Gibt es ein neues Glück für Lore? - Britta Winckler - E-Book

Gibt es ein neues Glück für Lore? E-Book

Britta Winckler

3,7

Beschreibung

Die große Arztserie "Die Klinik am See" handelt von einer Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie "Die Klinik am See" ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. »Jetzt wird es aber Zeit«, murmelte Dr. Hendrik Lindau und stand auf. »Danke für das Frühstück, mein Mädchen«, sagte er zu seiner Tochter, die gerade dabei war, ihrem erst einige Wochen alten Baby die Brust zu geben. »Wie ich die Stäuber kenne, wird sie schon nach der Uhr sehen und sich fragen, wo ich bleibe.« Um seine Mundwinkel huschte ein schwaches Lächeln. Er kannte seine Sekretärin. Marga Stäuber war immer darauf bedacht, daß alles in geordneten Bahnen verlief. Dazu gehörte natürlich auch die Pünktlichkeit. »Hast du heute viel zu tun, Paps?« fragte Astrid. »Das wird sich herausstellen«, antwortete der Chefarzt der Klinik am See. »Heute werden sicherlich etliche Wartezimmerpatientinnen kommen.« »Kein Problem für dich, wie ich dich kenne«, gab die Kinderärztin lachend zurück. »Alexander meint…« Astrid kam nicht dazu, zu sagen, was ihr Mann meinte, denn sie wurde von ihrem Vater unterbrochen. »Wo ist er überhaupt?« kam seine Frage. »Doch nicht etwa schon in der Klinik?« »Allerdings«, erwiderte Astrid. »Alexander ist schon vor gut einer halben Stunde gefahren.« »So früh schon?« »Er wollte noch zwei Untersuchungen bei zwei Jungen vornehmen – noch bevor du mit der Visite beginnst«, erklärte Astrid. »In einer Stunde komme ich auch nach«, fügte er hinzu. »Ich warte nur noch auf Frau Grimme.« »Ach ja, dein neuer Babysitter.« Fragend blickte Dr. Lindau seine Tochter an. »Wie bist du denn mit der jungen Frau zufrieden?« fragte er. »Paßt sie gut auf meinen kleinen Enkel auf?« Astrid nickte. »Ich habe nichts auszusetzen«, antwortete sie. »In den zwei Wochen, die sie nun herkommt, hat sie sich bewährt. Sie

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 146

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,7 (18 Bewertungen)
8
2
2
6
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Klinik am See – 10–

Gibt es ein neues Glück für Lore?

In den Fängen der Depression ...

Britta Winckler

»Jetzt wird es aber Zeit«, murmelte Dr. Hendrik Lindau und stand auf. »Danke für das Frühstück, mein Mädchen«, sagte er zu seiner Tochter, die gerade dabei war, ihrem erst einige Wochen alten Baby die Brust zu geben. »Wie ich die Stäuber kenne, wird sie schon nach der Uhr sehen und sich fragen, wo ich bleibe.« Um seine Mundwinkel huschte ein schwaches Lächeln. Er kannte seine Sekretärin. Marga Stäuber war immer darauf bedacht, daß alles in geordneten Bahnen verlief. Dazu gehörte natürlich auch die Pünktlichkeit.

»Hast du heute viel zu tun, Paps?« fragte Astrid.

»Das wird sich herausstellen«, antwortete der Chefarzt der Klinik am See. »Heute werden sicherlich etliche Wartezimmerpatientinnen kommen.«

»Kein Problem für dich, wie ich dich kenne«, gab die Kinderärztin lachend zurück. »Alexander meint…«

Astrid kam nicht dazu, zu sagen, was ihr Mann meinte, denn sie wurde von ihrem Vater unterbrochen. »Wo ist er überhaupt?« kam seine Frage. »Doch nicht etwa schon in der Klinik?«

»Allerdings«, erwiderte Astrid. »Alexander ist schon vor gut einer halben Stunde gefahren.«

»So früh schon?«

»Er wollte noch zwei Untersuchungen bei zwei Jungen vornehmen – noch bevor du mit der Visite beginnst«, erklärte Astrid. »In einer Stunde komme ich auch nach«, fügte er hinzu. »Ich warte nur noch auf Frau Grimme.«

»Ach ja, dein neuer Babysitter.« Fragend blickte Dr. Lindau seine Tochter an. »Wie bist du denn mit der jungen Frau zufrieden?« fragte er. »Paßt sie gut auf meinen kleinen Enkel auf?«

Astrid nickte. »Ich habe nichts auszusetzen«, antwortete sie. »In den zwei Wochen, die sie nun herkommt, hat sie sich bewährt. Sie scheint nicht nur etwas von der Behandlung und Betreuung von Babies und Kleinkindern zu verstehen, sondern solche kleinen Geschöpfe auch sehr zu mögen.«

»Freut mich, das zu hören«, gab Dr. Lindau zurück. »Allerdings bin ich nach wie vor der Meinung…«

»Ich weiß, Paps«, fiel Astrid ihrem Vater lächelnd ins Wort. »Eine Mutter sollte nicht von der Seite ihres Kindes weichen.«

»Genau«, bestätigte Dr. Lindau.

»Das tu ich auch nicht«, versicherte Astrid. »Ausgenommen die zwei bis drei Stunden, die ich vormittags in der Klinik bin. Ich liebe eben meinen Beruf als Kinderärztin ebenso, wie du den deinen liebst. In den Stunden, die ich vormittags in der Klinik verbringe, schläft unser Sohnemann ohnehin die meiste Zeit. Mittags, wenn ich wieder hier bin, hat er mich ja immer wieder.«

Dr. Lindau versagte sich auf diese Argumentation eine Erwiderung. Er trat dicht vor seine Tochter hin, gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange und sagte: »Wir sehen uns später in der Klinik.« Sekunden darauf war er schon weg.

Astrid winkte ihm, mit dem Baby im Arm, vom Fenster nach, als er abfuhr. »Jetzt kommt er doch um einige Minuten zu spät«, murmelte sie, »und die Stäuber wird die Stirn runzeln.«

Mit dieser Meinung irrte sich Astrid nicht einmal, denn Marga Stäuber sah den Chefarzt wenig später tatsächlich ein wenig tadelnd an, als der durch ihr Vorzimmer kam.

»Guten Morgen, Frau Stäuber«, grüßte Dr. Lindau. »Was Neues?« setzte er fragend hinzu.

»Nein, Herr Doktor«, gab die Sekretärin zurück. »Der Nachtrapport liegt auf Ihrem Schreibtisch, und im Wartezimmer sitzen bereits drei Frauen.«

»Einheimische?«

»Ja, aus Auefelden«, antwortete Marga Stäuber. »Zwei von ihnen haben Einweisungsscheine von ihrem Hausarzt und die andere kommt zur Kontrolluntersuchung. Die Krankenkarten hat Bettina bereits.«

»In Ordnung…«

*

Doris Schreiber und ihre Tochter traten den Rückzug an. »Jetzt könnte ich einen Kaffee vertragen«, meinte Doris, als sie in die Halle kam. Sie sah auf die Uhr. »Bis zum nächsten Bus haben wir noch eine gute halbe Stunde Zeit.«

»Eine Cola täte mir jetzt auch gut«, murmelte Michaela. »Ob es hier wohl eine Kantine gibt?«

»Die gibt es eigentlich in jeder Klinik«, meinte Doris. Suchend blickte sie sich um.

»Kann ich Ihnen helfen?« erklang plötzlich eine weibliche Stimme hinter den beiden Frauen. Es war die der Frauenärztin Dr. Westphal, die eben aus dem Aufzug getreten war und zum Chefarzt wollte. »Suchen Sie etwas?«

Doris und Michaela drehten sich um. »Ja, eine Kantine, in der man einen Kaffee bekommen kann«, antwortete Doris. Nachdenklich sah sie die Frau in dem weißen Arztkittel an. Sie kam ihr bekannt vor.

Ebenso aber erging es der Ärztin, als sie Doris erblickte. Und sie wußte auch, woher sie diese blonde Frau kannte. »Natürlich gibt es bei uns eine Kantine«, beantwortete sie zunächst die Frage von Doris und wies zu einem von der Halle abgehenden Gang. »Dort müssen Sie hin.«

»Vielen Dank, Frau Doktor.« Doris wollte mit ihrer Tochter weitergehen, wurde aber von der Ärztin zurückgehalten.

»Sie sind doch aus Bad Kreuth, habe ich recht?« fragte die.

»Ja, das stimmt«, bestätigte Doris. »Kennen Sie mich, Frau Doktor?«

»Ja«, erwiderte die Ärztin. »Wenn ich nicht irre, so haben Sie in Kreuth ein Geschäft, in dem es außer Tabakwaren und Zeitschriften und ähnlichem…«

»Ja«, fiel Doris der Ärztin ins Wort, »ich habe einen Kiosk, und jetzt entsinne ich mich, Sie bei mir gesehen zu haben.«

Dr. Antje Westphal nickte und lächelte. »Ich habe mir etliche Male bei Ihnen medizinische Zeitschriften gekauft, Frau…, Frau…«

»Schreiber, Doris Schreiber«, nannte Doris ihren Namen. »Das ist meine Tochter Michaela.« Sinnend sah sie die Ärztin an. »Es ist aber schon lange her, daß Sie bei mir gekauft haben«, meinte sie dann. »Wohnen Sie nicht mehr in Kreuth?« fragte sie.

Die Ärztin lächelte. »Ich habe nie in Kreuth gewohnt«, erklärte sie. »Meine Anwesenheit dort war stets nur beruflich und zwar in der dortigen Rheuma-Klinik bei Doktor Mayrhoff.«

Doris stutzte. »Sagten Sie Doktor Mayrhoff?« fragte sie erstaunt. »Meinen Sie damit den Therapeuten Doktor Mayrhoff?«

»Allerdings«, gab die Ärztin zurück. »Aber weshalb verwundert Sie das so?« wurde sie neugierig.

»Wann haben Sie Doktor Mayrhoff denn zuletzt gesehen und gesprochen, Frau Doktor?« antwortete Doris mit einer Gegenfrage.

»Nun, das ist schon ein Jahr her«, erwiderte Anja Westphal. Forschend sah sie Doris an. »Aber weshalb fragen Sie?« wollte sie wissen.

»Weil…, weil es diesen…, diesen Mann nicht mehr gibt«, kam es etwas stockend über Doris’ Lippen.

»Was heißt das?« fragte die Ärztin. »Ist er etwa nicht mehr am Leben?«

Doris schüttelte den Kopf. »Er lebt, aber nicht mehr in Kreuth«, antwortete sie. »Vor einem knappen Jahr hat er seine Frau wegen einer Jüngeren verlassen.«

»Das ist mir neu«, murmelte die Ärztin. »Seine Frau habe ich einmal bei ihm gesehen. Eine sehr nette und gutaussehende Frau übrigens und sehr sympathisch. Das tut mir leid für sie.«

»Mir auch, Frau Doktor, denn Lore, so heißt sie, ist meine beste Freundin, und ich mache mir große Sorgen ihretwegen.«

»Ist sie krank?« fragte die Ärztin interessiert.

»Mehr als das«, erwiderte Doris. »Sie leidet unter fürchterlichen Depressionen, die das Schlimmste befürchten lassen.« Hinter ihrer Stirn begann es zu rumoren. »Ich versuche ja, sie von ihrer Lebensunlust zu befreien, aber es will mir nicht gelingen.« Fragend blickte sie die Ärztin an. »Wissen Sie als Medizinerin keinen Rat, wie man Lore helfen könnte?« Das war halb Frage und halb Bitte.

Anja Westphal wurde ernst. »Auf Anhieb ist das nicht so einfach zu sagen«, entgegnete sie. »Natürlich kann man gegen Depressionen etwas unternehmen. Doch dazu müßte man nähere Details wissen.« Sie holte sich die damalige Begegnung ins Gedächtnis zurück. Viel war es nicht gerade, denn sie hatte Lore Mayrhoff nur kurz gesehen. Dr. Mayrhoff hatte ihr seine Frau vorgestellt, und zwischen Lore Mayrhoff und ihr, der Ärztin, waren nur wenige Worte gewechselt worden. Worte, wie man sie eben bei einer solch flüchtigen Begegnung wechselte – Worte allgemeiner Natur. Jedenfalls hatte die gutaussehende und durchaus als attraktiv zu bezeichnende Frau mit dem bis zum Nacken fallenden schwarzen Haar einen guten Eindruck gemacht. Damals hatte sie Lebensfreude ausgestrahlt, und ihre hinter einer modernen Brille blitzenden Augen waren voller Lebensfreude gewesen.

Das sollte nun nicht mehr so sein, wie Frau Schreiber es eben erzählt hatte? Anja Westphal konnte es kaum glauben. Ihr Interesse als Ärztin war plötzlich geweckt. Sekundenlang überlegte sie.

»Frau Schreiber«, wandte sie sich dann an Doris, »schicken Sie Ihre Freundin doch einmal zu mir, damit ich mit ihr reden kann.«

»Schön wär’s, Frau Doktor«, entgegnete Doris. »Ich glaube aber nicht, daß ich Lore dazu bewegen kann, zu Ihnen zu kommen.« Sie seufzte verhalten. »Ich habe schon öfter versucht, sie zu bewegen, sich wieder unter Menschen zu begeben und nicht nur Trübsal in ihrem Haus zu blasen. Bisher war es vergeblich.«

»Nun, es dürfte sich doch wohl ein Argument finden lassen, um Frau Mayr­hoff hierher zu bringen«, meinte die Ärztin. »Sagen Sie meinethalben, daß ich sie ganz gern privat einmal wiedersehen möchte – oder etwas ähnliches. »Dann kommen Sie mit ihr her. Na, was halten Sie davon?«

Hinter Doris’ Stirn überschlugen sich die Gedanken. »Ich werde es versuchen, Frau Doktor«, versprach sie der Ärztin. »Heute oder morgen gleich.«

»Viel Glück dabei«, erwiderte die Ärztin. »Ich erwarte Sie mit Ihrer Freundin Lore. Kommen Sie, wann immer Sie möchten!«

»Vielen Dank, Frau Doktor.«

»Schon in Ordnung, Frau Schreiber«, gab die Frauenärztin lächelnd zurück. »Mich aber entschuldigen Sie jetzt, denn…, ach, ich habe Ihnen gar nicht gesagt, wer ich bin.« Sie nannte ihren Namen. »Sie gehen nun dort in den Gang hinein und kommen direkt zur Kantine.«

Doris murmelte einen Gruß, faßte ihre Tochter, die während der Unterhaltung kein Wort gesagt hatte, leicht am Arm und schritt mit ihr zu dem von der Ärztin bezeichneten Gang.

Dr. Anja Westphal sah den beiden nach, bis sie verschwunden waren. Dann erst setzte sie ihren unterbrochenen Weg zum Büro des Chefarztes fort.

Sie traf den Klinikleiter, als der gerade sein Sprechzimmer verließ, um mit der Vormittagsvisite zu beginnen.

»Wolltest du zu mir, Frau Kollegin?« fragte er.

»Ja, und zwar wegen der Patientin, die du mir zur Mammographie geschickt hast…«

»Und?« Fragend sah Dr. Lindau seine Stellvertreterin an.

»Einwandfrei keine Brusterkrankung«, erklärte die Ärztin. »Das ist ein dermatologischer Fall.«

»Das hatte ich vermutet.« Dr. Lindau blickte auf die Uhr. »Ich habe es jetzt eilig«, sagte er. »Bitte ordne du das mit der Überweisung an den Hautarzt!«

»Ich erledige das«, versicherte die Ärztin, »und gebe Frau Bäumler eine Überweisung an die Dermatologie in München mit.«

»Danke, Frau Kollegin.« Dr. Lindau nickte seiner Stellvertreterin zu und setzte seinen Weg fort, während Anja Westphal sich zur Sekretärin des Chefs begab, um sich einige Überweisungsscheine zu holen.

*

Obwohl es ein sonniger Tag war, merkte man im Innern des Hauses, das als letztes am Stiggerweg in Bad Kreuth stand, nichts davon. In fast allen vier Räumen des Erdgeschosses hatte Lore Mayrhoff die Rollos an den Fenstern heruntergelassen. Nicht erst an diesem Tag, nein, schon seit Wochen lebte sie in dieser dämmrigen Atmosphäre. Eine Zeitlang hatten sich ihre Depressionen, die immer wiederkamen, seit ihr Mann sie verlassen hatte, teilweise verflüchtigt oder wenigstens vermindert. Aber seit einigen Wochen war dieser entsetzliche depressive Zustand wieder da und beherrschte sie. Mehrmals am Tag schlug ihre Stimmung um und beherrschte sie. Ihre Traurigkeit wechselte über zur Verzweiflung, um sich dann wieder in Trübsinnigkeit zu verwandeln. Ohne erkennbaren Grund weinte sie dann ein paar Tränen und befand sich danach in einem Zustand von Lethargie und Apathie. Dann war ihr alles egal. In solchen Momenten wünschte sich die einst so lustige und lebensfrohe Lore den Tod geradezu herbei.

Auch an diesem Tag – es ging schon gegen Mittag zu – war es nicht viel anders. Lore Mayrhoff lag auf dem Sofa im Wohnzimmer und starrte gegen die Decke. In ihren Schläfen hämmerte es, und sie hatte das Gefühl, als ob ihr Kopf jeden Augenblick bersten müßte. Sie fühlte sich unendlich elend.

»Warum ruft sie nicht an?« schrie sie plötzlich laut auf. »Doris, ruf doch an…!« Richtig flehend kamen diese letzten Worte über ihre Lippen, und sie spürte, daß sie wiederum dem Weinen nahe war. Mit verschleiertem Blick sah sie nach der Uhr. Sie verstand nicht, weshalb sich ihre beste Freundin Doris nicht wie gewohnt meldete. Vor zwei Stunden schon hätte sie anrufen sollen. Doris war ihre einzige Verbindung mit der Welt draußen. Jeden Tag rief sie gegen zehn Uhr an. Diese Anrufe waren für Lore das einzige, was sie daran hinderte, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Und dann natürlich Doris’ Besuche zweimal in der Woche.

Lores Leben war leer geworden, wertlos. So redete sie sich wenigstens ein. Der Mann, den sie geliebt und dem sie drei Söhne geboren hatte, war weg. Eine andere, jüngere Frau hatte bei ihm nun ihren Platz eingenommen. Obwohl das jetzt schon fast ein Jahr zurücklag, war sie immer noch nicht darüber weggekommen. Ja, sie hatte drei Söhne, die jetzt schon zu den Erwachsenen zählten mit ihren mehr als zwanzig Jahren. Aber sie hatten ihr eigenes Leben. Gut, sie kamen hin und wieder ins Haus und versuchten sie aufzumuntern. Aber weder dem Ältesten, Stefan, noch den beiden Zwillingen, Volker und Axel, war das bisher gelungen.

Den einzigen seelischen Halt – wenn man das so bezeichnen wollte – hatte Lore eigentlich bei Doris Schreiber. Mit einer ruckartigen Bewegung richtete sich Lore plötzlich auf. Ihre Hand zitterte etwas, als sie ihr volles schwarzes Haar aus der Stirn strich und nach ihrer Brille griff. Ein leises Stöhnen kam über ihre Lippen. Mit einer unsicheren Bewegung zog sie ein aufgeschlagenes Buch, das auf dem Sofatisch lag, näher heran. Es war eine Bibel, in der sie schon seit Tagen las. Immer nur ein oder zwei Seiten, denn zu mehr reichte ihre Konzentration nicht.

Diese Bibel aber schien ihr doch ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Sie bildete sich das wenigstens ein. Wie gehetzt blickte sie umher. Sie wollte in der Bibel wieder ein wenig lesen, schaffte es aber nicht. Die Buchstaben verschwammen ihr vor den Augen. Da fiel ihr Blick auf das Kruzifix an der Wand.

»Lieber Gott, was soll nur geschehen?« flüsterte Lore. »Hilf mir doch, denn so kann und will ich nicht weiterleben!«

Niemand antwortete Lore auf diesen Hilferuf. Resigniert lehnte sie sich zurück, zuckte aber im nächsten Augenblick zusammen, als sie das Anschlagen der Haustürglocke hörte. »Ich will niemanden sehen«, schrie sie auf.

Die Glocke aber blieb nicht still. Sie schlug wieder an – zweimal, dreimal und schließlich in weiterer ununterbrochener Folge.

Lore seufzte tief und erhob sich schließlich vom Sofa. Mit schleppenden Schritten ging sie hinaus in den Vorraum. »Wer ist denn da?« fragte sie laut.

»Ich bin es, Doris«, kam die Antwort. »Mach schon auf!«

»Ach du…« Lore ließ die Freundin herein und ging sofort wieder zurück ins Wohnzimmer und ließ sich auf dem Sofa nieder.

Doris Schreiber, vor zehn Minuten wieder mit dem Bus in Kreuth angekommen, hatte ihre Tochter nach Hause geschickt und war anschließend sofort zum Stiggerweg gekommen. Schon auf der Herfahrt hatte sie Gewissensbisse gespürt wegen des nicht erfolgten Anrufes bei Lore. Sie setzte sich neben ihre Freundin und legte den Arm um deren Schultern. »Bitte entschuldige, daß ich nicht angerufen habe.«

»Ich habe darauf gewartet, Doris«, murmelte Lore. Unvermittelt schrie sie auf. »Warum hast du nicht angerufen? Warum?« Mit funkelnden Augen sah sie Doris an.

Die war solche hysterieähnlichen Anfälle von Lore schon gewöhnt und ignorierte sie. Mit wenigen Worten erzählte sie, wo sie gewesen war.

»So, mit deiner Tochter warst du in der Klinik«, kam es gleichmütig über Lores Lippen. »Und was willst du jetzt bei mir?«

»Was wohl?« gab Doris ruhig zurück. »Ich wollte dich besuchen und ein wenig mit dir reden.«

»Worüber?« Lore starrte auf die vor ihr liegende Bibel.

Doris folgte diesem starren Blick. »Darüber zum Beispiel«, erwiderte sie spontan.

»Über meine Bibel?«

»Ja, weil ich denke, daß das nicht die Lektüre ist, die dich von deinen Depressionen befreit.« Doris zwang ihre Freundin, sie anzusehen.

»Doch«, widersprach Lore. »Die Bibel und mein Glaube an Gott werden mir schon helfen.«

»Wenn das so wäre, dann hättest du schon längst deine frühere Freude am Leben wiedergefunden, Lore.« Doris wurde ernst und war entschlossen, ihrer Freundin auch mit harten Worten zuzusetzen. »Es gibt ein wahres Wort«, fuhr sie fort. »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Verstehst du? Selbst muß man versuchen, Probleme zu bewältigen. Ich will dir um Himmels willen nicht den Glauben nehmen, aber du mußt endlich einmal einsehen, daß es an dir liegt, dich aus diesen Depressionen zu lösen.«

Lore seufzte verhalten. »Wie denn? Was denn?« kam es kläglich fragend über ihre Lippen.

»Zunächst einmal mußt du raus aus deinen vier Wänden.« Doris wurde nun richtig energisch. »Du mußt unter Menschen und nicht nur hier im abgedunkelten Zimmer sitzen, Trübsal blasen oder dich in die Bibel vergraben. Reiß dich zusammen und komm mit mir irgendwohin, wo du abgelenkt wirst.« Minutenlang redete Doris in dieser Art auf ihre Freundin ein.

»Ich…, ich…, habe keine… Lust und möchte gar… gar nicht mehr leben«, flüsterte Lore.

Doris erschrak. »Bist du verrückt?« stieß sie hervor. »Nicht mehr leben, wenn ich das schon höre.« Soweit ist es also schon, daß sie sich mit Selbstmordgedanken trägt, dachte sie. »O nein, liebe Lore, so geht das nicht«, beschwor sie die Freundin. »Ich soll dich übrigens grüßen«, wechselte sie das Thema. »Von Frau Doktor Westphal.« Gespannt wartete sie auf eine Reaktion.

»Wer ist das?« fragte Lore aber nur gleichmütig.

Doris erzählte, was sie wußte. Mit einer gewissen Genugtuung – um nicht gerade zu sagen Erleichterung – stellte sie fest, daß Lore plötzlich ein wenig interessiert zu sein schien. Sofort hakte sie nach. »Sie möchte dich gern einmal sehen und mit dir ein wenig plaudern«, sagte sie. »Kannst du dich an sie wenigstens erinnern?« fügte sie fragend hinzu.

Lore zögerte mit der Antwort. »Vielleicht…, ja…, ein wenig«, kam es dann aber über ihre Lippen. »Das ist aber schon…, schon… lange her. Ja, richtig, ich war damals gerade bei meinem Mann. Jetzt weiß ich es.«