Als sein Traum Wirklichkeit wurde - Britta Winckler - E-Book

Als sein Traum Wirklichkeit wurde E-Book

Britta Winckler

3,0

Beschreibung

Die große Arztserie "Die Klinik am See" handelt von einer Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie "Die Klinik am See" ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. »Nein, nein, das darf doch nicht sein«, rief der schlanke Mann in dem dunklen Anzug laut und klagend, als der Sarg sich immer tiefer in das Grab senkte. »Helen, was soll ich ohne dich tun? Ich… ich… konnte doch gar nicht mehr helfen. Loslassen… loslassen!« fuhr er auf, als er spürte, daß ihn jemand fest am Handgelenk und an der Schulter packte und rüttelte. »Paps, um Gottes willen, wach doch auf!« rief da eine helle Stimme. »Was… was ist?« »Du hast geträumt, Paps.« Der so Angesprochene riß die Augen auf. Verwirrt blickte er umher. Es dauerte einige Sekunden, bis er wußte, wo er sich befand – nämlich im Bett seines Schlafzimmers in der ersten Etage des Doktorhauses. Im Schein der Nachttischlampe erkannte er seine Tochter Astrid, die auf der Bettkante saß und ihn besorgt ansah. »Wie kommst du denn in mein Zimmer?« fragte er. »Mitten in der Nacht und noch dazu im Nachthemd...« Um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch. Für Astrid Lindau war das der Beweis dafür, daß ihr Vater wieder voll in der Gegenwart war. »Aber Herr Doktor Lindau, was sind das denn für Gedankengänge?« gab sie mit einem lustigen Blinken in ihren rehbraunen Augen zurück. »Es wird deiner Tochter doch keinen moralischen Schaden zufügen, wenn sie nachts und im Nachthemd ihren gutaussehenden Vater in seinem Zimmer besucht. Oder?« Liebevoll blickte sie ihren Vater an, der sich im Bett aufgerichtet hatte. »In deiner Praxis unten bekommst du doch von anderen Weiblichkeiten mehr zu sehen als bei mir«, fügte sie ihren vorherigen Worten hinzu. »Ich muß

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Die Klinik am See – 1–

Als sein Traum Wirklichkeit wurde

Ein Arzt legt den Grundstein zu seinem Lebenswerk

Britta Winckler

»Nein, nein, das darf doch nicht sein«, rief der schlanke Mann in dem dunklen Anzug laut und klagend, als der Sarg sich immer tiefer in das Grab senkte. »Helen, was soll ich ohne dich tun? Ich… ich… konnte doch gar nicht mehr helfen. Loslassen… loslassen!« fuhr er auf, als er spürte, daß ihn jemand fest am Handgelenk und an der Schulter packte und rüttelte.

»Paps, um Gottes willen, wach doch auf!« rief da eine helle Stimme.

»Was… was ist?«

»Du hast geträumt, Paps.«

Der so Angesprochene riß die Augen auf. Verwirrt blickte er umher. Es dauerte einige Sekunden, bis er wußte, wo er sich befand – nämlich im Bett seines Schlafzimmers in der ersten Etage des Doktorhauses. Im Schein der Nachttischlampe erkannte er seine Tochter Astrid, die auf der Bettkante saß und ihn besorgt ansah. »Wie kommst du denn in mein Zimmer?« fragte er. »Mitten in der Nacht und noch dazu im Nachthemd...« Um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch.

Für Astrid Lindau war das der Beweis dafür, daß ihr Vater wieder voll in der Gegenwart war. »Aber Herr Doktor Lindau, was sind das denn für Gedankengänge?« gab sie mit einem lustigen Blinken in ihren rehbraunen Augen zurück. »Es wird deiner Tochter doch keinen moralischen Schaden zufügen, wenn sie nachts und im Nachthemd ihren gutaussehenden Vater in seinem Zimmer besucht. Oder?« Liebevoll blickte sie ihren Vater an, der sich im Bett aufgerichtet hatte. »In deiner Praxis unten bekommst du doch von anderen Weiblichkeiten mehr zu sehen als bei mir«, fügte sie ihren vorherigen Worten hinzu.

»Ich muß sagen, daß du mit deinen achtzehn Jahren schon ganz schön frech bist, Astrid«, ging Dr. Hendrik Lindau auf den burschikosen Ton seiner Tochter ein. »Wie spät haben wir es denn?« fragte er ernst werdend.

»Gleich ein Uhr nachts«, antwortete Astrid und wurde auch ernst. »Dein lautes Rufen hat mich geweckt«, fuhr sie fort, »und da bin ich eben gekommen, weil ich dachte…«

»Ich habe wieder geträumt«, unterbrach Dr. Lindau seine Tochter. »Es war nicht das erste Mal.«

»Du hast von Mama geträumt, stimmt’s?«

Hendrik Lindau nickte. »Ich sah mich wieder am Grab stehen«, murmelte er.

»Das tut mir leid, Paps, daß dich solche Träume immer noch quälen, obwohl seit Mamas Tod doch schon fünfzehn, nein, sechzehn Jahre vergangen sind.« Mit einer zärtlichen Geste strich Astrid ihrem Vater über das ein wenig zerzauste dunkelbraune Haar. »Irgendwie bin ich aber auch ein wenig glücklich darüber«, setzte sie leiser hinzu.

Verdutzt sah Dr. Lindau seine Tochter an.

»Es freut dich, daß mich solche Träume quälen?« fragte er mit einem rauhen Ton in der Stimme. »Das verstehe, wer kann…«

Astrid lächelte schwach. »Nicht darüber freue ich mich«, gab sie erklärend zurück, »sondern weil deine Träume für mich ein Beweis sind, daß du Mama sehr geliebt haben mußt und sie immer noch in Erinnerung hast.«

Dr. Lindaus Züge nahmen einen weichen Ausdruck an. Mit der Linken zog er seine Tochter näher an sich heran. »Hast du daran gezweifelt?« fragte er leise.

»An deiner Liebe zu Mama?« Astrid schüttelte heftig ihren braunen Wuschelkopf. »Nein, Paps, nie«, versicherte sie.

»Danke, mein Mädchen«, sagte Hendrik Lindau in fast flüsterndem Ton. »Deine Mutter wird stets einen Platz in meinem Herzen haben. Du selbst erinnerst mich immer wieder an sie, weil du äußerlich wie innerlich ihr Ebenbild bist.«

Astrid schluckte. Die Worte des Vaters gingen ihr nahe. Sie wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Spontan neigte sie sich vor und gab dem Vater einen Kuß. »Jetzt mußt du aber schlafen, Paps«, flüsterte sie. »Morgen früh wird bestimmt wieder eine Menge Patienten im Wartezimmer sitzen. Da mußt du fit sein. Ich übrigens auch.«

»Du hast doch Ferien, Mädchen«, entgegnete Dr. Lindau, »und kannst länger schlafen.«

»Ich möchte aber mit dir zusammen frühstücken«, gab Astrid mit fester Stimme zurück und erhob sich. Nachdenklich sah sie ihren Vater an. Es schien, als habe sie noch etwas auf dem Herzen.

»Ja?« Fragend und gleichermaßen auffordernd blickte Hendrick Lindau seine Tochter an. »Ist noch etwas?«

»Ja… das heißt nein…« Mit einem geflüsterten Gutenachtgruß verließ Astrid das Zimmer ihres Vaters.

In dessen Augen war ein sinnender Ausdruck, als er sich wieder zurücklegte und das Licht löschte. Eine ganze Weile starrte er noch in die Dunkelheit des Raumes. Im Zeitraffertempo zogen die Geschehnisse von damals hinter seiner Stirn vorbei – jener unglückliche Nachmittag, als er von seinen Hausbesuchen zurückgekommen war und seine sterbende Frau vorgefunden hatte und das noch im Mutterleib bereits verstorbene ungeborene Baby. Dabei hatte er nach der ersten Verzweiflung erkannt, daß er Helen und dem Kind hätte gar nicht helfen können, selbst wenn er zu Hause gewesen wäre. Die Lösung der Plazenta hatte sich bei Helen so rasch eingestellt, daß selbst bei einem sofortigen Transport in die nächste, zwei Autostunden weit entfernte Klinik jede Hilfe zu spät gekommen wäre. Die innere Blutung war schneller und stärker gewesen. Sie hatte nicht nur Helens Tod verursacht, sondern auch den des erhofften und erwarteten kleinen Bruders von Astrid.

Ein verhaltener Seufzer kam über Hendrik Lindaus Lippen, als er sich zur Seite drehte, die Augen schloß und dann von einer Sekunde auf die andere wieder in Schlaf fiel.

*

In der richtig gemütlich eingerichteten Wohnküche saßen sie sich gegenüber – Dr. Hendrik Lindau und seine Tochter Astrid. Schweigend nahmen sie das von Astrid zubereitete Frühstück zu sich. Mit einem nachdenklichen Ausdruck in ihren braunen Augen betrachtete Astrid ihren Vater.

»Du siehst mich so eigenartig an, Mädchen«, ergriff Dr. Lindau das Wort und legte die Serviette beiseite. Ein feines Lächeln huschte um seine Mundwinkel. »Stimmt an mir etwas nicht?« fragte er.

»Du siehst wie immer blendend aus, Paps«, gab Astrid zurück. »Ich mache mir lediglich Gedanken.«

»Worüber?« Dr. Lindau begann etwas zu ahnen.

»Über dich«, antwortete Astrid. »Über... über... deine Träume zum Beispiel«, fügte sie leiser und zögernd hinzu. »Kommt das öfter bei dir vor?«

Hendrik Lindau wurde ernst. »Öfter?« wiederholte er fragend und schüttelte den Kopf. »Das wäre zuviel gesagt«, redete er weiter. »Ab und zu kommen natürlich die Erinnerungen und plagen mich ein wenig. Bei der Gelegenheit – entschuldige, daß ich dich heute nacht geweckt habe mit meinem lauten Traum.«

»Paps, du hast keinen Grund, dich bei mir zu entschuldigen«, erklärte Astrid. »Aber darf ich dich etwas fragen?«

»Immerzu, Mädchen.« Dr. Lindau blickte auf die Uhr. »Bis zum Beginn der Sprechstunde habe ich noch ein wenig Zeit.«

Astrid zögerte etwas, nahm sich dann aber ein Herz und fragte: »Wie war das eigentlich damals mit Mama? Ich weiß von dir nur, daß sie gestorben ist, als sie im Begriff war, mir ein Brüderchen zu schenken. Etwas Näheres hast du mir nie erzählt.«

»Stimmt, Astrid, das habe ich nicht getan«, bestätigte Dr. Lindau. »Doch das geschah nicht in böser Absicht oder weil ich aus Mutters Tod ein Geheimnis machen wollte, sondern…« Mitten im Satz brach er ab und sah seine Tochter fest an.

»Sondern?« hakte Astrid fragend nach.

»Nun, das ist eigentlich in wenigen Worten erklärt«, erwiderte Dr. Lindau. »Erstens warst du damals noch viel zu klein, um alles zu begreifen, und außerdem warst du ja all die Jahre bei Vera…. hm… Tante Vera, weil ich mich doch wegen meiner Arbeit nicht um deine Erziehung kümmern konnte.« Zärtlich sah er seine Tochter an und setzte hinzu: »Wie ich feststellen muß, ist das Vera aber vorzüglich gelungen.«

»Danke, Paps, es freut mich, daß du das sagst. Ich bin Tante Vera ja selbst sehr dankbar dafür, daß sie sich um mich gekümmert hat.« Auf Astrids Lippen zeigte sich die Andeutung eines Lächelns. »Sie hat viel von dir gesprochen, denn sie mag dich auch sehr«, fügte sie hinzu.

Für Hendrik Lindau war das keine Neuigkeit. Er hatte immer schon gewußt, daß Vera Stolte, mit der er auf der gleichen Schule gewesen war, für ihn etwas übrig gehabt hatte. Ihrer beider Wege hatten sich dann aber getrennt. Er hatte Helen geheiratet, und Vera war fast zur gleichen Zeit auch in den Hafen der Ehe eingelaufen.

In diesen Augenblicken mußte Dr. Lindau auch wieder an die geradezu sonderbar anmutende Duplizität der Ereignisse denken. Nämlich daß Vera kurz vor Helens Tod auch ihren Mann verloren hatte. Er war ihr immer noch dankbar dafür, daß sie damals spontan bereit gewesen war, seine zweijährige Tochter zu sich in ihr Haus im fünfzig Kilometer weit entfernten Eibling zu nehmen und sie dort aufzuziehen. Natürlich hatte er den Kontakt mit Astrid nie verkümmern lassen. Sporadisch hatte er sie in Eibling besucht, oder sie war zwischendurch über die Wochenenden bei ihm im Doktorhaus gewesen. Ausgenommen davon waren die zwei Jahre, in denen er sich in der Münchener Universitätsklinik zum Facharzt für Frauenkrankheiten, zum Gynäkologen, ausgebildet hatte.

Astrids Stimme unterbrach die nur Sekunden dauernden erinnernden Gedanken ihres Vaters. »Jetzt bin ich aber wieder hier bei dir – vorläufig jedenfalls«, sagte sie, »und es interessiert mich, wie das mit meiner Mutter gewesen ist. Bitte…«, bat sie, »… erzähle es mir.«

Erneut sah Dr. Lindau auf die Uhr und nickte. »Also gut«, ergriff er das Wort, »du bist jetzt mit deinen achtzehn Jahren kein kleines Kind mehr. Deine Mutter und das erwartete Brüderchen für dich sind gestorben, weil sich die Plazenta gelöst hatte, was innere Blutungen hervorrief, die unrettbar zum Tod führten.«

»Plazentalösung also, das heißt, daß der Mutterkuchen…«

»Sieh an«, staunte Dr. Lindau, »du scheinst ein wenig Bescheid zu wissen.«

»Aber wirklich nur ein wenig, Paps«, gab Astrid zurück. Fragend blickte sie den Vater an. »Eine Rettung war dir nicht mehr möglich?« kam es leise über ihre Lippen.

Hendrik Lindau schüttelte den Kopf. »Zu dem Zeitpunkt nicht mehr«, stieß er hervor. »Eine Rettung wäre vielleicht möglich gewesen, wenn man rechtzeitig, also noch vor der Loslösung der Plazenta, hätte entsprechende Symptome dafür erkennen und deine Mutter schnellstens in die nächste Klinik hätte bringen können. Aber auch dann wären wegen des langen Anfahrtweges bis nach München oder vielleicht nach Rosenheim die Chancen sehr gering gewesen. Eine durch eine Plazentalösung hervorgerufene starke innere Blutung wirkt sich ungeheuer schnell und verheerend aus, wie es sich ja gezeigt hat.«

In Astrids Züge trat ein nachdenklicher Ausdruck. »Paps, ich möchte dich zum Schluß noch etwas fragen und bitte dich um eine ehrliche Antwort«, kam es dann leise über ihre Lippen.

»Astrid, du wirst von mir immer ehrliche Antworten bekommen«, gab Dr. Lindau zurück »Also bitte, frag’…«

Astrid gab sich einen innerlichen Stoß. »Deine Träume, Paps, und wie ich inzwischen weiß, dein damaliger spontaner Entschluß, Facharzt für Frauenleiden zu werden, hängt das alles irgendwie mit Mamas Tod zusammen?« forschte sie. »Ich meine, hast du... hast du... vielleicht damals das... das Gefühl gehabt, irgendwie…«

»Ich weiß, was du sagen willst«, unterbrach Dr. Lindau die stockend hervorgebrachten Worte seiner Tochter.

»Nein«, sagte er mit fester Stimme, »Schuldgefühle hatte ich nicht, denn vom medizinischen wie ärztlichen Standpunkt aus gesehen, konnte niemand deiner Mutter mehr helfen. Wenn das Wort Schuld überhaupt in diesem Zusammenhang gesagt werden darf, dann nur im Hinblick auf die Wissenschaft und Forschung, der es noch nicht vollständig gelungen ist, das rechtzeitige Erkennen der Symptome bei einem solchen akuten Krankheitsfall für den Arzt zu ermöglichen.«

»Deshalb bist du Frauenarzt geworden, hab’ ich recht?« fragte Astrid leise.

»Ja«, antwortete ihr Vater. »Ich wollte ganz einfach mein Wissen vermehren, um anderen Frauen besser helfen zu können. Frauen haben nun einmal einen etwas komplizierteren Aufbau und Organismus, als wir Männer«, fügte er hinzu. »Du wirst auch noch dahinterkommen. So, jetzt wird es aber Zeit für mich«, sagte er und erhob sich vom Frühstückstisch. »Ich muß hinunter in die Praxis. Was hast du heute vor?« wollte er wissen. »Na, nach deinem sehr gut bestandenen Abitur hast du dir Erholung verdient. Genieße den Tag! Wir sehen uns ja zum Mittag.« Er trat auf Astrid zu und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn. »Jedenfalls bin ich sehr froh, daß ich dich habe und daß du jetzt bei mir zu Hause bist«, flüsterte er, drehte sich abrupt um und verschwand aus der Küche.

Astrid, die vor knapp zwei Wochen ihr Abitur mit sehr gut bestanden hatte und jetzt schon an die weitere Zukunft dachte, hörte den Vater die Treppe hinunter in die Praxisräume gehen. Ein warmes Gefühl ergriff sie, und sie gestand sich ein, daß sie stolz auf ihren Vater war, den sie über alles liebte.

*

Die dunkelhaarige, ein wenig mollig aussehende Marga Stäuber war schon fleißig am Aussortieren der Karteikarten und Krankenunterlagen, als Dr. Lindau mit einem freundlichen Morgengruß die Praxis betrat. Er hatte damals bei der Übernahme der Praxis auf die bewährte Hilfe der siebenunddreißigjährigen Witwe, die bei seinem Vorgänger Sekretärin und Sprechstundenhilfe gewesen war, nicht verzichten wollen. Bis zum heutigen Tag hatte er das noch nicht zu bereuen gehabt. Marga Stäuber hatte sich als verläßliche und damit auch unentbehrliche Kraft bewiesen. Er konnte sich auf sie verlassen. Sie wußte in allen Dingen Bescheid, kannte fast alle Patienten des kleinen Ortes und auch die der nächsten Umgebung und wußte mit ihnen umzusehen. Das war nicht immer leicht, denn der in dieser Gegend lebende Menschenschlag hatte oft sehr merkwürdige Ansichten über Krankheiten und deren Behandlung.

Oft genug hatte das Dr. Lindau erleben können. In früheren Jahren jedenfalls, als er noch ein ganz allgemeiner praktischer Arzt gewesen war. Seit aber das metallene Schild an der Eingangstür besagte, daß hier ein Facharzt für Frauenleiden praktizierte, hatte sich einiges in dieser Richtung geändert. Es schien fast so, als ob die Leute durch die Bezeichnung Facharzt zu mehr Respekt oder Hochachtung angeregt würden und eben diesem Facharzt mehr Vertrauen schenkten als dem bisherigen praktischen Arzt. Wahrscheinlich lag das nicht zuletzt auch ein wenig daran, daß die Patienten, die täglich in die Sprechstunde kamen, im Gegensatz zu früheren Zeiten vorwiegend weiblichen Geschlechts waren. Die Männerwelt war in der Minderzahl, denn sie begaben sich fast ausnahmslos mit ihren Gebrechen, Leiden und anderen Wehwehchen zu Dr. Scholl, einem alteingesessenen praktischen Arzt am anderen Ende des Ortes. Es war eine Art stilles Übereinkommen zwischen Dr. Lindau und Dr. Scholl, Patienten oder Patientinnen entsprechend der Art ihrer Leiden jeweils an den anderen Kollegen zu überweisen.

Aber auch etwas war im Gegensatz zu früheren Zeiten in der Praxis von Dr. Lindau anders geworden. Vor Jahren saßen im Wartezimmer eigentlich nur Patienten, die aus dem Ort und der nächsten Umgebung stammten und da wohnten. Nun aber, und das schon seit längerer Zeit, kamen rat- und hilfesuchende Frauen und Mädchen in die Sprechstunde, die nicht im Ort wohnten, sondern von viel weiter her – aus Rosenheim, Memmingen, Landshut und aus dem Großraum München. Sogar aus der Schwarzwaldgegend und aus dem Stuttgarter Raum waren welche hierhergekommen. Sie alle hatten sich an Dr. Lindau gewandt, dessen Ruf als guter Frauenarzt sich inzwischen herumgesprochen hatte und von dem sie nun nach erfolglosen Konsultationen ihrer jeweiligen Hausärzte Hilfe erhofften und auch bekamen.

Die Frauen kamen aus den unterschiedlichsten Schichten. Dr. Lindau hatte es schon längst aufgegeben, sich zu wundern, weshalb diese Frauen mit ihren verschiedenen Leiden, Krankheiten und damit verbundenen Problemen ausgerechnet zu ihm kamen, obwohl den meisten durch ihren eigenen Hausarzt hätte geholfen werden können. Sehr bald war er allerdings dahinterkommen, daß manche dieser Frauen auf eine Weise anonym bleiben wollten, andere wieder aus einer gewissen – man konnte fast sagen, seelischen Not – den Weg zu ihm gefunden hatten.

Geholfen hatte er jedenfalls allen – ob es nun die Studentin war, die sich vor den Folgen einer heimlichen Liebe fürchtete, oder die vermögende Geschäftsfrau, die sich wegen eines vielleicht von ihr als peinlich angesehenen Leidens von ihrem eigenen Hausarzt, mit dem sie und ihr Mann auch noch gesellschaftlichen Kontakt hatte, schämte. In einem aber war sich Dr. Lindau immer treu geblieben, nämlich seinem ärztlichen Gewissen und seiner Berufung, Leben zu erhalten, so lange es nur möglich war, und alles zu unternehmen, was ihm als Arzt möglich war, um Körper und Seele seiner Patienten und Patientinnen zu heilen. Manch eine hatte von ihm medizinisch-ärztliche Dinge erwartet, ja, sogar verlangt, die er als verantwortungsbewußter Arzt hatte ablehnen müssen. Und das Erstaunliche war geschehen – man hatte es ihm nicht verübelt, sondern war ihm zu guter Letzt – bis auf ganz wenige Ausnahmen –, dann sogar dankbar gewesen.

»Hier sind die Karteikarten der bereits wartenden Patienten«, unterbrach Marga Stäuber die blitzartigen Gedankengänge ihres Chefs und übergab diesem die schon von ihr vorbereiteten Karten.

»Ach so... ja«, fand Dr. Lindau wieder in die Gegenwart zurück. »Wieviel haben wir denn?«

»Bis jetzt sieben«, antwortete die Sekretärin. »Aber es kommen bestimmt noch welche hinzu.«

Dr. Lindau überflog die Karten. »Neupatienten dabei?« fragte er.

»Nur eine«, erwiderte Marga Stäuber. »Kommt aus…«

»Schon gut«, unterbrach Dr. Lindau die Sekretärin und zog sich den weißen Mantel über. »Ist Frau Sieber schon hier?« Er meinte damit Bettina Sieber, die junge medizinischtechnische Assistentin, die er vor knapp zwei Jahren eingestellt hatte, weil er es ohne Hilfe einfach nicht mehr geschafft hatte.