Die Kinder des Königs  – ein Märchen - Peter Gotthardt - E-Book + Hörbuch

Die Kinder des Königs – ein Märchen E-Book und Hörbuch

Peter Gotthardt

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Beschreibung

Als Herwulf und seine Männer König Alrik töten und dessen Land einnehmen, begeben sich die Königskinder Signy, Regin und Buri auf eine halsbrecherische Flucht. Weit im Osten, jenseits eines hohen Gebirges, liegt ein fremdes Reich. Dort hoffen sie Hilfe zu erhalten, um den Tod ihres Vaters zu rächen und ihr Heimatland zurückzuerobern. Die Geschwister müssen all ihren Mut zusammennehmen, denn auf ihrem Weg durchqueren sie eine Welt voller Gespenster, Elfen, Riesen, Trollen und Zauberinnen. Werden sie gemeinsam allen Gefahren trotzen und das Abenteuer bestehen?"Spannende und gut erzählte Wikingergeschichte mit vielen Fäden über Kreaturen der nordischen Mythologie. [...] Äußerst empfehlenswert!" – DBC-

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Seitenzahl: 349

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Zeit:8 Std. 21 min

Sprecher:Irina Salkow

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Peter Gotthardt

Die Kinder des Königs – ein Märchen

Übersezt von Alina Becker

Saga

Die Kinder des Königs – ein Märchen

 

Titel der Originalausgabe: Kongebørn - en eventyrsaga

 

Originalsprache: Dänisch

 

Coverbild/Illustration: Kristian Eskild

Copyright © 2022 Peter Gotthardt und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728112984

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Teil 1

In den Tiefen der Erde

Der Wolf kommt schnell näher, mit zurückgezogenen Lefzen und gefletschten Zähnen. Er knurrt heiser und starrt den Jungen bösartig kann. Der möchte gegen das Tier ankämpfen – aber die Kraft hat seine Arme verlassen. Und gleichzeitig will er fliehen – aber seine Beine fühlen sich an, als wären sie aus Wasser. Ich kann nichts tun, denkt er angsterfüllt. Und genau jetzt setzt der Wolf zum Sprung an …

Buri erwachte mit einem Schrei. Er schlug die Augen auf und der Albtraum fiel von ihm ab. In der kleinen Kammer, die er sich mit seinem Bruder Regin teilte, war es stockdunkel.

Regin setzte sich im Bett auf und meckerte: „Jetzt hast du mich schon wieder geweckt! Ich habe es satt!“

„Dafür kann ich nichts“, erklärte Buri kleinlaut. „Ich hatte wieder diesen Albtraum – den, mit dem Wolf. Das war jetzt die dritte Nacht in Folge, und jedes Mal kommt er näher. Ich fürchte, dass sich etwas Böses anbahnt.“

„Ach! Du immer mit deinen ängstlichen Vorahnungen“, sagte Regin. „Kein Wolf wird sich je bis hierher zum Hof des Königs wagen. Wölfe halten sich eher von den Menschen fern.“

„Ja, wahrscheinlich hast du recht“, murmelte Buri nicht gänzlich überzeugt. Die Angst steckte ihm noch immer in den Knochen.

Regin schwang die Beine über die Bettkante und stand auf.

„Nach all dem Reden bin ich jetzt wach“, stellte er fest. „Und hungrig. Wir könnten uns zum Küchenhaus hinüberschleichen und etwas Honigkuchen stibitzen. Gestern haben sie frischen gebacken. Kommst du mit?“

„Und wenn wir erwischt werden?“, fragte Buri.

„Das werden wir nicht“, sagte Regin. „Es ist mitten in der Nacht. Alle schlafen. Jetzt komm schon.“

Buri und Regin waren die Söhne des Königs. Regin war ein Jahr älter als sein Bruder. Die beiden Heranwachsenden hatten lange, schlaksige Arme und noch längere schlaksige Beine. Buris struppiges Haar war so hell, dass es fast weiß wirkte. Regins Haar war ebenso hell, fiel ihm aber glatt in Stirn und Nacken. ‚Als hätte ihm eine Kuh über den Kopf geleckt‘, pflegten die Leute zu sagen, wenn Regin es nicht hörte.

Die Jungen schlüpften in Hosen und Strickjacken, zogen sich ihre Schuhe an und verließen die Kammer.

„Sollen wir Signy fragen, ob sie mitkommen will?“, fragte Buri.

Regin schüttelte den Kopf. „Nein. Sie würde bestimmt nur versuchen, uns abzuhalten.“

Signy war ihre große Schwester. Sie war ein paar Jahre älter als die beiden Jungen. Ihre Mutter war einige Jahr zuvor gestorben, und ihr Vater, Alrik, war der König von Nordmark, einem Land mit kargen, steilen Felsküsten, grünen Heiden, düsteren Mooren und hohen Berggipfeln, auf denen das ganze Jahr über Schnee lag.

Regin und Buri schlichen sich aus dem Gebäude, in dem ihre Schlafkammer lag, und überquerten den offenen Platz zwischen den einzelnen Gebäuden des Königshofes. Zwischen den Häusern hindurch war weißer Nebel zu sehen, der über dem Fjord unter dem Hof lag.

Plötzlich durchbrach der Klang eines Horns die nächtliche Stille. Dann ertönten lautes Geschrei und das Klirren von Stahl vom Strand herauf.

„Da bläst jemand zum Angriff!“, rief Regin aus. „Was geht da vor sich?“

Die beiden Jungen blieben stehen und blickten auf den Fjord hinaus.

In diesem Moment kam ein Mann mit einer Fackel in der Hand herbeigelaufen. Es war Skagge, einer der engsten Vertrauten des Königs.

„Da seid ihr ja!“, sagte er erleichtert. „Gut, dass ich euch gefunden habe. Ihr kommt mit mir.“

„Wohin? Warum? Was ist hier los?“, fragte Regin.

„Wir werden angegriffen“, erklärte Skagge. „Aber wir wissen nicht, von wem. Wie aus dem Nichts sind feindliche Langschiffe aus dem Nebel aufgetaucht. Der König kämpft an vorderster Front mit seinen Kriegern. Mir wurde aufgetragen, euch Kinder in Sicherheit zu bringen. Kommt jetzt mit mir mit.“

„In Sicherheit? Wo?“, hakte Regin nach.

„Keine Zeit für Fragen“, sagte Skagge und packte ihn am Arm. „Los jetzt.“

Er zog Regin mit sich und Buri versuchte angestrengt, mit den beiden Schritt zu halten.

„Was ist mit Signy?“, fragte er.

„Sie wartet schon auf euch“, sagte Skagge. „Im Gegensatz zu euch beiden war sie in ihrer Kammer. Ich musste sie nicht erst suchen.“

Skagge führte sie hinunter zu einem kleinen Steg, an dem ein Ruderboot vertäut lag. Im Boot saßen Signy und ein weiterer Vertrauter des Königs.

„Da seid ihr ja!“, rief Signy erleichtert aus, als die beiden Jungen ins Boot kletterten. Zum Schutz gegen die nächtliche Kälte hatte sie sich in ein großes Tuch gehüllt. Es bedeckte ihr langes, blondes Haar und einen großen Teil ihres Kleides.

In der Dunkelheit waren noch immer wütendes Gebrüll und das Klirren von Waffen zu hören. Die drei Kinder versuchten herauszuhören, wie sich die Schlacht entwickelte, aber keines von ihnen wagte, auch nur ein Wort zu sagen. Signy biss sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten. Ohnmächtig vor Wut ballte Regin die Hände. Buri schaute sich besorgt nach Feinden um.

„Verschwinden wir schnell“, sagte Skagge und griff nach einem der Ruder. Der zweite Gefolgsmann ergriff das andere und das Boot glitt in den Fjord hinaus.

„Wo geht es hin?“, fragte Buri.

„Zur Insel“, erklärte Skagge. „Und jetzt will ich kein Wort mehr hören. Wir sind nicht allein hier draußen auf dem Wasser.“

Ein Stück weiter im Fjord lag eine bewaldete Insel. Das war ihr Ziel.

Skagge und sein Gefährte ruderten mit kräftigen Zügen. Jedes Mal, wenn die Ruder ins Wasser eintauchten, ertönte ein leises Plätschern. Ansonsten war kein Geräusch zu hören.

Das Wasser des Fjords war schwarz und ruhig. Feine Nebelschwaden zogen langsam über sie hinweg wie bleiche, nächtliche Gestalten, und Buri konnte den Blick nicht von ihnen abwenden.

Einen Augenblick später tauchte der schwarze Kopf eines Drachens aus dem Nebel auf, und Buri unterdrückte nur mit Mühe einen angsterfüllten Schrei.

Skagge und dem anderen Gefolgsmann war das nicht entgangen. Sie hoben die Ruder aus dem Wasser und ließen das Boot lautlos weitergleiten.

Auf den Drachenkopf folgte der Bug eines Langschiffs.

„Hast du auch etwas plätschern gehört?“, rief jemand auf dem Deck.

„Das war bestimmt nur ein Seevogel“, erwiderte eine andere Stimme. „Die landen hin und wieder auf dem Wasser. Aber es ist eine Schande, dass wir hier auf dem Schiff Wache halten müssen, während alle anderen den Ruhm ernten und die Beute abstauben.“

„Das kannst du laut sagen“, gab die erste Wache zurück. „Wir sind eben zwei Pechvögel.“

Die Kinder gaben keinen Mucks von sich. Sie wagten kaum zu atmen. Das Boot trieb lautlos weiter und wurde von der Strömung vorangetragen. Langsam verschwand das Drachenschiff hinter ihnen im Nebel.

Skagge und sein Gefährte atmeten erleichtert auf und griffen wieder nach den Rudern. Nun ging es wieder schnell voran.

Nach einer Weile tauchte die Insel vor ihnen aus der Dunkelheit auf, und das Boot glitt in eine kleine, von hohen Bäumen gesäumte Bucht. Am Ufer wurden sie von einem Mann erwartet.

Skagge half den Kindern an Land und sagte: „Das ist Grutte Graubart. Er wird sich um euch kümmern.“

„Ich habe gehört, wie jemand zum Angriff geblasen hat“, sagte Grutte. „Ging es um den Königshof?“

„Ja, und es geht hart zur Sache“, sagte Skagge. „Wir müssen sofort zurück und an der Seite unseres Königs kämpfen.“

„Ich will auch mit“, sagte Regin. „Ich …“

„Auf gar keinen Fall“, unterbrach ihn Skagge. „Das ist kein Kinderspielplatz. Wenn Männer in die Schlacht ziehen, dann sitzt ihnen stets der Tod im Nacken.“

Er kletterte zurück ins Boot und ließ es schnell wieder auf den Fjord hinausgleiten.

Die Kinder musterten Grutte neugierig. Sein Bart war von grauen Strähnen durchzogen und seine Haut so runzelig wie ein vertrockneter Apfel. Aber sein Blick war klar und seine Haltung aufrecht.

„Warum mussten wir hierherkommen?“, fragte Signy. „Und wer seid Ihr überhaupt?“

„Ich bin ein alter Freund eures Vaters“, erwiderte Grutte. „In meinen besten Jahren lehrte ich ihn den Umgang mit dem Schwert und begleitete ihn auf vielen Abenteuern. Da war er kaum größer als ihr zwei Knaben. Als ich zu alt für den Krieg und das Kämpfen geworden war, habe ich mich auf dieser Insel niedergelassen. Seitdem lebe ich hier allein. Aber ich habe eurem Vater versprochen, dass ihr hier immer Zuflucht findet, wenn ihr sie braucht. So wie jetzt … Aber nun kommt erst einmal mit in meine Hütte.“

Grutte Graubart wohnte an einem Hang mit Blick auf das Wasser. Vor seiner Hütte hing ein Fischernetz zum Trocknen, und an einem Pfahl in der Mitte der Bucht war ein kleines Boot vertäut.

Die Kinder folgten Grutte in seine Behausung. Er breitete ein paar Tierfelle auf dem Boden aus und sagte: „Bestimmt sorgt ihr euch um euren Vater. Aber versucht trotzdem, ein wenig zu schlafen.“

Gehorsam legten die drei sich hin, und trotz all der nächtlichen Aufregungen fielen sie bald darauf in einen unruhigen Schlaf.

*

Sie wurden vom durchdringenden Geruch gekochten Fischs geweckt. Durch das Rauchloch im Dach fiel das Morgenlicht in die Hütte.

„Zeit zum Frühstücken“, sagte Grutte und stellte eine Schüssel auf den Tisch. „Das kommt wahrscheinlich nicht an das heran, was ihr vom Königshof gewohnt seid, aber Essen ist Essen.“

Die Kinder setzten sich an den Tisch, und Grutte öffnete die Tür, um auf den Fjord hinausblicken zu können. Der Nebel war verschwunden und die Wellen glitzerten in der Sonne. Ein Schwarm schwarzer Kormorane flog knapp über der Wasseroberfläche dahin.

Die drei Kinder verrenkten sich die Hälse, um in Richtung des Königshofs schauen zu können. Sie hofften, einen Hinweis auf den Ausgang der Schlacht zu erhaschen, aber eine bewaldete Anhöhe versperrte die Sicht.

„Wenn wir doch nur wüssten, wie alles ausgegangen ist“, sagte Signy und seufzte.

„Vaters Krieger sind die Besten im ganzen Land“, sagte Regin. „Sie haben den Feind heute Nacht besiegt.“

„Dort ist ein Schiff!“, rief Buri aus. „Es umrundet gerade die Landspitze. Könnte das Vater sein, der uns abholt?“

Grutte sprang auf, stellte sich in die Türöffnung und schirmte seine Augen mit der Hand gegen die Sonne ab.

„Das ist keines von König Alriks Schiffen“, sagte er. „Das ist ein Drache, und es dürstet ihn nach eurem Blut. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Werft eure Schüsseln und das Essen in das Fass mit den Abfällen und folgt mir.“

Die Kinder beeilten sich, den Tisch abzuräumen, während Grutte die Felle, auf denen sie geschlafen hatten, zur Seite räumte. Danach führte er sie tief in den Wald hinein.

Die ersten Blätter verfärbten sich allmählich gelb, und obwohl die Sonne durch das Astwerk schien, war es im Schatten auf dem Boden kalt und feucht.

Die Kinder mussten kräftig ausschreiten, um mit Grutte Schritt zu halten.

„Ob Vater wohl … Was, glaubt Ihr, ist ihm zugestoßen?“, fragte Signy. „Und allen anderen?“

„Ich weiß es nicht“, gestand Grutte. „Jetzt geht es erst einmal darum, ein Versteck für euch zu finden. Die Insel ist nicht allzu groß, und eine Gruppe von Männern kann sie im Handumdrehen durchsuchen. Aber ich kenne einen Ort, der seinen Zweck erfüllen wird.“

Kurz darauf blieb Grutte an einer riesigen Eiche stehen, die einst in einem Wintersturm umgestürzt war. Der mächtige Stamm lag auf dem Waldboden, und die Wurzeln ragten in alle Himmelsrichtungen. Dort, wo sie noch im Boden steckten, befand sich ein großes Loch. Im Laufe der Jahre war der Boden mit Birkenablegern und Brombeersträuchern zugewachsen, und eine dicke Schicht vertrockneter Blätter war in die Senke geweht worden.

„Unter den Wurzeln findet ihr eine Art Höhle“, sagte Grutte. „Dort könnt ihr euch verstecken. Wenn man nichts von ihr weiß, ist sie kaum zu erkennen. Normalerweise hält dort ein Bär seinen Winterschlaf.“

„Wir sollen uns also bei einem Bären verstecken?“, fragte Buri und schnappte nach Luft.

Grutte lachte kurz auf.

„Der legt sich erst zum Schlafen, wenn der Frost kommt“, sagte er und fegte die verdorrten Blätter zur Seite. Die Kinder krochen zwischen die Büsche. Tatsächlich verbarg sich hier ein Loch im Boden, gerade groß genug, dass sie sich hineinhocken konnten.

Grutte schob das Laub wieder zurück an seinen Platz und legte ein paar lange Brombeerranken über die Blätter.

„So“, sagte er. „Ihr bleibt hier, bis ich euch hole. Und denkt daran – macht keinen Mucks!“

Dann eilte er zurück zu seiner Hütte und kam gerade rechtzeitig, als ein Schiff mit drachenförmigem Rumpf in der Bucht vor Anker ging. Eine Gruppe Männer sprang über die Reling und watete an Land. Sie waren mit Speeren und Äxten bewaffnet, und ihr Anführer trug ein kostbares Schwert und einen silbernen Reif um den rechten Arm.

Er trat ohne Umschweife auf Grutte zu und sagte: „Wir sind Herwulfs Männer. Mein Name ist Bodwar, und ich bin sein Heerführer.”

Grutte biss die Zähne zusammen, um sich seinen Zorn nicht anmerken zu lassen. Er hatte schon viel von Herwulf gehört – allerdings nichts Gutes. Herwulf war kein Landbesitzer. Seine Macht bestand einzig aus einer ganzen Flotte schneller Schiffe. Er und seine Krieger segelten von Küste zu Küste, gingen an Land, schlugen zu und plünderten, was das Zeug hielt. Sie waren weithin verhasst, und König Alriks Truppen waren schon mehr als einmal mit ihnen aneinandergeraten.

„Herwulf ist jetzt an der Macht“, fuhr Bodwar fort. „Er hat uns mit dem Auftrag gesandt, drei Kinder zu finden. Ein halbwüchsiges Mädchen und zwei Jungen. Habt Ihr sie gesehen? Wir belohnen denjenigen, der uns sagen kann, wo sie stecken, mit einem Beutel voller Silbermünzen.“

„Kinder?“, wiederholte Grutte erstaunt. „Hier gibt es keine Kinder.“

„Das wollen wir doch erst einmal sehen“, sagte Bodwar. Er wandte sich an seine Gefolgsleute und rief ihnen zu: „Legt los.“

Zwei der Männer hatten bereits die Hütte durchsucht. Sie schlossen sich den anderen an, die sich in kleine Gruppen aufteilten und zwischen den Bäumen umherzustreifen begannen.

„Ihr sagtet, dass Herwulf jetzt an der Macht sei“, sagte Grutte zu Bodwar. „Wie ist das zu verstehen?“

„Ganz einfach“, sagte Bodwar und grinste. „Wir haben letzte Nacht den Hof des Königs angegriffen und König Alrik niedergeschlagen. Er hat sich tapfer geschlagen, das muss man ihm lassen.“

Grutte verzog keine Miene und bereitete sich auf das Schlimmste vor.

„Nachdem Alrik gefallen war, haben sich viele seiner Männer ergeben und sind in den Dienst von Herwulf übergetreten“, fuhr Bodwar fort. „Der Rest hat den Weg ins Jenseits gefunden – mit ein wenig Hilfe. Herwulf ist nun der König von Nordmark. Aber Alrik hat drei Kinder, die wir nicht auf dem Königshof vorgefunden haben. Eine Dienstmagd hat mir gesagt, sie habe zwei Männer mit drei Kindern in einem Boot wegrudern sehen. Und Ihr sollt ja König Alriks treuester Gefolgsmann sein.“

„Ich bin kein Freund von Alrik“, erklärte Grutte und spuckte auf die Erde. „Ja, ich stehe schon lange in seinen Diensten, aber als ich zu alt und schwach zum Kämpfen wurde, jagte er mich fort. Einem zahnlosen Jagdhund opfert man kein Essen, sagte er. Diese Worte habe ich nie vergessen. Seine Kinder sind nicht hier. Aber wenn sie es wären, so wäre ich der Erste, der sie fangen würde.“

Bodwar stieß ein kurzes Lachen aus.

„Wortgewandt seid Ihr wohl“, sagte er. „Aber ich traue Euch nicht über den Weg, alter Fuchs. Schauen wir zunächst, was meine Männer finden.“

*

Buri fiel das Luftholen schwer. Der feuchte Geruch der nackten Erde in der Höhle war erdrückend. Er konnte Signy und Regin leise atmen hören, ansonsten war alles ruhig. Die dichte Schicht aus welkem Laub schirmte das Tageslicht ab.

Dunkel und kalt wie in einer Gruft ist es hier, dachte er und spürte, wie die Angst in ihm aufstieg. Wenn sie uns aufspüren und umbringen, können sie uns einfach liegenlassen. Begraben sind wir ja eigentlich schon.

Er konnte sie in der dunklen Erde vor sich sehen – die vielen, vielen bleichen Gesichter, die das Tageslicht hinter sich gelassen und an diesem Ort gelandet waren, in ewiger Reglosigkeit erstarrt. Aber immer noch lag Kraft in ihren Blicken, die sie auf die drei verängstigten Kinder in der Höhle gerichtet hatten.

„Die Toten …“, flüsterte Buri. „Sie sehen uns.“

Signy legte die Hand auf seinen Mund und presste ihm den Kiefer zusammen.

„Sei still!“, zischte sie ihm ins Ohr.

Buri gehorchte, während Signy angespannt den gedämpften Geräuschen von draußen lauschte.

Die Blätter raschelten kaum hörbar im Wind. Ein paar Meisen zwitscherten leise.

Plötzlich durchschnitt der Schrei eines Eichelhähers die Luft.

Signy erstarrte. Dann legte sie beruhigend die Arme um Buri und Regin.

Einen Augenblick später hörten sie die Stimmen. Zwei Männer.

„Wie lange wollen wir noch hier noch wie die Verrückten herumirren?“, fragte der Erste. „Das ist doch reine Zeitverschwendung.“

„Da hast du recht“, erwiderte der Zweite. „Aber versuch mal, das Bodwar begreiflich zu machen.“

„Was hältst du von dem welken Laub dort unten? Meinst du, dort könnte sich jemand verstecken?“

„Aber natürlich. Mäuse und Asseln. Nun komm schon, die anderen sind uns weit voraus.“

„Ich schaue trotzdem einmal nach.“

Signy hielt vor Schreck den Atem an und presste ihre Brüder an sich. Jemand stieß eine Speerspitze durch das Blattwerk und stocherte damit herum.

Die Speerspitze streifte Signys Schuh. Dann verschwand sie wieder hinter den Blättern.

„Und, was ist jetzt?“

„Ja, ja, ich komme ja schon.“

Die beiden Stimmen entfernten sich und Signy stieß langsam den Atem aus. Buri und Regin richteten sich auf, so gut es ging. Allmählich fiel die Angst von ihnen ab.

Sie saßen nun schon eine ganze Weile in dem engen Loch, das es ihnen weder erlaubte, aufrecht zu sitzen, noch die müden Glieder zu strecken. Regin bekam einen Krampf im Bein, der immer schlimmer und schlimmer wurde. Er versuchte, das Bein auszustrecken, stieß aber gegen die Höhlenwand.

„Sie sind weg“, flüsterte er. „Wollen wir herauskriechen?“

Signy umklammerte seinen Arm mit festem Griff.

„Hast du nicht zugehört?“, fragte sie. „Wir sollen hierbleiben.“

Regin seufzte inbrünstig, blieb aber gehorsam sitzen.

Eine ganze Weile später hörten die Geschwister, wie Grutte nach ihnen rief. Sie schoben das Blätterdach zur Seite und blinzelten ins helle Sonnenlicht.

„Die Männer sind fortgesegelt“, sagte Grutte. „Ihr seid außer Gefahr. Zunächst. Es war wirklich Herwulf, der den Königshof angegriffen hat. Sie haben …“

„Herwulf!“, platzte Buri heraus. „Wusste ich es doch! Er war also der Wolf!“

„Was sagst du?“, fragte Grutte verblüfft.

„Ähm … ich hatte da so einen Traum“, murmelte Buri.

„Bestimmt habt ihr schon von Herwulf gehört“, fuhr Grutte fort. „Er und seine Männer sind die größte Bande von Gaunern und Räubern auf dieser Erde. Ich selbst habe gegen sie gekämpft, bevor ich zu alt wurde, um …“

„Grutte“, unterbrach Signy seine Erinnerungen. „Ihr habt kein Wort über Vater gesagt. Was …?“

Grutte schaute sie mit hilflosem Blick an.

„Er … er ist tot, nicht wahr?“, flüsterte Signy.

Grutte nickte.

„Er fiel an der Spitze seiner tapferen Männer“, sagte er. „Und er starb einen ehrenvollen Tod – aber das wird euch kein großer Trost sein.“

Signy begann lautlos zu weinen, und die Tränen liefen ihr über die Wangen.

Unbeholfen legte Buri den Arm um seine Schwester, während Regin erbleichte.

„Das schreit nach Rache!“, presste er heraus. „Dafür wird Herwulf mit seinem Leben bezahlen! Ich werde ihn in Stücke hacken – zuerst seine Hände, dann seine Füße und zum Schluss seinen erbärmlichen Kopf!“

Grutte packte Regin fest an den Schultern.

„Erst, wenn die Zeit reif ist“, sagte er. „Du hast noch einen weiten Weg vor dir. Du musst lernen, deinen Jähzorn zu zügeln, sonst wirst du dich Kopf voraus ins Unglück stürzen. Und du musst den Umgang mit Waffen erlernen. Das gilt für euch alle. Hier wimmelt es von Leuten, die euch am liebsten tot sehen würden.“

„Ich weiß, wie man mit dem Schwert umgeht“, sagte Regin.

„Ganz bestimmt“, sagte Grutte. „Aber du weißt nicht, wie es ist, gegen einen erfahrenen Krieger zu kämpfen. Das musst du lernen – und das kannst du hier. Auch wenn ich mit den Jahren grau wie ein Dachs geworden bin, habe ich meine Kampfkünste nicht verlernt.“

Die Sonne stand schon tief, als Grutte und die Kinder zur Hütte zurückkehrten. Schweigend verzehrten sie ihr Abendessen.

Mehrmals blickten Buri und Regin auf das Wasser hinaus, als hofften sie, ein Schiff mit ihrem Vater an Bord zu sehen. Sie konnten nicht fassen, dass er für immer fort sein sollte.

Als sie ihr Mahl beendet hatten, holte Grutte seine Waffen herbei.

„Ich habe sie immer poliert und von Rost befreit“, erklärte er. „Ansonsten ist nichts daran auszusetzen. Sie haben mir treu gedient, als ich noch in König Alriks Diensten stand. Und jetzt kommen sie euch, seinen Kindern zugute. Ihr seid die Letzten eurer Sippe – wenn ihr sterbt, ist niemand mehr da, der euren Vater rächen wird. Ihr müsst lernen, auf euch selbst achtzugeben.“

Die Kinder nickten. Von einem auf den anderen Moment war ihr Leben aus den Fugen geraten. Nachdem sie vor Jahren bereits ihre Mutter verloren hatten, war nun auch ihr Vater fort. Aber wenigstens gab es Grutte Graubart, der ihnen beistand.

*

Schon am nächsten Tag begann Grutte mit der Waffenausbildung der drei Kinder. Er schnitzte zwei Holzschwerter für die Trockenübungen.

„Ich kann schon gut mit einem richtigen Schwert umgehen“, bemerkte Regin. „Und Buri hat auch schon erste Erfahrungen gemacht.“

„Das glaube ich dir gern“, sagte Grutte. „Aber ich lasse auf keinen Fall zu, dass ihr euch selbst oder gegenseitig Arme und Beine abhackt. Regin, du hast am meisten Erfahrung. Du weist Signy ein, und dann könnt ihr einen Kampf wagen.“

„Soll ich etwa auch das Schwert führen?“, fragte Signy unsicher. „Ich habe es noch nie versucht. Das liegt mir bestimmt nicht.“

„Das werden wir dann ja sehen“, sagte Grutte und drückte ihr das Holzschwert in die Hand. „Nimm das. Und dann legt los.“

„Was ist mit mir?“, fragte Buri.

„Du kommst auch noch an die Reihe“, erklärte Grutte. „Aber fürs Erste kannst du mir helfen, Wasser zu holen.“

Hinter der Hüttentür standen zwei Holzeimer. Grutte und Buri griffen sich jeder einen davon und der alte Mann steckte außerdem einen Brotkanten in die Tasche.

Die Quelle lag ein Stück weit entfernt im Wald. Das Wasser sprudelte zwischen zwei großen Steinen aus der Erde, formte einen kleinen Teich und floss dann weiter zwischen den Bäumen hindurch.

Grutte und Buri stellten die Eimer am Ufer des Teichs ab. Grutte zog das Brotstück aus der Tasche und legte es auf einen flachen Stein.

„Ihr, die ihr hier wohnt, nehmt diese Gabe an“, sagte er leise. „Wir danken euch für das Wasser, das wir uns nehmen.“

Buri blickte ihn erstaunt an.

„Das ist für die Verborgenen“, erklärte Grutte. „Du weißt doch sicher, wer sie sind?“

„Ich habe von ihnen gehört“, sagte Buri. „Sind es diejenigen, die man auch Elfen nennt? Auf dem Königshof gibt es keine, da bin ich mir sicher.“

„Nein, sie bevorzugen den Wald, die Felder und Seen“, sagte Grutte. „Hier gibt es viele. Die Insel gehört ihnen, aber ich bin klug genug, mich gut mit ihnen zu stellen. Sie werden nicht gern gestört, und sie werden wütend, wenn man das Quellwasser mit Schmutz oder Blut verunreinigt.“

„Habt Ihr sie jemals gesehen?“, fragte Buri neugierig.

„Eigentlich nicht“, gab Grutte zu. „Es hat schon seine Gründe, warum man sie die Verborgenen nennt. Meistens sieht man gerade noch, wie etwas über den Waldboden huscht. Aber ist es eine Elfe? Oder nur der Schatten eines Astes, der sich im Wind wiegt? Wenn sie sich doch einmal zeigen, was nur sehr selten passiert, nehmen sie gern die Gestalt eines Tieres an. Du siehst eine Krähe oder eine Amsel, die einfach nur dasitzt und dich anstarrt? Dann ist es wahrscheinlich einer von ihnen.“

„Haben sie dir nie etwas getan?“, fragte Buri.

„Nein“, sagte Grutte. „Im Gegenteil. Wie ich schon sagte, ich stelle mich gut mit ihnen, und manchmal helfen sie mir. Wenn ich auf der Suche nach Pilzen bin, sorgen sie dafür, dass ich die besten Stellen finde. Und in der vorletzten Nacht saß eine Eule auf meinem Dach und schrie dreimal hintereinander. Das war noch nie zuvor geschehen, und ich wusste sogleich, dass etwas nicht stimmte. Ich bin aufgestanden, habe mich angezogen, und kurz darauf seid ihr drei mit dem Boot angekommen.“

Buri nickte nachdenklich.

„Gestern hat uns ein Eichelhäher gewarnt“, sagte er. „Als wir in der Erdhöhle saßen, kurz bevor die beiden Männer kamen. Glaubt ihr, das war eine Elfe?“

„Es würde mich nicht wundern“, sagte Grutte. „Ihr seid meine Gäste und steht unter meinem Schutz. Die Elfen der Insel werden also auch über euch wachen.“

Sie füllten die Eimer mit Wasser und machten sich wieder auf den Weg zur Hütte. Auf dem Weg schaute Buri sich um, in der Hoffnung, eine Elfe zu entdecken. Aber das Glück war ihm nicht hold.

Zurück bei der Hütte waren Regin und Signy in ihren Schwertkampf vertieft. Regin griff an und Signy wehrte seine Hiebe ab, so gut sie konnte.

„Für eine Anfängerin macht sie sich gut“, sagte Grutte zu Buri. „Regin hat viel mehr Übung. Aber er ist viel zu unbeherrscht.“

Offensichtlich wollte Regin den Kampf unbedingt gewinnen. Er machte einen wilden Ausfallschritt, um Signy das Holzschwert aus der Hand zu schlagen, doch sie sprang leichtfüßig zur Seite und traf seinen Schwertarm knapp über dem Ellenbogen, bevor ihr Bruder in Deckung gehen konnte.

Regin stieß einen Schmerzensschrei aus. Das Schwert fiel ihm aus der Hand und er umklammerte seinen Oberarm.

„Verflucht, tut das weh!“, rief er.

Grutte brach in derart lautes Lachen aus, dass Buri und Signy nicht anders konnten, als einzustimmen.

Regin lief puterrot an und schaute säuerlich drein. Dann brachte er aber ebenfalls ein verlegenes Grinsen zustande.

„Habe ich sehr dumm ausgesehen?“, fragte er.

„Ein wenig“, sagte Grutte. „Aber immerhin hat Signy dir etwas beigebracht. Vergiss niemals, deinen Gegner im Blick zu behalten. Ich denke, das reicht für heute. Ihr drei seid doch bestimmt hungrig.“

Wenig später saßen sie zu viert am Tisch. Zu essen gab es gebratenen Fisch und Brot und dazu einen Krug mit Dünnbier, um den Durst zu stillen.

„Ich hoffe, wir fressen Euch nicht die Haare vom Kopf“, sagte Signy.

„Mach dir keine Sorgen“, erwiderte Grutte. „Der Fjord ist voller Fische und es gibt eine Menge Beeren und Pilze, die wir sammeln und für den Winter trocknen können. Die Insel versorgt mich mit allem, was ich brauche – außer Brot, Bier und Salz. Das tausche ich in Fladstrand ein, der kleinen Stadt am anderen Ende des Fjords.“

Buri saß gleich neben der Tür. Plötzlich erblickte er ein Rotkehlchen, das sich draußen auf dem Boden niedergelassen hatte. Es schaute ihn mit seinen winzigen schwarzen Augen an.

Vogel oder Elfe, dachte Buri, wer weiß das schon? Aber es wird wohl besser sein, sich mit ihm anzufreunden.

Er zerbröselte ein Stück Brot zwischen den Fingern und warf dem neugierigen Besucher die Krumen zu.

*

Herwulf blickte wütend auf Bodwar und die anderen Krieger, die seine Flotte anführten. Seit dem Angriff auf den Königshof waren einige Tage vergangen, und die Truppen hatten sich nun in der großen Halle versammelt. Herwulf thronte über allen anderen und trug den königlichen Kronreif um die Stirn. Niemand sollte auch nur einen Augenblick daran zweifeln, dass er jetzt hier an der Macht war. Herwulf war hochgewachsen und sehnig, sein Gesicht und seine Hände von zahlreichen Kämpfen vernarbt.

„Niemand hat sie gefunden?“, fragte er. „Das kann nicht sein!“

„Wir haben alles durchsucht, mein Herr“, erklärte Bodwar. „Aber die drei Halbwüchsigen sind wie vom Erdboden verschluckt.“

„Dann sucht weiter“, ordnete Herwulf an. „Und setzt eine noch höhere Belohnung aus.“

Die Krieger verließen die Halle. Herwulf starrte ihnen hinterher und murmelte: „Elende Nichtsnutze. Aber ich weiß, wer mir möglicherweise helfen kann.“

Herwulf machte sich auf dem Weg zum Stall und wies den Stallburschen an, ihm ein Pferd zu satteln. Dann verließ er den Königshof allein und hielt auf die Hügelkette zu, die sich in einiger Entfernung von der Küste erhob.

Dort lebte eine alte Frau, von der jeder gehört, die aber kaum jemand mit eigenen Augen gesehen hatte. Ihr Name war Alrune, und es wurde gemunkelt, dass sie der Zauberei kundig sei und mit dunklen Mächten in Verbindung stehe.

Herwulf folgte einem schmalen Pfad, der sich zwischen Felsbrocken und krummen Kiefern hindurchwand. Er führte hinauf zu einer Kate, die ebenso grau und moosbewachsen war wie der Felsen, an den sie gebaut worden war.

Als Herwulf sich der kleinen Hütte näherte, scheute sein Ross plötzlich. Es verdrehte die Augen, bis das Weiß des Augapfels zu sehen war, und bleckte die Zähne.

Herwulf band das Pferd an einem Baum fest und trat zu Fuß an die Kate heran. Kurz bevor er die Tür erreicht hatte, zögerte er. Die Angst des Tieres hatte auf ihn übergegriffen.

„Herein“, ertönte eine Stimme aus dem Inneren der Behausung. „Es ist zu spät, um jetzt noch umzukehren.“

Herwulf klopfte das Herz bis zum Hals, aber er öffnete die Tür. Ein stechender Geruch nach verbranntem Holz und getrockneten Kräutern schlug ihm entgegen. Die Flammen der Feuerstelle tauchten die Hütte in ein halbdunkles, rötlich-gelbes Licht.

Vor dem Feuer saß eine Frau auf einem Schemel. Ihr faltiger Hals ragte aus der Pelzdecke heraus, in die sie sich gehüllt hatte, und lange graue Haare umrahmten ihr Gesicht.

„Ihr seid also gekommen, um den Rat der alten Alrune zu suchen?“, fragte sie.

„Ja“, antwortete Herwulf. „Und ich werde Euch großzügig dafür entlohnen. Es geht um die drei Kinder König Alriks. Sie sind spurlos verschwunden, und ich möchte wissen, wo sie sich aufhalten. Ich mache mir Sorgen, dass ihnen etwas zugestoßen sein könnte.“

Alrune brach in gackerndes Gelächter aus.

„Es gibt keinen Grund, mich anzulügen“, sagte sie. „Ein kluger Gärtner weiß, dass man Unkraut ausreißen muss, damit es nicht wiederkehrt. Ich werde die Kinder für euch aufspüren.“

„Und was wollt Ihr dafür haben?“, fragte Herwulf.

Ein hinterlistiges Lächeln glitt über Alrunes Gesicht.

„Über meinen Lohn können wir später sprechen“, sagte sie. „Ich mag es, wenn man mir etwas schuldet. Und nun ans Werk. Dort drüben in der Ecke steht ein Korb. Bringt mir seinen Inhalt.“

Herwulf hob den schweren, runden Gegenstand aus dem Korb. Als er einen genaueren Blick darauf warf, ließ er ihn beinahe fallen.

Es war ein abgetrennter Kopf, vertrocknet, schrumpelig und vom Alter geschwärzt.

„Ja, schön ist er nicht“, sagte Alrune und gluckste. „Aber man kann ihn gut um Rat fragen. Die Toten sehen, was den Lebenden verborgen bleibt.“

Herwulf reichte Alrune den Kopf. Sie legte ihn in ihren Schoß und zückte ein Messer.

„Streckt die Hand aus!“, befahl sie.

Herwulf gehorchte. Alrune ritzte einen kleinen Schnitt in sein Handgelenk, tief genug, dass sich ein paar Blutstropfen lösten. Dann legte sie das Messer zur Seite, fing etwas Blut mit dem Finger auf und benetzte die rissigen Lippen des verstümmelten Toten damit.

„Nun dann, mein Lieber“, flüsterte sie. „Ein wenig Lebenskraft für dich – solange der Vorrat reicht. Und jetzt verrate bitte dem Wolf, wo die drei Kitze sich verstecken.“

Das tote Gesicht verzerrte sich wie unter Schmerzen und der Mund öffnete sich weit. Die Worte, die herauskamen, klangen so kraftlos wie das Rascheln des Windes in trockenen Blättern.

„Umgeben von Wasser. Unter Eichenwurzeln. In den Tiefen der Erde.“

„Die Insel!“, platzte Herwulf heraus. „Wusste ich es doch! Bodwar, dieser Narr, hat sich von dem alten Einsiedler an der Nase herumführen lassen.“

Alrune hielt ihm den abgetrennten Kopf entgegen. Herwulf unterdrückte ein Schaudern und legte ihn zurück in den Korb.

Dann verließ er die Kate der Alten, so schnell er konnte, stieg auf sein Pferd und ritt im Galopp zum Königshof zurück.

*

Signy, Regin und Buri saßen auf einem flachen Felsen in der kleinen Bucht, wo Grutte sein Boot vertäut hatte. Grutte selbst war kurz zuvor mit einem ganzen Netz voller Dorsche zurückgekehrt und hatte den Kindern gezeigt, wie man die Fische ausnimmt.

Die drei Geschwister schnitten die Bäuche der Fische auf, warfen Köpfe und Eingeweide in einen Eimer und den Rest des Fischs in eine große Schüssel.

Der Nachmittag war sonnig und der Himmel klar, aber weit draußen, an der Mündung des Fjords, türmte sich tief über dem Meer eine graue Wolke auf.

„Ich hoffe, es bleibt ein paar Tage lang trocken“, sagte Grutte. „Wenn wir diese Fische im Wind trocknen, halten sie sich den ganzen Winter.“

Signy entsorgte eine weitere Ladung Fischinnereien im Eimer und wischte sich die schleimigen Finger im Gras ab.

„Was für eine eklige Pampe“, stellte sie seufzend fest. „Das ist Arbeit für das Gesinde.“

„Siehst du hier irgendwelche Bediensteten?“, fragte Grutte. „Ihr müsst schon selbst mit anpacken. Schaden wird es euch nicht.“

„Ich wünschte, Herwulf wäre hier“, sagte Regin mit zusammengebissenen Zähnen. „Dann würde ich es ihm schon zeigen.“

Buri hielt einen Dorsch an der Schwanzflosse gepackt und ließ ihn hin und her baumeln.

„Das hier ist Herwulf“, sagte er mit einem schiefen Grinsen. „Was sollen wir mit ihm tun?“

„Sterben soll er!“ Regin lachte. Er schnappte sich den Fisch und stieß ihm das Messer tief in den Bauch.

Grutte hatte sein Fischnetz zum Trocknen aufgehängt und war damit beschäftigt, es vom Seetang zu befreien, während er gleichzeitig den Himmel im Auge behielt.

Plötzlich erstarrte er.

„Irgendetwas nähert sich über den Fjord“, sagte er. „Aber die Sonne blendet zu sehr. Ihr habt noch junge, wache Augen. Könnt ihr erkennen, ob es ein Fischerboot oder etwas anderes ist?“

Alle drei Kinder sprangen auf und spähten über die Wellen hinweg.

„Für ein Fischerboot ist es zu groß“, stellte Regin fest.

„Es … es ist ein Drachenschiff!“, rief Buri einen Augenblick später aus. „Und es hält direkt auf die Insel zu.“

„Das können nur Herwulfs Männer sein“, sagte Grutte.

„Aber warum kehren sie zurück?“, fragte Signy. „Sie haben doch die ganze Insel durchkämmt.“

„Wer weiß das schon“, murmelte Grutte. „Aber es gefällt mir ganz und gar nicht. Ihr müsst euch wieder verstecken.“

Grutte schaute zum Schiff hinaus. Es näherte sich schnell, hatte die Segel gehisst und wurde von der frischen Brise über das Meer getragen.

Währenddessen eilten die Kinder in den Wald. Den Weg zur umgestürzten Eiche kannten sie mittlerweile.

Alle drei fürchteten sich davor, was mit ihnen passieren würde, wenn man sie entdeckte, aber keiner wagte es, seine Bedenken laut auszusprechen. Sie wussten, dass es Unglück bringen konnte, seine Befürchtungen in Worte zu fassen.

Bei der alten Eiche angekommen, blieb Buri plötzlich wie angewurzelt stehen.

„Wir … wir können uns hier nicht verstecken“, keuchte er.

„Was sagst du?“, fragte Signy verblüfft.

„Die Toten – sie kennen unser Versteck“, erklärte Buri. „Wenn wir uns dort unten verkriechen, werden wir erwischt.“

„Das bildest du dir nur ein“, sagte Regin.

Im selben Augenblick ertönte über ihren Köpfen eine Folge heiserer Schreie. Erschrocken blickten die drei Geschwister zum Himmel hinauf. Zwei Mäusebussarde schwebten hoch über ihnen, getragen vom Wind.

„Hört ihr?“, fragte Buri. „Sie warnen uns.“

Regin und Signy tauschten einen zweifelnden Blick aus.

„Diese Männer wollten schon beim letzten Mal nichts mehr, als uns möglichst schnell zu finden“, sagte Signy. „Und dieses Mal werden sie bestimmt noch gründlicher suchen. Mag sein, dass diese Höhle eine tödliche Falle ist. Aber haben wir eine Wahl?“

„Wir könnten versuchen, ihnen davonzulaufen“, schlug Regin vor. „Sie können schließlich nicht überall zugleich suchen.“

Mit Regin an der Spitze schlichen die drei fort von der Eiche weiter in den Wald hinein. Ängstlich lauschten sie auf jedes noch so leise Geräusch und schauten sich unablässig nach allen Seiten um. Zwischen den Bäumen wurde es immer dunkler. Die Sonne war hinter den Wolken verschwunden und ein kalter Wind blies über die Insel.

Es dauerte nicht lange, bis sie in einiger Entfernung Stimmen vernahmen – Männerstimmen, die sich gegenseitig etwas zuriefen. Und die sich ihnen rasch näherten.

„Wir müssen hier weg“, flüsterte Regin.

Sie eilten in die entgegengesetzte Richtung, tunlichst darauf bedacht, nicht zu viel Lärm zu machen.

Dann drangen plötzlich weitere Stimmen zu ihnen durch, diesmal von vorn, wo sich eine weitere Gruppe von Herwulfs Männern näherte.

Die Geschwister blieben stehen und blickten einander entsetzt an. Wohin sollten sie sich jetzt wenden?

Plötzlich wurde es kälter und der feuchte Wind vom Meer verdichtete sich zu einem nasskalten Nebel, der Bäume und Sträucher in einen grau-weißen Schleier hüllte.

Jetzt, da sie nichts mehr sehen konnten, wirkte jedes Geräusch umso stärker auf die Kinder ein, und mit angehaltenem Atem lauschten sie den vielen Stimmen um sie herum.

„Verfluchter Nebel!“, sagte einer der Männer. „Man sieht kaum die Hand vor Augen.“

„So finden wir sie doch nie“, meinte ein anderer.

„Immer dieses Genörgel“, erwiderte jemand Drittes scharf. „Sie sind hier auf der Insel, das weiß ich. Sucht weiter! Schaut hinter jeden Baum und unter jeden Busch. Dieses Mal entkommen sie uns nicht.“

Das muss Herwulf sein!, dachte Regin und zitterte vor Wut und Angst am ganzen Körper.

Jetzt näherten sich die Stimmen von beiden Seiten, und die Geschwister konnten sich nicht entscheiden, ob sie um ihr Leben rennen oder sich auf den Waldboden kauern sollten, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden.

Dann hörten sie etwas Seltsames in den Bäumen zu ihrer Rechten. Drei helle Stimmen. Kinderstimmen.

„Gleich finden sie uns.“

„Wir müssen hier weg!“

„Kommt schon! Laufen wir hier entlang!“

Herwulfs Krieger stimmten ein aufgeregtes Gebrüll an und brachen durch das Unterholz in Richtung der Stimmen.

Ein paar der Männer liefen dicht an Regin, Signy und Buri vorbei, bemerkten sie aber nicht, da sie nur den Stimmen hinterherjagten, die sie immer weiter in den Wald hinein lockten.

Es dauerte nicht lange und alle Krieger waren auf dem Weg zur anderen Seite der Insel. Erst jetzt wagten es Signy, Regin und Buri, sich vom Boden aufzurappeln.

„Diese Stimmen“, stellte Signy verwirrt fest, „die klangen genau wie wir!“

„Das waren die Elfen“, sagte Buri. „Ganz bestimmt.“

„Was sagst du da?“, fragte Regin verblüfft.

„Grutte hat mir von ihnen erzählt“, erklärte Buri. „Er ist ihr Freund, und daher helfen sie uns.“

Die Kinder nutzten die Gunst der Stunde, um sich unbemerkt zurück zu Gruttes Hütte zu schleichen. Noch immer war die ganze Insel in dichten Nebel gehüllt, aber sie wussten, dass der Wind vom Meer her blies, und solange sie ihn zu ihrer Rechten spürten, waren sie auf dem richtigen Weg.

Als sie ihr Ziel erreichten, war es bereits dunkel, und Grutte lief unruhig vor der Hütte hin und her. Als er die Kinder erblickte, legte er einen Finger an die Lippen und zeigte auf das Drachenschiff, das in der Bucht vor Anker lag. Eine Wache stand an der Reling und schaute auf den Fjord hinaus.

Grutte und die Kinder entfernten sich ein Stück von der Hütte, und sie erzählten ihm im Flüsterton, was sie erlebt hatten.

„Wir müssen euch so schnell es geht von der Insel fortschaffen“, erklärte Grutte. „Aber zuerst müssen wir uns überlegen, wie wir diesen Wachmann dort oben ablenken.“

Grutte weihte die Kinder in seinen Plan ein. Dann schlenderte er zum Strand hinunter und rief: „He, da oben! Kann ich Euch etwas fragen? Ist Herwulf ein guter Dienstherr?“

Der Wachmann schaute ihn verblüfft an.

„Ich kann nicht klagen“, antwortete er. „Jeder bekommt einen Anteil an der Beute. Man sollte nur nicht versuchen, sich Herwulf zu widersetzen. Denkt Ihr darüber nach, in seine Dienste zu treten? Wenn ich ehrlich bin, halte ich Euch für zu alt.“

„Ich bin nicht mehr so jung wie früher“, gab Grutte zu. „Das stimmt schon. Aber ich habe nichts von meiner Stärke eingebüßt. Es sollte mich nicht wundern, wenn ich einen Grünschnabel wie Euch noch bezwingen könnte.“

Der Wachmann lachte spöttisch.

„Wollt Ihr mich auf die Probe stellen?“, fragte Grutte. „Ein flotter kleiner Ringkampf? Wenn ich Euch bezwinge, werdet Ihr zugeben müssen, dass ich der Bessere von uns beiden bin. Gewinnt Ihr, lade ich Euch auf einen großen Krug Bier ein. Wollt Ihr es wagen?“

Der Wachmann grinste breit.

„Und ob!“, rief er aus. „Einen Krug Bier könnte ich schon vertragen!“

Er legte seinen Speer nieder und sprang an Land. Breitbeinig stellte er sich Grutte gegenüber auf. Dann fassten sie einander an den Oberarmen und versuchten mit aller Kraft, den anderen niederzuringen.

Grutte kämpfte, so hart er konnte, um nicht gleich umgestoßen zu werden. Aber Hilfe nahte bereits. Die drei Geschwister hatten sich versteckt und darauf gewartet, ihren Teil des Plans in die Tat umzusetzen.

Leise eilten sie auf die kämpfenden Männer zu. Regin und Buri packten jeweils eines der Beine des Wachmanns. Signy schlang ein Seil um seinen Hals und zog es zu. Gemeinsam schafften sie es, ihn zu Fall zu bringen.

Grutte stopfte ihm ein Tuch in den Mund, um zu verhindern, dass er um Hilfe rief. Dann banden sie ihm die Hände und Beine zusammen.

„Geschafft“, ächzte Grutte. „Aber der Bursche hatte recht. Ich bin wirklich zu alt für so etwas.“

„Muss … muss er getötet werden?“, fragte Regin zögerlich.

Grutte schüttelte den Kopf.

„Ich würde lieber darauf verzichten“, sagte er. „Ich habe so viele Männer im ehrlichen Kampf getötet. Aber einen Gefesselten abzuschlachten, als wäre er ein Schaf oder ein Kalb – nein. Auch, wenn er es wahrscheinlich verdient hätte. Aber jetzt kann er keinen Alarm schlagen und sich nicht mehr vom Fleck rühren. Wir verschwinden jetzt von hier.“

Die Kinder kletterten in Gruttes Boot. Er hisste das Segel, stieß das Boot vom Ufer ab und ließ es auf das Wasser hinausgleiten.

Die Insel hinter ihnen war noch immer in dichten Nebel gehüllt, aber der löste sich in der hereinbrechenden Dunkelheit rasch auf.

 

Sie segelten immer weiter in den Fjord hinein. Die Wellen schlugen leise gegen den Bug und der Mast knarrte, während der Wind das Segel aufblies. Ansonsten war alles still.

Kurze Zeit später hatte die Dunkelheit das Boot verschluckt.

„Als wären wir ganz allein auf der Welt“, flüsterte Buri.

„Das sind wir doch auch“, sagte Signy. „Vater … Vater ist tot. Und auf dem Königshof haben wir keine Freunde mehr.“

„Und Herwulf wird die Suche nach euch nicht so schnell aufgeben“, sagte Grutte. „Aber wo könntet ihr jetzt Zuflucht finden?“