Die Karawane am Boden des Milchkrugs - Franz Hohler - E-Book

Die Karawane am Boden des Milchkrugs E-Book

Franz Hohler

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Beschreibung

Franz Hohler ist ein Meister der kleinen Form. Seit vielen Jahrzehnten veröffentlicht er kurze Geschichten. Darunter befinden sich auch viele groteske Erzählungen, pointierte, unsentimentale und tragikomische Geschichten, die ihn berühmt gemacht haben. Eine Auswahl, vom Autor selbst besorgt, befindet sich in diesem Band. Franz Hohler wurde für Erzählungen wie diese mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet.

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Inhaltsverzeichnis

Der AbstecherEin ganz schwerer TransportCopyright

Der Abstecher

Ich stand in Bern auf dem Bahnhof und wartete auf den Zug nach Zürich, der soeben als leicht verspätet gemeldet worden war.

Als ich nach einer Weile aus dem Lautsprecher hörte: »Auf Gleis 11 steht der Schnellzug nach Singapur«, konnte ich nicht widerstehen. Ich nahm mein Mäppchen, begab mich durch die Unterführung nach Gleis 11 und stieg in den bereitstehenden Zug ein, nicht ohne mich vorher zu vergewissern, daß am Wagen tatsächlich ein Schild mit der Aufschrift »Bern-Singapur« hing und daß dieselbe Angabe auch auf der Anzeigetafel über dem Perron zu lesen war.

Warum ich einstieg, kann ich heute nicht mehr genau sagen, so etwas tut man ja nicht auf Grund einer bestimmten Überlegung. Vielleicht, dachte ich mir lediglich, vielleicht gibt es in der Nähe von Bern einen Weiler, der Singapur heißt, so wie es doch auch irgendwo in der Gegend ein Bethlehem gibt, mit einer kleinen Post, auf der man zu Weihnachten Kartengrüße abstempeln lassen kann, und das Ganze hängt mit einer Werbung für die Bundesbahnen zusammen.

Das einzige, was für mich feststand, war, daß dieser Zug nicht nach Singapur fuhr.

Ich war deshalb etwas überrascht, als mich der Kondukteur bald nach der Abfahrt des Zuges mit ernstem Blick darauf aufmerksam machte, daß mein Billett nur bis Zürich Gültigkeit habe.

»Gut«, sagte ich, »dann möchte ich nachlösen«, und schaute den Kondukteur prüfend an. Als ich in seinen Augen nichts Schalkhaftes entdeckte, fügte ich vorsichtig bei, »bis Singapur.«

Der Kondukteur ließ sich immer noch nichts anmerken, zog ein Tarifblatt aus seiner Tasche, tippte mit einem Bleistift einige Felder darauf an, bewegte lautlos seine Lippen und sagte zum Schluß: »Das macht noch 1182 Franken.«

»Ich habe aber ein Halbtaxabonnement«, sagte ich.

»Sie haben recht«, sagte der Kondukteur, »das verbilligt natürlich die Strecke Zürich-Buchs, 1167.50 ist es dann noch.«

»Tja«, sagte ich, »wissen Sie was, ich steige doch lieber in Zürich aus.«

»Das geht leider nicht«, sagte der Kondukteur, »wir fahren über Zürich-Enge, ohne Halt.«

»Ohne Halt bis wohin?«

»Ohne Halt bis Singapur.«

Jetzt wurde ich etwas unruhig.

»Das ist ein Mißverständnis«, sagte ich, »ich will gar nicht nach Singapur.«

»Wieso sind Sie dann in diesen Zug gestiegen?« »Einfach so«, sagte ich, »einfach so — Sie fahren doch nicht wahrhaftig nach Singapur?«

»Wohin denn sonst?« sagte der Kondukteur, »halten Sie uns für Betrüger? Ich habe mich schon vorbereitet«, fuhr er fort und knöpfte seine Uniform über dem Gürtel ein bißchen auf, so daß man darunter ein khakifarbenes Hemd sah. »Es kann sehr heiß werden«, sagte er halblaut.

»Ich habe mich überhaupt nicht vorbereitet!« rief ich, indem ich von meinem Sitz sprang, »ich habe nicht einmal einen Paß!«

»Sie haben keinen Paß?« fragte der Kondukteur, »das ist aber unangenehm, da wird man Sie in Singapur gleich wieder heimschicken.«

»Ich bleibe gleich daheim«, sagte ich entschieden, »man wird mich ja schon bei der Grenzkontrolle in Österreich nicht durchlassen«, und setzte mich wieder, froh, daß mir dieses Argument in den Sinn gekommen war.

»Es gibt keine Grenzkontrolle in Österreich«, sagte der Kondukteur, »die Wagen sind plombiert.«

Ich konnte fast nichts sagen.

»Heißt das«, fing ich an, »heißt das ...«

»Ja«, sagte der Kondukteur, »die einzige Grenzkontrolle ist in Singapur. Bis dahin bleiben wir im Wagen.«

Plötzlich drängte ich mich am Kondukteur vorbei, eilte zur Türe und zog, was ich sonst noch nie getan habe, die Notbremse. Sogleich ertönte im ganzen Wagen eine sanfte und tiefe Instrumentalmusik, zu der eine dünne Frauenstimme ein unverständliches Lied sang.

»Wir haben alles getan, um unsern Reisenden die Fahrt angenehm zu machen«, sagte der Kondukteur, der jetzt hinter mir stand. »Wenn Sie zweimal ziehen, hören Sie das klassische Programm, und wenn Sie dreimal ziehen, Ländlermusik. Ein bißchen Heimat braucht man ja schon auf einer solchen Strecke.«

Ich schaute an seinem breiten Lächeln vorbei, das mir mißfiel, und sah erst jetzt, daß dort, wo sich sonst die Gepäckträger der Wand nach ziehen, Schiebeschränke angebracht waren.

»Die Betten«, sagte der Kondukteur, der meinen Blick bemerkt hatte. »Sie steigen hinauf, schieben die Tür hinter sich zu, und schon sind Sie wunderbar für sich. Es hat sogar«, sagte er stolz, »eine kleine Bibliothek bei jedem Sitz.« Er zog an einer Armlehne, und es kam ein Regal mit ein paar Büchern heraus, hauptsächlich von Simmel, Konsalik und Frank Arnau. »Essen«, sagte er weiter, »wird Ihnen dreimal täglich gebracht, für einen Speisewagen hat es noch nicht gereicht. Mit dem Wasser sollten wir etwas sparen, dafür hat es reichlich Feuchtwaschtüchlein.«

»Entschuldigen Sie«, sagte ich, »ich muß etwas frische Luft haben«, und trat zu einem Fenster. Der Kondukteur trat auch herzu und sagte: »Fenster können keine geöffnet werden, aber die automatische Lüftung funktioniert einwandfrei.«

»Lassen Sie mich bitte einen Moment allein«, sagte ich. »Bitte sehr«, sagte der Kondukteur und ging zur Tür hinaus. Vom andern Ende des Wagens her nahte sich nun langsam ein fetter Asiate mit einem kragenlosen weißen Hemd und einer Mütze, der ein blitzblankes, überall geschlossenes Metallwägelchen durch die leeren Reihen schob.

Ich riß die Tür auf und stieß auf den Kondukteur, der gleich dahinterstand. »Fährt denn sonst niemand nach Singapur?« fragte ich ihn.

»Leider nicht«, sagte er, »Sie sind der einzige, der sich dazu entschlossen hat. Übrigens, Flückiger ist mein Name.«

Später, als wir uns darauf geeinigt hatten, daß ich den fehlenden Billettbetrag durch meine Bank überweisen lassen würde, sobald wir in schätzungsweise drei Wochen in Singapur eingetroffen wären, und sich der Kondukteur mit seinem Tablett neben mich gesetzt hatte und mir während des Essens von seinem Interesse am Eiskunstlauf erzählte und der Asiate schweigend danebenstand, um uns nachzuschöpfen, wenn dies nötig wurde, und ich auf der andern Seite des Zürichsees die Kirchtürme von Herrliberg, Meilen und Uetikon erscheinen und wieder verschwinden sah, hatte ich zum erstenmal in meinem Leben Lust, einen Menschen umzubringen.

Ein ganz schwerer Transport

Als die Maschinenfabrik Schaffner in Stilli den neuen Superthronger für das Atomkraftwerk Beznau fertiggestellt hatte, feierte die Belegschaft ein kleines Fest. Zum erstenmal in der Geschichte des Betriebs war ein 800 Tonnen schwerer Superthronger fabriziert worden. Chefschlosser Sägesser hatte ihn mit seinen Gehilfen aus einem unmäßigen Klumpen Gußstahl herausgeformt und blickte nun gerührt auf den mit Margeriten und Nelken bekränzten Doppelsattelschlepper, auf dem das Ding ruhte. Alle stießen mit dem Chauffeur auf eine gute Fahrt an, und dann setzte sich der Doppelsattelschlepper zitternd und dröhnend in Fahrt, begleitet von zwei blinkenden Kleinwagen der Aargauer Kantonspolizei.

Von Stilli bis Beznau sind es sechs Kilometer, darum hatte man die Bestellung auch bei der sonst ziemlich kleinen Firma Schaffner aufgegeben. Eine geringe Komplikation ergab sich nur daraus, daß die Brücke, die bei Stilli über die Aare nach Beznau führt, für eine solche Belastung zu schwach war. Zum Glück gab es aber wenige Kilometer flußabwärts die starke Aarebrücke von Kleindöttingen nach Döttingen, welche dieses Gewicht ohne weiteres aushielt. Bei den paar Kilometern nach Kleindöttingen mußte man einzig darauf achten, die Schmittenbachbrücke vor Villingen zu vermeiden, aber auch dieses Problem war lösbar. Man umfuhr den ganzen Schmittenbach, indem man über den Bözberg auswich und bei Stein in die Route nach Laufenburg einbog, über welche man mühelos nach Kleindöttingen gelangte. So hatte es das Schwertransportbüro vorgesehen, und wenn alles gut ging, war der ganze Transport die Sache einer Nacht.

Um zwei Uhr in der Frühe fuhr der Superthronger bereits durch Stein, und eine halbe Stunde später war er im Schrittempo in Sisseln angelangt. Wie man weiß, fließt durch Sisseln die Sisseln, und als der Chauffeur, Herr Lätt, zur Überquerung der Sisselnbrücke ansetzte, mußte er brüsk bremsen und fuhr sofort wieder von der Brücke zurück. Was war geschehen? Herr Lätt hatte gespürt, wie sich auf der Höhe des Brükkenkopfes der Boden unter ihm leicht zu senken begann, und war daraufhin sogleich wieder rückwärts gefahren. Eine Prüfung der Lage ergab, daß sich einzelne Steine aus dem Unterbau gelöst hatten. Man beschloß hierauf, bis zum Morgen zu warten und dann einen Geologen kommen zu lassen, der ein Gutachten abgeben sollte. Herr Lätt konnte bei einer Familie Jegge übernachten und war am andern Morgen zeitig auf den Beinen, um das Urteil des Geologen zu hören. Der ließ sich aber Zeit, stocherte mit Sonden in den Böschungen herum, watete mit hohen Stiefeln durch den Bach, hantierte mit Meßbändern und Latten und machte sogar eine kleine Sprengung, bei der das Eisengeländer ein bißchen beschädigt wurde. Gegen Abend erklärte er, er habe nun genug gesehen und notiert und müsse sich zu den Berechnungen zurückziehen, berichten könne er frühestens in einer Woche. Für Herrn Lätt, der die ganze Zeit unruhig dabeigestanden hatte, war das ein unangenehmer Bescheid. Aber er schickte sich darein, ließ den Superthronger in Sisseln stehen, kettete ihn diebstahlsicher an den Wagen und ging nach Suhr zurück, wo er wohnte.

Neun Tage später traf das Schreiben des Geologen bei der Aargauer Kantonspolizei ein. Der Wissenschaftler legte darin ausführlich dar, weshalb die Brücke, vielmehr ihr geologischer Unterbau, das Gesamtgewicht des Transports nicht vertrüge, und untermauerte die Aussage mit Diagrammen und Tabellen. Damit hatte man allerdings nicht gerechnet, aber Herr Lätt wußte, was er dem Atomkraftwerk Beznau schuldig war.

Er setzte sich mit der Kantonspolizei zusammen und arbeitete eine neue Route aus, die direkteste von Sisseln nach Beznau. Die Brücke nach Döttingen war jetzt unerreichbar geworden, und so gab es keinen andern Weg, als von Norden her, also über den Rhein, nach Beznau zu stoßen, und zwar über die Brücke bei Schaffhausen, die einzige in der Nähe, die stark genug war. Einmal in Schaffhausen, galt es nur noch, die Töss zu umfahren, wegen ihrer durchwegs ungenügenden Brücken, somit über Wil. Das Toggenburg kam auch nicht in Frage, hauptsächlich wegen der Brücke bei Dietfurt, und so ging die Route über St. Gallen ins Rheintal bis nach Sargans, dann Richtung Zürich bis Sihlbrugg, von dort über Baar, Zug, Cham nach Affoltern am Albis und Dietikon und anstatt über die hohe Brücke bei Baden über die kleine, jawohl die kleine Holzbrücke bei Wettingen, die immer noch stark genug war, man mußte ihr bloß vorübergehend das Dach abnehmen und dazu eine Bewilligung des Heimatschutzes einholen, und schon war man in Beznau. Die Bewilligung würde allerdings einige Zeit brauchen, vielleicht mußte sich der Große Rat noch damit befassen, weil es ins Ressort des Baudepartements

5. Auflage

© 2003 Luchterhand Literaturverlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Fotografie Seite 2: Christian Altorfer Umschlagkonzeption und -gestaltung: R·M·E/Roland Eschlbeck unter Verwendung einer Fotografie von Franz Hohler Satz: Filmsatz Schröter, München Alle Rechte vorbehalten.

eISBN: 978-3-641-08081-5

www.luchterhand-literaturverlag.de

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