Sie wollen, ins Paradies zurückgekehrt. Nun wollen wir uns nicht lumpen lassen und zeigen, was ohne Kulturschminke an uns ist.«

Schon während der letzten Worte, die Fräulein Prächtel mit erhobener Stimme sprach, waren gellende Laute vom Strande heraufgedrungen. Nun erschien Frau Rosenbaum und erklärte, daß sich der meisten Damen beim Anblick des Sonnenuntergangs große Erregung bemächtigt hätte. Viele liefen schluchzend und wimmernd, andre laut weinend und klagend am Ufer hin und her, als ob sie gegen das Verschwinden der Sonne protestieren und diese dadurch am Untergehen verhindern wollten.

Anni Prächtel erhob sich sogleich und lud Rodberte ein, mit ihr hinunterzugehen und den armen Frauen Mut einzusprechen. – »Es ist natürlich«, sagte sie, »daß jetzt ein Gefühl der Verlassenheit über sie kommt und ihnen beim Anbruch der Nacht die ganze Schwere des Schicksals, dem sie anheimgefallen sind, erst recht deutlich wird.« – Es war ein bräunlich-rötliches Licht grell in die Höhle eingefallen und hatte die Mergelwände leuchten gemacht. Hinausgetreten, wurden die Damen aber doch von dem Anblick überrascht, den sie innen als einen sattsam bekannten voraussetzten. Achttausend Seemeilen hatten sie von Cuxhaven aus zurückgelegt und den Sonnenuntergang fast Abend für Abend von Deck aus beobachtet. Aber hier haftete ihm wiederum eine neue, furchtbare Größe an, wie dem Finale der Symphonie eines hinter seinem Werk verborgenen gigantischen Demiurgen der Musik. – »Kein Wunder«, sagte die Präsidentin, »wenn im Angesicht eines solchen Vorgangs der Mensch im Gefühle seiner Ohnmacht von Angst und Entsetzen befallen wird.« – »Was wir hier sehen, sahen wir sicherlich oft, liebe Anni«, sagte die Kalb, »und zwar in der gleichen drohenden Schönheit und Majestät. Ebenso ist es mit den anderen. Aber unsre Seelen und die der anderen waren dem Ereignis niemals so nackt, niemals so wahr gegenübergestellt. Es taucht in uns allen etwas auf, was unter dem ganzen Gerumpel aus den Speichern der Zivilisation verschüttet gewesen ist. Vielleicht die Urangst der Kreatur, die im düsteren Lichte der Furcht die Schönheit und Macht der Schöpfung empfindet. Hören Sie doch, was oben am Rande des Steilufers ebenfalls für ein Lärm entstanden ist. Das Geschrei und Gekreisch der Vögel scheint dem der Damen unten sehr verwandt und könnte wohl ähnlichen Ursprungs sein.« – Es war in der Tat in höchster Höhe am Rande der Insel ein allgemeiner Tierlärm losgebrochen.

»Sicher ist, wir sind der Erkenntnis der wahren Lage des Menschen auf Erden und meinethalben im Weltall«, sagte Anni, »durch die überraschende Wendung unseres Geschicks bedeutend nähergerückt. Wir sind durch eine Masche des Netzes der Zivilisation, könnte man in dieser Beziehung sagen, wie gefangene Fische in den freien Ozean zurückgerutscht. Oder man könnte auch so sagen: Mit unserem ›Kormoran‹ hat zugleich ein anderes, größeres Schiff in unserer Vorstellung Schiffbruch gelitten, nämlich das Schiff der Zivilisation. Und wir sind selber zu einem unbekannten Urmeer geworden, in dessen tiefsten Grund es auf Nimmerwiedersehn versinkt.«

»Da bin ich neugierig«, sagte die Kalb, »was unser Geschick zum Ersatz für das Versunkene aus dem unbekannten Meer, das wir nach Ihrer Ansicht sind, alles heraufholen wird. Das kann ja möglicherweise gut werden. Ich kann mir jetzt kaum mehr vorstellen, daß ich einmal gefirmelt worden bin, auf der Schulbank gesessen, zu meines Vaters Geburtstag ein Verschen aufgesagt, mit dem Pfarrer gestritten, im Café Melange getrunken und Modeblätter durchschnüffelt habe, und so fort. Dafür regt es sich wirklich schon von allerlei fremden Ungeheuern dunkel in mir, so daß ich, weiß Gott, ohne die allergeringste Künstelei mit in die Laute der tierischen Urangst ausbrechen könnte.«

Die Prächtel rief: »Brechen Sie ruhig aus, liebe Kalb. Es ist vielleicht das unbedingt schöne Gefühl einer Aufgabe, die auf meinen Schultern liegt, was die Neigung, die Sonne anzukreischen, in mir nicht aufkommen läßt. Müssen Sie aber heulen, Rodberte, so gehe ich lieber allein an den Strand, denn mir scheint, daß zu vieles Geheul in Absicht der Fassung des Muts und der Kraft, die wir zu unserer Erhaltung brauchen, von schwächender Wirkung ist. Ich sage nichts gegen die Urangst der Kreatur, von der Sie mit Recht gesprochen haben. Ist sie durch unsre Lage zum Durchbruch gelangt und tritt sie meistens am Abend ein, so hoffe ich eben und setze bestimmt voraus, daß durch ebendieselbe Lage morgen früh etwa das Urglück zum Ausbruch gelangt. Denn als freie Fische im Meer haben wir ebenfalls Anspruch darauf.«

Der Malerin und Präsidentin der unter so schmerzlichen Umständen begründeten Frauenrepublik hatten sich auf ihren Wunsch bei dem Ermutigungsgange auch die Führerinnen der Zehnschaften angeschlossen, so daß Anni unter den aufgeregten Weibern mit einem Gefolge erschien. Sie zeigte schon jetzt eine gewisse Begabung zur Herrscherin durch die Art, wie sie den einzelnen Damen zu imponieren und so oder so, mit Scherz oder Ernst, mit Anteil oder mit Kälte, mit Güte oder mit Härte oder, wo Operationen nötig waren, mit dem schärfsten Sarkasmus beizukommen wußte. Eine Dame, deren ganze Erscheinung und Toilette auf ein gewisses Gewerbe hindeutete, rief immerzu: »Ich werde verrückt, ich werde wahnsinnig!« Und dann: »Meine Damen, das ist ja die Hölle! Ist man lebendig oder schon tot? Die Sonne ist ja ein höllisches Ofenloch. Sehen Sie doch den braunen Steinkohlenschaum. Das Meer ist ja schwarz wie flüssige Steinkohle.« Anni sagte: »Meine Beste, was schreien Sie denn? Denken Sie doch an Schokolade.« – Die Person wurde grob, wodurch sie denn auch sofort nach Annis Wunsch aus der Rolle fiel.

»Übrigens«, sagte Anni zu ihrer Begleitung, »ihr Vergleich ist gar nicht so uneben mit der Steinkohle und dem Steinkohlenschaum, und wenn es Lady Lambert geborene Lilienthal aus Berlin auch so auffaßt, dann bekommt sie sicherlich neue Anfälle. Deren Reichtümer, als sie noch Mitglied der großen Kulturgemeinschaft war, stammten nämlich aus Steinkohle.« – Das Schreien und Laufen hörte auf, als die Malerin mit Gefolge längs des zerstreuten Lagers einmal bis ans Ende geschritten war. Allmählich begriffen die meisten, daß eine Führung in Gestalt einer mit Verantwortlichkeit für das Wohl und Wehe aller behafteten Person vorhanden war. Diese und ihre Helfer wurden jetzt der allgemein mit Klagen, Wünschen und Fragen umstürmte Mittelpunkt.

Es war nicht leicht, diesen Stürmen standzuhalten und besonders die Fragen, die wie Schloßen daraus herabregneten, wenigstens einigermaßen plausibel zu beantworten. »Glauben Sie, daß mein Mann, mein Vater, mein Bruder gerettet ist? Hatten wir drahtlose Telegraphie an Bord? Wo geschah das Unglück eigentlich? Seit wann waren wir von Hongkong fort? Wann sollten wir in San Franzisko eintreffen? Wie geschah das Unglück überhaupt? Wie konnte es überhaupt geschehen? Wie durfte es überhaupt geschehen? frage ich.« – »Glauben Sie, daß man uns suchen, glauben Sie, daß man uns finden wird? Wo, meinen Sie eigentlich, daß wir sind? Ist die Insel bekannt? Hat sie einen Namen? Es wäre doch möglich, oder ist das ganz ausgeschlossen, daß irgendwo hier ein Hafen, eine Stadt mit Hotels, wenigstens mit ein bißchen Komfort zu finden ist? Wir können doch nicht wie die Tiere leben? Apropos, Tiere: Wilde Tiere gibt's doch nicht hier? Es kann doch zum Beispiel hier keine Tiger geben? Um Gottes willen, wenn es hier Schlangen, Tiger und Löwen gibt, was machen wir dann?« – »Da gibt's nur eins, meine Damen«, sagte die Präsidentin, »entschlossen, mutig, standhaft sein.«

Nicht diese lärmende und bewegliche Menge war es, die der Präsidentin und ihren Helfern die größte Sorge machte; diese vielmehr galt einer Anzahl Frauen, die vereinzelt und abgesondert umherlagen und die ein wahrer und furchtbarer Seelenschmerz in einen Zustand der völligen Willenlosigkeit und Unempfindlichkeit versetzt hatte. Zu diesen gehörte eine Deutsche, die Frau eines Architekten, die mit ihrem zwölf Jahre alten Knaben das Ufer erreicht hatte, deren Mann aber, nachdem er ihr und seinem Sohn ins Boot geholfen, vor ihren Augen untergegangen war. Und zwar hatte ihn, nachdem er freiwillig um Lady Lamberts willen, die gerade ins Boot drängte, die Hände von dessen Rande nahm, eine Menge wild aus dem Wasser greifender Arme Ertrinkender gepackt und in ihrer Verknäulung zur Tiefe gezogen. Bei dieser bewußtlos röchelnden Frau, die übrigens mehr einem Mädchen glich, wachte Miß Laurence, eine breit und kraftvoll gebaute, edel gewachsene Anglo-Holländerin.

Sie sagte deutsch, klar, aber mit etwas dicker Zunge: »Wir haben Phaon« – das war der gerettete Knabe – »mit seiner Erzieherin etwas abseits gebracht. Seine gesunde Jugend macht sich durch einen tiefen Schlaf geltend; es ist aber nicht so sicher, was aus dieser armen Frau werden wird. Ich denke, sie hat von uns allen am meisten verloren. Die Ärztin sagt, daß sie wiederaufkommen wird. Ich habe Gründe, es zu bezweifeln.«

Die Präsidentin ordnete an, daß Rita in ihre Höhle gebracht werden sollte. Dies wurde sofort und auf eine sehr einfache Weise durch die Anglo-Holländerin ausgeführt. Sie schob ihre Arme unter die Bewußtlose, erhob sich dann ohne Mühe mit ihr und folgte mit ihrer Last Rodberte Kalb, die ihr den Weg zu weisen abgeordnet war. Miß Laurence durchschritt den Sand mit einer gleichsam heroischen Leichtigkeit, der man eine Mühe nicht anmerkte.

Die schöne Anglo-Holländerin hatte man zunächst allgemein für eine verheiratete Frau gehalten, da sie beim Betreten des Rettungsufers ein Kind, kaum einjährig, in den Armen trug. Nach und nach aber wurde bekannt, daß sie sich unterwegs schon dieses Kindes, es war ein Mädchen, angenommen und es aus dem Zwischendeck heraufgeholt hatte, nachdem seine Mutter gestorben war.

Bei dem schlafenden Knaben, der nun von der Malerin besucht wurde, wachte Miß War, seit sieben Jahren seine Erzieherin. Daß sie geweint hatte, konnte man ihren von Ingrimm bewegten Zügen anmerken, auch in ihren heftig geflüsterten Worten verleugnete sich die Träne nicht, hinter einer allerdings abgrundtiefen Erbitterung. Sturzbachartig brach es auf englisch aus ihr hervor: »Warum mußte denn dies stupide Weib, dieses eitle, eingebildete, dumme Tier noch im letzten Augenblick auf den Platz springen, der für seinen Vater freigehalten war?« – Es war Lady Lambert, die sich als Gegenstand dieses Ausbruches, wenn sie gewollt hätte, zu betrachten berechtigt war. – »Dieses Vieh«, fuhr die Erzieherin fort, »mußte doch, wie wir alle und jeder wußten, bemerkt haben, welche Arbeit von Mr. Stradmann geleistet worden war. Wer wäre denn von uns noch am Leben, wenn er nicht die Boote für uns erzwungen hätte? Konnte denn diese überzählige, aufgeblasene dumme Gans nicht sehen, daß Mr. Stradmann kurz vorher in dem Bestreben, jemand zu retten, über Bord gefallen war und wie alles in unserem Boot nur den einen Wunsch hatte, – aus Dankbarkeit schon, aber auch im wohlverstandenen eigenen Interesse nur den einen Wunsch hatte, Mr. Stradmann wieder im Boot zu sehen? Aber nein: diese Talmilady springt herein. Diese leere Puppe raubt uns den einzigen Mann, bringt ihn um den Lohn seiner Aufopferung, und vor allem, bringt diesen Jungen um seinen Vater.«

Anni Prächtel war diese Ausschüttung eines heiligen Zornes nicht unwillkommen. Ihr selber lag die Berliner Lady nicht. Aber sie suchte zu beruhigen. »Ihr Schmerz ist selbstverständlich«, sagte sie, »wir wissen ja auch als Augenzeugen, daß Ihre Betrachtungsweise der Sache manches für sich hat. Aber da ist eben doch der Selbsterhaltungstrieb, und da kommt der Augenblick, wo der Instinkt rücksichtslos und verzweifelt wird.«

»Aber hat nicht das Weib ihren Mann an Bord gelassen? Hat er nicht mit dem ganzen Heroismus eines echten Engländers, ohne Wimpernzucken, mit dem Taschentuch zu ihr heruntergewinkt? Konnte und mußte sie nicht bei ihrem Lord bleiben?« – So raste die Miß gedämpften Tones fort, bis plötzlich der Knabe davon geweckt wurde. Er wachte aber nur einen kurzen Augenblick, rieb sich zwei große blaue Augen in einem von lichtem Gelock umgebenen Angesicht, lächelte mit verschlafener Verbindlichkeit, atmete auf und war entschlummert.

Längst war die Sonne untergegangen, als die Malerin und die Ihren der Höhle zustrebten. Man ordnete einige Wachen an und fand bei dieser Gelegenheit, daß neben Exaltierten, Fassungslosen und Gebrochenen Gott sei Dank auch eine erfreuliche Anzahl unternehmender junger Mädchenköpfe vorhanden war.

In einem Licht, durch das die Farben des Meeres und der Küste noch einmal in einer neuen magischen Schönheit aufglühten – man wußte nicht, ob es von oben stammte, wo kein Himmelskörper zu sehen war, oder ob es von der wirkenden eigenen Leuchtkraft der Erde herrührte –, wandte sich das Gespräch der rückkehrenden Damen dem vaterlosen Knaben zu und dem Verhängnis, das über ihm schwebte, auch noch die Mutter zu verlieren. – »Dieser Fall«, sagte Anni, »und die neue Wendung, die er genommen hat, geht mir sehr, sehr nahe, und ich werde um seinetwillen Mühe haben, die Fassung zu bewahren, die uns notwendig ist.«

»Der Knabe ist wirklich schön«, sagte Rodberte.

Anni darauf: »An dieser späten Ehe Stradmanns war eigentlich alles schön. Das häusliche Glück war mit der häuslichen Enge und der außerhäuslichen Weite zugleich eine Verbindung eingegangen. Sie waren wie die Turteltauben und waren doch ohne Philisterium. Stradmann hatte als Architekt nicht seinesgleichen, und sein Buch über Gotik schätzen die Fachleute nach Gehalt und Form als meisterhaft. Und er war absolut nicht einseitig. Ihn beherrschte ein zum Universellen strebender Bildungsdrang. Der hatte ihn nach Japan geführt, wo er auf vielen Gebieten gesammelt und Studien getrieben hat. Er wollte von dort nach Mexiko, um seine Studien über mexikanische Architektur durch den Augenschein zu vervollständigen. Der Mann hatte eine ungeheure Energie und Arbeitskraft und dabei eine so rührend weiche Seele, daß er während seiner fünfzehnjährigen Ehe kaum einen Tag von seiner Frau getrennt gewesen ist und seit Phaons Geburt auch nicht von diesem. Überallhin mußten Phaon und Rita mit. Mit Rita ist es derselbe Fall. Sie scheint energisch, ganz unsentimental und ganz selbständig, solange man sie mit Stradmann zusammen sieht, oder wenn sie wenigstens weiß, daß er in der Nähe ist. Einmal weiter von ihm getrennt, war sie tatsächlich nicht zu gebrauchen.«

Rodberte sagte: »Der Knabe ist wirklich schön!«

Es ward nun allmählich still am Strande der Schiffbrüchigen. Alle, die Alten sowie die Jungen, die Verzweifelten wie die Mutigen, wurden vom Schlaf übermannt. Manche träumten, was auch eine Art von Wachen ist: diese waren die weniger Glücklichen! Allein bei den meisten hatte die körperliche Ermattung infolge des Erlebten und Überstandenen einen solchen Grad erreicht, daß sie zur vollen Bewußtlosigkeit eingingen. Sie litten nicht mehr, denn sie waren nicht mehr! Weder Mädchen noch Frauen, Witwen noch Waisen: nicht einmal mehr Menschen, geschweige Schiffbrüchige. Um sie entfaltete sich, für sie nicht vorhanden, nutzlos die nächtliche Tropennatur. Am Himmel stand das Südliche Kreuz wenig über dem Horizont, höher hinauf der Zentaur. Gegen Norden herrlich strahlend der Arktur. Sternstaub, Milchstraße, Myriaden Welten. Und Myriaden und aber Myriaden von leuchtenden Welten enthielt auch das Meer, das Lichtwogen, fließende Funkenberge zum Strande her- und am Strande hinrollte und magische Helle am Ufer verbreitete. Die Schlafenden waren von alledem losgelöst und lagen doch darin wie im Mutterschoß, nur durch die Atmung damit verbunden wie gleichsam durch eine Nabelschnur.

Die Malerin wurde am frühen Morgen durch ein helles Geschrei vor der Höhle aufgeweckt. Die Erkundungsmannschaft war glücklich zurückgekehrt. »Euer Freudenruf«, sagte die Präsidentin, sich eilig in einen Pelz wickelnd, im Heraustreten, »euer Freudenruf ist mir für unser ganzes zukünftiges insulares Schicksal ein gutes Vorzeichen. Besser wurde ich nie geweckt als an diesem ersten Morgen im Stand der Verbannung.«

Ein neues Freudengeschrei war die Antwort.

»Kinder«, fuhr die Präsidentin fort, starr, als sei ihr ein Schreck in die Glieder gefahren, »ihr seid ja so übermenschlich schön, daß es über alle meine Begriffe ist. Wäre ich noch innerhalb der Welt der Zivilisation, ich würde mich nun erst an euch zum Maler entwickeln.« – Hochatmend, frisch und blitzenden Auges und in jeder Bewegung gleichsam triumphierend standen die tapferen Mädchen da, und jede von ihnen trug eine zehn bis zwanzig Kilo schwere grüngelbe Bananentraube auf der Schulter.

»Das für den Anfang«, sagte Miß Page, »es gibt aber mehr.« Und Fräulein von Warniko: »Präsidentin, die Brotfrage ist als gelöst zu betrachten. Wir würden Bananen und andere Früchte vollauf zu essen haben, wenn wir nicht nur etwa einhundert, sondern einhunderttausend Weiber wären.« Die liebe und hübsche zwanzigjährige Mucci Smith war eigentlich Gärtnerin. Sie legte der Präsidentin mit Ausbrüchen kindlich stolzer Freude grüne, gurkenartige Früchte vor, die sie als Früchte des Durianbaumes erkannt hatte. – »Probieren Sie diese Frucht, Präsidentin, und Sie werden glauben, wir seien im Paradiese!«

»Wenn ich nicht einen alten Vater zu Hause wüßte, der sich um mich ängstet«, sagte Fräulein von Warniko, »so würde ich meinesteils nicht bedauern, schiffbrüchig geworden zu sein. Denn diese Insel nur sehen, heißt beinah soviel als einen neuen Menschen anziehen, gegen den der frühere verstaubt, zerrissen, hinkend und schielend ist. Diese Landschaft muß die menschliche Seele besser machen, friedlicher, liebevoller, glückseliger. Man würde den Wunsch haben, gar nie mehr in die Welt zurückzugehen, könnte man sich seine Angehörigen nachkommen lassen.« – Lolo sagte, diese von Fruchtbäumen bedeckten Abhänge, diese köstlichen Palmen und Pisangtäler stimmten sie traurig. »Man muß genießen«, meinte sie, »man sättigt alle Sinne mit der ausgesuchtesten Herrlichkeit, und, sagt man sich, könnte der und der und die, die Mutter zum Beispiel, daran teilnehmen, dann würde das erst recht das wahre und über alle Begriffe glückselige Genießen sein. So aber hat man und hat doch nicht! Und erfährt die Pein, daß man etwas immer Ersehntes, eigentlich nur für das Jenseits Erhofftes endlich erreicht und es doch nicht ergreifen kann.«

»Nun, meine Damen, – lieber sage ich: meine Kinder, – nun, meine schönen und wackeren Kinder, ich gratuliere euch, gratuliere uns zu dem unverhofften Erfolg eurer ersten Expedition. Es werden andere, größere nachfolgen. Kommt und trinkt Tee und teilt mein bescheidenes Frühstück mit mir.«

Etwa ein Monat war vergangen, seit die Schiffbrüchigen auf der Insel ihre Landung glücklich vollzogen hatten. Während dieser Zeit hatte man täglich auf Hilfe gehofft, war aber dabei unter der willensstarken Leitung Anni Prächtels praktisch, und zwar vielfach mit Erfolg, tätig gewesen. So hatte man festgestellt, daß die Fläche des Eilands mehr als drei oder vier deutsche Quadratmeilen nicht ausmachte und daß sie, gebirgig, gleich fruchtbar in ihren Tälern und Hochflächen, in zwei Bergkegeln gipfelte. Die Insel legte sich hufeisenartig um einen weiten Golf, der nur im Westen durch ein schmales Felsentor mit dem Meere verbunden war. Aus einem der Berggipfel stieg zu jeder Tages- und Nachtzeit ein dünner Rauch.

Aus naheliegender Ursache wurde das Eiland »Île des Dames« getauft. Der Ankunftshafen »Port des Dames«: es war der einzige, den es besaß. Mit seinen Steilufern schien es im übrigen unzugänglich. Der Einfachheit halber wurde der Berg ein »Mont des Dames«, ein starker Bach, der zum Meere floß und den Grund eines herrlichen Tales bildete, »Fleuve des Dames« genannt. Man hatte an seinen Ufern Bambus gefunden und ihn zum Bau von Hütten in Form von Zelten benutzt: dazu lud nicht nur das Rohr, sondern auch das üppige Ufergelände des Flüßchens ein und nicht zuletzt die schattige Kühle der Taltiefe, in die selbst die Mittagsglut der Äquatorialsonne nicht hinabreichte. Man nannte mit ein wenig Humor die Siedlung »Ville des Dames«. Das ganze Tal aber »Vallée des Dames«.

Île des Dames prunkte mit einer buntgefiederten Vogelwelt. Man wünschte sich Glück, daß man bei allen Kreuz- und Querzügen weder auf einen Kannibalen noch den gefürchteten Tiger noch eine andere gefährliche Katze gestoßen war. Es gab außer dem inneren Golf äußere Buchten, zu eng für die Schiffahrt, die von Land aus zugänglich waren. Ihr Wasser, oft sieben bis acht Faden tief, war so klar, daß man auf dem schwarzen, vulkanischen Sande ohne Mühe die lebende Koralle sehen konnte: nicht eine Koralle, sondern eine märchenhaft farbenreiche Korallenwelt, über der Schwärme blau, rot und gelb gefärbter Fische, orangen und rosig durchhauchter Medusen umherschwammen. Man nannte den schönsten dieser Meereseinschnitte »La Rade des Poissons ensorcelés«.

Die Bambuszelte von Ville des Dames bildeten drei konzentrische Kreise. Die Behausungen waren so groß, daß jede Raum für höchstens drei Kolonistinnen bot. Manche bewohnten ein Zelt allein und hatten sich etwas abseits gezogen, ein Komfort, der ihnen von der Präsidentin bewilligt war.

Deren Hütte war zweigeteilt, weil sie Auguste unter demselben Dache haben, aber nicht im gleichen Raum mit ihr schlafen wollte. Zu den Einsiedlern gehörten Miß Page, Rodberte Kalb und Miß Laurence – ihr voller Name war Laurence Hobbema –, während das Kleeblatt Rita Stradmann, Phaon Stradmann und Miß War unter einem Dache schlief.

Rita hatte sich etwas erholt, aber leider nicht so, daß man auf volle Genesung rechnen konnte. Man brachte sie morgens von ihrer mit Bambus gedielten, leidlich hergerichteten Lagerstatt vor das Zelt, wo sie in Anni Prächtels Deckstuhl unter Kokospalmen den Tag in Apathie verbrachte. Diese wich nur dann für kurze Zeit, wenn Phaon sie besuchen kam oder wenn irgend etwas in ihrem Gesichtskreis sich mit ihm ereignete.

Der Knabe war, wie Rodberte gesagt hatte, wirklich schön. Er war es, wenn er schlief oder flüchtig erwachte, aber noch mehr, wenn er aufrecht stand und sich leicht und heiter umherbewegte. Miß War war nach Kräften streng mit ihm und setzte alles daran, den Zügel nicht aus der Hand zu verlieren, mit dem sie das edle Füllen zu leiten hatte, das, begreiflicherweise von allen Seiten verwöhnt, angelockt und festgehalten, in Gefahr geriet zu verwildern. Nicht bei Phaon und seiner Mutter, wohl aber bei sehr vielen anderen Mitgliedern der Kolonie machte sich die Engländerin dadurch unbeliebt; allein, obgleich sie das wußte und ihr diese Tatsache in scharfen Bemerkungen, die sie zu hören bekam, und in täglichen Zwistigkeiten unzweideutig entgegentrat, ließ sie sich dennoch in ihrem Verhalten nicht stören, weil sie es als ihre heiligste Pflicht empfand. Auch lag in ihrer Natur die Tugend des Lehreifers, der Treue, der Aufopferungsfähigkeit, nur nicht die Tugend der Nachgiebigkeit. Hier blieb sie streitbar, wenn auch nicht streitsüchtig.

Rita wußte, welchen Schatz ihr Sohn in Miß War besaß und daß er der Engländerin beinah so fest wie ihr selbst ins Herz gewachsen war. Außer wenn sie bei unvermeidlichen kleinen Streitigkeiten zwischen Zögling und Erzieherin mütterlich versöhnend auf seine Seite trat, fühlte Miß War sich durch Rita niemals behindert. Außer dieser standen in fraglichen Fällen jederzeit die Präsidentin selber, Rodberte Kalb und Laurence Hobbema hinter ihr.

Phaon wurde keineswegs kurzgehalten. Miß War ließ den Zügel mitunter sehr lang. Zuweilen wurde das Füllen auch losgebunden. Der Knabe beteiligte sich an der in Übung gekommenen Jagd. Hierin hätte den Unband auch niemand zu hindern vermocht, er durfte, allerdings nur in Begleitung der Miß, an ein und der anderen Expedition mit nicht zu weit gestecktem Ziele teilnehmen. Hauptsächlich aber an den Kampfspielen, Übungen mit Wurfkeulen und Bambusspeeren, die man gefertigt hatte; solche Übungen fanden meist unter den Blicken der Präsidentin des Morgens und am kühleren Abend statt, auf dem weiten Plan, der vom Kreis der Hüttstatt umschlossen wurde.

Noch war Phaon nicht groß genug, um es in den primitiven Künsten der Jagd und des Krieges einer Miß Page, einem Fräulein von Warniko, noch viel weniger einer gewissen Alma, einer schlank und sehnig gewachsenen Mulattin, gleich- oder gar zuvorzutun. Auch nahm er das zweckhafte Spiel noch zu sehr als ein zweckloses. Aber er ging den werdenden Amazonen mit leidenschaftlichem Eifer und nie ermüdender Lust voran, die von jedem Untertone des Kummers so frei waren, daß man es zeitweilig in Phaons Nähe vergaß, von aller Welt verlassen auf eine Insel des Südmeers verschlagen zu sein. Das ganze Wesen Phaons überhaupt war Zuversichtlichkeit. Solange er nicht etwa selber physisch schwer betroffen oder hinter Kerkermauern war, erlangte kein Schmerz mehr als eine kurze Gewalt über ihn. So hatte sein feuriger, im Rausche des Lebens glückseliger Geist den Schmerz über den Verlust des Vaters in eine an Gewißheit grenzende Hoffnung, er sei gerettet, verwandelt, und so kam auch der Gedanke an den möglichen Verlust seiner Mutter bei ihm keineswegs in Betracht. Eine Katastrophe hatte ja stattgefunden, bei der ein Schiff und viele hundert Menschen in den Wellen verschwunden waren. Indes sein Vertrauen in ein gewissermaßen unvergängliches, unzerstörbares Leben für sich und seine Mutter war dadurch seltsamerweise nicht im geringsten erschüttert worden. Diese unverbrüchlich feste Glücksgewißheit war es, die dem Geiste der Kolonie wie ein immer belebender Trunk zustatten kam, was man auch allgemein empfand.

Ein solcher Trunk war nicht selten notwendig. Wenn man sich auch mit der Lage, in der man war, einigermaßen vertraut gemacht hatte und sich zudem versichert halten konnte, daß man weder Hungers sterben noch unter den Messern von Kannibalen verbluten oder von wilden Tieren zerrissen werden würde, so blieb man doch von allem, womit und wofür man ehedem gelebt hatte, abgetrennt, für die Welt der Menschheit so gut wie begraben.

Île des Dames war gewiß kein Grab. Man konnte das Eiland ein Paradies nennen. Aber selbst Anni Prächtel, der eine Art Lebensaufgabe aus den Trümmern des Schiffbruchs erwachsen war, fühlte sich manchmal wenn nicht wie begraben, so doch zum mindesten eingesperrt. Dann wurde plötzlich das lachende Blau des Himmels in ein grausames Grinsen entstellt oder wurde zum Ausdruck der seelenlos steinernen Unerbittlichkeit der Kuppel, die ein Verlies überwölbt, Papageiengekreisch ward zum höhnischen Lärm von Dämonen, die Glut der Buchten, die Klarheit der Tiefen empfand man als Pein. Alle Schönheit schien Lüge zu werden, die grelle, schmerzhafte Phantasmagorie eines Fiebertraums.

Wenn die Malerin solchen krampfhaften Anfällen auf ihre Art zu begegnen wußte, so unterlagen ihnen andere, weniger bedeutende, weniger widerstandsfähige Naturen oft in einem verzweifelten Grade. Es gab Tage, da wurde Weinen, Heulen, Um-Hilfe-, Um-Rettung-Schreien zur Epidemie, die nur mit vieler Mühe und viel Geduld durch die Präsidentin und ihre Leute zum Verlöschen gebracht werden konnte. Aber die Wache, die, alle zwei Stunden abgelöst, von Abend bis Morgen das Lager umschritt, hörte viel Wimmern, Weinen und Wehklagen unter den Zeltwänden, und alle Töne des Grams, des Heimwehs, des Trennungsschmerzes, der Verlassenheit, der ganze Jammer der Verbannung schlug Nacht für Nacht an ihr Ohr.

Die Präsidentin merkte sogleich beim täglichen Morgenthing, ob die verflossene Nacht in dieser Beziehung eine gute oder weniger gute gewesen war. Gab es gedunsene Gesichter und entzündete Augen, unausgeschlafene, ermüdete Züge, wenn sie ihren scharfen Maler- und Seelenblick im Ringe der schönen Kinder herumgleiten ließ, in der Überzahl, so war das ein Anlaß für sie, nicht nur, meist in einer längeren Rede, ihren Mut zum Ausharren, ihre Hoffnung auf Befreiung nach Möglichkeit aufzurichten, sondern auch Anlaß, durch einen besonderen Tagesplan den Dämonen der Langeweile, des Müßiggangs und der Trübsal entgegenzuwirken.

Die Mittel dazu waren im engeren Kreis der Präsidentin längst erörtert worden. Es gab da solche, die das Übel prophylaktisch, andere, die es symptomatisch behandelten. Das genaue Einhalten des Kalenders gehörte zu den prophylaktischen. Ebenso, daß der Sonntag gefeiert wurde. Unter den profanen Festen stand der Geburtstag der Präsidentin voran. Von den übrigen Geburtstagen, die man ohne Ausnahme feiern wollte, war es der Phaons, dem man mit der heitersten Erwartung entgegensah. Man hatte ein Kirchenzelt und ein Lesezelt gebaut oder war dabei, sie zu errichten. Miß Laurence, die, von ernster Gemütsrichtung, tiefer in religiöse Fragen eingedrungen war, eine Bibel gerettet hatte und einen Begriff von der brahmanischen und buddhistischen Lehre in ihrem von schlichtem schwarzen Haar umrahmten heroischen Kopfe trug, war zur Vestalin des Tempels gemacht worden. Man nannte ihn, weil man in dieser Gemeinde die weibliche Personifikation des Göttlichen der männlichen vorzuziehen sich für berechtigt hielt, »Notre-Dame des Dames«.

Mittel, die unvorhergesehene Fälle von Ausbrüchen der Trübsal bekämpfen sollten, gingen vielfach auf plötzliche Einfälle der Präsidentin zurück, wo sie nicht aus der Liste möglicher Divertissements genommen waren, die man aufgestellt hatte. Ein solcher Einfall bestand darin, Vorführungen anzuordnen, wo jede der Damen, die einer Kunst oder einer Fertigkeit mächtig war, sich damit sehen ließ. Die schöne Rosita war Seiltänzerin, und also mußte sie auf dem Seile tanzen. Miß Laurence sang. Fräulein Gerte Bergmann, die Geigerin, die ihr italienisches Instrument gerettet hatte, konzertierte, und so fort.

Am meisten natürlich wurde, und zwar automatisch, das Grillenfangen durch die notgedrungene Arbeit bekämpft, durch den Zwang zu essen, zu trinken, zu wohnen, gesundzubleiben und die Lebenshaltung insgesamt auf jede mögliche Art zu verbessern. Zeitungen gab es freilich nicht. Dafür hatte jedoch der Tag einen anderen Höhepunkt, dem man mit Spannung entgegensah: die Abendstunde, wo die zehn Strandwächter heimkehrten und die neusten Nachrichten von der Küste mitbrachten. Erzeugte sich doch die Hoffnung täglich neu, ein rettendes Schiff in Sicht zu bekommen.

Das Bad im Fleuve des Dames war eine Lustbarkeit, die sich jeden Morgen von selber bot. Oft wurde es mehrmals am Tage genossen. Im allgemeinen zog man das frische Wasser des Flusses dem der Buchten vor, dessen Temperatur mehr erschlaffte. Jede der Zehnschaften hatte ihren besonderen Badeplatz. Es war nicht schwer, an den gewundenen Ufern, unter Pisanghainen und akazienartigen Mimosen, solche von himmlischer Schönheit auszufinden: und wirklich würde der Kulturmensch, der etwa zur Stunde des Bades von ungefähr einen Blick in das Vallée des Dames getan hätte, geglaubt haben, ins Paradies geraten zu sein.