Die Katze im Taubenschlag - Agatha Christie - E-Book

Die Katze im Taubenschlag E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

 Ausgerechnet in einem exklusiven, behüteten Mädcheninternat kommt es zu sehr unschönen Zwischenfällen, angefangen mit nächtlichen Schüssen in der Turnhalle. Neiden sich die Kolleginnen etwa gegenseitig ihre Stellungen? Eine entführte Schülerin und eine ermordete Lehrerin später ist klar: Man hat es mit einem Verbrechen internationalen Formats zu tun, und es gibt nur einen, der die vielen in der Schule zusammenlaufenden Fäden entwirren kann - Hercule Poirot. 

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Seitenzahl: 287

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Agatha Christie

Die Katze im Taubenschlag

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Dorothea Gotfurth

Atlantik

Prolog

Es war der erste Tag nach den Osterferien im Internat Meadowbank. Die Strahlen der späten Nachmittagssonne fielen über den breiten, kiesbestreuten Weg, der zum Schulhaus führte. In der weit geöffneten Haustür stand Miss Vansittart, für die der georgianische Stil des Hauses den idealen Rahmen abgab. Sie trug einen elegant geschnittenen Mantel mit einem passenden Rock und eine tadellos sitzende Frisur.

Es gab Eltern, die sie für Miss Bulstrode selbst hielten; sie ahnten nicht, dass sich die Schulleiterin in ihre Privatgemächer zurückzuziehen pflegte, in die nur wenige bevorzugte Besucher vorgelassen wurden.

Neben Miss Vansittart stand Miss Chadwick – nicht ganz so huldvoll, nicht ganz so vornehm, jedoch überaus freundlich und zuvorkommend. Sie wusste über alles Bescheid und schien mit dem Mädchenpensionat Meadowbank so eng verbunden zu sein, dass man sich die Schule ohne sie kaum vorstellen konnte. Tatsächlich war das Internat von Miss Chadwick und Miss Bulstrode gemeinsam gegründet worden.

Miss Chadwick trug einen Kneifer, war unmodern gekleidet, ging in gebückter Haltung, drückte sich oft etwas unklar aus und war eine geniale Mathematikerin.

Miss Vansittart begrüßte Eltern und Schülerinnen mit liebenswürdigen Worten und Gesten.

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs Arnold … Wie war die Griechenlandreise, Lydia?«

»Jawohl, Lady Garnett, Miss Bulstrode hat Ihren Brief erhalten und die Kunstgeschichtsstunden arrangiert.«

»Wie geht es Ihnen, Mrs Bird? … Ich fürchte, Miss Bulstrode wird heute keine Zeit haben, die Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen. Möchten Sie sich vielleicht inzwischen mit Miss Rowan unterhalten?«

»Wir haben Ihnen ein anderes Zimmer gegeben, Pamela. Sie sind jetzt im äußersten Flügel, gegenüber dem Apfelbaum …«

»Ja, bisher war dieser Frühling nicht sehr schön, Lady Violet. Furchtbar schlechtes Wetter … Ist das Ihr Jüngster? Wie heißt er? Hector? … Du hast wirklich ein prachtvolles Flugzeug, Hector.«

»Très heureuse de vous voir, Madame … Je regrette, ce ne sera pas possible cet après-midi. Mademoiselle Bulstrode est tellement occupée.«

»Guten Tag, Professor. Haben Sie inzwischen wieder interessante Ausgrabungen gemacht?«

 

In einem kleinen Zimmer im ersten Stock saß Ann Shepland, Miss Bulstrodes Sekretärin, an der Schreibmaschine. Sie tippte schnell und ordentlich. Ann war eine gut aussehende junge Frau von fünfunddreißig; ihr glattes schwarzes Haar wirkte wie eine eng anliegende Satinkappe. Wenn sie wollte, konnte sie charmant und reizvoll sein, aber das Leben hatte sie gelehrt, dass man mit Fleiß und Tüchtigkeit oft bessere Resultate erzielte und gleichzeitig peinliche Verwicklungen vermied. Im Augenblick konzentrierte sie sich darauf, die erstklassige Sekretärin der Leiterin einer berühmten Schule zu sein.

Hin und wieder, wenn sie ein neues Blatt einspannte, blickte sie aus dem Fenster, um die Neuankömmlinge zu betrachten.

»Phantastisch! Ich wusste gar nicht, dass es in England noch so viele hochherrschaftliche Chauffeure gibt«, sagte sie leise vor sich hin.

Sie musste unwillkürlich lächeln, als ein majestätischer Rolls-Royce abfuhr und ein kleiner, altmodischer Austin vor dem Eingang hielt. Ein sehr nervöser Vater, gefolgt von einer bedeutend gelassener wirkenden Tochter, stieg aus dem Wagen. Er sah sich unsicher um, und sofort ging Miss Vansittart auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.

»Major Hargreaves? Und das ist also Alison? Bitte treten Sie doch ein. Sie möchten sicherlich Alisons Zimmer sehen, nicht wahr?«

Ann grinste und begann wieder zu tippen.

»Gute alte Vansittart«, murmelte sie. »Sie hat der Bulstrode wahrhaftig alles abgeguckt. Sie benutzt sogar die gleichen Redewendungen.«

Jetzt fuhr ein geradezu unwahrscheinlich mächtiger Cadillac vor. Der zweifarbige Wagen war azurblau und himbeerfarben lackiert und so lang, dass er nur mit Mühe um die Ecke biegen konnte.

Er hielt hinter Major Hargreaves’ altem Austin.

Der Chauffeur riss den Wagenschlag auf. Ein stattlicher, dunkelhäutiger bärtiger Mann, umhüllt von einem wallenden orientalischen Gewand, stieg aus; ihm folgten eine nach letztem Pariser Schick gekleidete Dame und ein schlankes, schwarzhaariges Mädchen.

Das muss die Prinzessin Soundso sein, dachte Ann. Ich kann sie mir beim besten Willen nicht in einer Schuluniform vorstellen …

Jetzt näherten sich Miss Vansittart und Miss Chadwick gleichzeitig den Besuchern.

Die werden ins Allerheiligste geführt, entschied Ann.

Dann überlegte sie sich, dass es wohl nicht schicklich sei, sich über eine so respektable Persönlichkeit wie diese Bulstrode lustig zu machen.

Nimm dich lieber zusammen und mach keine Tippfehler, ermahnte sie sich.

Aber im Allgemeinen arbeitete Ann tadellos und konnte sich ihre Stellungen aussuchen. Sie war sowohl beim Direktor einer Ölgesellschaft wie bei Sir Mervyn Todhunter als Privatsekretärin tätig gewesen, außerdem bei zwei Ministern und bei einem hohen Beamten. Bisher hatte sie allerdings immer für Herren der Schöpfung gearbeitet und fragte sich nun, ob sie sich wohl an eine Umgebung gewöhnen würde, die ausschließlich aus Frauen bestand. Wie dem auch sei, es war einmal eine Abwechslung, und man konnte ja immer auf den treuen Dennis zurückgreifen! Dennis änderte sich nie; ob er aus Burma kam, von den Malaiischen Inseln oder aus irgendeinem anderen Teil der Welt, machte nicht den geringsten Unterschied. Er fragte sie jedes Mal bei seiner Rückkehr, ob sie ihn nicht doch heiraten wolle. Der gute Dennis! Leider wäre es recht langweilig, mit ihm verheiratet zu sein, fand Ann.

In der unmittelbaren Zukunft musste sie jedenfalls auf Herrengesellschaft verzichten, denn bis auf einen achtzigjährigen Gärtner gab es hier nur junge Mädchen und mehr oder weniger vertrocknete Lehrerinnen. Doch in diesem Augenblick erlebte Ann eine angenehme Überraschung. Als sie zum Fenster hinaussah, entdeckte sie einen jungen, gut aussehenden Mann – zweifellos auch ein Gärtner –, der die Hecke bei der Einfahrt stutzte. Er machte nicht den Eindruck eines Bauernburschen, aber heutzutage verdienten sich ja junge Leute aus den verschiedensten Kreisen etwas zusätzlich. Allerdings schien er sich auf seine Arbeit zu verstehen, denn er beschnitt die Hecke schnell und geschickt. Wahrscheinlich war er eben doch ein gewöhnlicher Gärtner.

Eigentlich sieht er sehr nett und lustig aus, dachte Ann …

Erfreulicherweise hatte sie nur noch einen Brief zu schreiben, danach würde sie einen Spaziergang durch den Garten machen …

 

Miss Johnson, die Hausmutter, war damit beschäftigt, neuen Schülerinnen ihre Zimmer anzuweisen und die alten herzlich zu begrüßen. Sie freute sich, dass die Schule wieder begann, denn während der Ferien wusste sie nicht viel mit ihrer Zeit anzufangen. Sie hatte zwei verheiratete Schwestern, die sie abwechselnd besuchte und die sich begreiflicherweise mehr für ihre eigenen Familien interessierten als für das Leben und Treiben in Meadowbank. Miss Johnson dagegen, obgleich sie pflichtschuldigst an ihren Schwestern hing, interessierte sich ausschließlich für Meadowbank.

»Miss Johnson?«

»Ja, Pamela?«

»Ach, Miss Johnson, in meinem Koffer muss etwas ausgelaufen sein, ich glaube, es ist mein Haarwasser, und jetzt ist alles durchnässt. Was soll ich nur tun?«

»Kein Anlass zur Aufregung, Pamela. Ich komme schon!«

 

Mademoiselle Blanche, die neue Französischlehrerin, schlenderte über die Rasenfläche hinter dem breiten Kiesweg. Sie betrachtete wohlgefällig den kräftigen jungen Mann, der die Hecke stutzte.

Assez bien, dachte Mademoiselle Blanche.

Mademoiselle Blanche war ein dünnes, nicht sehr bemerkenswertes weibliches Wesen; sie selbst allerdings bemerkte alles.

Sie betrachtete die Prozession der eleganten Wagen, die vor dem Haus vorfuhren. Die meisten Schülerinnen von Meadowbank schienen schwer reiche Eltern zu haben – formidable! Miss Bulstrode musste enorm verdienen!

Miss Rich, die Englisch und Erdkunde lehrte, ging mit schnellen Schritten auf das Haus zu. Hin und wieder stolperte sie, denn wie gewöhnlich achtete sie nicht auf den Weg. Sie hatte ein hässliches, aber intelligentes Gesicht und trug einen unordentlichen Haarknoten.

»Wieder hier zu sein … hier … es ist, als wären Jahre vergangen …« Und mit diesen Worten fiel sie über einen Rechen; der Gärtner streckte seinen Arm aus und sagte: »Vorsicht, Miss!«

»Vielen Dank«, flüsterte Miss Eileen Rich, ohne aufzublicken.

 

Miss Rowan und Miss Blake, die beiden jungen Hilfslehrerinnen, gingen langsam auf die Turnhalle zu. Miss Rowan war schlank, dunkel und empfindsam, Miss Blake blond und mollig. Sie unterhielten sich angeregt über ihre Ferienabenteuer in Florenz – über die Bilder, die Skulpturen, die herrliche Landschaft sowie über die Aufmerksamkeiten von zwei jungen Italienern.

»Na, man kennt ja die Italiener«, meinte Miss Blake abfällig.

»Überhaupt nicht verklemmt«, erklärte Miss Rowan, die nicht nur Volkswirtschaft, sondern auch Psychologie studiert hatte. »Sie folgen ihren gesunden Instinkten, sie haben keine Komplexe.«

»Giuseppe war sehr beeindruckt, als er hörte, dass ich Lehrerin in Meadowbank bin«, sagte Miss Blake. »Er benahm sich daraufhin höchst respektvoll. Seine Cousine würde gern herkommen, aber Miss Bulstrode scheint im Augenblick nicht daran interessiert zu sein.«

»Meadowbank genießt allgemein großes Ansehen«, stellte Miss Rowan zufrieden fest. »Die neue Turnhalle macht wirklich einen guten Eindruck; ich hätte nicht geglaubt, dass sie rechtzeitig fertig sein würde.«

»Miss Bulstrode hat darauf bestanden«, erwiderte Miss Blake.

Gleich darauf stieß sie ein erstauntes »Oh!« aus.

Die Tür der Turnhalle wurde mit einem Ruck aufgestoßen, und eine knochige, rothaarige junge Person kam heraus. Sie warf ihnen einen unfreundlichen Blick zu und ging schnell fort.

»Das muss die neue Turnlehrerin sein«, sagte Miss Blake kopfschüttelnd. »Wie ungeschliffen.«

»Scheint keine sehr sympathische neue Kollegin zu sein«, meinte Miss Rowan. »Schade, Miss Jones war so freundlich und umgänglich.«

»Warum hat sie uns eigentlich so wütend angesehen?«, fragte Miss Blake gekränkt …

 

Die Fenster von Miss Bulstrodes Wohnzimmer gingen in zwei verschiedene Richtungen; von dem einen überblickte man die kiesbestreute Einfahrt und die dahinterliegende Rasenfläche, von dem anderen sah man auf eine Rhododendronhecke an der Rückseite des Hauses. Das Zimmer war eindrucksvoll, aber Miss Bulstrode selbst war noch eindrucksvoller. Sie war groß und wirkte sehr vornehm; ihre grauen humorvollen Augen passten zu dem sorgfältig frisierten Haar und dem festen Mund. Der Erfolg der Schule beruhte ausschließlich auf der Persönlichkeit ihrer Leiterin. Das Internat war eine der teuersten Schulen in England, aber es lohnte sich, das hohe Schulgeld zu bezahlen. Die Eltern wussten, dass ihre Töchter in ihrem Sinn, und auch im Sinn von Miss Bulstrode, erzogen wurden – das Ergebnis war im Allgemeinen mehr als zufrieden stellend.

Miss Bulstrode konnte es sich leisten, genügend Personal anzustellen, und die Lehrerinnen fanden Zeit, sich mit den individuellen Problemen und Begabungen ihrer Schülerinnen zu beschäftigen und gleichzeitig eine straffe Disziplin aufrechtzuerhalten. Disziplin ohne Zwang und Drill – das war Miss Bulstrodes Motto. Sie war der Ansicht, dass die Einhaltung gewisser Regeln jungen Menschen ein Gefühl der Sicherheit gab, während die übertriebene Disziplin des Kasernenhofs nur schaden konnte. Sie hatte die verschiedenartigsten Schülerinnen. Es gab unter ihnen viele Ausländerinnen, oft sogar ausländische Prinzessinnen. Die jungen Engländerinnen waren größtenteils reiche Mädchen aus guter Familie, die nicht nur in Kunst und Wissenschaften, sondern auch im Umgang mit ihren Mitmenschen ausgebildet wurden. Nach Verlassen der Schule mussten sie in der Lage sein, sich an jeder Unterhaltung mit der notwendigen Sachkenntnis zu beteiligen. Einige der jungen Mädchen legten Wert darauf, hart zu arbeiten, um sich auf die Examen vorzubereiten, die für ein Universitätsstudium erforderlich waren, während andere in den gewöhnlichen Mädchenschulen nicht recht vorangekommen waren. Aber Miss Bulstrode hatte gewisse Prinzipien; sie nahm keine geistig zurückgebliebenen oder schwer erziehbaren Mädchen auf, und sie zog es vor, Schülerinnen zu haben, deren Eltern sie mochte. Wie jede Lehrerin legte sie natürlich Wert darauf, möglichst vielversprechende und intelligente Kinder zu erziehen. In Meadowbank gab es Schülerinnen jeden Alters, fast erwachsene junge Damen, die nur noch den letzten Schliff erhalten sollten, und eine Reihe von kleinen Mädchen, deren Eltern oft im Ausland lebten. Für diese Kinder besorgte Miss Bulstrode auf Wunsch auch einen geeigneten Ferienaufenthalt.

Über alle wichtigen Fragen hatte allein Miss Bulstrode zu entscheiden. Jetzt stand sie beim Kaminsims, während Mrs Gerald Hope mit weinerlicher Stimme über ihre Tochter sprach. Miss Bulstrode hatte ihre Besucherin, in weiser Voraussicht, nicht aufgefordert, sich zu setzen.

»Henrietta ist ein sensibles Kind – hypersensibel, wie unser Hausarzt feststellte, und …«

Miss Bulstrode nickte zustimmend, obwohl sie am liebsten geantwortet hätte: Wissen Sie wirklich nicht, dass jede Mutter ihr Kind für besonders empfindsam hält? Stattdessen sagte sie:

»Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs Hope. Eine unserer Damen, Miss Rowan, ist voll ausgebildete Psychologin. Sie werden erstaunt sein, wie gut Henrietta sich unter ihrem Einfluss in kurzer Zeit entwickeln wird.«

»Davon bin ich überzeugt, Miss Bulstrode. Ich weiß, wie sehr sich die kleine Lambeth hier verändert hat – ganz erstaunlich. Nein, ich mache mir ja eigentlich keine Sorgen um Henrietta … übrigens möchten wir sie in sechs Wochen mit nach Südfrankreich nehmen …«

»Tut mir leid, das ist unmöglich«, erklärte Miss Bulstrode höflich, aber entschieden.

»Aber ich bitte Sie …« Ein ärgerliches Rot breitete sich über Mrs Hopes törichtes Gesicht. »Darauf muss ich leider bestehen, schließlich handelt es sich um mein Kind.«

»Und um meine Schule«, entgegnete Miss Bulstrode.

»Ich habe das Recht, meine Tochter jederzeit aus der Schule zu nehmen. Wollen Sie das vielleicht bestreiten?«

»Durchaus nicht, aber in diesem Fall würde ich mich weigern, sie später wieder aufzunehmen.«

Mrs Hopes Ärger drohte in einen Wutanfall auszuarten.

»Das geht mir denn doch zu weit! Ich bezahle ein enorm hohes Schulgeld, und dafür …«

»Sie bezahlen das bei uns übliche Schulgeld, weil Sie Wert darauf legen, Ihre Tochter zu uns zu schicken, nicht wahr?«, unterbrach Miss Bulstrode sie. »Aber Sie müssen uns so nehmen, wie wir sind; Sie können uns ebenso wenig ändern wie das bezaubernde Balenciaga-Modell, das Sie tragen. Es ist doch Balenciaga? Man findet nur wenige Frauen mit einem so sicheren Geschmack wie Sie, liebe Mrs Hope.«

Miss Bulstrode reichte ihr huldvoll die Hand und geleitete sie zur Tür.

»Machen Sie sich bitte keine Sorgen um Henrietta – oh, hier ist sie ja!« Miss Bulstrode betrachtete Henrietta wohlwollend; sie war ein nettes, intelligentes, ausgeglichenes Mädchen, das eine bessere Mutter verdient hätte. »Bitte bringen Sie Henrietta Hope zu Miss Johnson, Margaret.«

Miss Bulstrode zog sich in ihr Wohnzimmer zurück und empfing kurz darauf weitere Besucher, mit denen sie Französisch sprach.

»Selbstverständlich kann Ihre Nichte Tanzstunden nehmen, Exzellenz. Moderne Gesellschaftstänze und Sprachen gehören unbedingt zu einer gesellschaftlichen Erziehung.«

Die Wolke teuren Parfüms, die ihren nächsten Besuchern voranschwebte, nahm Miss Bulstrode fast den Atem.

Sie scheint jeden Tag eine ganze Flasche zu verbrauchen, dachte Miss Bulstrode, während sie die elegante dunkelhäutige Frau begrüßte.

»Enchantée, Madame.«

Madame lächelte liebenswürdig.

Der orientalisch gekleidete Mann mit dem dunklen Vollbart verbeugte sich, ergriff Miss Bulstrodes Hand und sagte in ausgezeichnetem Englisch: »Ich habe die Ehre, Ihnen Prinzessin Shanda vorzustellen.«

Miss Bulstrode war über ihre neue Schülerin, die gerade aus einer Schweizer Schule kam, genau informiert, aber über deren Begleiter war sie sich nicht ganz im Klaren. Sie hielt ihn keinesfalls für den Emir selbst, eher für einen Minister oder einen Diplomaten. Sie benutzte, wie stets im Zweifelsfall, den Titel Exzellenz, während sie ihm versicherte, dass Prinzessin Shanda sich bestimmt bald in Meadowbank einleben und wohlfühlen werde.

Shanda lächelte höflich. Auch sie war elegant gekleidet und parfümiert. Miss Bulstrode wusste, dass sie fünfzehn Jahre alt war, aber sie wirkte älter und reifer, wie die meisten orientalischen Mädchen ihres Alters. Während Miss Bulstrode sich mit ihr über das bevorstehende Semester unterhielt, stellte sie erleichtert fest, dass Shanda fließend Englisch sprach, nicht verlegen kicherte und bessere Manieren hatte als die meisten ihrer englischen Altersgenossinnen. Es wäre keine schlechte Idee, europäische junge Mädchen in den Orient zu schicken, damit sie Höflichkeit und gutes Benehmen lernen, dachte die Schulvorsteherin.

Nachdem beiderseits Komplimente ausgetauscht worden waren, verließen die Besucher das Zimmer. Miss Bulstrode öffnete sofort die Fenster, um die betäubende Duftwolke hinauszulassen.

Als Nächste erschienen Mrs Upjohn und ihre Tochter Julia.

Mrs Upjohn war eine sympathische Frau, Ende dreißig, mit sandfarbenem Haar, Sommersprossen und einem unkleidsamen Hut. Sie war offensichtlich nicht daran gewöhnt, Hüte zu tragen, jedoch hielt sie für diese feierliche Gelegenheit eine Kopfbedeckung für angebracht.

Julia war kein besonders hübsches Kind. Auch sie hatte Sommersprossen, eine hohe, intelligente Stirn und ein freundliches Gesicht.

Die Formalitäten waren schnell erledigt, und Margaret wurde beauftragt, Julia zu Miss Johnson zu bringen.

»Auf Wiedersehen, Mummy«, rief Julia unbeschwert. »Und sei recht vorsichtig, wenn du den Gasofen anzündest, jetzt, wo ich’s nicht mehr machen kann – ja?«

Miss Bulstrode lächelte Mrs Upjohn freundlich zu, forderte sie jedoch nicht auf, Platz zu nehmen. Wer weiß, dachte sie, vielleicht will mir selbst diese sympathische Mutter einer vernünftigen Tochter auseinandersetzen, dass ihr Kind unter nervösen Depressionen leidet und mit Samthandschuhen angefasst werden muss. Daher fragte sie nur liebenswürdig:

»Wollten Sie sonst noch irgendetwas mit mir besprechen?«

»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Mrs Upjohn freundlich. »Julia ist kein schwieriges Kind; sie ist gesund und intelligent – aber wahrscheinlich hält jede Mutter die eigene Tochter für besonders begabt.«

»Mütter sind sehr verschieden«, erklärte die Schulleiterin düster. »Jedenfalls bin ich überglücklich, dass Julia hier sein kann«, sagte Mrs Upjohn. »Meine Tante wird für das Schulgeld aufkommen, denn ich selbst könnte es mir leider nicht leisten. Auch Julia ist ihrer Tante sehr dankbar und freut sich riesig auf die Schule.« Sie ging zum Fenster hinüber und blickte bewundernd auf den gepflegten Garten. »Ein herrlicher Garten! Sie haben bestimmt eine Menge guter Gärtner?«

»Das ist im Augenblick ein großes Problem. Bisher hatten wir drei sehr gute Gärtner, aber leider sind wir jetzt hauptsächlich auf Gelegenheitsarbeiter aus der Nachbarschaft angewiesen«, sagte Miss Bulstrode.

»Es scheint heutzutage überall schwer zu sein, gelernte Gärtner zu finden«, stellte Mrs Upjohn fest. »Jeder behauptet, Gärtner zu sein, selbst wenn er davon keine Ahnung hat, nur weil er sich nebenbei eine Kleinigkeit verdienen möchte. Sogar unser Milchmann …« Sie unterbrach sich und sah interessiert aus dem Fenster, dann rief sie: »Nanu! Das ist aber sonderbar …«

Miss Bulstrode hätte diesem Ausruf mehr Beachtung schenken sollen, aber leider tat sie es nicht, da sie zufällig aus dem anderen Fenster schaute, von dem aus man die Rhododendronsträucher sehen konnte. Hier bot sich ihr ein höchst unwillkommener Anblick. Lady Veronica Carlton-Sandways, deren großer schwarzer Samthut schief auf ihrem zerzausten Haar saß, kam mit schwankenden Schritten auf das Schulhaus zu. Sie war offensichtlich schwer betrunken.

Lady Veronicas Hang zur Flasche war Miss Bulstrode nicht unbekannt. In nüchternem Zustand war sie eine reizende Frau und ihren Zwillingstöchtern eine gute Mutter – unglücklicherweise war sie eine Quartalssäuferin. Ihr Gatte, Major Carlton-Sandways, hatte sich damit abgefunden; seine Cousine, die bei ihnen lebte, ließ Lady Veronica im Allgemeinen nicht aus den Augen. Beim Turnfest war Lady Veronica elegant gekleidet, völlig nüchtern, am Arm ihres Mannes und in Begleitung der Cousine in Meadowbank erschienen. Bei dieser Gelegenheit war sie allen anderen Müttern ein Vorbild an Tugend und Liebenswürdigkeit gewesen. Aber leider gelang es ihr gelegentlich, dem wachsamen Auge des Gatten zu entschlüpfen und sich heimlich zu betrinken. Im weinseligen Zustand verspürte sie dann das dringende Bedürfnis, ihre geliebten Töchter in die mütterlichen Arme zu schließen. Die Zwillinge waren am Vormittag mit der Bahn angekommen, und niemand hatte Lady Veronica erwartet.

Mrs Upjohn redete noch immer, aber Miss Bulstrode hörte nicht zu. Sie erwog verschiedene Möglichkeiten, denn sie erkannte, dass sich Lady Veronica dem aufsässigen Stadium näherte. Aber plötzlich erschien der Retter in der Not in Gestalt von Miss Chadwick, die atemlos um die Ecke bog. Die treue Chaddy, dachte Miss Bulstrode, stets zuverlässig, stets zur Stelle, ob es sich um ein zerschürftes Knie handelt oder um eine betrunkene Mutter.

»So eine Gemeinheit«, lallte Lady Veronica mit lauter Stimme. »Hat versucht mich zu hindern … wollte mich nicht herkommen lassen … habe Edith an der Nase herumgeführt. Bin heimlich in die Garage gegangen … hab den Wagen rausgeholt … hab mir ins Fäustchen gelacht … dumme Edith … typische alte Jungfer … wird nie einen Mann finden … auf dem Weg Stunk mit der Polizei … hat behauptet, ich sei nicht imstande, Wagen zu lenken … lächerlich … will Miss Bulstrode nur Bescheid sagen … hole meine beiden Töchter ab … sollen zu Hause bleiben … Mutterliebe … ist etwas ganz Wundervolles … geht nichts über Mutterliebe …«

»Sehr richtig, Lady Veronica«, erklärte Miss Chadwick. »Wir freuen uns, dass Sie hergekommen sind. Vor allen Dingen müssen Sie die neue Turnhalle sehen, die wird Ihnen bestimmt gefallen.« Sie lenkte Lady Veronicas unsichere Schritte geschickt in die entgegengesetzte Richtung. Während sie sich vom Haus entfernte, sagte sie: »Ich nehme an, dass wir Ihre Töchter dort antreffen werden. So eine schöne Turnhalle, neue Schließfächer und ein Trockenraum für Badeanzüge …«

Die Stimmen verklangen.

Miss Bulstrode blieb aufmerksam am Fenster stehen. Einmal versuchte Lady Veronica sich freizumachen und zum Haus zurückzukehren, aber Miss Chadwick konnte es mit ihr aufnehmen. Schließlich verschwanden sie hinter der Rhododendronhecke, auf dem Weg zur entfernt und einsam gelegenen Turnhalle.

Miss Bulstrode stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die brave, zuverlässige Chaddy! Altmodisch, nicht sehr intelligent – abgesehen von ihrer Begabung für Mathematik –, aber immer zur Stelle, wenn sie gebraucht wurde.

Sie wandte sich schuldbewusst Mrs Upjohn zu, die noch immer munter plauderte.

»… aber keine großen Heldentaten«, sagte sie. »Ich bin nicht mit dem Fallschirm abgesprungen, und ich war kein Geheimkurier. So tapfer bin ich nicht. Es handelte sich meistens um ziemlich langweilige Büroarbeit, Eintragungen auf Landkarten und dergleichen. Aber manchmal war es doch ziemlich aufregend, wie ich eben schon sagte … Wenn die Geheimagenten sich gegenseitig durch ganz Genf verfolgten … Selbstverständlich kannte man sich vom Sehen, und oft traf man sich in derselben Bar. Ja, manchmal war es recht amüsant. Verheiratet war ich damals natürlich noch nicht …«

Plötzlich unterbrach sie sich und sagte mit einem entschuldigenden Lächeln: »Bitte verzeihen Sie diesen Redefluss! Ich nehme zu viel von Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch.«

Sie gab Miss Bulstrode die Hand, verabschiedete sich und ging.

Miss Bulstrode blieb einen Augenblick stirnrunzelnd stehen. Sie hatte das vage Gefühl, dass ihr irgendetwas Wichtiges entgangen war, aber sie wusste beim besten Willen nicht, was. Sie hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn sie musste noch mit vielen Eltern sprechen. Ihre Schule war berühmter und gesuchter denn je. Meadowbank stand auf seinem Höhepunkt.

Nichts wies darauf hin, dass innerhalb weniger Wochen in Meadowbank furchtbare Dinge geschehen würden und dass gewisse tragische Ereignisse bereits stattgefunden hatten …

1

Etwa zwei Monate vor Beginn des Schuljahrs waren Dinge geschehen, die in Meadowbank unerwartete Rückwirkungen haben sollten.

Zwei junge Männer saßen rauchend im Palast zu Ramat und sprachen über die Zukunft. Der eine hatte einen glatten olivfarbenen Teint und große melancholische Augen. Es war Prinz Ali Yusuf, der Scheich von Ramat, einem kleinen, aber ungeheuer reichen Staat im Nahen Osten. Der andere junge Mann hatte sandfarbenes Haar und Sommersprossen; er besaß kein Privatvermögen und lebte von dem (allerdings sehr ansehnlichen) Gehalt, das Seine Hoheit, Prinz Ali, seinem Privatpiloten zahlte. Obwohl sie gesellschaftlich nicht auf derselben Stufe standen, benahmen sich beide unzeremoniell und natürlich. Sie hatten die gleiche englische Public School besucht und waren seit ihrer Schulzeit eng befreundet.

»Sie haben auf uns geschossen«, sagte Prinz Ali fast verwundert.

»Geschossen haben sie, das steht fest«, entgegnete Bob Rawlinson.

»Und sie haben auf uns gezielt – sie wollten uns abschießen!«

»Zweifellos! Die Schweine!«

Ali dachte einen Augenblick nach.

»Es hat wohl keinen Zweck mehr, es noch einmal zu versuchen?«

»Ich fürchte, dass wir diesmal nicht mit heiler Haut davonkommen würden. Wir haben zu lange gewartet, Ali, das ist das Unglück. Du hättest schon vor zwei Wochen gehen sollen – ich habe dich gewarnt.«

»Man lässt sein Land nicht gern im Stich – man möchte nicht einfach so fortlaufen«, erklärte der Herrscher von Ramat.

»Versteht sich. Aber denk daran, was Shakespeare über diejenigen gesagt hat, die ihr Leben retten, um später für ihr Vaterland kämpfen zu können.«

»Wenn man bedenkt, was man für dieses Land getan hat«, sagte der junge Prinz erregt. »Wir haben Schulen und Krankenhäuser gebaut, wir haben einen Gesundheitsdienst eingeführt, wir …«

Bob Rawlinson unterbrach die Aufzählung.

»Vielleicht könnte die Botschaft etwas unternehmen?«

Ein ärgerliches Rot stieg in Ali Yusufs Wangen.

»Was? Ich soll in eurer Botschaft Schutz suchen? Ausgeschlossen! Dann würden die Rebellen wahrscheinlich das Haus stürmen, denn diplomatische Immunität bedeutet diesem Gesindel nichts. Und abgesehen davon wäre gerade das für mich unmöglich, da man mir ja dauernd vorwirft, dass ich zu stark ›westlich orientiert‹ sei.« Er seufzte tief. »Mir ist das alles unbegreiflich, Bob …« Er war verwirrt und unsicher, und man hätte ihn in diesem Augenblick jünger als fünfundzwanzig Jahre geschätzt.

»Mein Großvater war ein grausamer Herrscher, ein echter Tyrann. Er besaß Hunderte von Sklaven, die er schlimm behandelte. Im Krieg mit benachbarten Stämmen wurden die gefangenen Feinde unbarmherzig gefoltert und hingerichtet. Alle zitterten, wenn sein Name nur erwähnt wurde. Und doch ist er zur Legende geworden. Noch jetzt wird er bewundert und verehrt. Achmed Abdullah der Große! Und ich? Was habe ich getan? Ich habe Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser gebaut, meinem Volk alle Wünsche erfüllt. Und was ist der Dank? Würden sie eine Schreckensherrschaft wie die meines Großvaters vorziehen?«

»Es sieht so aus – höchst unfair, aber was kann man tun?«, erwiderte Bob Rawlinson.

»Aber warum, Bob? Warum?«

Bob Rawlinson seufzte. Es fiel ihm nicht leicht, seine Gefühle in Worten auszudrücken.

»Er … er hat es verstanden, sich in Szene zu setzen, er war … wie soll ich das nur erklären …, er war so dramatisch.«

Bob betrachtete seinen Freund Ali, der keineswegs dramatisch war. Ali war ein lieber, anständiger Kerl, ruhig und zuverlässig, und deshalb hatte Bob ihn gern. Ali hasste es aufzufallen, und brutale Gewalt ging ihm, wie den meisten Menschen in England, gegen den Strich. Leider schien man von einem orientalischen Herrscher ein Gemisch von Brutalität und Prunk zu erwarten.

»In einem demokratischen Staat …«, begann Ali.

»Demokratie!« Bob schwenkte verächtlich seine Pfeife. »Dieses Wort bedeutet heutzutage in jedem Land etwas anderes, aber niemals das, was die Griechen ursprünglich darunter verstanden haben. Falls sie dich wirklich absetzen wollen, wird sich irgendein aufgeblasener Frosch zum Staatsoberhaupt ernennen, alle umbringen, die es wagen, anderer Meinung zu sein als er, und von einer demokratischen Regierung sprechen. Wahrscheinlich wird es dem Volk sogar gefallen. Das Blut wird in Strömen fließen, und für Abwechslung und Aufregung wird gesorgt sein.«

»Aber wir sind doch keine Wilden! Wir sind zivilisierte Menschen!«

»Es gibt verschiedene Arten von Zivilisation«, entgegnete Bob zögernd. »Ich persönlich glaube, dass die meisten von uns im Grunde genommen noch Barbaren sind.«

»Vielleicht hast du recht«, erwiderte Ali düster.

»Gesunder Menschenverstand ist heute nicht mehr gefragt«, erklärte Bob. »Du weißt ja selbst, dass ich kein Geistesheroe bin, Ali, aber ich bin überzeugt davon, dass der Welt nichts fehlt außer ein bisschen Vernunft.« Er legte seine Pfeife hin und richtete sich auf.

»Doch das alles ist jetzt unwichtig, im Moment kommt es nur darauf an, dich sicher aus dem Land zu schaffen. Kannst du dich wenigstens auf einige deiner Offiziere verlassen?«

Prinz Ali Yusuf schüttelte traurig den Kopf.

»Noch vor zwei Wochen hätte ich diese Frage bejahen können, aber heute – heute bin ich leider nicht mehr ganz so sicher.«

Bob nickte verständnisvoll.

»Tieftraurig – und in deinem Palast fühlt man sich auch höchst unbehaglich.«

»Spione gibt es in allen Palästen«, stellte Ali unbewegt fest. »Sie hören alles, sie wissen alles.«

»Selbst unten beim Flugzeugschuppen …«, Bob unterbrach sich. »Dem alten Achmed bleibt nichts verborgen, er muss einen sechsten Sinn haben. Er hatte neulich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, ging zu deinem Flugzeug und hinderte einen Mechaniker, den wir bisher für vertrauenswürdig gehalten hatten, daran, den Motor zu beschädigen. Wie dem auch sei, wenn wir versuchen wollen, dich mit heiler Haut hier herauszuschmuggeln, müssen wir es sehr bald tun.«

»Ich weiß, ich weiß. Wenn ich bleibe, werden sie mich ermorden.« Er sprach ohne Zeichen von Erregung oder Panik, fast als handelte es sich um einen anderen.

»Ich muss dich warnen, Ali! Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass wir es nicht schaffen. Du weißt, dass allein die nördliche Route in Frage kommt, weil wir nur dort vor Angriffen der Jagdflugzeuge sicher sind. Leider ist es um diese Jahreszeit sehr gefährlich, über die Berge zu fliegen …«

Ali sah seinen Freund traurig an.

»Ich dürfte es nicht zulassen, dass du dich in diese Gefahr begibst, Bob.«

»Zerbrich dir meinethalben nicht den Kopf, Ali. So hab ich’s nicht gemeint. Ich bin ganz unwichtig, außerdem werde ich wahrscheinlich sowieso jung sterben, denn ich lasse mich immer auf die verrücktesten Abenteuer ein. Nein, ich denke im Moment nur an dich, und ich wage nicht, dich in der einen oder anderen Richtung zu beeinflussen. Wenn du dich nun doch auf einen Teil der Armee verlassen könntest …«

Ali schüttelte den Kopf, dann sagte er: »Ich hasse den Gedanken an Flucht, aber welchen Sinn hat es, sich zum Märtyrer zu machen und sich vom Pöbel in Stücke reißen zu lassen?« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Also gut. Versuchen wir unser Glück! Wann?«

Bob zuckte die Achseln.

»So bald wie möglich. Wir müssen dich unter irgendeinem Vorwand zum Flugplatz bringen … Vielleicht könnten wir behaupten, dass du den Bau der neuen Straße nach Al Jasar von der Luft aus besichtigen willst? Ich sorge dafür, dass die Maschine startklar ist, wenn du heute Nachmittag in deinem Wagen zum Flugplatz kommst. Gepäck können wir natürlich nicht mitnehmen.«

»Das weiß ich, und ich will mich auch gar nicht belasten. Nur etwas möchte ich keinesfalls zurücklassen …«

Er lächelte geheimnisvoll und listig, und das Lächeln veränderte sein Gesicht. Er schien plötzlich ein anderer Mensch zu sein. Mit dem modernen jungen Mann, der in England zur Schule gegangen war, hatte er kaum noch Ähnlichkeit.

»Du bist mein bester Freund, Bob, dir werde ich kurz etwas zeigen.«

Er zog einen kleinen Wildlederbeutel unter seinem Hemd hervor.

»Was ist das?«, fragte Bob erstaunt.

Ali öffnete den verschnürten Beutel und schüttete seinen Inhalt vorsichtig auf den Tisch.

Bob hielt einen Augenblick den Atem an, dann stieß er einen leisen, bewundernden Pfiff aus.

»Großer Gott! Sind die echt?«

»Natürlich sind sie echt«, erwiderte Ali belustigt. »Der größte Teil davon hat meinem Vater gehört. Er pflegte der Sammlung jedes Jahr neue Steine hinzuzufügen – ich tue das übrigens auch. Wir lassen die Edelsteine von Vertrauensmännern in vielen Städten kaufen – in London, in Kalkutta, in Johannesburg. Es ist in meiner Familie Tradition, sich auf diese Weise auf einen Notfall vorzubereiten. Sie müssen etwa eine Dreiviertelmillion Pfund wert sein«, schloss er in sachlichem Ton.

»Eine Dreiviertelmillion?« Bob stieß einen weiteren Pfiff aus, dann ließ er die Edelsteine nachdenklich durch seine Finger gleiten.

»Unwahrscheinlich! Wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Ein merkwürdiges Gefühl, diese kostbaren Steine in der Hand zu haben.«

»Ja.« Ali nickte, und wieder trat der listige Ausdruck in seine Augen. »Und es ist noch viel merkwürdiger, dass der Besitz von wertvollen Steinen den Menschen verändert. Eine Spur von Blut, Gewalt und Mord folgt den Juwelen und ihren Eigentümern nur zu oft. Vor allem Frauen sind ganz verrückt nach Edelsteinen, und nicht nur um ihres Wertes willen. Sie wollen sich damit schmücken, beneidet und bewundert werden … nein, einer Frau würde ich die Steine niemals anvertrauen, aber bei dir sind sie sicher.«

»Bei mir?«

Bob starrte ihn entsetzt an.

»Ja, denn sie sollen meinen Widersachern unter gar keinen Umständen in die Hände fallen. Ich weiß nicht, wann der Aufstand gegen mich stattfinden wird. Vielleicht ist er schon für heute geplant, vielleicht werde ich den Flugplatz nicht mehr erreichen. Nimm meine Juwelen an dich, Bob, und versuche sie zu retten.«

»Aber ich weiß wirklich nicht … ich verstehe nicht. Was soll ich damit anfangen?«

»Du musst versuchen, sie irgendwie aus dem Land zu schaffen.«

»Soll ich mir den Lederbeutel um den Hals binden?«, fragte Bob unglücklich.

»Vielleicht. Aber wahrscheinlich wird dir noch ein sichererer Weg einfallen, sie nach Europa zu schicken.«

»Du irrst dich, Ali. Ich habe keine Ahnung, wie man so etwas anfängt.«

Ali lehnte sich gelassen in seinen Sessel zurück und lächelte amüsiert.

»Du hast einen hellen Kopf, und du bist ehrlich. Du hast auch oft gute Ideen, daran erinnere ich mich noch aus unserer Schulzeit … Ich werde dir Namen und Adresse eines mir bekannten Juwelenhändlers geben, mit dem du dich in Verbindung setzen wirst, falls ich umkommen sollte. Schau nicht so unglücklich drein, Bob. Ich weiß, dass du dein Bestes tun wirst, um meine Wünsche zu erfüllen. Niemand wird dir Vorwürfe machen, wenn es dir wider Erwarten nicht gelingen sollte. Alles liegt in Allahs Hand, sein Wille wird geschehen.«

Bob schlug die Hände vors Gesicht.

»Das ist doch Irrsinn, Ali!«

»Durchaus nicht. Aber ich bin nun einmal Fatalist.«

»Eine Dreiviertelmillion Pfund, Ali! Glaubst du nicht, dass Steine von diesem Wert selbst einen grundanständigen Menschen in Versuchung führen können?«

Ali Yusuf sah seinen Freund liebevoll an.

»Sonderbarerweise habe ich diesbezüglich nicht die geringsten Sorgen«, sagte er.

2

Bob Rawlinson hörte den Widerhall seiner Schritte in den langen Marmorgängen des Palastes. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so unglücklich gefühlt. Es war eine furchtbare Verantwortung, Juwelen von diesem Wert in der Hosentasche mit sich herumzutragen. Wahrscheinlich konnte ihm jeder seine innere Unruhe vom Gesicht ablesen … Er wäre sehr erleichtert gewesen, hätte er geahnt, dass der Ausdruck seines sommersprossigen Gesichts so gutmütig und harmlos war wie immer.

Die Palastwachen präsentierten das Gewehr, als Bob das Schloss verließ. Er schlenderte, noch immer ziemlich verstört, die Hauptstraße von Ramat hinunter.

Wohin sollte er gehen? An wen konnte er sich wenden? Was für Pläne sollte er schmieden? Er wusste es nicht, aber er musste schnell einen Entschluss fassen, denn die Zeit war knapp.

Die Straße war, wie alle Geschäftsstraßen im Mittleren Osten, eine Mischung von Prunk und Elend. Die eleganten Neubauten und Banken ragten zum Himmel empor. In den Schaufenstern der kleinen, unmodernen Läden lagen minderwertige Plastikwaren, bunte Kinderkleider, Allerweltsheilmittel und billige Zigarettenanzünder in unübersichtlichem Durcheinander. In einem winzigen Geschäft gab es alle Arten von Schweizer Uhren; allerdings mochte man allein durch die Menge der Uhren misstrauisch werden und vor einem Kauf zurückschrecken.

Bob, der in seiner Verwirrung mit verschiedenen Leuten in der Tracht des Landes und mit ein oder zwei europäisch gekleideten Personen zusammenstieß, riss sich schließlich zusammen.

Er ging in ein Café und bestellte einen Tee mit Zitrone. Während er ihn langsam schlürfte, begann er allmählich ruhiger zu werden. Ihm gegenüber saß ein ältlicher Araber, der friedlich eine Bernsteinkette durch seine Finger gleiten ließ. Hinter ihm saßen zwei Männer, die Tricktrack spielten. Hier konnte man in Ruhe nachdenken.

Und er musste nachdenken und einen Weg finden, die ihm anvertrauten Juwelen aus dem Lande zu schaffen. Er durfte keine Zeit verlieren, denn die Revolution konnte jeden Augenblick ausbrechen.

Ali war wirklich verrückt, ihm so mir nichts, dir nichts eine Dreiviertelmillion anzuvertrauen und sich darauf zu verlassen, dass Allah einen Ausweg finden würde. Für Bob waren diese Dinge nicht so einfach. Was sollte er nur mit den Juwelen machen?

Er dachte an die Fluggesellschaft – aber nein, das ging auch nicht; die würde sich bestimmt weigern, sich in Alis Privatangelegenheiten verwickeln zu lassen.

Er musste eine Privatperson finden, die im Begriff war, das Land unauffällig und auf dem normalen Weg zu verlassen; am besten einen Geschäftsmann oder einen Touristen, jemanden, der nichts mit Politik zu tun hatte und dessen Gepäck nur flüchtig oder gar nicht durchsucht werden würde. Natürlich musste man darauf gefasst sein, auf dem Londoner Flughafen eine Sensation hervorzurufen. »Versuch, Juwelen im Wert von einer Dreiviertelmillion Pfund ins Land zu schmuggeln!« Und so weiter und so weiter … Nun, das musste man eben in Kauf nehmen.