Die Kirsche auf der Torte aller Katastrophen - Marie Pavlenko - E-Book

Die Kirsche auf der Torte aller Katastrophen E-Book

Marie Pavlenko

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Beschreibung

Dicht und ergreifend: Wunderschöne Geschichte über das Leben einer Abiturientin in all seinen Farben, ab 13 Jahren.

Abitur in Sicht! Noch nie war Deborahs Leben so voller Chaos wie jetzt. Während ihre beste Freundin Schlag bei den Jungs hat, fühlt sie sich hässlich und ungeliebt. Ihr Herz schlägt für Victor, aber der sieht sie nur als Kumpel. Doch das Schlimmste ist, dass ihre Mutter immer mehr in sich selbst verschwindet und ihr Vater eine andere Frau küsst. Eins steht fest: Es braucht Freunde, Mut und viel Humor, um die Wolken wegzudrücken, die sich da so hartnäckig vor die Sonne schieben.

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Das Buch

Abitur in Sicht! Doch statt von der Zukunft zu träumen, steht Deborahs Leben Kopf. Sie muss dabei zusehen, wie sich ihre Mutter immer weiter von ihr entfernt. Und Victor, für den ihr Herz schlägt, ist vergeben. Nur Isidor, der hässlichste Hund der Welt, weicht nicht von ihrer Seite. Eins steht fest: Jetzt ist die genau die richtige Zeit für gute Freunde, Mut und viel Humor.

Die Autorin

© Privat

Marie Pavlenko wurde 1974 in Lille geboren und studierte Literatur an der Sorbonne. Sie unterrichtete zuerst Französisch in Jordanien, zog dann nach Paris, wo sie 15 Jahre lang als Journalistin arbeitete. Heute ist Marie Pavlenko in ihrem Heimatland eine vielfach ausgezeichnete Autorin. Sie lebt mit ihrer Familie und ihren Katzen in Montreuil und widmet sich ganz dem Schreiben.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor*innen und Übersetzer*innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator*innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer*in erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Gäbe es nicht wenigstens einen, der liebt,so würde die Sonne erlöschen.

Victor Hugo, Die Elenden

Meinen Eltern gewidmet und meiner Schwester,die das Slummen im Elternschlafzimmer erfand.

Der Umschlag ist weiß. Die Briefmarke rot.

Ein neutral wirkender Brief, wäre da nicht die enge, nervös wirkende Schrift, die ich so gut kenne.

Victors Schrift.

Ich lege den Umschlag auf mein Bett.

Ich wage es nicht, ihn zu berühren, geschweige denn, ihn zu öffnen. Im Augenblick kann er noch alles enthalten: Abschied, Einsamkeit, Kummer, Trauer, Spott, Ströme von Tränen, Hoffnung, Zukunft, tonnenweise ausgelassenes Gelächter, zwitschernde kleine Vögel, das Leben in Schön.

Solange ich so tue, als ob der Umschlag nicht da wäre, bleibt alles möglich.

Ich stehe auf, sammle einen herumliegenden Slip ein, schließe mein Handy ans Ladegerät an, obwohl es einen Ladezustand von 98 Prozent aufweist, schaue zu, wie Isidor auf meinen Teppich sabbert. Verschiebe meine Nachttischlampe zwei Zentimeter weit, schleudere meinen Slip quer durchs Zimmer. Isidor hebt ein Ohr, als der Slip am Boden landet.

Ich seufze.

Ich nehme den Umschlag in die Hand.

Ich will es wissen.

KAPITEL 1

Deborah bereitet sich auf die Schule vor

Ein schreckliches Geräusch dröhnt mir in den Ohren. Es klingt wie ein wütender Staubsauger, der gerade ein Söckchen verschlingt. Ich versuche es auszublenden und mich stattdessen auf meine traumhafte Umgebung zu konzentrieren. Hatte ich schon gesagt, dass sie absolut traum-haft ist? Ich muss das näher erläutern: Ich liege an einem schneeweißen Sandstrand unter einer Kokospalme, deren Wedel leise in der leichten Brise rascheln. Der Himmel ist strahlend blau, strahlend ist auch mein Lächeln. Ich will ja nicht prahlen, doch kann ich auch nicht leugnen, dass ich in meinem rosa Bikini, der meine an sich schon fantastische Figur vorteilhaft betont, einfach hinreißend aussehe. Ich schlürfe einen dieser Cocktails, die mit bunten Papierschirmchen serviert werden, und lausche den Klängen, die ein sonnengebräunter Typ seiner Gitarre entlockt. Er hat eine göttliche Stimme und verschlingt mich mit seinen Blicken. Mickaël? Antoine? Denis? Ich kann mich einfach nicht an seinen Vornamen erinnern, eines aber ist sicher: Er will mich.

Aber das bin ich gewohnt.

Sie wollen mich alle.

Der Staubsauger jault in immer höheren Tönen, jetzt klingt er wie die Opernsängerin Castafiore aus Tim und Struppi, und der schrille Lärm beginnt, meine Umgebung zu verätzen. Ohne dass ich es verhindern kann, löst sich alles auf: der weiße Sand, der sonnengebräunte Typ mitsamt seiner Gitarre. Auch mein Bikini verschwindet.

Ich öffne ein Auge.

Ich liege in meinem schmalen Bett. Es ist immer noch dasselbe, das mir die Eltern zu meinem fünften Geburtstag geschenkt haben. Ich betaste meinen Hintern und stelle fest, dass auch meine fantastische Figur dahin ist, verdrängt von Madame Cellulite, die schon seit Generationen über die weibliche Linie meiner Familie herrscht. Meine Mutter, meine Großmutter, meine Urgroßmutter, sie alle waren ihre Opfer. Man sieht es, wenn man sich die Fotoalben genauer anschaut: Die Cellulite rollt in unseren Adern.

Ich strecke einen Arm aus und schalte den Wecker ab, diesen Mistkerl, der mich aus einem Traum gerissen hat, der so … so … Ach, mir fehlen die Worte, um ihn zu beschreiben.

»Sie wollen mich alle.«

Hilfe!

Ist mir noch gar nicht aufgefallen.

Ich schnaufe trotzig und merke dabei, dass ich ziemlichen Mundgeruch habe. Deshalb seufze ich von nun an nur noch in Gedanken, und denke mir etwas aus: In ein paar Sekunden werde ich das Radio einschalten, und wenn der Song … Ja! Wenn der Song zu den ersten 30 der Topliste gehört (und egal welches Stück es ist, die Wette muss realistisch bleiben), werde ich ein herrliches letztes Schuljahr erleben. Also Achtung, Achtung, Trommelwirbel … die ersten 30, die ersten 30 … die ersten 30 …

»Und bevor ich an Yohann weitergebe, erinnere ich euch an das Zugunglück in Großbritannien. Bisher wurden 1540 Tote gezählt, doch die zuständigen Behörden …«

Au weh.

Aus. Aus, aus, aus!

Ich trinke einen ganzen Liter Wasser. Das soll gut für den Teint sein. Ich habe gestern schon alles bereitgelegt: Sweatshirt, Rock und Ballerinas. Doch das Universum hat anderes vorgesehen.

Es regnet.

Paris ist grau.

Auf meinem Weg zur Wohnungstür gehe ich an der Küche vorbei und rufe meiner Mutter »Bye!« zu. Sie sitzt über ihren Kaffee gebeugt und ihr Haar ist so verstrubbelt, als hätte sie es mit Absicht in diesen Zustand versetzt. Meine Mutter war noch nie sehr redselig, doch in letzter Zeit irrt sie wie ein Geist durch die Wohnung, während mein Vater seinen Lebensmittelpunkt ins Büro verlagert hat. Ich ertrage sie beide nicht mehr.

Bevor ich die Tür zuschlage, überprüfe ich meine Erscheinung in dem alten Spiegel, der im Flur hängt, und mir fällt auf, dass ein Post-it daran klebt. Darauf eine mit rotem Filzstift geschriebene Telefonnummer.

Ich ziehe los.

Unter ihrem schönen fuchsiafarbenen Regenschirm mit Bärchenohren erwartet mich Eloise vor dem Kaninchenstall. Kein Mensch weiß mehr, seit wann unser Gymnasium so genannt wird, aber alle wissen warum: Die Klassen sind so überfüllt, dass man sich wie in einer schlampig geführten Kaninchenzucht vorkommt. In einer Kaninchenbatterie. Eigentlich sollte es so heißen.

Aber das hat alles System.

Jedenfalls steht Eloise vor dem Kaninchenstall.

[Wer ist Eloise?

Meine beste Freundin, die Schwester, von der ich immer geträumt habe, ein absolut geniales Mädchen. Natürlich ist unsere Madame Soulier, Lehrerin für Biologie und Geografie, anderer Ansicht. Ihr letzter Kommentar zu Elo war: »die unbegabteste Schülerin, die ich jemals hatte. Ein leerer Kelch anstelle des Gehirns. Man sollte sie sezieren.« Ist mir aber egal. Ich mag an Elo auch ihren Sockenschuss. ]

Nur durch Regenjacke und Kapuze vom Regenguss geschützt flitze ich zwischen den Pfützen hindurch auf sie zu und erreiche sie mit einem Seufzer der Erleichterung. Eloise lächelt und klimpert mit mascarabeschwerten Wimpern. Ich kenne die Miene, die sie macht. Sie schaut triumphierend drein. Offenbar sind wir in derselben Klasse gelandet.

»Wir sind nicht in derselben Klasse«, raunt sie mir zu.

»Bist du sicher?«

»Ich bin in der TL 2, du bist in der TL 4.«

»Und deshalb strahlst du vor Enttäuschung?«

»Nein, nein, ich verrate es dir, aber du wirst es mir nicht glauben: Ich bin in Erwanns Klasse.«

»Air One? Ist das ein neues Deo?«

»Nein, Erwann, der Bruder von Greg. Du weißt doch, das ist der gut aussehende Typ, der jetzt an der Sorbonne Philosophie studiert!«

»Machst du Witze? Bei Erwann wächst unter der Schädeldecke nur Brokkoli! Auf seinem Planeten ist Victor Hugo ein Fußballspieler, und Descartes hat das Gummiband erfunden. Wer ist überhaupt in der TL 4?«

»Äh … Ich habe da noch nicht so gründlich nachgeschaut«, antwortet Eloise gedehnt, während sie über meine Schulter hinweg unsere Schulkameraden beobachtet. »Ach so, ja, jetzt fällt es mir wieder ein: Jamal! Du kennst ihn, es ist der Typ mit den Vorderzähnen in XXL, der, der Vogelspinnen züchtet.«

»Na super! Und wer sonst noch?«

»Guck doch nicht so! Ihr seid neununddreißig Leute, da werden schon noch ein, zwei Erträgliche dabei sein. Was hast du denn da an den Füßen?«

Ich strecke abwechselnd beide vor. Ich trage apfelgrüne Gummistiefel mit plastisch hervortretenden Augen, das Einzige, was man bei diesem Wetter tragen kann. Meine Converse-Chucks sind gestorben. Ich habe sie im August begraben müssen. Und meine Sneaker mit Schlangendruck haben ihren Geist aufgegeben. Doch ich bin es gewohnt und ertrage stoisch das ironische Lächeln dieses Mädchens, das stets perfekt gekleidet ist. Die Götter müssen sie lieben, denn sie ist hübsch, sie ist witzig und sie kommt immer in die beste Klasse.

Während ich das Jahr mit Tarantula-Man verbringen werde.

Ich muss mich in meinen Froschstiefeln bis zu Raum 234 schleppen. So eifrig ich mich auch umsehe, ich kann nichts Sehenswertes entdecken. Unmengen von Zöpfen, zwei Zahnspangen, buschige Haarschöpfe, eine rote Cap. Kein Sex-Appeal. Kein attraktiver, vom Himmel gefallener Neuer, Typ »Mann meines Lebens«. Mittelmaß, Resterampe, von unscheinbar bis hässlich.

Ich werde als alte Jungfer sterben. Auf meinem Grabstein wird stehen: »Hier ruht Deborah, das Mädchen, das Frösche liebte. Leider hatte keiner davon den Anstand, sich in einen Märchenprinzen zu verwandeln.«

Jamal steht in einer Ecke, mit dem Handy unter der Nase und einer schlammfarbenen Mütze, die er sich bis zu den Augenbrauen heruntergezogen hat. Die riesigen Vorderzähne schauen zwischen den geschlossenen Lippen hindurch. Ich finde ihn abstoßend.

Wir wären das perfekte Paar. Tarantula-Man und Amphibien-Girl.

Ich lehne mich an einen Heizkörper und hole mein Handy raus. Ich will was nachschauen. Dabei bemühe ich mich, den von Tania angeführten Trupp Mädchen zu ignorieren, die sich gegenseitig auf meine Gummistiefel aufmerksam machen. Tarantula-Man und Tania, wenn das kein Glückstreffer ist! Bis jetzt konnte ich ihnen aus dem Weg gehen, doch diese schöne Zeit ist jetzt vorbei. Ich werde auch die Tusse ertragen müssen, sie und ihren gebügelten Pferdeschwanz. Ein ganzes Jahr lang. Tania ist so eine Art Eloise, nur brillanter und weniger sympathisch. Eine sehr gute Schülerin, ein schönes, gepflegtes Mädchen, das in ihre zweihundert Quadratmeter große Wohnung die Crème de la Crème des Kaninchenstalls einlädt. Sie ist die, nach der sich alle Jungen umdrehen. Sie würde niemals Froschgummistiefel tragen, nicht einmal in ihren gruseligsten Albträumen.

Ich fühle mich allein. Nein, noch schlimmer: Ich fange an, über meine Eltern nachzudenken. Seit er in seiner Zeitungsredaktion befördert wurde, ist mein Vater immer weniger zu Hause. Chefredakteur. Klingt eigentlich gut. Man könnte meinen, er hätte sich dazu entschlossen, seine Arbeit zu heiraten. Es sieht ganz so aus, als würde eine Entlassungswelle anrollen. Immer wenn man mal das Glück hat, meinen Vater zu Gesicht zu bekommen, ist er müde, besorgt und abwesend. Was meine Mutter betrifft, so ist sie mal apathisch und mal überdreht. Besonders wenn sie in letzterer Stimmung ist, wird mir angst und bange, denn dann ist es, als ob plötzlich über meinem Kopf ein Plakat mit der Aufschrift »Kümmere dich um deine Tochter!« erscheinen würde, und Bumm! bombardiert sie mich mit Fragen, die ich nicht beantworten mag. (»Welche Gruppe ist denn gerade bei den jungen Leuten in?«), oder aber sie gibt irgendwelchen Schwachsinn von sich, den sie lieber bei ihren Freundinnen abladen sollte. Leider hat sie keine Freundinnen. (»Habe ich dir schon erzählt, dass meine Kollegin Frida zu einem 24-jährigen Deutschen gezogen ist?«) Oder aber sie steht vor dem Spiegel und zupft an ihren Falten herum. (»Glaubst du, das fällt auf, wenn ich mir was in die Backenknochen spritzen lasse?«) Ich erkläre ihr dann, dass sie das gar nicht nötig hat, denn das ist genau das, was sie hören will. Natürlich tut mir das weh, aber ich weiß auch nicht, wie ich ihr sonst helfen könnte. Mit 45 Jahren hat sie doch noch ihr halbes Leben vor sich. Außerdem ist meine Mutter wie ein Planet ganz weit hinten im Sonnensystem: fern. Sie ist einfach sehr weit weg. Ich liebe sie, aber ich habe keinen Schimmer, was wirklich in ihrem Kopf vorgeht.

Sobald ich mein Abi habe, verlasse ich dieses Depri-Nest. Ich könnte mir irgendwo zusammen mit Eloise eine kleine Zweizimmerwohnung mieten …

Eine in ein enges Kostüm eingezwängte Brünette um die 50 huscht eichhörnchenartig herbei. Die Schüler schlurfen hinter ihr her. Eine knapp zwei Meter große männliche Bohnenstange, die ihr Handy in die Tasche stecken will, schlägt mir dabei beinahe mit dem Ellbogen ein Auge aus. Schließlich finde ich einen Platz und lasse mich erschöpft wie eine Schiffbrüchige darauf nieder. Endlich wird es einigermaßen ruhig und ich schaue mich um.

Die Hoffnung hält uns am Leben.

Mit etwas Glück kommt gleich noch ein Nachzügler herein und löscht einzig und allein mit der Macht seiner Aura die Deckenbeleuchtung aus.

»Salut!«

Ich erwache aus meiner trägen Halbmeditation und hebe den Kopf, um die Person anzuschauen, die mich gerade angesprochen hat. Ein Unbekannter hat sich rechts neben mich gesetzt. Ein Unbekannter, den ich nicht kenne, meine ich.

Ich verwandle mich in eine Überwachungskamera. Ich bin Hal in 2001 Odyssee im Weltraum, aber mit Wimpern anstatt eines nackten, dunklen Auges. Der Neue hat kastanienbraunes glattes Haar, haselnussbraune Augen und seine Wimpern … Na ja, die sind mindestens so lang wie die von Betty Boop. Man könnte sogar den Verdacht haben, dass er sie morgens mit der Wimpernzange zurechtbiegt. Er hat sich ein marineblaues Tuch um den Hals gebunden, an den Wangen macht sich zarter Bartwuchs bemerkbar.

Er schaut mich an. Er hat mich gegrüßt und erwartet wahrscheinlich, dass ich zurückgrüße.

Der träumt wohl.

»Guten Tag. Ich bin Madame Chemineau, Ihre Klassenlehrerin«, schmettert die Brünette in den Raum hinein.

Sie steigt auf das Podium, legt ihre Aktentasche auf den Schreibtisch, dreht sich um und geht zwischen den Bänken hindurch. Dabei streichelt sie die Brille, die an einer Kordel vor ihrem verwelkten Dekolleté hängt.

»Mein Fach ist Philosophie.«

Nur noch 54 Minuten.

KAPITEL 2

Warum zum Teufel wird Deborah so gequält?

Ich kann mich nicht mehr an den Lavafluss an Worten erinnern, der aus Eloise hervorbrach wie aus dem eruptierenden Vesuv. Nur eines weiß ich sicher: Das Wort »Erwann« kam darin einunddreißig Mal vor.

Ich habe gezählt.

Ich würde mich gerne auf einen fernen Planeten beamen. Dort könnte es Bäume geben, riesige Blumen, in denen Unmengen kleiner blauer Vögel sitzen und Giraffen mit ganz weichen Hälsen. Und keinen Erwann.

Das wäre fast wie Ferien.

Weil sie nicht ganz bescheuert ist, steigt Eloise dann schließlich doch noch von ihrer Zuckerwattenwolke herab und hört endlich auf, den magischen Vornamen zu wiederholen.

»Beim goldenen Spaghetto! Debo, du siehst irgendwie daneben aus. Ist es wegen deiner Klasse?«

»Nöö …«

Als Eloise und ich in der Mittelstufe waren, beschlossen wir, es so zu halten wie in den Fantasyromanen, die ich so liebe, und Ausdrücke zu erfinden, die unser Erstaunen beschreiben sollten. Wir müssen an die zwanzig am Tag erfunden haben, an drei kann ich mich bis heute erinnern: »Beim verschimmelten Daunenbett von Tante Paulette!« (Paulette ist die verstorbene Großtante meines Vaters, die wir manchmal übers Wochenende in ihrem feuchten Haus in der Normandie besuchten. Mehr als feucht: buchstäblich schimmelig. An den Wänden, in der Toilette, im Kühlschrank, überall wuchsen Pilze. Das Haus triefte förmlich vor Nässe und morgens wachte man dort einfach feucht auf, genauso feucht wie die Laken, das Bett und der Nachttisch. Ihre Federbetten rochen nach Aas.)

Der zweite Ausdruck ist: »Bei der gelblichen Schildkröte von Madame Spercuck!« (Das war eine ehemalige Nachbarin von Eloise mit einem riesigen Terrarium, das die Hälfte ihres Wohnzimmers einnahm. Es war mit Plastikfelsen und mehr oder weniger grünen Pflanzen bestückt, und ihr einziger Bewohner war eine kleine faltige Schildkröte, deren Namen ich vergessen habe. Madame Spercuck nahm sie in die Hand und redete stundenlang auf sie ein. Sie sang ihr auch Chansons von Michel Sardou vor. Die Schildkröte knabberte währenddessen schweigend an ihrem Salatblatt.)

Der dritte und keineswegs seltener benutzte Ausdruck war: »Beim goldenen Spaghetto!« Ich weiß nicht mehr, wie wir darauf gekommen waren, aber ich erinnere mich, dass ich ihn das erste Mal zu Hause angewendet habe. Ich war in der fünften Klasse und saß beim Nachtmittagstee, und meine Mutter fragte überrascht:

»Wo hast du denn das her?«

»Ich habe es zusammen mit Eloise erfunden«, sagte ich und biss in mein nicht mehr ganz frisches Butterbrot.

»Ich verbiete dir, diesen Ausdruck zu verwenden!«

Mit offenem Mund starrte ich sie an.

Meine Mutter wirkte verärgert und schien aus der Küche gehen zu wollen, deshalb hakte ich nach.

»Wenn du mir verbieten willst, etwas zu sagen, dann musst du mir auch erklären, warum. Soweit ich weiß, ist das kein Schimpfwort und kein Fluch!«

Sie drehte sich halb nach mir um, holte tief Luft und meinte mit verkniffener Miene: »Das ist mir zu phallisch.«

»Zu … phallisch?«, wiederholte ich, so als würde mir das helfen, zu verstehen, was sie gesagt hatte.

»Ja. Warum nicht das goldene Dingsda, oder aber das Platin-Byte?«

»Das Platin-B… Kannst du mir bitte sagen, was an einem Spaghetto phallisch sein soll?«

»Alles!«

»Aber kein Mensch behauptet, dass er roh ist«, rechtfertigte ich mich entsetzt.

Ich forderte sie auf, mir bitte ganz genau zu erklären, was ein Penis und ein Spaghetto (roh oder gekocht) gemeinsam haben sollten, doch sie verweigerte die Antwort. Ich lief ihr mit einem Heft und einem Kuli hinterher, bis zur Toilette, weil ich eine Tabelle anlegen wollte, doch sie machte nicht mit. Den goldenen Spaghetto habe ich seitdem zu Hause nicht mehr erwähnt, doch in der Schule brauchten wir uns keine Zurückhaltung aufzuerlegen. Sicherlich lag es an der Reaktion meiner Mutter, dass dieser Ausdruck bis heute überdauert hat.

Jetzt, wo wir in der Oberstufe sind, verwendet Eloise unsere Ausdrücke niemals in der Öffentlichkeit, das ist klar. Aber es ist mir auch recht.

Sie legt mir einen zierlichen Ballerina-Arm um die Schultern. Verglichen mit ihrem sieht meiner eher wie der eines Orang-Utans aus.

»Bist du sauer, weil ich mich in Erwann verguckt habe?«

»Nicht wirklich.«

»Gut, ich verspreche dir, dass ich versuche, mich wieder zu beruhigen.«

Sie bleibt mitten auf dem Gehsteig stehen, schließt die Augen und streckt die Hände dem Himmel entgegen.

»Ich springe in das eiskalte Wasser einer Lagune, das so blau ist wie die Augen von Erw… Nein, ich fange noch mal an: Ich springe ins Wasser, mein Körper kühlt sich ab, ebenso mein überhitztes Gehirn. Einatmen, ausatmen. So, schon geht es mir besser.«

Eloise schlägt die Augen wieder auf. Ihr Metallic-Lidschatten glitzert.

»Was gibt’s sonst noch so?«

Ein paar Tauben, die bis jetzt auf der Lehne einer Bank gesessen hatten, fliegen auf und ich bete, dass sich keine von ihnen auf meiner Schulter verewigt. Denn diese Art Malheur ist mit lodernden Buchstaben in mein Karma eingeschrieben. Wenn man 300 zufällig ausgewählte Personen auf einem Platz versammelt und eine Taube fliegen lässt, wird sie ihr Geschäftchen mit Sicherheit auf mich fallen lassen. Ich nenne das das Katastrophenprinzip, und es trifft immer zu.

Mit angehaltenem Atem verfolge ich die Tauben mit dem Blick. Zum Glück ziehen die gefiederten Ungeheuer in die mir entgegengesetzte Richtung ab.

Ich bin gerettet.

Ich beruhige mich wieder.

»Meine Mutter ist zurzeit komisch. Damit will ich sagen: komischer als sonst.«

Eloise zieht eine ihrer perfekt geschwungenen Augenbrauen hoch.

»Du machst dir Sorgen um deine Mutter?«

»Ach, vergiss, was ich gesagt habe. Ich habe schlecht geschlafen.«

Es hat aufgehört zu regnen und zwischen den sanft auseinanderschwebenden Kumuluswolken schaut blauer Himmel hervor. Eloise umarmt mich, bevor sie sich dem digitalen Türschloss an ihrer Haustür zuwendet.

»Ruf mich an, wenn du deine Mutter weiterhin komisch findest, ja? Oder wenn ich dir etwas über Erwann erzählen soll!«

»Ja, klar …«

Keine Ahnung warum, aber ich spüre ein Kribbeln in den Beinen. Und dann begreife ich: Ich kann nicht nach Hause. Ich bin nur zwei Straßen von unserer Wohnung entfernt und ich kann da nicht hin. Um diese Uhrzeit ist meine Mutter wahrscheinlich zu Hause und hätschelt ihre Depression. Denn es stimmt schon, dass es ihr nicht gut geht. Mir wäre es tausendmal lieber, sie würde wieder ihre geheimnisvollen Reisen unternehmen. Das letzte Mal ist schon ein paar Jahre her, aber als ich noch in der Grundschule und dann in der Unter- und Mittelstufe war, fuhr sie im Frühjahr immer alleine fort. Sie nahm einen Rucksack mit, blieb drei Wochen oder sogar einen Monat lang weg und schickte mir gelegentlich eine Postkarte mit einer kurzen Nachricht (»Hier wachsen die Kakteen bis zum Himmel hinauf. Küsschen, Mama.«). Ich sehnte mich nach einer Karte mit derselben Intensität, mit der sich ein Wüstenreisender nach einer Oase sehnt. Sie fehlte mir und ihr Schweigen verletzte mich. Es war, als würde ich für sie nicht mehr existieren. Mit ihren Karten und den paar Wörtern drauf versuchte sie, einen guten Eindruck zu machen, in Wirklichkeit aber traute ich ihr durchaus zu, mich zu vergessen, mich aus ihrem Leben gelöscht zu haben. Ich lebte dann einfach nur mit meinem Vater zusammen, wir ernährten uns von Hörnchennudeln mit Butter, er ließ mich bei Mastermind gewinnen, ich durfte Filme anschauen. Dennoch kam ich mit ihren Abwesenheiten nur schlecht zurecht.

Wenn sie ihre Rückkehr angekündigt hatte, fuhren wir zum Flughafen, um sie abzuholen. Wir waren immer zu früh dran, wir tranken heiße Schokolade und ich hüpfte aufgeregt herum, erfüllt von der Angst, sie könnte ihren Flieger verpasst haben und ich würde in der Masse der ankommenden Passagiere nicht ihr Gesicht entdecken. Endlich bemerkte ich sie und stürzte auf sie zu. Meine Mutter strahlte dann immer, man hätte meinen können, sie hätte eine kleine Sonne eingefangen und verschluckt. Sie leuchtete von innen. Um dann, mit der Zeit, nach und nach zu verblassen.

Irgendwann hörte ich auf sie zu fragen, warum sie wegfuhr. Ich hatte es satt, mir ihre Ausreden anzuhören: »Du wirst das verstehen, wenn du groß bist.« Und die Variante: »Ich erkläre es dir mal, aber nicht heute.«

Heute bin ich diejenige, die für sich sein will.

Ich beschließe, einen Umweg zu machen. Ich bewundere vollkommen unerschwingliche Spitzendessous, in die ich niemals reinpassen würde. Ich entschließe mich, eine Bäckerei zu betreten und Brot zu kaufen, denn meine Mutter vergisst es derzeit so ungefähr jeden dritten Tag. Ich zähle auch die roten Autos, die an einer Ampel warten. (»Wenn es neun sind, werde ich ein tolles letztes Schuljahr erleben!« Aber es sind elf …) Schließlich gebe ich auf und lehne mich gegen die Tür unserer Wohnanlage.

Ich habe nicht einmal Hausaufgaben auf, mit denen ich mich ablenken könnte.

Ich sehne mich förmlich nach dem morgigen Tag und dem Kaninchenstall.

Nein. Ich freue mich auf heute Abend, auf den Moment, in dem ich ins Bett gehen kann. Allerdings könnte ich da auch gleich hin. Grinsend steige ich die Treppen hinauf, fünfter Stock ohne Aufzug. Dann durchfährt der Schreck wie ein Kugelblitz mein Gehirn, er durchzuckt den Hippocampus, jenen seepferdchenförmigen Teil ganz hinten im Gehirn: Bevor ich mich unter meine Daunendecke kuscheln und traurige Musik hören kann, muss ich noch über das Feld »Isidor muss Gassi« gehen.

[Who the fuck is Isidor?

Ein übergewichtiger Labrador, den wir vor zwei Monaten ohne Halsband, Tätowierung oder Chip auf dem Bürgersteig gefunden haben. Meine Mutter hat ihn mit hochgenommen und behalten. Ganz offensichtlich hat er noch nicht mitbekommen, dass wir ihn in Isidor umbenannt haben, und reagiert folglich nie, wenn man ihn ruft. Er verliert sein Fell büschelweise, als ob er Räude hätte, doch der Tierarzt meint, das wäre Stress. Wohl auch aus diesem Grund hat der Köter meine sämtlichen Schuhe angefressen (Froschgummistiefel, ihr erinnert euch?). Er ist abgrundtief hässlich. Ich hasse es, ihn spazieren zu führen, zumal ich immer warten muss, bis Monsieur die Güte hatte, vor der Heimkehr abzukacken. Er ist der Hund des Schreckens. Eine missglückte Mischung aus betagtem Droopy, einem Beethoven (d. h. der Hund aus der Fernsehserie) mit Psoriasis und einem unter die Räder gekommenen Struppi. ]

Isidor ist meine persönliche Zwangsarbeit. Jedes Mal, wenn meine Mutter erledigt von der Arbeit zurückkommt, fleht sie mich an, mit ihm Gassi zu gehen. Mit anderen Worten: jeden Abend.

Lieber würde ich einen Nacktschnecken-Smoothie trinken.

Ich muss mich seelisch darauf vorbereiten, die Prüfung des Plastikbeutels zu bestehen. Als ich das letzte Mal vergessen habe, das nette kleine Geschenk des lieben Isidor aufzuheben, schrie mich eine mindestens 65-jährige Alte in hautengen Leggings und rosa Beinstulpen an: »Es geht zu Ende mit Frankreich, meine liebe junge Frau, die Jugend ist einfach nicht mehr das, was sie mal war, bla bla bla.« Ich hätte ihr einfach einen verächtlichen Blick entgegenschleudern und dann meiner Wege gehen können, doch ein riesiger verschwitzter Typ zwang mich, das Häufchen zu entsorgen. Ich musste drei Papiertaschentücher opfern und das darin eingewickelte kleine, noch ganz warme Geschenk in meine Tasche stecken. Während ich mit der Entsorgung beschäftigt war, sabberte Isidor der Alten die Knie voll, und sie flötete: »Du armer dicker Teddybär, was für ein schlecht erzogenes Frauchen du doch hast!«

Ich bezwinge die letzten Stufen, öffne die Wohnungstür und entdecke die Apokalypse.

Isidor hat meine Ballerinas in unförmige Haufen aus Leder und Hundesabber verwandelt.

Katastrophenprinzip.

Dieses Schuljahr fängt ja schon mal gut an.

Er heißt Victor.

Seit meiner Ohrfeige, also dem Zwischenfall mit seinem Ellbogen, meinem Auge und meiner Reaktion auf seine Ungeschicklichkeit, setzt er sich auf die andere Seite des Klassenzimmers. Ich glaube, dass er und Tarantula-Man beste Freunde sind. Als ich vor zwei Tagen zusammen mit Elo ein Geschäft mit Bio-Nagellacken plündern ging, habe ich die beiden in einem Café gesehen, wie sie sich gerade mit Hamburgern vollstopften. Das sah eigentlich sehr appetitanregend aus, bis Tarantula-Man ein Stück Hackfleischklops aus dem Mund hing und er damit aussah wie jemand, der an einer sehr, sehr schlimmen Zungenkrankheit leidet.

Philo haben wir jetzt erst seit zwei Wochen, doch Madame Chemineau findet, dass sie uns eine Kurzarbeit vor den Latz knallen muss, um »Ihre Fähigkeit, über ein kniffliges Problem nachzudenken, auf die Probe zu stellen«.

Heute ist der Tag X und ich sitze vor dem linierten Blatt, auf dem in meiner Ansicht nach viel zu schwarzen Buchstaben zu lesen steht: »Kann man alles verzeihen?«

Hinten, am anderen Ende des Klassenzimmers, sitzen Victor und Tarantula-Man tief über ihre Blätter gebeugt und ihre Stifte rasen nur so dahin.

Was soll ich denn jetzt nur schreiben?

Zwei Stunden später würde ich mich am liebsten in einem Waschbecken ertränken. Ich mag mir gar nicht Madame Chemineaus Gesicht vorstellen, wenn sie das Geschreibsel liest, das ich abgegeben habe. Das Geschreibsel auf einer Seite. Beziehungsweise: Nur auf der Vorderseite des Blatts, wenn ich ehrlich bin.

Ich weiß nicht, was mit mir los ist, mir müssen die Neuronen geplatzt sein. Oder sie haben ausgerechnet am Anfang des Schuljahres beschlossen, in Urlaub zu fahren. Danke, liebe Neuronen, nett von euch. Ich bin nicht mehr in der Lage, zwei halbe Sätze zu einem ganzen zu verbinden. Aaalso, verzeihen …

Elo ist vor mir fertig, fröhlich wie ein Bergzicklein ist sie aus dem Kaninchenstall hinausgehüpft. Am Abend will Erwann sie anrufen. Ich schlurfe in meinen Froschstiefeln den Bürgersteig entlang. Bin ich fähig, meiner Mutter zu verzeihen? Das Mindeste wäre gewesen, mir etwas Geld zuzustecken, damit ich mir ein Paar Schuhe kaufen kann.

Abgemacht war, dass sie mein Bankkonto an jedem Fünften des Monats auffüllt, doch der letzte Fünfte, an dem sie das getan hat, ist schon ein Jahr her. Seither bitte ich sie um Geld, wann immer ich welches brauche. Hier ein paar Euros für ein Sandwich, dort ein paar Euros für kirschfarbenen Nagellack. Aber mit den Schuhen wäre es schwieriger. Ich weiß, dass sie das nicht absichtlich macht, sie vergisst nur ständig, Geld abzuheben. Und ich bin »noch zu jung, um eine eigene Bankomatkarte zu haben«. Die Einzige in der gesamten Oberstufe, die dafür noch zu jung ist.

Bei meinem Vater ist das Problem trivialer: Er versteht nicht, warum jemand Schuhe kaufen will. Die, die er trägt, haben wahrscheinlich noch den Ersten Weltkrieg miterlebt. Ja, modisch ist er wirklich voll auf dem Laufenden.

Die Aussicht, mit Isidor noch mal losgehen zu müssen, verkrampft mir den Magen. Ihm verzeihe ich nicht. Nichts. Weder den Umstand, dass er in der Evolution der Hundeartigen einen Rückschritt darstellt, noch seinen räudigen Schwanz oder den Geruch nach verfaultem Fleisch, den sein Maul verströmt. Unverzeihbar.

Wieder einmal beschließe ich, nach der Schule nicht direkt nach Hause zu gehen. Ich lasse mich in den Straßen treiben. Ich betrachte die Gebäude, die Balkone mit den glänzenden schmiedeeisernen Geländern, ich stelle mir vor, wie die Leute in diesen Wohnungen leben. Es sind ihrer so viele, die nebeneinandergestapelt in ihren Wohnungen wohnen und davon überzeugt sind, dass ihr armseliges Leben mehr zählt als das ihrer Nachbarn. Mein Magen knurrt, ich spaziere weiter und fühle mich von den glänzenden Fenstern angezogen wie die Mücken, die auf das violette Licht zufliegen und dann krrrzzz daran verschmoren. Ich schaue, fabuliere und kommentiere in Gedanken, was ich von der Einrichtung sehen kann. Hier ein Wandteppich, der eine ganze Wand abdeckt (»und diese Explosion des Entenkacki-Kakifarbenen symbolisiert die intellektuelle Degeneration unserer westlichen Gesellschaften …«), dort die Wohnzimmerbeleuchtung (von der 99-jährigen Tante Marie-Claude aus Papiermaschee kreiert). Was für ein Leben führt jemand, der eine riesige Wand hinter einer kakifarbenen Stoffbahn verschwinden lässt? Mein Magen knurrt so laut, dass man es weithin hören kann.

Ich schaue mich nach einer Bäckerei um, scanne meine Umgebung.

Und erstarre.

Mein Herz löst sich aus seiner Aufhängung im Brustkorb, es zerspringt und seine tausend Scherben schlagen auf dem Asphalt auf.

Ich könnte mir die Augen reiben, doch es würde nichts nützen, denn was hier vor mir steht, ist in jeder Hinsicht real. Unfähig zu reagieren, hüpfe ich auf der Stelle herum. Einen Augenblick lang bekomme ich keine Luft mehr. Dann drehe ich rasch um und fange an zu laufen, leichtfüßig wie ein Nilpferd in Gummistiefeln.

Vor meinen Augen beginnt alles zu verschwimmen.

Ich laufe weiter, ohne auf die Richtung zu achten. Das schreckliche Bild hat sich in meine Netzhaut eingebrannt.

Er hat mich nicht gesehen.

»Er«, das ist mein Vater.

Mein überarbeiteter Vater, der in einem Café abhängt.

Mein Vater, der eine Frau mitten auf den Mund küsst.

Eine Frau, die nicht meine Mutter ist.

KAPITEL 3

Deborah will sterben, gewiegt von der Welle der stürmischen See

Als ich mich endlich dazu entschließen kann, die Haustür unten aufzuschieben, ist es zwanzig Uhr vorbei. Zum dreihundertsten Mal wische ich meine schweißnassen Handflächen an meiner Jeans ab, doch sie bleiben feucht. Man hat mir unter der Haut Springbrunnen implantiert.

Und was jetzt?

Ich fange an, die Treppe hochzugehen, doch verlangsamt sich mein Tempo mit jeder Stufe, die ich nehme, denn mit jeder Stufe nähere ich mich meiner Mutter.

Wer war diese Frau? Eine Frau mit wunderschönen braunen Locken, die ihr bis zu den Schulterblättern hinabreichen … Aber abgesehen davon?

Ich bin außer Atem, doch das hat nichts mit der Treppe zu tun. Die fünf Stockwerke bezwinge ich normalerweise im Laufschritt. Dieses Mal aber drücken sie mir die Kehle zu.

Ich-will-meiner-Mutter-nicht-begegnen.

»Hallo Mami, hattest du einen schönen Tag?«

→ Heuchlerisch.

»Mama, heute habe ich Papa dabei ertappt, wie er einer anderen Frau die Zunge tief in den Hals gesteckt hat.«

→ Zu direkt.

»Mami, hast du Lust, mit mir eine Visualisierungsübung zu machen? Stell dir vor, du würdest einen deiner Freunde dabei erwischen, wie er seine Frau betrügt. Würdest du ihr sagen, dass ihr Mann ihr Hörner so groß wie ein riesiges Elchgeweih aufgesetzt hat?

→ Schäbig, verletzend und bigott.

»Liebe Mami, ich habe eine schlechte Nachricht für dich.«

→ Beziehungssabotage.

Die Würfel sind gefallen, rien ne va plus und ich kann auch nicht mehr.

Im vierten Stock angelangt lehne ich mich an das Geländer. Ich lausche der Stille im Treppenhaus, eine vordergründige Stille, hinter der sich die tausend häuslichen Geräusche aus den Wohnungen verstecken. Mein Handy klingelt.

»Mami« steht auf dem Display.

Atemlos nehme ich das Gespräch an.

»Bin gleich da … Ich stelle nur meine Tasche ab und schnapp mir Isidor.«

Unsere Wohnungstür knarzt und ich höre das nervige Hecheln unseres vierbeinigen Clochards. Ich überwinde die letzten Meter, setze auf der abgenutzten Wange meiner Mutter einen Kuss ab, halte ihr meine Tasche hin und drehe mich wieder um.

»Ich mache Nudeln, sei in zehn Minuten wieder da!«

»O.k.!«

Ich wische mir die Tränen ab, doch es kommen sofort wieder neue nach und tropfen mir vom Kinn.

Der Hund streckt mir seine farblose Nase entgegen.

»Ich habe es mir anders überlegt. Ich verzeihe dir, Isidor.«

Als ich danach zurückkomme, schiebe ich eine Tonne Hausaufgaben vor, um mir meine kalten Fusilli mit aufs Zimmer nehmen zu können. Bevor ich mich endgültig zurückziehe, schaue ich noch kurz im Wohnzimmer vorbei.

»Was ist das für eine Telefonnummer, die auf dem Spiegel im Flur klebt?« Die einzige Antwort ist das Schnippschnapp einer Schere.

»Wo ist eigentlich Papa?«

»Er bastelt an den Fahnen seiner Nullnummer herum. Er hat wahnsinnigen Stress. Wahrscheinlich kommt er erst in der Nacht nach Hause. Oder morgen.«

Na, so was!

Ich bin von dem Anblick dieses innigen Kusses immer noch so betäubt, dass ich von meiner Umwelt kaum etwas mitbekomme. Doch kurz bevor ich über die Schwelle meines Zimmers trete, fällt mir auf, dass etwas ungewöhnlich ist. Meine Mutter hat geduscht. Ich schaue mir die dunklen Ringe unter ihren Augen und die sich fieberhaft bewegenden Finger genauer an, ihren verstrubbelten Haarschopf. Doch das ist nicht das, was mich am meisten stört. Sie sitzt im Schlafanzug mitten im Wohnzimmer, im Schneidersitz auf dem Boden. Rings um sie herum sind Dutzende von Zeitschriften verstreut. Ganze Stapel. Unmengen von bedrucktem Papier. Das Zimmer ist ein einziges Chaos. Zwanzig Quadratmeter, übersät von Papierstreifen, Papierfetzen, Papierknäulen. Sie liegen unter dem Couchtisch, auf dem Sofa, unter dem Heizkörper, auf und unter der Kommode. Meine Mutter ist nicht gerade ein Putzteufel, vor allem in letzter Zeit nicht, aber noch nie zuvor hat sie unsere Wohnung in einen derartigen Zustand versetzt. Auf ihrem Schreibtisch neben dem Fenster türmen sich riesige Zeitschriftenstapel auf. Ihr Computer, der normalerweise eingeschaltet ist, bleibt heute schwarz und stumm.

Isidor hat sich der Länge nach neben den Heizkörper gelegt, mitten in die Papierwüste hinein. Er hechelt vor sich hin, und als ich mich ihm nähere, klopft sein räudiger Schwanz taktklar auf den Fußboden, und das Papier fliegt nur so durch die Gegend.

Mit dem Teller in der Hand mache ich einen Schritt auf meine Mutter zu. Mit einer riesigen neuen roten Schere, deren Verpackung neben ihr liegt, schneidet sie eine Schildkröte aus.

»Äh … was machst du?«

Vor lauter Eifer hat sie die Zungenspitze in den Mundwinkel gesteckt. Ohne den Blick von ihrer Arbeit zu heben, antwortet sie: »Ich schneide aus.«

»Ach so. Klar.«

Ich ziehe mich zurück, nicht ohne mit meinen Froschstiefeln die Abfallprodukte ihrer Aktivität platt zu treten. Ich weiß, dass ich feige bin, aber ich muss hier raus.

Meine Nacht ist eine lange Abfolge von abwechslungsreichen Albträumen. Aus dem Durcheinander von unerklärlichen Abläufen, verliebten Monstern, monströsen Küssen, Schreien, Streitigkeiten und Beschimpfungen kristallisiert sich ein bestimmter Traum heraus und spult sich wie in einer Endlosschleife unaufhörlich ab.

Eine giftige Spinne ist in unsere Wohnung eingedrungen. Sie hat sich auf groteske Weise dünn gemacht, ist unter den Zinkbeschlägen des Dachs hindurch zu uns hereingekrochen und versteckt sich im Schatten. Meine Eltern jagen sie. Anders als im wirklichen Leben ist meine Mutter sehr aktiv. Ich habe vor dem kleinen Tier derartig Angst, dass es mir vorkommt, als wäre meine Wirbelsäule mit Stacheln gespickt, die in mein eigenes Fleisch stechen. Endlich reckt meine Mutter triumphierend einen ihrer Schuhe hoch. Unter der Innensohle steckt die erstickte, auf groteske Weise zusammengekrümmte Spinne, erstickt am mütterlichen Fußgeruch.

Um sechs Uhr morgens wache ich auf und kann nicht mehr einschlafen.

Wer ist dieser dämliche braune Lockenkopf?

Am nächsten Tag treffe ich mich in der Mittagspause mit Elo vor dem Kaninchenstall. Als sie meine Stiefel erblickt, reckt sie den Daumen in die Höhe. Man muss dazu sagen, dass es gerade 26 Grad Celsius hat. Am Himmel keine einzige Wolke. Aber das ist mir egal.

Ich stehe kurz davor, mein Familiendrama vor ihr auszubreiten, doch sie lässt mir dafür keine Zeit, denn sie legt sofort los. Es geht (oh, was für eine Überraschung!) um Erwann. Ihr scheint überhaupt nicht aufzufallen, wie fertig ich aussehe, und sie schleppt mich in eine Bar. Wir sollen eine Suppe essen, die angeblich gute Laune macht. Elo hat einen ausgeklügelten Schlachtplan aufgestellt, der nun endlich Früchte zu tragen scheint: Erwann hat sie zu seiner Geburtstagsparty eingeladen, die in drei Wochen stattfinden soll.

Sie verkündet mir ihre Neuigkeit, und ich ziehe ein Papiertaschentuch heraus (seit dem Zwischenfall mit Isidor habe ich stets drei Päckchen dabei) und wische ihr den Sabber vom Kinn.

Trotzdem bewundere ich sie. Eloise ist der Pittbull-Terrier des Liebeslebens. Wenn sie sich ein Opfer ausgesucht hat, kann sich ihr nichts und niemand mehr in den Weg stellen und ihr Gehirn arbeitet dann in einer Weise, um die Nobelpreisträger sie beneiden würden. Ich habe sie schon mal dabei ertappt, wie sie eine Stinkbombe auf den Mantel einer potenziellen Rivalin klatschte. Den Mantel konnte man danach wegwerfen.

Gerade eben überlegt sie sich, was sie bei dieser Party tragen wird. »Feminin, aber nicht zu betont, elegant, ohne aufgebrezelt zu wirken …« Ich unterlasse es, sie an unsere Absprache zu erinnern. Der Film, auf den ich schon seit sechs Monaten warte, ein japanischer Anime, läuft in genau jener Woche an. Wir wollten uns jenen Samstagabend dafür freihalten. In meinem Taschenkalender habe ich mir das Datum orange eingerahmt. Irgendwie ahne ich, dass ein japanischer Animefilm und ich es nicht mit Erwann aufnehmen können. Natürlich könnte ich mir den Film auch allein anschauen. Ich bin schon groß und weiß, wie man sich eine Kinokarte kauft. Aber trotzdem.

Ergebnis: Nach der Schule und vor allem einer Englischstunde, in der ich die Zungenspitze so oft gegen die Rückseite der Vorderzähne pressen musste, dass ich beinahe einen Zungenkrampf bekommen habe, schaute ich bei Carrie vorbei, meiner Buchhändlerin.

[Wer ist Carrie?

Ich finde, Carrie sieht aus wie eine Mini-Liane, weil sie so zierlich und gleichzeitig muskulös ist; außerdem hat sie einen Haarschopf wie der Amazonasregenwald an einem Regentag. Komischerweise kommt mir beim Anblick ihrer Haare oft der eigenartige Gedanke, dass wenn ich einen Golfball hineinwerfen würde, ich diesen Golfball niemals wiederfinden könnte. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass Carrie in ihrer Riesenwuschelfrisur ein knappes Dutzend Haarbürsten versteckt. Dabei ist Carries üppige Haarpracht gar nicht mal ihre hervorstechendste Eigenschaft, denn die ist ihr hyperguter Geschmack. Ich kenne Carrie, seit ich sechs Jahre alt bin und sie meinen Eltern supertolle Bücher für mich empfohlen hat. Seitdem gehe ich mehrmals im Monat in ihren Buchladen. ]

»Deborah, Kätzchen, lass mich raten: Du hast dieses Wochenende nichts vor und möchtest deinen Kummer ertränken?«, sagt sie nicht gerade sehr zartfühlend, sobald sie meiner ansichtig wird.

»Ich hasse dich.«

»Nimm ein Schokolädchen.«

Sie hält mir eine Dose voller winziger Schoko-Bücher hin. Nugat und Marzipan.

»Einer meiner Kunden ist Chocolatier, und das hier ist seine neueste Erfindung. Ich habe ihm vorausgesagt, dass sie ihm Frauen, Reichtum und einen Privatjet einbringen wird.«

Ich knabbere drei kleine Bücher weg, und schon geht es mir ein bisschen besser. Ich bitte Carrie um einen dicken Wälzer.

»Ich habe nicht viele Hausaufgaben und er muss für das ganze Wochenende reichen.«

»Du siehst furchtbar aus.«

»Ach, endlich fällt es jemandem auf.«

Ich wende mich ab und tue, als würde ich Buchtitel studieren.

»Wenn du Lust bekommst, zu reden, weißt du, wo du mich findest. Dumas?«

»Schon gelesen.«

»Montecristo, Musketiere, Halsband der Königin?«

»Positiv.«

Carrie schlängelt sich mit wiegenden Hüften zwischen den Büchertischen hindurch, fährt mit ihren schlanken Fingern über die Taschenbuchrücken.

Sie hat mir beigebracht, dass Bücher einem helfen, sich besser zu fühlen. Indem man sie verschlingt, aber nicht nur. »Stellen wir uns zum Beispiel ein Date vor«, hatte sie mir einmal auf ihre übliche lässige Art vorgeschlagen. »In deinem Alter fühlen sich die meisten in ihrem Körper, der in alle Richtungen wächst, überhaupt nicht wohl. Dieser Körper ist ihnen peinlich, und sie sind krampfhaft um eine coole Haltung bemüht. Und was machen sie, wenn sich die Person, mit der sie verabredet sind, verspätet?« Ich zuckte mit den Schultern. »Sie spielen mit ihrem Handy herum oder zünden sich eine Zigarette an.« Sie lachte herzhaft, mit zurückgebogenem Kopf, wurde dann aber wieder ernst und fuhr fort: »Was total dämlich ist. Das Handy bewirkt, dass das Gehirn schrumpft und man nicht mehr ins richtige Leben findet. Was die Alternative betrifft: Ich habe es auch mal versucht, aber das Ergebnis waren übler Mundgeruch und Teer in den Bronchien. Dazu noch der ruinierte Teint. Also bleiben einem nur die Bücher. Was hat mehr Sex-Appeal als ein Buch? Du sitzt im Restaurant rum und der Auserwählte verspätet sich? Nein, kein Handy, sondern ein Buch. Sofort wirkst du geheimnisvoll, abgehoben, kultiviert … Ein Buch und ein Hauch Gloss auf den Lippen, was könnte sinnlicher sein …« Ich hatte ihr amüsiert zugehört, ihren Rat jedoch beherzigt.

Seitdem gehe ich niemals ohne Buch aus dem Haus.

Carrie wendet sich mir zu.

»Dein Nachtleben schadet deinen Augen.«

»Danke, dein Humor hilft mir wirklich.«

»Humor reimt sich auf amour. Wie wäre es mit Hugo?«

Carrie wirbelt herum. »Ich habe genau das, was du brauchst, mein Zuckeräffchen.«

Sie reicht mir ein backsteindickes Buch.

Die Elenden.

Bis ich es zu Ende gelesen habe, wird Eloise ihren Erwann sicher schon vergessen haben, und ich kann mein früheres Leben wieder aufnehmen. Wahrscheinlich bin ich bis dahin aber auch schon in der Menopause, so dick ist allein schon der erste Band.

»Ich rate dir, gleich noch in den Supermarkt zu gehen und dir eine riesige Packung Taschentücher zu kaufen. Außerdem brauchst du ab jetzt eine größere Umhängetasche …«, fügt Carrie hinzu.

Ich verlasse den Laden mit zwei Backsteinen (die ungekürzte Gesamtausgabe) und besorge mir als Nächstes die Taschentücher. Ich habe das Buch noch gar nicht angefangen und muss trotzdem schon weinen.

Es ist 21 Uhr 30, ich liege mit einer Wärmflasche im Bett. Meine Mutter schneidet immer noch im Wohnzimmer Zeitschriftenbilder aus und verwahrt sie in Papierumschlägen. Beim Abendessen habe ich sie immer wieder beobachtet. Diese gruselige Art, in der sie die Gabel an deren äußerstem Ende hält, die Art, wie sie die Zunge herausstreckt, wenn sie das Essen zum Mund führt. Am liebsten hätte ich sie angebrüllt: »Reiß dich zusammen! Sitz gerade! Der dunkle Lockenkopf sitzt ja auch immer gerade!« Stattdessen habe ich von ihr 50 Euro verlangt, damit ich mir Schuhe kaufen kann. »Morgen«, hat sie geantwortet.

Es gab mal eine Zeit, da liebte mein Vater diese Frau so sehr, dass er seine Gene mit ihren vermischte, um ein Lebewesen entstehen zu lassen, nach dem sie sich angeblich immer gesehnt haben. Leider kam dann kein weiteres nach. In der Geschichte meiner Eltern spukt dieses Phantom herum. Aber gut, ein Haufen Leute hat nur ein Kind. Heute liebt mein Vater eine andere. Oder begehrt eine andere.

Ich glaube, ich muss kotzen.

Ich schlage es auf. Das Buch. Eine Welt.

Im Jahre 1815 war Charles François Bienvenu Bischof von Digne. Er zählte damals fünfundsiebzig Jahre und hatte sein hohes Amt seit 1806 inne.

(Victor Hugo, Die Elenden)

Am frühen Morgen sind die Zeitschriftenausschnitte meiner Mutter verschwunden. Mein Vater ist nach Hause gekommen. Seine Kaffeetasse thront im Spülbecken. Ich habe ihn nicht gesehen. Er ist das einzige Mitglied unseres Haushalts, das nicht weiß, dass wir eine Geschirrspülmaschine besitzen.

Madame Chemineau schaut mich an, als wäre ich eine tote Feldmaus, die sie gerade in ihrer Handtasche entdeckt hat. Meine Note bei der Kurzarbeit ist eine der miesesten.

Sieben von zwanzig Punkten. Mangelhaft.

Es ist die schlechteste der ganzen Klasse, um ganz ehrlich zu sein.

»Wenn Sie sich zusammenreißen und sorgfältig arbeiten, Mademoiselle Dantès, werden Sie sich auch verbessern.«

Tania hatte 18 Punkte, ihre kleinen Freundinnen ergatterten alle irgendetwas über 14. Victor hatte 16 Punkte. Tarantula-Man 17.

Normalerweise bin ich eine gute Schülerin. Entweder habe ich mich also in der Dimension geirrt, oder aber Außerirdische haben mir einen Strohhalm ins Ohr gesteckt und mir damit das Gehirn rausgesaugt.

Sieben von zwanzig.

Mir ist viel zu warm, mein Pulli klebt an der Haut, ich ziehe ihn aus und begegne dabei Victors Blick. Er lächelt. Er fährt sich mit der Hand über das Haar und ich erlebe eine zweite Hitzewelle.

Menopause.

Ich schaue woanders hin, auf mein Spiegelbild im Fenster und sehe, dass meine Haare einen Helm um meinen Kopf bilden. Mit zitternden Fingern drücke ich sie schnell platt. Irgendjemand kichert, vermutlich meinetwegen.

Madame Chemineau ist mit dem Verteilen der Kurzarbeiten fertig und kehrt auf ihr Podium zurück. Ich versuche irgendwie zu bewirken, dass das, was sie sagt, mein Gehirn erreicht, doch ein stählerner Damm blockiert meine Neuronen.

Vielleicht sind sie aber auch schon gestorben.