Die Kiste - Maik Jungfleisch - E-Book

Die Kiste E-Book

Maik Jungfleisch

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Beschreibung

»DAS IST NICHT MEIN BABY!« Wie weit würdest du gehen, um deine Familie zu retten? Sommer, milde Abendstunde. Schauervolles Geschrei dringt aus einer brennenden Scheune. Nicht einer kann sie hören. Bloß Mia. Wer ist diese schauderhafte Frau, von der sie fortan beherrscht wird, und welche Bedeutung haben die bitterbösen Warnzeichen und entsetzlichen Schreie, die ihr Leben von Grund auf verändern? Sie wird in einen Sog des Horrors gezogen, aus dem es kein Entfliehen gibt. Was geschah hier vor vielen Jahren, das seine abscheulichen Spuren bis in das Hier und Jetzt hinterlassen hat? Dem Unerklärlichen muss Mia auf die Spur kommen - oder sie wird sterben. Die Spur führt zu einer Familientragödie, dem Anfang eines unmenschlichen Verbrechens. Das Spiel mit dem Tod: Jungfleisch entführt in psychische Abgründe. Atemraubend, fesselnd und sehr authentisch. | Buchhandlung Rote Zora

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Seitenzahl: 379

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Gewidmet

– in altbekannter Manier –

der Gerechtigkeit.

Egalität als Ziel. Jetzt. Nicht irgendwann.

Und der Liebe, J. & M., mit Dank.

D as Leben in einem verträumten Dörfchen im östlichen Mittelgebirge ist auf den allerersten Blick die vorzügliche Idylle. Traumhafte Anwesen mit großzügigen Grundstücken, eingefriedet durch bunt bepflanzten Natursteinmauern. Alte Scheunen, zeitgemäß saniert, bieten coolen Stadtfeinen mit Neigung zum Dreitagebart und veganer Lebensweise Unterschlupf. Den Jeep vor dem Einlass, das Cabrio in der Garage.

Immer in Schwarz, alternative Lackfarben existieren im hochstehenden Preissegment scheinbar nicht.

Dazwischen quirlige Familien in ehemaligen Höfen, nun aufgeteilt in diverse Wohneinheiten, die munter mit Treckern und Quads durch die Gegend dröhnen.

Teilweise fällt die Interaktion ein wenig schwer: Die ostdeutsche Zurückhaltung und das Problem, in gesamten Sätzen zu kommunizieren, gestaltet das Kennenlernen ein bisschen holprig. Doch hat man sich einmal angenähert und kennengelernt, plaudert man angeregt über das Wetter oder leiht sich gegenseitig etwas aus, eine Heckenschere zum Beispiel. Aber nicht mit Heiligtümern wie dem Aufsitzrasenmäher oder dem gigantischen Häcksler. Ist auch nicht nötig, denn für so etwas beschäftigt der geneigte Städter schließlich ein Gärtner.

Oder einen ganzen Trupp.

Man sieht zügig ein, dass man 3000 Quadratmeter Rasenfläche nur schlecht mit einem elektrischen Handmäher in Prada-Schläppchen kürzen kann. Das wächst einem schnell über den Kopf, im wahrsten Sinne des Wortes.

Es gibt auch viele ältere Herrschaften, die ihren Ruhestand mit Golfspielen, Tratschen und feinem Essen auf dem Land genießen. Jeder der Leute hier scheint mindestens eine Marotte zu haben, die kommentarlos toleriert wird. Ein ehemaliger Barbesitzer betritt beispielsweise seinen eigenen Garten bloß in voller Imker-Montur samt Hut und Gesichtsschutz. Nicht, dass er Bienenstöcke hätte. Natürlich nicht.

Zwingend gehört ein Hund zum Leben: Jagdhunde und Labrador Retriever sind derzeit angesagt. Antiautoritäre Erziehung versteht sich von selbst. Es reicht ja, sich wie ein Jäger in Barbour-Wachsjacke und Hunter-Stiefeln zu kleiden, der Rest kommt von allein. Auf Spaziergängen kommt man gut ins Gespräch. Denn niemand kann so schnell rennen wie eine aufgeregte Hundebande, die Frauchens Gebrüll ihrer Namen für begleitenden Lobgesang ihrer hündischen Heldentaten halten. Und keineswegs für einen Befehl, von ihrem Treiben abzulassen.

***

Die Hauptsehenswürdigkeit des Dorfs, die Kirche, thront im auf die Gotik zurückgreifenden historistischen Architekturstil auf einer von riesigen Eichen gesäumten Erhebung im Ortskern und bietet mit ihrem spitzen Turm und den roten Backsteinen einen traumhaften Anblick. Pünktlich zur halben und zur vollen Stunde erklingt die Glocke unter dem grünen Kupferdach des Kirchturms. Nachts allerdings, von Bodenlichtern sanft angestrahlt, verströmt dieses uralte Bauwerk eine gruselige Atmosphäre. Nicht wenige haben um Mitternacht aus der leeren Kirche Orgeltöne gehört. Herzzerreißende Melodien. Eine alte Legende besagt, dass sich vor vielen Hundert Jahren der Organist aus Liebeskummer im Glockenstuhl erhängt hat.

Ich hingegen habe dort noch zu keinem Zeitpunkt etwas Ungewöhnliches erlebt und erfreue mich an der Schönheit der Architektur. Um die Kirche herum führt eine gepflasterte Straße zur Hauptdurchgangsstraße des Ortes. Diese nutzt der Schwerverkehr als kostengünstige Umgehung der Autobahn, weswegen ich fortwährend froh bin, nicht im Ortskern zu wohnen.

Rechts der Kirche, am südlichen Ortsausgang, erhebt sich ein imposanter Backsteinbau. Der sogenannte Dachsbau, ein ehemaliger Bauernhof, liegt brach.

Geborstene Fenster und ein Urwald aus Unkraut strafen die Gerüchte über ein geplantes Hotel oder ein Restaurant.

Das Gebäude wirkt, als hätte es seit Jahrhunderten kaum einer mehr betreten. Die Scheiben sind größtenteils eingeschlagen, teilweise von vergilbten Gardinenfetzen verhangen. Auf dem maroden, mit roten Ziegeln gedeckten Dach sticht die Luftschutzsirene hoch in den Himmel. Heute zum Glück nur noch von der freiwilligen Feuerwehr genutzt. Bis jetzt habe ich den anhaltenden Alarmton zur Warnung der Bevölkerung nur bei angekündigten Übungen gehört. Und verzichte genauso in nächster Zeit dankend auf den Ernstfall.

Trotzdem rutscht mir immer das Herz in die Hose, wenn die Sirene erklingt und ich warte, wie paralysiert, bis klar ist, dass sie drei Mal heult und somit nur die Feuerwehrleute zusammenruft. Zumal sich in ein paar Kilometern Luftlinie ein aktives Atomkraftwerk befindet, welches zu Störfällen neigt. Die aber immer heruntergespielt werden.

Kein Grund zur Besorgnis.

Direkt neben dem Dachsbau steht eine historische Fachwerkscheune, die alte Geräte und allerhand Gerümpel beherbergt. Das tief heruntergezogene Dach ist so dicht von Moos bewachsen, dass es mittlerweile eine dunkelgrüne Farbe angenommen hat.

Ein zweiflügeliges Scheunentor an der Frontseite ist drei Meter hoch und besteht aus Holz, welches ochsenblutrot getüncht wurde. Das Gebäude selbst ist aus dunkelbraunem Fachwerk erbaut, angefüllt mit roten Backsteinen. Über dem Scheunentor befindet sich ein blindes Bullauge, eingefasst von einem grünen Holzrahmen. Anno 1581 wurde in einen großen Balken über dem Tor geschnitzt.

Die Buchstaben, ehemals golden angemalt, sind über die Jahrhunderte zu einem stumpfen Grau verblasst. An den Seitenwänden des circa 200 Quadratmeter umfassenden Gebäudes ist eine Reihe kleiner Fenster eingelassen, durch die nicht mal ein Kopf passen würde. Die Scheune steht heute unter Denkmalschutz und verleiht der etwas öden Ortseinfahrt wenigstens ein wenig altertümliches Flair.

Dieser Sommer ist besonders heiß, auch wenn im Zuge des Klimawandels jeder der heißeste zu sein scheint, aber in diesem Fall stöhnen die Leute zu Recht: Seit drei Wochen war die Temperatur nicht mehr unter 24 Grad gefallen. Die Höchstwerte lagen bei 35 Grad im Schatten um 15 Uhr auf der Terrasse hinterm Haus.

Wohl dem, der einen eigenen Brunnen besitzt und seinen Garten mit kostenlosem Grundwasser sprengen kann.

Der Rest der Natur, inklusive unseres Gartens, hat ein staubiges Gelbbraun angenommen. Die nahen Kiefernwälder sind so trocken, es vergeht kein Tag, an dem die Feuerwehr nicht ausrücken muss, um ein schwelendes Feuer zu ersticken. Im Radio wird wiederholt gemahnt, keine Zigarettenkippen aus dem Autofenster zu werfen und nicht im Wald zu rauchen. Ah ja.

Die noch erträglichen Vormittage werden von hektischer Betriebsamkeit bestimmt. Man würde nie glauben, wie viel Verkehr in unseren Straßen herrscht. Jeder muss scheinbar täglich gut und gerne sieben Mal losfahren: Natürlich morgens zum Bäcker, vormittags einkaufen, Hälfte vergessen, noch mal losfahren, zum Mittagessen, zum Sport oder zu anderen Vergnügungen, abends zum Essen in ein Restaurant. In etwa so werden die Tage vom größten Teil der Einwohner zugebracht.

Doch an den schwülheißen Nachmittagen verkneift man sich jede Bewegung und bleibt faul im eigenen, parkartigen Garten liegen. Mit Gucci-Sonnenhütchen, riesiger Sonnenbrille, diversen Zeitschriften und einem Kaltgetränk in der manikürten Hand lässt es sich recht angenehm aushalten. Wer dann noch einen hauseigenen Pool im Garten hat, ist angekommen.

Ich für meinen Teil schwitze zwar auch, gehöre aber noch zum arbeitenden Teil der Bevölkerung und kann mich erst gegen Abend so richtig gehen lassen.

***

Ich wache nachts niemals schreiend auf. Dieser Albtraum bleibt womöglich für immer. Ich kann nicht atmen, mich nicht bewegen. Ich kann nur eines: Sehen.

Meine Augen sind so weit aufgerissen, dass ich fühle, wie sie trocken werden und unerträglich brennen. Ich versuche zu blinzeln. Vergebens. Trotzdem quellen Tränen aus meinen Lidern. Die Ränder meines Sichtfeldes verschwimmen, aber mein Blick bleibt starr auf das gerichtet, was sich in der Zimmerecke befindet.

Was in der Zimmerecke unter der Dachschräge kauert und auf mich wartet.

Geduldig und stumm. Jede Nacht.

Jede Nacht, bis ich seine tote Sprache spreche, bis ich sein gärendes Atmen auf meinem Gesicht fühle und bis ich verstehe, was niemals jemand verstehen kann.

Oder sich eine kalte Klauenhand nach mir ausstreckt, mich an sich zieht und ich seine schwarzen, scharfen, zahnfleischlosen Zähne, die aus seinem knöchernen Oberkiefer ragen, an meinem Hals spüre.

Seine Schreie warten darauf, endlich gehört zu werden.

V om Dachsbau und der Scheune drei Querstraßen entfernt liege ich lang gestreckt auf meiner bequemen Couch. Schon 19 Uhr vorbei, genau die Zeit, in der die Abendsonne von Osten durch die Fenster unseres Wohnzimmers scheint. Eigentlich tue ich gar nichts, außer vor mich hin zu schwitzen. Ich trage eine pinke Frottee-Hose und ein zerlumptes Tanktop. Mich sieht niemand.

Zu meinen Füßen schnarcht meine Bulldogge, trotz der Hitze in unserem großen Teppich eingeschlafen. Diesen hält sie für gewöhnlich für ihr Körbchen. Als Hundehalter weiß man, dass man einem Köter nicht widerspricht, außer man riskiert traurige Blicke aus untertassengroßen Augen, denen man ohnehin nicht widerstehen kann.

Ich bin unentschlossen, was ich mit diesem öden Freitagabend als Strohwitwe noch anfangen soll. Fernsehen? Freitags kommt nie Vernünftiges. War vor Jahren der Freitagabend noch die Primetime mit allerhand guten Filmen, so scheinen die Sender diesen Tag heute schlicht aufgegeben zu haben. Außer man mag Spiel-shows, für die man entweder über 90 Jahre alt oder dämlich sein muss.

DVD? YouTube? Netflix? Letztlich kann ich mich für gar nichts begeistern und schnaufe und schwitze ungehalten weiter.

Mein Mann ist bis morgen geschäftlich nicht da und ich neige nicht dazu, allein etwas zu unternehmen. Ich könnte Freunde anrufen. Aber dazu bin ich zu lethargisch. Am Ende hat wirklich jemand Zeit und will etwas mit mir unternehmen. Lieber nicht.

Ich hebe meine Arme und lasse etwas kühle Luft an meine duftenden Achseln.

Mitten in der Bewegung erstarre ich. Die Luftschutzsirene heult mal wieder los. Obwohl mein Herz losgaloppiert und ich hochgeschnellt bin, meldet mein Verstand: Hey, es ist megaheiß und furztrocken. Es brennt! Und recht hat der vernünftige Teil meines Gehirns: Im Abstand von ein paar Sekunden erklingt der Heulton drei Mal, dazwischen heben die Sirenen der Nachbardörfer ebenfalls an.

»Da brennt nicht irgendwas, da brennt irgendwas ganz gewaltig, wenn alle Wehren der Umgebung zusammengerufen werden«, murmele ich vor mich hin.

Weil ich jetzt schon aufrecht sitze, kann ich gleich rausgehen und eine qualmen. Wir rauchen eigentlich nicht mehr, aber auch nicht weniger. Okay, okay, dezent schlechter Scherz, aber immerhin rauchen wir nur außerhalb geschlossener Räume. Meist zumindest.

Ich sehe mit großem Missfallen einen Schweißfleck auf Höhe meines Allerwertesten auf den hellen Sitzpolstern der Couch. Das gibt bestimmt einen hässlichen Rand, wenn es trocknet. Egal.

Ich latsche zur Haustür.

Meine verschwitzten Füße machen ein feuchtes, flapsendes Geräusch auf den kalten Fliesen. Der Kläffer öffnet nur ein Auge zu einem schmalen Schlitz und vergräbt dann mit einem Seufzen seine platte Schnauze noch tiefer im Teppich. Eine Bulldogge hat keine Sprechstunde mehr zu solch nachtschlafender Zeit. Hätte er nicht schon zu Abend gefressen und sein Tagwerk damit erledigt, wäre er sofort mit mir aufgesprungen und freudig in den Garten gestürzt.

Jetzt stehe ich vor der Haustür und greife nach meinem Feuerzeug. Gewohnheitsmäßig trete ich vor, um besser auf die Straße glotzen zu können, denn solch eine Art von Blockwart-Tätigkeit geht einem auf dem Dorf schnell in Fleisch und Blut über.

Ich sehe überrascht eine mächtige, dunkelgraue Rauchwolke über den Tannen der Nachbarn. Ich überlege angestrengt, was sich dort befindet. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mit Feuer nicht gerade viel Erfahrung habe und somit nicht sagen kann, wo es oder gar was da brennt.

Aber eines ist klar: Das kann ich nicht ignorieren. Am Ende brennt mir noch die eigene Bude ab.

Nikotinstängel ausgedrückt, ins Haus geflitzt, Jeans übergezogen, rein in die bequemen Schuhe, Schlüssel geschnappt, ein schnelles »Schön brav sein, bin ich gleich wieder da!«, als Abschiedsformel an meinen Hund, der nicht mal die Augen öffnet, sondern im Schlaf nur mit den Pfoten zuckt, und raus aus der Tür.

Nachdem ich unser quietschendes Tor hinter mir gelassen habe, wende ich mich nach Norden auf dem Weg zur Hauptstraße.

Ich bin verwundert und ein wenig enttäuscht. Ich hatte mit einer Völkerwanderung in Richtung des Geschehens gerechnet. Jetzt ist wirklich was los, wo sind denn alle plötzlich?

Forschen Schrittes laufe ich Richtung Dorfkern. Kein einziges Auto quert die Hauptstraße. Doch als ich auf diese abbiege, wird schnell klar, warum: Sie ist für den Verkehr gesperrt. Na super. Da haben werte Herren was zu tun gehabt.

Vor den weiß-roten Absperrungen steht tatsächlich ein Haufen Leute. Gaffende, wie immer. Gibt‘s etwas umsonst, da kommen alle. Die meisten recken ihr Smartphone in die Höhe und filmen diesen aufregenden Event. Womöglich weiß schon halb Instagram Bescheid.

Langsameren Schrittes, ich will nicht wirken, als wäre ich ängstlich angerannt gekommen, nähere ich mich den Schaulustigen.

Scheinbar steht die alte Scheune neben dem Dachsbau in Brand.

Die Flammen tosen und brausen, lodern meterhoch und nehmen sich des Daches an. Die bloßen Balken zeichnen sich vor dem strahlend blauen Himmel pechschwarz ab, das Gebäude selbst ist ebenfalls kohlrabenschwarz vor Ruß. Durch die kleinen Fensterchen scheint man einen Blick in die Glut der Hölle werfen zu können.

Ich zähle sieben Löschzüge mit rotierenden Blaulichtern und sehe mindestens sechzig Feuerwehrleute im Einsatz. Allerdings ist abzusehen, dass sie den Kampf verlieren werden, ohne je eine Chance gehabt zu haben, und höchstens noch den rechtsstehenden Dachsbau und das alte Einfamilienhaus schräg dahinter, vor den Flammen bewahren können.

Kontrolliertes Abbrennen.

Obwohl ich hundert Meter weit weg stehe, spüre ich die gewaltige Hitzewelle, die von dem Feuer ausgeht, der Rauch legt sich schwer in meine Nebenhöhlen und kratzt mir im Hals. Ich stelle mir unweigerlich vor, wie ein Mensch verbrennt. Das dürfte sehr schmerzvoll sein.

Trotzdem bleibe ich erst mal stehen und zünde mir eine Zigarette an. Diese habe ich mir verdient. Kommt jetzt nicht mehr drauf an.

»Oha, laut, oder?«, quatscht es unvermittelt neben mir los. »Hätte nie gedacht, dass Feuer doch so einen Lärm machen kann!«

Neben mir steht Anton, einer unserer Nachbarn. Anton ist um die fünfzig, von quadratischer Statur mit grauem Bürstenschnitt. Er lebt mit seiner Frau Ina beschaulich direkt am Waldrand. Sein Lebensinhalt ist Golf. Handicap 8. Und um das entsprechend zu demonstrieren, trägt Anton ausschließlich Golfkleidung in wilden Farbmixen, Karomuster dürfen auch nicht fehlen. Wahrscheinlich sind seine Schlafkleider von Lacoste.

»Wem gehört die Scheune?«, frage ich ihn, und er antwortet in seiner eigenen Manier, die großen Interpretationsspielraum lässt: »Ach hier, dem, weißt du doch? … Mhhh, die ganze Sippschaft, da …!«, und schlägt mir lachend sanft mit dem Handrücken gegen die Schulter. Mit anderen Worten: Er hat absolut keine Ahnung.

Wir wenden uns wieder dem Feuer zu und staunen in stummer Faszination.

Ich spüre den aufgeheizten Asphalt unter den Gummisohlen meiner dunkelblauen Stoffturnschuhe. Für den Augenblick reiße ich meinen Blick von den Flammen los und will mich nach einem Mülleimer für meine Kippe umsehen, als ich es plötzlich höre.

Ein Wimmern. Wie von einem Tier.

»Hörst du das?«, frage ich Anton. Er legt lauschend den Kopf zur Seite.

»Was meinst du?« Seine grünlichen Augen blicken fragend in meine blauen.

»Na, da wimmert doch was?! So ein Jaulen? Nicht, dass da noch ein Tier drin ist?«, kläre ich ihn auf und recke suchend den Hals an den Leuten vor mir vorbei, um etwas besser in die Scheune schauen zu können.

»Nein, ich hör nichts. Da kann nichts drin sein, was noch lebt.«

Womit er zweifellos recht hat. In diesem Meer aus Flammen und einstürzenden Dachbalken kann nichts Lebendiges sein. Zumindest jetzt kann es definitiv nicht mehr lebendig sein.

Aber dann wird es lauter. Es kreischt regelrecht. Ich habe einen solch entsetzlichen Laut noch nie gehört und bin geneigt, mir die Ohren zuzuhalten. Dieses schrille Geräusch schneidet mir wie eine Klinge durch meinen Kopf, mein Herz, meinen Bauch.

»Oh mein Gott!«, keuche ich. »Was ist das?!«

»Hä?«, fragt Anton leicht dümmlich. »Ich höre immer noch nichts. Was ist denn los mit dir, du bist so blass?«

Kein Wunder, dass ich blass bin, ich habe mittlerweile das Gefühl, dass ich entweder gleich umkippe oder mich in die Flammen werfen muss um das, was da schreit, eigenhändig zu retten.

Ich versuche tief durchzuatmen. Sehe die Menschen um mich herum, spüre mein Herz bis unter meine Schädeldecke klopfen, meine Ohren rauschen.

Und es kreischt, höher, lauter, schriller. Unaufhörlich. Niemand scheint etwas zu hören. Man hält das Smartphone hoch, lacht miteinander, raucht die eine oder andere Kippe. Da hinten hat tatsächlich jemand ein Bautzener Bier in der Hand. Kostenlose Abendunterhaltung auf dem Lande. Zack.

Und dann sehe ich sie.

Viel zu nah an den Flammen steht eine Frau. Sie zittert und wabert in der Glut des mächtigen Feuers. Ungefähr so, wie man flirrende Hitze wie Wasser auf kochend heißem Asphalt sehen kann.

Dunkelblonde, etwas fettige Haare bis zur Schulter, vereinzelte Strähnen fallen in ihr Gesicht. Sie ist viel zu dick angezogen, trägt einen verschlissenen, grauen Cardigan, den sie fest vor ihrer Brust geschlossen hält. Ihre Finger sind so verkrampft, dass ihre Knöchel weiß hervortreten.

Ich fühle mich plötzlich wie in einen Kokon gehüllt. Nichts höre ich mehr. Nichts, außer der Frau, nehme ich wahr. Verrückt.

Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihre Iris ist so schwarz, dass ich keine Pupille erkennen kann. Für einen flüchtigen Moment wundere ich mich, dass ich diese Details sehen kann, denn ohne Brille sehe ich alles, was sich weiter als fünf Meter vor mir befindet, sehr unscharf.

Ich rieche etwas Furchtbares. Süßlich, wie verdorbener Parmesan, roh und erdig wie Kompost.

Mein Mund füllt sich mit Speichel und dann mit einer Masse, die ich nicht definieren kann, fast wie Erde oder gemahlene Zähne.

Dabei starre ich in diese abgründigen schwarzen Augen und bemerke völlig abgeklärt, dass ich keine Pupille sehe, weil das gesamte Auge aus ihr besteht. Wie schwarze Löcher ziehen diese Augen mich in ihren Bann.

Ich will wegsehen, will mich umdrehen und fortlaufen, aber ich kann mich nicht rühren. Ihr Mund öffnet sich nicht, aber ich kann ihre Gedanken hören: Geh, zischt es nicht sonderlich vernehmbar, nur in meinem Kopf. Verschwinde. Ich warne dich …

Eine laute Stimme dringt an mein Ohr, der Bann ist gebrochen.

»Ähm, ich glaube, hier hat jemand eine Rauchvergiftung!«, höre ich Anton neben mir rufen.

Glücklicherweise begreife ich schnell, dass er mich meint, und reiße mich mit aller Gewalt in die Realität zurück. Er zeigt mit einem Finger hilfesuchend auf meinen Kopf.

Mit einem kräftigen Schlag auf seinen Oberarm, so kräftig man mit 45 Kilo Lebendgewicht eben schlagen kann, und einem gezischten »Halt die Klappe, Mann, alles in Ordnung!«, bringe ich ihn zum Schweigen und stoppe jede weitere Peinlichkeit, bevor jemand auf uns aufmerksam wird. Besorgt blickt er mich an.

»In Ordnung?! Du siehst echt aus, als hättest du einen Geist gesehen. Du bist leichenblass und zitterst! Und außerdem hast du eben geschwankt, als würdest du gleich umkippen.«

Ich achte nicht auf ihn, sondern hebe den Kopf und schaue nach der Frau. Niemand steht jetzt mehr dort, der Platz ist leer.

Nachdem ich Anton erfolgreich abgeschüttelt habe, der mich freundlicherweise nach Hause bringen wollte, stehe ich wenige Minuten später wieder in unserem kühlen Hausflur. Ich atme immer noch zu schnell.

Vor dem Flurspiegel halte ich inne und schaue mir ins Gesicht: Für meine 37 Jahre und ein paar Kippen zu viel am Tag habe ich mich gut gehalten. Lange blonde Haare, ein schmales Gesicht mit einer etwas zu breiten Nasenspitze, einer hohen Stirn und blauen, leicht schrägen Augen.

Ich arbeite seit vielen Jahren vom Homeoffice aus als selbstständige Grafikerin. Neulich hat mich die Kassiererin im Supermarkt beim Zigarettenbezahlen gefragt, ob ich die Volljährigkeit schon erlebt habe. Habe mich dann erfreut bedankt.

»Ach nein, jetzt sieht man es, im Gesicht«, legte die Nebelkrähe nach.

Ich starre sie kommentarlos an. Schönen Dank auch.

Ich bin verheiratet, aber gewollt kinderlos. Meine größte Liebe, direkt nach meinem Mann, ist unsere kleine dicke Bulldogge.

Ich betrachte mich im Spiegel und sehe, dass meine Oberlippe leicht zittert. Ich stoppe das mit einem auf die Lippe gelegten Finger und sage laut: »Jetzt ist es definitiv so weit: Du wirst verrückt.«

Kurioserweise trifft mich diese Erkenntnis nicht direkt bis ins Mark. Bei mir braucht es gelegentlich etwas länger, bis der Groschen fällt.

Auf einmal fühle ich mich todmüde und wie vom Zug überfahren. Ich werfe rasch noch einen Kontrollblick auf die schlafende Bulldogge und gehe ins Bett.

***

Kurz vor dem Morgengrauen, Säuglinge johlen. Sie schreien vor Hunger, wegen einer vollen Windel oder fehlender Beachtung. Aber sie können auch kreischen. Kreischen wie kämpfende Katzen. Keine normale Mutter lässt es so weit kommen, das markerschütternde Crescendo dieses Brüllens hören zu müssen. So muss es klingen, wenn ein Baby verbrennt.

Der Rauch vermag es nicht gnädigerweise zu ersticken und erlaubt ihm nicht, das Bewusstsein zu verlieren, bevor die Flammen zunächst über die pfirsichzarte Haut lecken und dann fressen. Fressen und fressen.

Denn wer schon tot ist, der kann nicht ohnmächtig werden. Und wer aus dem Leben gerissen wurde, ohne überhaupt ein wirkliches Bewusstsein zu erlangt zu haben, der durchlebt den Moment des Todes immer und immer wieder.

Am nächsten Montagmorgen wache ich gewohnt früh auf, obwohl ich mir heute freigenommen habe und der Wecker mal nicht klingelt. Das ist eine der Schokoladenseiten der Selbstständigkeit, dass man sich so etwas erlauben kann. Nicht immer, aber hin und wieder. Als pflichtbewusste Beamtentochter gönne ich mir das ungefähr dreimal im Jahr.

Meine innere Uhr weckt mich immer gegen 6:10 Uhr, das ist die Zeit, zu der ich unter der Woche aufstehe. Genüsslich strecke ich mich, um meiner Chi-Energie freien Lauf zu lassen und drehe mich noch mal um, als mir klar wird, dass ich heute nichts arbeiten will und mir auch sonst wenig vorgenommen habe.

Mit einem zufriedenen Schnaufen ziehe ich mir meine Schlafanzughose aus der Pofalte, lausche kurz, ob der Köter im Wohnzimmer schon wach ist, was man am lauten Schmatzen und Grunzen hört, und schließe erneut die Augen, als ich nur leises Schnorcheln höre.

Ein Tuckern, das rasch lauter wird und ausgerechnet direkt vor meinem Gartentor anhält, stört nachhaltig meine begonnene Entspannung. Türen klappen lautstark, ich höre ein Rumpeln, die ganze Zeit dröhnt der Motor weiter. Schrecklich.

Wie ich das liebe: Aussteigen und den Motor laufen lassen. Und vom Fahrer keine Spur. Unser Schlafzimmerfenster geht zur Straße raus und wir schlafen bei gekipptem Fenster. Auf dem Land kann man das riskieren, denn die Quote der nachts fahrenden Autos liegt etwa bei null.

Es röhrt und tuckert weiter, an Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken. Missmutig schlage ich die Decke zurück und bin mit einem Schritt am Fenster. Getarnt durch die Vorhänge linse ich durch den Spalt. Vor unserer Gartentür parkt ein alter, schmutzig-weißer Transporter, beide Türen sind geöffnet und die Heckklappe wird gerade mit einem Krachen zugeschmissen. Nun ist mir alles klar: Heute ist Sperrmüll, geht mir durch den Kopf. Super.

Nicht, dass ich es nicht schätzen würde, wenn alle vier Wochen Elektroschrott, Möbel und eben alle sperrigen Dinge bequem abtransportiert werden, ohne dass man selbst tätig werden muss. Was mich allerdings nervt, ist, dass dieser Termin Schrottsammler aus allen möglichen Himmelsrichtungen anlockt. Und dementsprechend ist der Verkehr um einiges höher als sonst. Und das gerade dann, wenn ich einmal ausschlafen will. Mir ist nichts gegönnt.

Grundsätzlich heiße ich es gut, dass Leute mit unserem Wohlstandsmüll noch etwas anfangen können. Nicht so prall finde ich, dass sie schon am Tag vor dem eigentlichen Termin in ganzen Heerscharen durch unsere Straßen paradieren, im Schrott auf der Jagd nach Edelmetallen wühlen und allgemein ein riesiges Chaos anrichten, das man selbst wieder beseitigen darf. Daran denkt niemand.

Und außerdem habe ich immer den Verdacht, dass diese zum Teil zwielichtigen Gestalten die Häuser und Gärten ausspähen, um nachts nochmal wiederzukommen und die Dinge zu holen, die nicht auf den Müll gehören. Wie zum Beispiel Schmuck und Bargeld. Gerade hier wohnen viele ältere Damen und Herren, da befindet sich immer etwas Wertvolles im Haus.

Dass sie wirklich alles mitnehmen, was irgendwie draußen an der Straße steht, gerne auch Fahrräder, haben sie schon mehr als ein Mal bewiesen.

Einer der glorreichen Höhepunkte des Schrottsammelns bestand aus der Mitnahme einer Bodenfräse, mit der man Wurzelwerk entfernen kann. Sieht aus wie ein Mini-Bagger mit einer Fräse vorne dran. Kostenpunkt: 24.000 Euro etwa. Das gute Stück stand bei unseren Nachbarn am Bordstein. Die Gartenbaufirma, der sie gehörte, hatte sie schon zum Abtransport an die Straße neben ihren eigenen Transporter gestellt. Bereit, die Maschine auf den Anhänger zu verladen.

Es kam, wie es eben kommen musste: Ein Sammler hielt an und holte, doch zu meinem Erstaunen, eine lange Metallrampe aus seinen Hecktüren. In Nullkommanichts war die Maschine von den Männern eingeladen worden. Ich wollte gerade losgehen und mich einmischen, als einer der Kerle noch mal ausstieg und selbst bei meinen Nachbarn klingelte.

Hinterher hat mir meine Nachbarin erzählt, dass der Kerl dreist gefragt hatte, ob »sie noch mehr solche Maschinen hätten«. So konnte das Ganze dann doch recht schnell aufgeklärt werden.

Da ich nun vollständig wach bin, kann ich mich auch gleich anziehen. Puschen an und ab ins Bad. Als ich mein leicht aufgequollenes Gesicht im Spiegel anstarre und gedankenverloren dem Summen meiner elektrischen Zahnbürste lausche, fällt mir die Szene von gestern Abend wieder ein.

»Humbug«, blubbere ich. Am helllichten Tag dieses Sommermorgens bin ich mir sicher, dass ich mir die Frau nur eingebildet habe.

Wahrscheinlich hatte ich tatsächlich eine leichte Rauchvergiftung und außerdem gucke ich zu viele Horrorfilme. Ich brauche Adrenalin. Mein Körper ist süchtig danach. Ich fühle mich dadurch lebendig.

Nach meiner Morgentoilette ist neben einer Tasse Kakao ein Salami-Käse-Brötchen definitiv Pflicht. Während mein Automat röhrt wie eine zweimotorige Cessna und die Kakaobohnen frisch zerkleinert, buhle ich um die morgendliche Gunst der schläfrigen Bulldogge mit einem Hackbällchen. Nach dem Genuss desselben ist man gewillt aufzustehen und ein kleines Geschäft im Garten zu verrichten.

Während die Töle äußerst interessante Streckübungen ausführt, die Schnute in die Luft hält und wittert, ob miauende Feinde im Garten waren und sich dann auf den Rasen beziehungsweise seine Toilette, trollt, lasse ich mir die erste Kippe des Morgens regelrecht munden. Ich stoße eine Rauchwolke wie ein kleiner Drache aus und höre unseren Nachbarn seine Haustür aufschließen.

Bodo und seine Frau Hannelore verbringen die meiste Zeit des Jahres in ihrem Haus auf den Kanaren. Bodo ist fast neunzig, taub wie ein Stock, ansonsten fit wie ein Turnschuh. Äußerst redselig und hat immer Tipps auf Lager. Wir wohnten schon ein halbes Jahr hier, als wir ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Er verriet uns mit verschwörerischer Miene, dass man mit dem Auto quer durch den Wald fahren könne. Dann käme man in einen größeren Ort. Und dort gäbe es, hier senkte er seine Stimme, als würde er mir gleich den Aufbewahrungsort der Nuklearsprengköpfe verraten, ein Supermarkt. Dort könne man gut einkaufen.

Ich war ihm natürlich dankbar für diese Information. Nach sechs Monaten in der Einöde hat man schon tierisch Hunger – wir waren bestimmt kurz davor, den schimmeligen Kitt aus den Fugen im Bad zu fressen. Doch dank Bodo wussten wir nun, wo man einkaufen kann. Und gut dazu.

Ich drücke schnurstracks meine Zigarette aus, pfeife nach dem Vierbeiner und verschwinde ins Haus. Bevor Bodo mich wittert und mir am Ende noch erklärt, dass Rauchen gar nicht so gesundheitsfördernd ist, wie ich mir denke.

Und er würde die Wahrheit sagen. Ich kann noch nicht aufhören.

Während der Hund ein ordentliches Frühstück genießt und auch ich mein mit Salami und Käse belegtes getoastetes Fertigbackbrötchen verschlinge, texte ich via Smartphone mit meinem Mann. Nach dem üblichen Austausch darüber, dass wir beide mehr als mies geschlafen haben – wenn er da ist, schnarcht er laut und das stört mich, wenn er weg ist, schnarcht nichts neben mir und das stört mich noch mehr – und uns vermissen, wische ich Fettabdrücke vom Display meines Handys, kippe den letzten Rest Kakao in meinen Rachen und greife im Flur zur Hundeleine.

Zeit für einen Gassigang.

Die phlegmatische Bulldogge versucht nur beim Anblick ihres Halsbandes zu fliehen, aber ich bin mittlerweile mit allen Wassern gewaschen und schneide ihr, von der Küche aus, gekonnt den Weg ab.

***

»Was habt ihr am Wochenende gemacht, wart ihr mal wieder beim Golf, wie geht es Max?«

Eine Flut von Fragen prasselt auf mich ein. Das ist der Grund, warum ich bevorzugt allein spazieren gehe. Doch meine unvermeidliche Nachbarin Maria hat mich bereits von ihrem Fenster aus erspäht und mich zu sich gewunken. Ich überlege kurz, ob ich sie ignoriere und vortäusche, über Nacht erblindet zu sein, füge mich dann aber notgedrungen meinem Schicksal und begrüße sie. Was bin ich für ein netter Nachbar.

Marias Hund Simba ist eine herzige Mischung aus Dackel und Malteser, hat große Ähnlichkeit mit einem explodierten Wischmopp und ist gesegnete neunzehn Jahre alt. Noch gut zu Fuß schnüffelt er stundenlang duftenden Hündinnen-Urin, wenn man ihn lässt. Dennoch wird der kleine Kerl eigentlich nur durch Marias Mutterliebe und Aufbauspritzen vom Tierarzt zusammengehalten.

Mein Compadre und Simba sind aneinander ungefähr so interessiert wie ich an Champignons und so schleichen wir, wie gewohnt, durch den angrenzenden Tannenwald.

Maria, heute angetan in einer hellblauen Steppjacke und bequemen, aber sündhaft teuren Turnschuhen, redet ohne Punkt und Komma.

Zunächst dreht sich das Gespräch um das Ereignis des Vortags: Scheunenbrand. Maria hat selbstverständlich schon mit allen interessierten Anwohnerinnen telefoniert und weiß bestens Bescheid: »Das war Brandstiftung, ganz klar, warmer Abriss! Die Scheune durfte man nicht abreißen, weil sie unter Denkmalschutz steht. Wusstest du, dass die Scheune das älteste Gebäude im Dorf war? Über 400 Jahre alt!«

Ich verneine, diese Information ist mir neu.

»Warum wollte man sie denn abreißen?«, frage ich.

Auch das weiß Maria genau: »Du weißt doch, das große freie Gelände dahinter ist verkauft. Da sollen Doppelhäuser gebaut werden. Aber die haben keine vernünftige Zufahrt. Tja, jetzt haben sie eine, wo die Scheune aus dem Weg ist …!«

»Was war denn da überhaupt drin?«, will ich wissen und sehe Maria von der Seite an. Ihr Lippenstift ist leicht verwischt.

»Du, keine Ahnung«, antwortet sie, »irgendwelcher alte Rotz.«

»Und wem gehörte sie?«, hake ich neugierig nach.

»Feldhusens!« Eine der ehemaligen großen Familien im Ort.

»Der Alte ist ja vor Jahren gestorben und den Sohn habe ich auch schon ewig nicht mehr gesehen. Die haben doch im Dachsbau gewohnt. Aber dann war irgendwas mit seiner Frau. Warte mal, das muss 1981 oder so gewesen sein …«

Maria verstummt.

»Ja, und? Was war denn?«

Immer wenn es spannend wird, verliert Maria den Faden. Dabei ist sie keine vierzig Jahre alt und sollte alles andere als dement sein.

»Hm, ich weiß nicht mehr. Die beiden hatten ein Baby und dann waren sie irgendwann von jetzt auf gleich verschwunden. Das war ein Junge, daran erinnere ich mich genau. Wahrscheinlich sind sie weggezogen«, schließt sie schulterzuckend ihre Erzählung.

Wir gehen langsam weiter, Compadre wie ein pflügender Ochse an der Leine zerrend vorneweg, Simba wird von Maria an seine Flexileine hinterhergeschleift.

»… und du glaubst es nicht, dann haben die im Reisebüro gesagt, wenn wir die Peru-Reise nun doch nicht antreten können, wir jeder 300 Euro Storno bezahlen müssen …«, … »Warst du auch bei Leininger zum Ausverkauf?! Die Sachen würden dir alle passen, die haben auch deine Größe, da solltest du unbedingt …«

Maria redet immer noch sehr ausdauernd. Eigentlich habe ich abgeschaltet, dennoch liegt mir auf der Zunge, dass dieser Schickimicki-Laden bestimmt meine Größe führt, ich aber nur das Gewicht und keineswegs das Portemonnaie von Heidi Klum habe.

Eines muss man ihr in ihrer Weltfremdheit lassen: Sie ist wirklich herzensgut, großzügig und immer für einen da, falls man sie braucht. Dennoch naiv und einfach alles andere als weltoffen.

Während es, so glaube ich, nun um ihre wöchentliche Spiele-Runde geht, erreichen wir eine alte Forststraße, die für den Straßenverkehr freigegeben ist. Schon von Weitem sehe ich wieder einen der Schrottsammler-Transporter in einer Staubwolke anrollen. Diesmal einen rostroten Sprinter, der schon bessere Tage gesehen hat.

Gewohnheitsmäßig nehme ich Compadre enger an der Leine und dränge Maria mit Simba ein wenig an den Wegesrand.

Der Wagen kommt näher und kündigt sich mit durchdringendem Benzingeruch an. Himmel, das Ding scheint keinen Kat zu haben.

Auf unserer Höhe wird der Wagen langsamer, das Fenster wird nach unten gekurbelt und ein braunes Gesicht mit flacher Nase, erstaunlich hellen Augen und fast lila Lippen schaut heraus. Die Wangen sind mit Dutzenden dunklen Muttermalen gesprenkelt. Der fleischige Mund verzieht sich zu einem zahnlosen Grinsen, welches freundlich wirken soll, bei mir aber alle Alarmglocken schrillen lässt.

Ohne Einleitung stößt er den Namen unseres Örtchens hervor. Ich wedele mit meinem Arm in die Richtung, in die er ohnehin schon fährt. Er gestikuliert wild in Richtung Windschutzscheibe. Ich nicke.

»Genau, immer dem Weg folgen, in fünf Minuten sind Sie da!«

Ein dicklicher Finger an einem Arm mit skurrilen Tätowierungen, die verdächtig nach mit Kugelschreiber gemachten Knast-Tattoos aussehen, schießt aus dem Beifahrerfenster und zeigt auf mich.

»Du! Metallschrott?«

Ach so, ein Ratespiel. Was genau will der gute Mann von mir wissen? Ob ich aus Metallschrott gefertigt bin? Ob ich Metallschrott in meiner Jackentasche mit mir führe? Natürlich.

Maria glotzt neben mir nur, plötzlich stumm wie ein Fisch. Simba schnüffelt an einem undefinierbaren Stück Irgendwas am Wegesrand, Compadre nutzt die unverhoffte Pause und rekelt sich genüsslich grunzend auf dem Rücken. Zumindest sind die Hunde abschreckend, falls man belästigt werden sollte.

Obwohl ich mich normalerweise nicht zu derlei Konversationen mit Halbaffen hinreißen lassen will, höre ich mich fragen: »Metallschrott? Was meinen Sie?«

Bevor er antworten kann, berührt mich etwas am Ärmel. Ich fahre erschrocken herum, denn Maria kann es nicht sein, sie befindet sich etwas abseits mit Simba.

Sie schaut nun fragend und leicht angeekelt auf etwas hinter mir.

Dort steht die wahrscheinlich älteste Frau, die mir jemals über den Weg gelaufen ist. So etwas kennt man aus Filmen. Sie ist mir so nahe, dass ihr Gesicht mein gesamtes Blickfeld ausfüllt.

Und das ist nicht gerade ein schöner Anblick: Haut kann man diese dunkelbraune Masse aus Falten nun wirklich kaum noch nennen. Ihre Nase ist riesig und geformt wie eine überdimensionale Knolle, auf deren Seite ein fleischiges Gebilde thront, welches nur ein bösartiger Tumor sein kann. Schwärzlich und irgendwie nass. Breit wie eine Zwei-Euro-Münze.

Es ist unhöflich, auf die weniger schönen Teile eines Menschen zu starren. Das sagte meine Mutter früher schon. Und so zwinge ich meinen Blick höher zu ihren Augen. Trüb, das Weiß wie alte Eierschalen, die Iris, ehemals braun, verwaschen und von einem hellen Beige. Die Pupillen sind winzig, aber sie setzen sich messerscharf ab und scheinen ihren Blick direkt in mein Gehirn zu bohren.

Just in diesem Moment dringt mir ihr Geruch in die Nase: Eine Mixtur aus versifften Kellerräumen, altem Schweiß und einer kräftigen Nuance Eau de Toilette. Im wahrsten Sinne.

Meine Nase meldet noch irgendwas, was mir plötzlich schreckliche Angst macht. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, was es ist, das mein Herz rasen lässt und einen unwiderstehlichen Drang zur Flucht in mir auslöst.

Durch meinen Magen pumpt ein Adrenalinstoß, meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ich spüre, wie mir in Zeitlupe ein Schweißtropfen unter dem rechten Arm an den Rippen runterrinnt. Unwillkürlich schrecke ich zurück, um Abstand zwischen mich und dieses albtraumhafte Gesicht zu bringen. Das Ganze geschieht in gerade mal einem Bruchteil einer Sekunde.

Jetzt, da ich ein wenig weiter weg stehe, sehe ich, dass sie ein braunes Strickkleid trägt. Ihr unfassbar faltiger Hals, wie bei einem Truthahn, ragt aus einem vergilbten Spitzenkragen hervor. Das Kleid ist vorne mit blinden Messingknöpfen besetzt, ihre Füße stecken in derben braunen Sandalen. Trotz der hohen Temperaturen trägt die alte Frau eine durchsichtige Strumpfhose, wie es Omas immer zu tun pflegen. Ich würde das verstehen, wenn die Strumpfhose ihre abstoßenden Zehen verbergen würde. Der Fuß wurde offenbar so lange in schlechtes Schuhwerk gepresst, bis die Zehen allesamt endgültig in Richtung des großen Zehs gequetscht wurden und sich regelrecht überlappen.

Mir kriecht dezente Übelkeit den Hals hoch, als ich den schwarzen, bröckeligen Nagel ihres großen Zehs wahrnehme, der schief sitzt und den Anschein hat, als würde er nur noch von der Strumpfhose an Ort und Stelle gehalten werden. Ätzend, das ist wohl Nagelpilz im finalen Stadium.

Erstaunlich schnell schießt sie vor, eine knorrige Hand langt nach meiner. Aber ich bin schneller und ziehe sie reflexartig weg.

»Was soll das, hauen sie ab!«, spucke ich ihr entgegen.

Ich bin sonst immer viel zu höflich, aber wenn man versucht, mich anzufassen, werde ich fuchsteufelswild.

Die Alte fixiert mich. Immer noch sagt sie kein Wort. Dafür spricht nun wieder der Fahrer des Transporters, an die alte Hexe gewandt. In einer Sprache, die ich noch nie gehört habe, fordert er sie offensichtlich zum Einsteigen auf.

Sie verschwindet zügig im hinteren Teil des Transporters, den ich nicht mal aufgehen gehört habe.

Weitere Wortfetzen fallen im Inneren, es hört sich an wie: mort, koopiii, djawoll, ein lang gezogenes rauuuuuuu und anderes, undefinierbares Kauderwelsch.

Ich stehe so unter Strom, dass sich mir die merkwürdigen Laute regelrecht ins Hirn brennen.

Der Transporter gibt endlich Gas und lässt uns in einer Staubwolke zurück. Maria kommt wieder näher.

»Kanntest du die?!«, fragt sie mich.

»Klar, das war meine Mutter. Soll das ein schlechter Scherz sein? Natürlich nicht!«, gebe ich ihr stirnrunzelnd zu verstehen.

»Aber sie kannte deinen Namen …?«

»Waaasss? Quatsch, die hat doch gar nichts gesagt«

»Doch, als sie eingestiegen ist, hat sie vor sich hingemurmelt. Und da kam dein Name drin vor!«, erwidert Maria mit Nachdruck.

»Blödsinn, da hast du dich bestimmt verhört!«

Langsam werde ich sauer, klar, die Alte kennt mich, wahrscheinlich aus meiner Spiele-Runde.

»Ich meine es doch nicht böse! Ich habe es aber genau verstanden«, besteht Maria weiter auf das, was sie gehört hat: »Mia, vergiss die Kinder.«

***

Gedankenverloren steht Johanna später an einem anderen Ort an der vor Dreck starrenden Fensterscheibe. Sie schaut auf die Straße.

Da ist sie wieder: die kleine blonde Frau mit dem gedrungenen Hund mit dem platten Gesicht. Der Hund schnüffelt an einem Laternenpfahl, während Frauchen geduldig wartet.

Johanna schließt die Augen. Sie hat Angst vor dieser Frau. Sie sieht aus wie ein Engel, aber sie ist der Teufel. Persönlich.

Sie kennt ihr Geheimnis, und wenn sie nicht aufpasst, wird sie ihr ihren größten Schatz wegnehmen. Sie hält inne und lauscht. Gabriel schläft. Der kleine Sonnenschein gibt keinen Laut von sich. Was weiß er schon von dieser grausamen Welt?

»Ich werde dafür sorgen, dass dir niemals ein Leid geschieht!«, flüstert Johanna kaum hörbar.

Ihr Atem beschlägt die Fensterscheibe, die fast blind ist. Das merkt Johanna nicht. Sie lebt und atmet nur für ihren Sohn.

Doch da! Ein leises Quäken aus dem oberen Stockwerk. Er wird wach und hat bestimmt Hunger.

Johanna dreht dem Fenster den Rücken zu und huscht rasch über das verkratzte, über die Jahre stumpf gewordene Eichenparkett. Ihre bloßen Füße hinterlassen Spuren in der Staubschicht, ihr flotter Schritt wirbelt Staubflocken unter das alte Sofa mit den gehäkelten Schondeckchen, auf dem schon ihre Großeltern saßen.

Das Haus ist düster, aber Johanna braucht kein Licht. Hier ist sie aufgewachsen, hier findet sie sich mit verbundenen Augen zurecht.

Vorbei an dem alten Lehnstuhl mit dem gut sichtbaren Fettabdruck, an dem Großvaters Kopf ruhte, in den kalten Flur, die schmale Holztreppe hinauf, deren dritte und siebte Stufe bedenklich ächzen. Der weiße Lack des Geländers ist abgeplatzt, in ihre Hand bohrt sich ein Lacksplitter. Johanna hat schon lange kein Schmerzempfinden mehr, den Splitter wird sie erst in ein paar Tagen bemerken, wenn sich die Stelle am Handballen entzündet hat und anschwillt.

Sie hört und spürt nur Gabriel. Mittlerweile weint das Baby laut und vor allem fordernd.

»Ich komme, mein Kleiner, Mama ist gleich da!«, ruft sie in beruhigendem Ton nach oben und bewegt sich noch schneller.

Der obere Flur ist dunkel, nur ein kleines rundes Fenster an der Stirnseite lässt etwas Tageslicht herein. Es stinkt modrig, vor Jahren gab es einen Wasserschaden. Das Dach ist undicht, die Wand an der Nordseite des Flurs ist schwarz vor Nässe. Schimmel hat sich gebildet, auf der Tapete schwären gelbliche Pilze, die Verwesungsgestank ausdünsten. Das Linoleum hat seine Farbe eingebüßt und ist nur noch in einem trüben Grauton, als ihre nackten Füße darüber laufen.

»Schnell, schnell, Gabriel ruft.«

Ihre Hand findet die Klinke des Kinderzimmers und drückt sie nieder. Totale Düsternis empfängt sie.

Die Klappläden vor den drei Fenstern sind dicht verrammelt. Es ist eiskalt. Dafür sorgt Johanna pflichtbewusst. Die Wände sind mit einer fröhlichen hellblau gestreiften Tapete versehen, auf einer umlaufenden Borte auf Kopfhöhe tanzen niedliche Bärchen und Äffchen mit bunten Luftballons. Auf dem Boden ein hellblauer, dicker Teppich, ideal für zarte Kinderfüßchen. Rechts der Tür eine weiß lackierte Wickelkommode mit ordentlich aufgereihten Utensilien zur Babypflege, links ein mannshohes Regal mit unzähligen Teddybären. Die schwarzen Knopfaugen der Bären sind allesamt auf das in der Mitte des Zimmers stehende Prunkstück ausgerichtet: der Wiege.

Vier große, schmiedeeiserne Räder tragen einen dicht geflochtenen Bastkorb. Über diesen spannt sich ein Himmel aus schneeweißer Spitze. Johanna muss nichts sehen, ihr Mutterinstinkt geleitet sie zielsicher zur Wiege, ein wenig trübes Restlicht fällt von der geöffneten Tür aus dem Flur in das Kinderzimmer. Die Geborgenheit, die dieser Raum ausströmt, und das kräftige Hungergebrüll eines gesunden Kindes füllen Johannas Herz mit Stolz und Liebe zu ihrem Sohn.

Sie streckt die Arme nach dem kleinen Jungen aus und legt ihn sachte mit dem Köpfchen an ihre Schulter. Sanft streicht sie über den samtweichen Flaum seines Hinterkopfes und drückt ihre Lippen an seine Stirn.

»Ruhig, ruhig, Mama ist hier«, flüstert sie und saugt seinen zarten unschuldigen Babyduft ein.

Mit Gabriel auf dem Arm geht sie in die Zimmerecke und nimmt auf ihrem Stillsessel Platz. Sie öffnet ihre Bluse und legt den kleinen Körper quer an ihre Brust. Sie spürt, wie er gierig zu trinken beginnt. Johanna seufzt und schließt die Augen.

Kalt, er ist so eiskalt. Er wiegt weniger als ein Vögelchen. Der winzige Körper unter dem Strampelanzug fühlt sich wie ein mit Stroh gefülltes Säckchen an. Das Gesicht ist blauschwarz angelaufen, die Augen blicken gebrochen und trüb ins Leere. Die Zungenspitze ist leicht grünlich und lugt zwischen den blassen Lippen hervor.

Vorsichtig, ganz vorsichtig, entfernt sie den niedlichen Strampelanzug und inspiziert den kleinen Körper.

Zärtlich streicht sie über die Brust und das aufgedunsene Bäuchlein. Sie prüft genau die groben Nähte am Hals, den Armen und Beinen. Als sie testweise auf den knotig hervorstehenden Nabel drückt, versinkt ihr Finger mit einem Übelkeit erregenden Schmatzen im Leib des Jungen. Resigniert zieht sie ihn zurück. Eine dunkle, dickflüssige Masse klebt daran und rinnt aus der Vertiefung hervor.

»Keine Angst, Mama hilft dir«, wispert sie kaum hörbar und pustet beruhigend zum Trost auf das klaffende Loch, wo einst der Nabel war.

D en Spaziergang mit Maria habe ich schnell hinter mich gebracht, indem ich vormachte, dringend noch was arbeiten zu müssen. Ein Projekt eben. Es rotiert riesengroß in meinem Kopf. Ich muss allein sein, ich muss nachdenken. Ich kann das nicht mehr ignorieren.

Bis eben nahm ich noch an, dass die Schreie aus der brennenden Scheune und die merkwürdige Frau davor ein kurzer Blackout, ausgelöst durch Stress, waren. Kann ja jedem mal passieren, dass man Dinge hört oder sieht, die gar nicht da sind. Aber die alte Schabracke eben war real.

Und wenn ich es näher betrachte, muss ich mir eingestehen, dass das alles überhaupt nicht eben mal passieren kann. Dinge sehen, die nicht da sind? Das ist wohl eher ein sicheres Anzeichen dafür, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe oder dass mir der Dachstuhl ausgebrannt ist. Wie die Scheune. Diese Erkenntnis stimmt mich nicht eben fröhlicher. Ich habe demnach drei Möglichkeiten: Erstens: Einen Arzt aufsuchen und meine Erlebnisse schildern. Zweitens: Der Sache Glauben schenken und ihr nachgehen. Wie auch immer das aussehen soll. Drittens: Das Ganze ignorieren und so schnell wie möglich vergessen.

Da ich ein Mensch bin, der gerne den Weg des geringsten Widerstands einschlägt, entscheide ich mich zunächst für die dritte Variante.

Wer weiß denn schon, was Maria da gehört hat? Die alte Frau hat meines Erachtens nicht mal deutsch gesprochen. Ich bin gut darin, mir die Fakten so hinzubiegen, dass sie mir in den Kram passen.

Ich fasse zusammen: Gestern hatte ich einen Sonnenstich oder eine leichte Rauchvergiftung und die Alte heute war einfach nur eine verwirrte Sperrmüllsammlerin, die mich wahrscheinlich mit irgendwem verwechselt hat.

So, das klingt sauber und vollkommen plausibel. Damit kann ich leben. Damit können auch andere leben.

Ich konzentriere mich auf das Hier und Jetzt und überlege, ob ich noch einkaufen muss, ob ich tatsächlich heute noch meiner Tätigkeit als Grafikerin nachgehen muss oder ob ich die Toiletten putzen sollte.

Heute Abend kommt mein Mann nach Hause und freut sich sicher, wenn ich uns was Leckeres koche. Nun ja, Kochen kann man das nicht wirklich nennen, was ich da tue, aber ich bin stets bemüht. Zudem haben wir eine hervorragende Metzgerei im Nachbarort, die Vorgekochtes anbietet. Auf deren Rahmgulasch hätte ich heute Abend richtig Lust. Dazu mache ich Semmelknödel aus der Packung. Schmeckt man doch keinen Unterschied zu frischen.

»Sich wieder im Alltag zu bewegen und komische Ereignisse außer Acht zu lassen fühlt sich gut an!«, sage ich im Auto laut zu mir selbst und muss ein wenig debil dabei lachen.

Als ich mich kichern höre, finde ich das unheimlich, es klingt etwas schrill, und mutterseelenallein im Auto deplatziert. Ich stelle das Kichern ein und mache das Radio lauter. Einen Song laut mitsingen ist mir nach dem Refrain sogar vor mir selbst peinlich. Und so unterlasse ich auch das.

An der Hauptstraße biege ich nach links in südöstlicher Richtung ab und fahre nach ein paar Sekunden rechter Hand am Skelett der Scheune vorbei. Die Überreste rauchen noch immer, der stechende Brandgeruch ist im Auto wahrnehmbar. Ich fahre lediglich in Schrittgeschwindigkeit, nachdem ich mich vergewissert habe, dass niemand hinter mir fährt, den ich behindern würde.

Viel ist nicht mehr übrig: Von den Backsteinmauern steht noch ungefähr ein Drittel. Kurioserweise stakt aus den Mauern ein Teil der alten Holzbalken des Fachwerks heraus. Man sollte meinen, dass Holz schneller brennt als Steine. Keine Ahnung, ich bin weder Pyromane noch Sachverständiger für Brandschutz.

Das Dach und das monströse Tor sind restlos verschwunden, im Inneren raucht eine Masse aus Holz, Steinen und anderem, undefinierbarem Zeug vor sich hin.

Hinter der Scheune sehe ich zum ersten Mal eine unkrautüberwucherte Brachfläche mit knorrigen Obstbäumen. Das trostlose Szenario verursacht mir einen Kloß im Hals. Der gepflasterte Parkplatz vor der Scheune ist mit weiß-rotem Plastikband abgesperrt.

Schon bin ich vorbei gerollt, gebe Gas und lasse meinen Wohnort hinter mir. Ungefähr anderthalb Kilometer bis zu einer malerischen Klappbrücke über einen Fluss, fahre ich nun durch eine wunderschöne Allee mit alten Linden.