Spaziergänge - Franz Hohler - E-Book

Spaziergänge E-Book

Franz Hohler

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Beschreibung

Hohlers Spaziergänge – eine Erkundung dessen, was Heimat ist

Wissen wir eigentlich, wo wir leben? Wie die Straßen aussehen, die wir täglich entlanggehen? Wie der Frühling sich am nahe gelegenen Fluss anfühlt? In Franz Hohlers Spaziergängen bekommen wir eine Ahnung, was es in unserer nächsten Umgebung alles zu entdecken gibt, an Schönem, an Merkwürdigkeiten und auch an Aberwitz. Wir lernen wahrzunehmen und verwandeln uns langsam in Kenner von etwas, das wir zu kennen glaubten – unseren Alltag.

»Hochregallager!« Mittags, an einem kalten grauen Märztag, liest Franz Hohler dieses Wort zum ersten Mal. Er könne eines dieser Regale kaufen, legt ihm das Schild nahe, doch er zieht diesem Kauf einen kleinen Ausflug an einem Seeufer entlang vor. Ein Jahr lang hat Franz Hohler jede Woche einen Spaziergang unternommen, jede Woche gezielt einen anderen. Was er auf diesen Spaziergängen gesehen hat und was ihm beim Gehen wiederfahren und aufgefallen ist, hat er in diesem außergewöhnlichen Buch festgehalten. Ein Jahr durchleben wir mit ihm unterwegs und staunen wie er über einen hochgewirbelten Möwenschwarm oder ein Plakat, dass Gott uns suche – warum ausgerechnet uns? Seine kurzen Erzählungen sind eine Schule des Sehens und der Achtsamkeit, und nach und nach bekommen wir eine Ahnung, was Heimat heute ist und was sie sein könnte …

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Seitenzahl: 142

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Inhaltsverzeichnis

FrühlingsspaziergangAn der LimmatEgelseeKirchgangZum MeerSchwarzbubenlandNeu-OerlikonLuzernMaibummelDie ReussDrei KapellenSehr weit wegZu den TempelnDie alte StraßeMatineeDas seltsame TalIn die ÖdeZum SeeDer HausbergTraumpfadDas höchste DorfTrimbacherbrückeWeinstraßeAm WalenseeDer KönigsbergBärenUrwaldHerbstbeginnGroßvatergangPoesiekurierZur MesseFrohburgOfenlochSkulpturenwegRegitzer SpitzNach SüdenAlp BergalgaNach NordenBarbaraZum ZooFägswilDer kürzeste TagNeujahrDer GletscherVogel GryffLägerngratNach WestenBethanienWeltbibliothekDer BesuchLangsam gehenNach OstenCopyright

»Gehen« gehört zu meinen Lieblingswörtern, und so beschloss ich am 12. März 2010, ein Jahr lang jede Woche irgendwohin zu gehen, mit andern Worten, einen Spaziergang zu machen. Über alle Spaziergänge habe ich etwas geschrieben.

Hier sind sie.

 

FRANZ HOHLER

Frühlingsspaziergang

Während der ganzen zweiten Märzwoche hat es immer wieder geschneit, dazu verschärfte eine Bise die Kälte, und die Leute sprachen von nichts anderem als vom Wetter. »Das ist kein Wetter«, sagte gestern einer seufzend zu mir.

Heute morgen war es auf einmal milder, und als am Mittag die Sonne zwischen den Wolken durchschien, fuhr ich mit der S-Bahn zur Stadt hinaus. In Wallisellen las ich zum ersten Mal in meinem Leben das Wort Hochregallager. Wenn ich ein solches Lager bräuchte, könnte ich es hier gleich neben dem Bahnhof kaufen.

In Greifensee steige ich aus und gehe zum See hinunter. Woher nimmt der Himmel auf einmal sein zartes Blau? Die Treppe zum Schloss ist mit roten und weißen Ballonen geschmückt, das Tor ist geöffnet, ein Fest kündigt sich an. Am Seeufer steht ein Hochzeitspaar unter einem großen Weidenbaum und nimmt für den Fotografen verschiedene Posen ein, einmal halten sich die beiden so, als ob sie tanzen würden, ein anderes Mal schauen sie sich innig in die Augen. Dahinter wartet das Schloss auf sie, das Schloss, dessen ganze Besatzung im alten Zürichkrieg vor ein paar hundert Jahren nach einer langen Belagerung von den Innerschweizern erbarmungslos geköpft wurde.

Ich schlage den Uferweg ein, er ist teils schneebedeckt, teils schlammig. Schmelzwasserpfützen zwingen zu hüpfenden Ausweichschritten. Eine Fußgängerbrücke überquert ein kleines Schleusenwerk, das den Ausfluss des Sees in die Glatt verwaltet. Im Wasser haben sich Äste angesammelt, ein Blässhuhn kommt mit einem dünnen Zweig im Schnabel angeschwommen und legt ihn auf die Äste. Die Aussicht auf den See wird nun durch einen Schilfgürtel verdeckt, aber das Geschrei der Wasservögel lässt keinen Zweifel an dessen Existenz.

Als mir ein Wegweiser nach einer knappen Stunde mitteilt, bis Maur sei es nochmals eine Stunde, biege ich nach Fällanden ab, das näher liegt. Bei der Post versuche ich aus einer Telefonkabine meine Mutter im Altersheim anzurufen, aber sie ist offenbar nicht im Zimmer. Da der Bus nach Zürich noch nicht gleich fährt, betrete ich ein Restaurant, aus dessen oberen Stockwerken zwei große Schweizerfahnen hängen, rote Flammen auf weißem Grund laufen auf das Schweizerkreuz in der Mitte zu.

Ich trinke einen Espresso. Da sei doch so ein Inder vor dem SPAR gesessen kürzlich und habe auf einem Instrument mit einer einzigen Saite gekratzt, sagt einer am Nebentisch, da sei er zu ihm hingegangen und habe ihm gesagt, ob er glaube, er gebe ihm etwas, wenn er so grausig spiele. Da ziehe es einem ja die Arschbacken zusammen.

Später, im Bus, steigen zwei Asiaten ein, einer setzt sich neben mich. In Dübendorf lese ich auf dem Dach eines Hochhauses »GOTT SUCHT DICH«. Ich erschrecke ein bisschen, wieso gerade mich, was hat er mit mir vor? Der Bus nimmt das Himmelsblau mit in die Stadt. Die beiden Asiaten reden in einer mir unverständlichen Sprache miteinander. Kurz vor der Endstation Stettbach steigt einer von ihnen aus, bei der Haltestelle »Hoffnung«.

 

12. 3. 2010

An der Limmat

Über dem Wehr in Dietikon kreisen große Möwenschwärme, von einem Zufallsgenerator hochgewirbelt. Welches Ufer wohl das schönere ist? Beide sind als Wanderwege markiert; ich entscheide mich für das linke.

Kaum bin ich aufgebrochen, fährt auf der andern Seite eine bunt bemalte zweispännige Pferdekutsche voll fröhlicher Kinder daher. Später sehe ich mit Genugtuung, dass der Weg drüben komplizierter wird, Kiesbänke und Nebengewässer zwingen zum Ausweichen.

Eine Tafel weist mich darauf hin, dass auf dem gegenüberliegenden Ufersteilhang ein Eisvogelpaar seine Bruthöhle gegraben hat und dass die Vögel äußerst störungsempfindlich seien. Ich bleibe ein bisschen stehen, wer weiß, ob sich eines der seltenen Tiere zeigt. Oder brüten sie noch gar nicht?

Dann kreuzt die Autobahn den Fluss, und eine mobile Hölle aus Autos, Lastwagen, Schwertransportern und Sattelschleppern zieht knatternd und röhrend über die Brücke. Am darüberliegenden Steilhang haben sich die Häuser von Oetwil eingenistet. Diese Brutplätze schützt niemand, sie scheinen weniger störungsempfindlich zu sein.

Nach der Brücke mahnt eine grüne Tafel ein Naturschutzgebiet an, »Unterlasset jegliches Pflücken von Blumen«, gebietet ein Imperativ aus dem tiefsten letzten Jahrhundert, und gleich dahinter erhebt sich eine Industrieanlage mit einem rotweiß gestrichenen Hochkamin. Sie dürfte weniger alt sein als die Tafel.

Langsam verliert sich der Motorendonner, aus dem Waldstreifen zur Linken singt ein Vogel immer dieselben drei Töne, zwei gleich hohe und den dritten eine Quart tiefer. Umgekehrt wäre es der Beginn eines Wanderliedes, aber das kann der Vogel nicht wissen. Was kurz danach von ferne zu hören ist, müssen Saxofonklänge sein.

Eine Insel in der Limmat, die aussieht, als habe sie die letzte Eiszeit geschaffen, sei im 19. Jahrhundert entstanden, als man einen Kanal für eine Baumwollspinnerei grub. Dies wird mir auf einer Tafel erklärt, ohne dass ich danach gefragt habe. Heute ist daraus ein Picknick- und Badeinselchen geworden, ich betrete es über den Fußgängersteg und sehe jetzt den Saxofonspieler, der an einem Hang über dem andern Ufer steht und in die zärtliche Frühlingsluft hinein improvisiert. Als er einmal absetzt, klatsche ich, und er spielt sogleich weiter.

Nach der Insel erscheinen hinter dem kleinen Uferwaldgürtel Fronten von Lagerhäusern, unten ein Totarm des Flusses, der noch gefroren ist, aber nicht so, dass man draufstehen möchte. Er wird schmelzen, die Lagerhäuser nicht. Die Musik wird langsam ausgeblendet.

Auf einmal ist die Hölle wieder da, diesmal durch eine hohe Glaswand vom Fußweg getrennt, der eine Weile neben der Motorenhorde her führt, bevor man unter einer Brücke hindurch zum Bahnhof Spreitenbach abzweigen kann, durch den in kurzer Folge Schnellzüge und endlose Güterzüge mit Kies- und Zisternenwagen durchfahren, und zuletzt eine einzelne Lokomotive. Ihr Pfiff wirkt fast verzweifelt, als habe sich ihr Zug davongemacht, auf eine Märzenreise, flussabwärts.

 

18.3.2010

Egelsee

Als ich letzte Woche am Bahnhof Killwangen-Spreitenbach ankam, sah ich dort einen Wegweiser »Egelsee« und »Hasenburg« und »Mutschellen« und dachte, da muss ich hingehen. Am Egelsee war ich zum letzten Mal vor mindestens 30 Jahren, ich spielte damals den Familienvater, der seine Frau, die beiden Kinder und den Hund am Sonntag an einen schönen Ort bringt.

Etwas Geduld und auch etwas Vertrauen braucht es schon, wenn man den gelben Wanderwegzeichen folgt, die einen durch gleichförmige Wohnblockgegenden lotsen. Vom Trottoir dampfen immer wieder frische Asphaltstreifen, mit welchen Risse übertüncht sind, nach einer Weile hole ich die Arbeiter ein, von denen einer mit einer Stange langsam ein Kästchen über den Boden führt, in das der andere ebenso langsam den heißen Asphalt gießt. Später komme ich an einem Spielplatz vorbei, wo viele junge Frauen in der Sonne sitzen und ihren Kindern beim Spielen zuschauen, während sich gerade ein Lastwagen klirrend den Inhalt der Glassammelcontainer einverleibt.

Dann aber endlich die Abzweigung in den Wald. Er verspricht Erholung, Entspannung, Beruhigung. Seine Nachricht an uns: Es gibt mehr Bäume als Häuser. Doch außer mir will sich heute kaum jemand entspannen. Einmal begegne ich einer Frau, die ein Kind auf einem Pferd neben sich herführt. Die Frau grüßt mich lächelnd, das Kind, mit Helm und Stiefeln als Reiterin ausgerüstet, blickt sehr ernst auf den Weg.

Ein Bächlein kommt mir entgegen, sein Plätschern empfinde ich als frühlingshaft, obwohl es im Sommer bestimmt genauso plätschert. Nach einem längeren Anstieg stehe ich vor dem Egelsee, er liegt, halb Traum, halb Märchen, in einer Talfurche zwischen einem Abhang und einer Geländeschulter. Zu meiner Überraschung ist er noch größtenteils zugefroren. Zwei Enten marschieren gerade vom einen Ufer zum andern. Ich glaube, sie würden lieber schwimmen. Klein ist er, aber sehr tief soll er sein. Das Uferschilf ist höher als ich. Dort, wo ich den Zufluss erwarte, geht der See in ein kleines Moor über. Man hat ihn und seine Umgebung zum Naturschutzgebiet erklärt, und nun gehe ich an steilen Hängen entlang, neben mir öffnet sich eine Senke, in der gestürzte Baumriesen kreuz und quer daliegen, ein erratischer Block, mit Moos überzogen, träumt von seiner Reise aus den Alpen hierher; als ich aus dem Wald trete, liegen diese im Dunst und sind nicht zu erkennen. Das Restaurant »Hasenburg«, an dem eine chinesische Flagge flattert, ist nicht geöffnet, es spricht englisch, »closed« sagen seine Schilder, zwei Behinderte aus dem Heimgelände daneben rufen mir verstümmelte Worte zu, und so dauert es noch eine halbe Stunde, bis ich meinen wachsenden Durst in einem Restaurant neben der Bahnhaltestelle Mutschellen stillen kann, einem Restaurant, das mit Sheriffplakaten, Sporenstiefeln, Cowboyhüten, Winchesterflinten und alten Coca-Cola-Tragkörben amerikanischer ausgestattet ist als jedes Restaurant in Amerika.

Auf der Fahrt mit der Bremgarten-Dietikon-Bahn lese ich in einem zerfledderten »Blick«, dass unser Starmeteorologe in Deutschland in Untersuchungshaft sitzt.

Beim Umsteigen im Bahnhof Hardbrücke kaufe ich einem Arbeitslosen, den ich kenne, eine Straßenzeitung ab und erfahre, dass die Langhornbiene zum Tier des Jahres erklärt wurde.

 

23.3.2010

Kirchgang

Nach einem winterkalten und trüben Tagesanfang hat sich die Sonne durchgesetzt. Nachmittags um fünf Uhr gibt es in der Augustinerkirche eine Karfreitagsmette, die ich besuchen möchte.

Sollte man zur Kirche nicht zu Fuß gehen? Die Augustinerkirche ist im Stadtzentrum, ich wohne in Oerlikon. Wir sind durch die Regelmäßigkeit des Tram- und Busverkehrs so verwöhnt, dass uns das Distanzgefühl innerhalb der Stadt zu entgleiten droht.

Etwas über eine Stunde wird es schon sein, denke ich, und breche um zwanzig vor vier auf. Das Aprikosenspalier am Nachbarhaus blüht verschwenderisch, eine Amsel ist zu hören, und aus jedem zweiten Garten senden Forsythien ihre gelben Lichtstrahlen aus. Die Zeichen stehen auf Frühling und auf Feiertag, schon leere Parkplätze haben etwas Besinnliches.

Einer virtuellen Diagonale entlanggehend, der ich nach dem Prinzip »eine Straße rechts, eine links« zu folgen versuche, komme ich an Schrebergärten vorbei, in denen ausgerupft, umgestochen und eingepflanzt wird, passiere den jüdischen Friedhof Steinkluppe, der hinter dem stets geschlossenen Tor vor sich hin dämmert, und dann bin ich bereits in Straßen, die ich nicht kenne.

Auf einer davon treffe ich, am Arm seiner Frau, den Stadtrat, der vorgestern nach zwanzig Jahren im Amt pensioniert wurde; ich grüße die beiden und wünsche dem sichtlich beschwingten Paar alles Gute.

Später gehe ich durch eine kleine Straße mit kleinen Häusern, vor denen Fahrräder und Kinderspielzeuge stehen, auf dem Trottoir haben die Anwohner zwei, drei lange Tische aufgestellt, auf denen noch die Reste eines reichen Picknicks zu sehen sind.

Der Fußweg an der Limmat, in den ich nun einbiege, führt eine Weile neben dem Autobahnzubringer her. Auf einer jener Metalltüren, die wie ein Geheimnis in eine Mauer eingelassen sind und doch meist nur Schalttafeln, Kabel oder Straßenunterhaltszubehör verbergen, steht die Sprayaufschrift »Feed the pigeons!«.

Über den Neumühlequai plagt sich ein unglaublich dichter Straßenverkehr. Zwei Afrikaner mit österlich bedruckten, dick gefüllten MIGROS-Tragtaschen kreuzen mich lebhaft plaudernd, sie kommen vom Hauptbahnhof her, wo man auch an Festtagen einkaufen kann. Ein anderer sitzt rittlings auf der Quaimauer und zieht aus einer ebensolchen Tasche genussvoll ein Sandwich. Ein junges Paar schaut lachend zu den Plakaten des Sexkinos »Walche« hinüber.

Beim Schiffssteg des Landesmuseums hupt die »Regula«, bevor sie ihre Fahrt zum See aufnimmt. Auf dem Limmatquai flanieren so viele Leute, dass ich meinen regelmäßigen Schritt nicht einhalten kann.

Über die Gemüsebrücke gehe ich auf der Suche nach der Karfreitagstrauer in die Altstadt hinüber, erreiche die Augustinerkirche um fünf vor fünf und singe dort in der Lamentationsliturgie so rätselhafte Verse mit wie

»Nicht Opfer willst du, sonst würd ich sie bringen,

Brandopfer sind vor dir nicht angenehm«.

Als ich nachher an der Tramhaltestelle auf den Elfer für die Heimfahrt warte, trippeln drei Tauben erwartungsvoll um mich herum, but I don’t feed them.

 

2.4.2010

Zum Meer

Heute Morgen erwachte ich schon um sechs im kleinen Gästehaus unserer Freunde, denn der ganze Hang bis hinunter nach Bonassola war von leidenschaftlichem Amselgesang erfüllt. Ein Wettstreit von Solisten war im Gang, die mit Schönheit um sich warfen, um ihre Reviere anzuzeigen, und orchestriert wurden sie von der schweren Brandung des Meeres, in das sich ab und zu das Geräusch eines durchfahrenden Zuges mischte. Mit diesem Geschenk für die Ohren schlief ich wieder ein.

Am Vormittag, der bedeckt und windig war, brachten uns unsere Freunde eine Zeitung mit der verstörenden Nachricht vom Absturz des polnischen Regierungsflugzeuges in Katyn. Als nach dem Mittag der Himmel zu seiner Bläue zurückfand, die man von ihm im Frühling am Mittelmeer erwartet, brachen meine Frau und ich zu einem Spaziergang auf.

An einer Kirche vorbei, deren rosaroter Verputz blättert und deren Eingang von zwei beachtlichen Nischen mit leeren Konsolen gesäumt ist, bereit, jeden Heiligen aufzunehmen, biegen wir in ein kleines Tal ein, einer seltsamen Mischung aus trockenem Föhrenwald und üppigem Regenwald, in dem Büsche und Laubbäume von Nielen überwachsen und von Efeu umschlungen werden.

Riesige Föhrenzapfen liegen unwiderstehlich herum, wir bücken uns, lesen den einen oder andern auf und stecken ihn in eine kleine Tasche, doch die schönsten kommen erst, als diese voll ist. Beim kleinen Fußballfeld des Dorfes Montaretto zeugen Weinflaschen und Champagnerkorken von vergangenen Siegen, und an einem Hügel entlang steigen wir weiter in die Höhe, bis wir auf die ligurische Küste wie auf eine Landkarte hinuntersehen können.

Auf diese Küste bewegen wir uns jetzt zu, langsam zu einem kleinen Pass absteigend, von dem es nochmals etwas hinaufgeht, bis zu einem Aussichtspunkt, der Salto della lepre genannt wird, also Hasensprung. Der Blick geht nun auf die ganze Weite des Horizonts. Weit draußen, kurz bevor der dunkle Rand des Meeres mit den bläulichen Dunstbänken des Himmels zusammentrifft, zieht ein Frachtschiff seine Spur. Das wäre eigentlich der Ort für ein paar Bänke oder einen Familienpicknickplatz, aber da ist ein alter, baufälliger Bunker in die Erde eingelassen, in dessen Innern Orangenschalen und zerquetschte Bierdosen am Boden liegen und an den Wänden mehrmals das Wort »RITMO« als rätselhafte Parole steht.

Punta della Madonnina heißt eine Klippe, auf der eine Kapelle steht. Kann es sein, dass die kleine Madonna in den großen Stürmen die Seefahrer beschützt?

Am Strand von Bonassola erklettere ich einen Felsen, der ins Meer hineinragt, setze mich und lasse mich eine Weile vom Gefühl treiben, ich sitze auf einem Schiff, an dessen Bug mächtige Wellen zerschellen und ihre Gischt links und rechts in die Höhe spritzen. Doch, denke ich, doch, es könnte sein, wenn ich lang genug daran glaube.

Danach gehen wir eine halbe Stunde wieder den Hang hinauf. Kurz, bevor wir bei unserm Gästehaus ankommen, grüßen wir einen alten Mann, der an einem Stock daherschlurft. Er fragt, ob wir einen Spaziergang gemacht haben, und nickt anerkennend, als wir unser Ausflugsziel erwähnen.

Ich frage ihn, ob der Salto della lepre im Krieg stark befestigt gewesen sei, und er sagt, ja, dort seien Kanonen gestanden, und zwar schon im Ersten Weltkrieg, dem von 15 bis 18. Ich weiß nicht mehr, auf wen Italiens Kanonen damals gerichtet waren und warum, aber ich weiß, dass am Kirchlein von Montaretto eine Gedenktafel für sieben Männer des Dorfes hängt, die in jenem Krieg ums Leben kamen.

Dann wünschen wir uns einen schönen Abend.

 

11.4.2010

Schwarzbubenland

Nach der Ankunft in Nuglar, im Mekka der Kirschbäume, wird beim Gang in die berühmte Wiese oberhalb des Dorfes klar: Wir sind noch etwas zu früh für die volle Blüte der Bäume.

Dennoch stehen schon einige am Wegesrand wie die Vorgruppe des großen Konzerts und zeigen uns, wozu ihre Zweige imstande sind.

Wir gehen zum Waldrand hinauf, mein älterer Sohn und ich, und werden dann von einem handgeschnitzten Wegweiser verlockt, der die »Herrenfluh« anpreist. Die Kirschbäume ihrem weiteren Wachstum überlassend, folgen wir einem steilen Waldpfad und kommen nach einer Weile auf einem Aussichtspunkt an, der zum angekündigten Namen passt. Von einem Kalkfelsen blicken wir auf das sanfte Wellenmeer des Juras, aus dem kein Solist herausragt, den ich identifizieren könnte.

Der Weg über den Kamm ist eine kleine Gratwanderung, Föhren und unzählige Lorbeerbäume wirken seltsam südlich, ebenso das riesige Kreuz auf einer weiteren Fluh, und während des Abstiegs im Wald ein Bildstock mit einer Madonna, an einem Baum hängend, darunter ein welkes Blumensträußlein mit einer Grabkerze.

Auf dem Postplatz von Büren lassen wir den Bus nach Liestal abfahren und steigen hinauf zur Anhöhe, hinter der Seewen liegt.