Auf dem Weg zur Mutter - Britta Winckler - E-Book

Auf dem Weg zur Mutter E-Book

Britta Winckler

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Beschreibung

Die große Arztserie "Die Klinik am See" handelt von einer Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie "Die Klinik am See" ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. »Matthias!« rief Therese Obermeier beim Anblick ihres Sohnes erfreut und richtete sich in den Kissen auf, um aber sogleich mit einem tadelnden Unterton die Frage einzuschließen: »Du besuchst mich am hellen Vormittag?Matthias Obermeier quittierte den Vorwurf seiner kranken Mutter mit jenem unbekümmerten Lachen, das seiner positiven Lebenseinstellung entsprach, zumindest wirkte es auf die kranke Großbäuerin so. In Wahrheit aber fühlte er sich todtraurig, seit er wußte, wie gering die Lebenserwartung seiner Mutter wirklich war.»Ich hatte in Auefelden zu tun«, wich er ihrem fragenden Erstaunen darüber aus, daß er als Landwirt tags­über die Arbeit auf dem Hof liegenließ, um sie in der Klinik zu besuchen. Daß ihn in Wirklichkeit die Verzweiflung hertrieb, sie in absehbarer Zeit verlieren und darum jeden gemeinsamen Augenblick nutzen zu müssen, das konnte er ihr nicht sagen, obwohl auch sie um ihren hoffnungslosen Zustand wußte.Vor drei Wochen hatte er sie nach einem ihrer langen arbeitsreichen Tage in die Klinik am See fahren müssen, wo der Chefarzt Dr. Lindau eine sofortige Operation angesetzt hatte. Die befürchtete Diagnose des Arztes hatte sich mit dem Eingriff dann auch bestätigt. Seine Mutter litt unheilbar an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung.Und indem er sich jetzt auf ihre Bettkante setzte, schnürte die Angst um sie, welche bereits das Wissen um den Verlust in sich trug, ihm das Herz zusammen. Was war aus der großen kräftigen Frau geworden, welche sie bis vor kurzer Zeit noch gewesen war? Ihr Gesicht, einmal schön und von friedlicher Heiterkeit, war zeitlebens sein Halt gewesen, ihre starke ordnende Hand die eigentliche Kraft des großen Hofes. Jetzt war dieses Gesicht hager, das blonde Haar schien grauer, und die blauen Augen hatten ihren Glanz verloren.»Wie läuft es auf dem Hof?« fragte Therese Obermeier aus ihren Gedanken heraus und sah ihrem Sohn in das wetterbraune Gesicht, in die besorgten blauen Augen, welche trotz des Kummers von freundlicher Ausstrahlung waren. Gern hätte sie ihm über das blonde Haar gestrichen, aber dazu hätte sie sich aufrichten müssen, etwas, was mit Schmerzen verbunden sein würde.»Der erste Heuschnitt kann am Nachmittag eingebracht werden«, gab er etwas automatisch Auskunft.Therese Obermeier wandte den Kopf dem Fenster zu und senkte gleich darauf sekundenlang die Lider vor dem hellen Licht. »Ja, es ist Heuwetter«, sagte sie und glaubte den Geruch trockenen Grases zu atmen.

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Die Klinik am See – 28–

Auf dem Weg zur Mutter

Ein Engel stand am Straßenrand und half ihm in seiner schwersten Zeit

Britta Winckler

»Matthias!« rief Therese Obermeier beim Anblick ihres Sohnes erfreut und richtete sich in den Kissen auf, um aber sogleich mit einem tadelnden Unterton die Frage einzuschließen: »Du besuchst mich am hellen Vormittag?«

Matthias Obermeier quittierte den Vorwurf seiner kranken Mutter mit jenem unbekümmerten Lachen, das seiner positiven Lebenseinstellung entsprach, zumindest wirkte es auf die kranke Großbäuerin so. In Wahrheit aber fühlte er sich todtraurig, seit er wußte, wie gering die Lebenserwartung seiner Mutter wirklich war.

»Ich hatte in Auefelden zu tun«, wich er ihrem fragenden Erstaunen darüber aus, daß er als Landwirt tags­über die Arbeit auf dem Hof liegenließ, um sie in der Klinik zu besuchen. Daß ihn in Wirklichkeit die Verzweiflung hertrieb, sie in absehbarer Zeit verlieren und darum jeden gemeinsamen Augenblick nutzen zu müssen, das konnte er ihr nicht sagen, obwohl auch sie um ihren hoffnungslosen Zustand wußte.

Vor drei Wochen hatte er sie nach einem ihrer langen arbeitsreichen Tage in die Klinik am See fahren müssen, wo der Chefarzt Dr. Lindau eine sofortige Operation angesetzt hatte. Die befürchtete Diagnose des Arztes hatte sich mit dem Eingriff dann auch bestätigt. Seine Mutter litt unheilbar an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung.

Und indem er sich jetzt auf ihre Bettkante setzte, schnürte die Angst um sie, welche bereits das Wissen um den Verlust in sich trug, ihm das Herz zusammen. Was war aus der großen kräftigen Frau geworden, welche sie bis vor kurzer Zeit noch gewesen war? Ihr Gesicht, einmal schön und von friedlicher Heiterkeit, war zeitlebens sein Halt gewesen, ihre starke ordnende Hand die eigentliche Kraft des großen Hofes. Jetzt war dieses Gesicht hager, das blonde Haar schien grauer, und die blauen Augen hatten ihren Glanz verloren.

»Wie läuft es auf dem Hof?« fragte Therese Obermeier aus ihren Gedanken heraus und sah ihrem Sohn in das wetterbraune Gesicht, in die besorgten blauen Augen, welche trotz des Kummers von freundlicher Ausstrahlung waren. Gern hätte sie ihm über das blonde Haar gestrichen, aber dazu hätte sie sich aufrichten müssen, etwas, was mit Schmerzen verbunden sein würde.

»Der erste Heuschnitt kann am Nachmittag eingebracht werden«, gab er etwas automatisch Auskunft.

Therese Obermeier wandte den Kopf dem Fenster zu und senkte gleich darauf sekundenlang die Lider vor dem hellen Licht. »Ja, es ist Heuwetter«, sagte sie und glaubte den Geruch trockenen Grases zu atmen. »Hast du genug Leute?«

Matthias nickte. Angesichts ihrer Krankheit gerieten all diese Dinge, denen so viele Jahre ihre gemeinsame Umsicht gegolten hatte, zur Zweitrangigkeit.

»Und bei den Tieren ist auch alles in Ordnung?« fragte sie wie an jedem Tag­ und zwang erneut seine Gedan­ken­ auf das Leben zurück, das nun einmal weiterging. Sie ahnte sein Erschrecken über ihre Krankheit und die Lähmung, welche ihm diese Tatsache bereitete.

»Ja«, sagte er und spürte ihre liebevollen Hände, wie er sie sein Leben lang gespürt hatte. Sie waren immer eine Einheit gewesen, sie und er, auch als sein Vater noch gelebt hatte, den er als unbeugsamen halsstarrigen Mann in Erinnerung hatte.

»Und im Haus?« fragte sie, »wie sieht es im Haus aus? Schafft Anna die Arbeit allein?«

»Valerie hilft ihr.«

»Ach, die Frau Moser ist wieder bei uns!« Therese Obermeier lächelte, während sie an das Mädchen dachte, welches bereits im letzten Jahr in den Semesterferien auf dem Hof gearbeitet hatte.

Matthias nickte, fügte dann hinzu: »Sie ist flink und geschickt, und man kann sie überall einsetzen.«

»Ja, ich weiß, ein nettes Mädchen!« Ein vieldeutiger Blick traf ihn, den er sofort verstand.

»Aber, Mutter, nicht schon wieder!« rief er und mußte trotz seines Kummers lachen, da er ihre Hintergedanken ahnte. »Was sollten wir auf dem Hof mit einer jungen Bäuerin, welche Philosophie studiert? Außerdem ist sie mir auch viel zu mager.«

Therese Obermaier schüttelte lächelnd den Kopf.

Als es in diesem Moment außen an der Tür pochte, atmete Matthias auf, kam er doch damit um die verbindliche Zusage herum, sich darüber Gedanken zu machen.

Er erhob sich eilig von der Bettkante und ging, um die Tür zu öffnen.

»Grüß Gott, Herr Pfarrer«, sagte er gleich darauf und ließ den Geistlichen an sich vorbei ins Zimmer treten.

»Grüß dich, Matthias! Schon so früh am Tag hier?« Der Pfarrer blinzelte zu dem jungen Mann auf, der ihn um Haupteslänge überragte.

Matthias nickte. »Ich bin nur auf einen Sprung hier – und muß gleich zurück auf den Hof.«

»Jaja, es ist Heuwetter«, wußte auch der Pfarrer, der den Arbeitsdruck der Landwirte zu dieser Jahreszeit kannte.

Matthias reichte dem Pfarrer die Hand und kam dann noch einmal zum Bett zurück und beugte sich abschiednehmend über seine kranke Mutter. Und während sie einander voller Zuneigung ansahen, sagte er: »Wir sehen uns am Abend wieder«, und seine Stimme klang rauh vor Rührung. Dann verließ er das Krankenzimmer und stieß erst draußen auf dem weiten hellen Flur die Fäuste verzweifelt in die Hosentaschen, während sich auf seinem Gesicht die Ohnmacht zeigte, mit all seiner Kraft nichts gegen diese Krankheit ausrichten zu können.

*

Dr. Lindau betrat mit raschen Schritten das Zimmer, von einer besorgten Oberschwester zu der kranken Bäuerin geholt.

»Was hat Sie denn so aufgeregt?« fragte er in seiner ruhigen freundlichen Art und griff nach ihrem Handgelenk. Und während er lächelnd auf sie niedersah, stellte er ihren rasenden Pulsschlag fest.

»Wieviel Zeit bleibt mir noch, Herr Doktor?« fragte die Kranke, und in ihrem Blick spiegelte sich die Panik, die sie nun erfüllte.

Er schüttelte erstaunt den Kopf. »Warum stellen Sie solche Fragen, Frau Obermeier? Ich bin nicht Herr über Leben und Tod, über Zeit und Ende.«

»Aber, Herr Doktor, ich weiß als Bäuerin doch auch, wie lange ein Halm aus eigener Kraft noch steht und wann er fällt. Und ich muß aus einem bestimmten Grund wissen, wann ich mich der Erde zuneige.«

Dr. Lindau hatte ihr nach der Operation die Wahrheit über die Schwere ihrer Krankheit sagen müssen, nachdem sie ausdrücklich eine ehrliche Antwort verlangt hatte. Erstaunlicherweise hatte sie die Wahrheit sehr gelassen hingenommen. Ihr Leben, lang und arbeitsreich, war ein erfülltes Leben, und so, wie dieses Leben sich stets unter das Gesetz der Natur gestellt sah, so akzeptierte sie auch jetzt sein nahendes Ende. Außerdem war sie eine gläubige Frau, die den Willen Gottes ohne Aufbegehren akzeptierte.

»Sie sind eine starke Frau«, sagte er zögernd und auch vorsichtig abschätzend, ob sie mit dem Mut zu dieser Frage bereits ihre ganze Kraft vergeben hatte. Er hörte auch als erfahrener Arzt die Frage nach der Lebenserwartung nicht gern, denn auch die Mutigen gerieten nicht selten in tiefe Verzweiflung, wie eben der Mensch den Tod als etwas Sinnloses empfand.

»Nein, Dr. Lindau! Sie irren sich, ich bin eine verbrauchte Frau«, sagte Therese Obermeier, »und mein Leben geht jetzt zu Ende.«

»Wollen wir nicht die Beantwortung Ihrer Frage einem höheren Wesen überlassen, Frau Obermeier?« Dr. Lindau setzte sich auf die Bettkante und entließ mit einem Blick die Schwester aus dem Zimmer.

»Sie drücken sich um die Antwort, Herr Doktor, weil Sie denken, daß mich das nahende Ende mit Angst und Schrecken erfüllt. Dem ist aber nicht so, glauben Sie mir, ich brauche die Angabe der Zeit, die mir noch bleibt, aus ganz anderen Gründen.«

Der Arzt sah sie nachdenklich an. »Warum wollen Sie mich zum vor­auseilenden Boten machen?« fragte er ruhig in ihr blasses Gesicht hinein, von dem er ahnte, daß es einmal sehr schön gewesen sein mußte.

»Weil ich vor meinem Tod noch etwas zu regeln habe, was mir schwer auf der Seele liegt, und ich von Tag zu Tag mehr spüre, daß ich mit dieser Schuld nicht friedlich zu sterben vermag.«

»Möchten Sie darüber sprechen?« Er wußte als erfahrener Arzt um die letzten Bitten hoffnungslos kranker Menschen, welche ihr Leben am Ende ihrer Tage bereinigen wollten. Sehr oft hörte er von Lebenswegen und dem, was sie schwierig gemacht hatte – und versuchte zu helfen.

Therese Obermeier blickte dem Chefarzt der Klinik in das freundliche Gesicht. Verständnis lag darin und die Bereitschaft, seine kostbare Zeit nicht nur ihrem körperlichen Wohlergehen zu widmen, sondern auch dem seelischen. Atemlos fragte sie sich, ob er vielleicht der Mensch sein würde, der ihr weiterhelfen konnte in ihrem verzweifelten Bemühen, ihren Sohn Maximilian noch einmal wiederzusehen?

»Es ist lange her…«, sagte sie und zögerte noch, ihn damit zu behelligen, »wollen Sie sich wirklich meine Lebensgeschichte anhören?«

»Natürlich!«

Thereses Wangen röteten sich aufgeregt. »Es könnte sein, daß ich Sie zum Schluß bitte, etwas für mich in die Wege zu leiten?«

»Wenn ich es vermag.« Er sah sie aufmunternd an.

Therese Obermeier atmete tief und dankbar, während sie nach der Hand des Arztes tastete. Ihr Blick war nun voller Hoffnung, senkte sich allmählich nach innen und verlor sich nun zunehmend in der Vergangenheit.

»Sechsunddreißig Jahre – nein, siebenunddreißig Jahre, ich will von vorn beginnen«, sagte sie leise und schien das Krankenzimmer zu vergessen. »Ich war hübsch damals und jung – und ich war arm, sehr arm, etwas, was man sich heute von der angesehenen Großbäuerin Therese Obermeier gar nicht mehr vorstellen kann. Ein junger Bursche zog durchs Dorf, und er verdrehte mir den Kopf. Als ich wußte, daß ich schwanger war, war er bereits weitergezogen.« Die Kranke atmete schwer, bevor sie fortfuhr: »Ich arbeitete damals auf dem Güttner-Hof, verrichtete jede Arbeit, wie das damals so üblich war. Man mochte mich, weil ich fleißig war, aber als mein Zustand offensichtlich wurde, warf man mich hinaus.« Therese Obermeier schloß sekundenlang die Augen, der Schock saß immer noch.

»Da stand ich ohne Bleibe, ohne Geld – und bekam ein Kind! Ich sehe noch die einsetzende Dämmerung, die ersten Nebel über der Wiese, die ich überquerte. Man hatte das Gras gemäht, und der Geruch von Heu lag in der Luft – wie zur Zeit. Ratlos lief ich zum See hinunter. So ein Wasser hat eine eigenartige Anziehungskraft, wenn man nicht mehr weiter weiß. Und während ich vom Ufer her ins Wasser starrte, das unter der Abenddämmerung immer schwärzer wurde, fühlte ich in meinem Rücken die Anwesenheit eines Menschen – und blickte mich um.«

»Ja?« fragte Dr. Lindau nach einer Weile, als Therese Obermeier nun lange schwieg.

»Eine Dame stand hinter mir auf dem Uferweg und sah zu mir hin, eine wirkliche Dame. Sie trug ein helles Kleid, hatte dunkles Haar und wirkte fein und beinahe so unwirklich wie eine Fee. Ihr Blick aber war aufmerksam, und die Hand, welche sie mir wortlos entgegenstreckte, bot bereits all die Hilfe an, die ich später von ihr erfuhr. Ich stieg das Ufer hinauf und sah, daß sie sich nach meinem Bündel bückte, das am Weg lag.«

»Sie hat sich Ihrer angenommen?«

»Ja.« Therese Obermeier nickte. »Am selben Abend noch hatte ich wieder ein Dach über dem Kopf und eine Anstellung. Friedrich und Elisabeth von Hall, so hieß meine gute Fee, nahmen mich trotz meines Zustandes in ihr Haus auf, einem Landsitz, den sie in jenem Sommer dort am See bewohnten. Das Ehepaar befand sich im mittleren Lebensalter und war selbst kinderlos, ein Zustand, so erfuhr ich später, der sie traurig stimmte.«

Der Bäuerin standen jetzt feine Schweißperlen auf der blassen Stirn, und wieder machte sie eine lange Pause.

»Dort kam mein Kind zur Welt«, sagte sie dann, und ihre Stimme bebte. »Es war ein schöner kräftiger Junge…« Für Augenblicke verlor sie nun völlig die Fassung, und die Tränen rannen ihr übers Gesicht.

»Sie dürfen sich nicht so aufregen«, sagte der Arzt mahnend.

»Nein, ich darf das nicht, ich weiß, Herr Doktor, aber ich habe all die Jahre nicht mehr darüber gesprochen.«

Dr. Lindau konnte sich auf ihre Erzählung im Moment noch keinen Reim machen, da er annahm, sie spräche von ihrem Sohn Matthias, den er ja kennengelernt hatte.

Nach einer Weile nahm Therese Obermeier ihren Bericht wieder auf. »Er wurde geliebt«, sagte sie, »geliebt und verwöhnt, vor allen Dingen von dem Ehepaar von Hall. Es war eine schöne Zeit, und gemeinsam gaben wir ihm den Namen Maximilian…«

»Sagten Sie nicht, Ihr Sohn heißt Matthias?«

»Ich spreche von meinem ersten Sohn, Herr Doktor.«

Dr. Lindau begann jetzt das Problem zu ahnen, das ihr auf der Seele lag.

»Und wie ging es weiter?« fragte er.

Therese Obermeier nahm den Faden wieder auf, und dieser Faden enthielt in der Folge auch ein Stück Glück, das zeigte ihr unerwartetes Lächeln.

»Friedlich und Elisabeth von Hall verlängerten ihren Aufenthalt in Auefelden, der Kleine war ihnen ans Herz gewachsen. Aber irgendwann würden sie Auefelden verlassen, um auf ihre Besitzung in Südamerika zurückzukehren, das wußte ich. Pläne, sie zu begleiten, entstanden und ließen uns eine Weile gemeinsam träumen.«

Die blauen Augen der Bäuerin hatten jetzt das Strahlen, welches ihnen in jungen Jahren zu eigen gewesen sein mußte.

»Dann lernte ich den Großbauern Xaver Obermeier kennen und verliebte mich anfangs wohl auch in ihn, obwohl er eigentlich kein liebenswerter Mann war. Vielleicht imponierte mir aber auch die Kraft, die er ausstrahlte, oder seine Macht als Großbauer. Auf jeden Fall fühlte ich mich geschmeichelt, daß er sich für so ein armes Mädchen wie mich interessierte. Daß ich bereits ein außereheliches Kind besaß, war ihm bekannt, und es schien ihn nicht weiter zu stören, zumindest nahm ich das an. Kurzum, ich ließ mich mit ihm ein und wurde wieder schwanger.«

Therese Obermeier trug jetzt die ausweglose Panik im Gesicht, die sie damals verspürt haben mußte. Ihre Hände fuhren ziellos über die Bettkante.

»Ihr Sohn Matthias war unterwegs?« fragte der Arzt.

»Ja.«

Dr. Lindau dachte sich jetzt schon eine ganze Menge, zumindest ahnte er, wie es weitergegangen war.

»Können Sie sich vorstellen, wie dankbar und erleichtert ich war, als er mich heiraten wollte, etwas, was durchaus nicht zu erwarten gewesen war, arm wie ich war – mit einem außer­ehelichen Kind?«

»Und er hat Sie geheiratet?« Therese Obermeier atmete tief.

»Ja – aber mit der Bedingung, daß ich zuvor meinen unehelich geborenen Sohn Maximilian zur Adoption fortgebe.«

»Ich verstehe – Sie sind darauf eingegangen?«

Die Bäuerin schlug die Hände vor das verzweifelte Gesicht, und diesmal brauchte sie Minuten, um sich wieder zu beruhigen, während der Arzt sie aufmerksam im Auge behielt. Er wußte, diese Dinge mußten von der Seele, damit sie ihren inneren Frieden finden konnte, und deshalb versuchte er auch nicht, das Gespräch abzubrechen.

Als sie sich wieder beruhigt hatte und die Hände zurücknahm, war ihr Gesicht wie versteinert.

»Ich bin darauf eingegangen«, bekannte sie mit schleppender Stimme, »um nicht mit zwei außerehelichen vaterlosen Kindern dazustehen.«

»Wie verhielt sich während dieser Zeit das Ehepaar von Hall, welches Ihnen und Ihrem ersten Kind doch sehr zugetan war, wie Sie sagten?«

»Friedrich und Elisabeth von Hall boten an, Maximilian zu adoptieren, was auch geschah. Wenig später nahmen sie ihn mit nach Südamerika.«

»Und Sie haben ihn nie wiedergesehen?«

»Nein.« Die blassen Lippen der Bäuerin zuckten wie im Schmerz. »Ich habe ihn verraten, um den Lebensweg seines Bruders zu sichern. Matthias wurde geboren – und er wurde mein ganzes Glück.«

»Wie gestaltete sich Ihr Verhältnis zu Ihrem Mann?«

Therese Obermeier blickte zu dem Arzt auf.

»Sie wundern sich, wie man es an der Seite eines Mannes aushält, der so unmenschliche Bedingungen gestellt hat?« Ihr Mund verzog sich bitter. »Wenn ich ihn am Anfang unserer Beziehung geliebt habe, so war diese Zuneigung in dem Moment beendet, als er mich vor die Alternative stellte. Ich befand mich in einer ausweglosen Situation – und er nutzte sie aus.«

Der Arzt nickte gedankenvoll. »Dennoch sind Sie eine gute Bäuerin gewesen – eine anerkannte und geachtete Frau mit einer großen Leistung.«

»Die Arbeit war meine Droge, Herr Dr. Lindau, sie hat meine Gefühle betäubt, und die Gedanken besänftigt und die Selbstvorwürfe, Gewissensnöte und Sehnsüchte kleingehalten.«

»Ihr ältester Sohn ist heute somit sechsunddreißig Jahre alt?«

»Ja.«

»Weiß er, daß Sie seine Mutter sind?«

»Nein. Frau von Hall wollte ihn nicht in dem inneren Zwiespalt aufwachsen sehen, zwei Mütter zu haben. Als sie ihn übernahm, war er zu klein, um Erinnerungen mitzunehmen. Sie schrieb mir aber in regelmäßigen Abständen über seine Entwicklung und nannte ihn in ihren Briefen immer ›unseren gemeinsamen Sohn‹. Sie hat sich wirklich wunderbar verhalten.« Therese Obermeier lächelte dankbar. »Heute, da er ein erwachsener Mann ist, lese ich dann und wann in der Zeitung von ihm, immerhin gehört er zu einer angesehenen Familie.«

»Und jetzt möchten Sie ihn noch einmal wiedersehen?« Dr. Lindau glaubte zu verstehen, worum es ihr am Ende ihres Lebens ging.

»Ja.« Therese Obermeier trug jetzt wieder den verzweifelten Wunsch in den Augen, vor ihrem Tod diesen schwarzen Punkt in ihrem sonst so vorbildlichen Leben zu tilgen. »Ich muß wissen, ob er mir verzeiht, daß ich ihm die leibliche Mutter genommen habe, um meinem zweiten Sohn den Vater zu sichern – und ich muß wissen, ob er es versteht, denn ich verstehe es heute kaum selbst mehr. Aber wer versteht später noch den Druck der Verhältnisse, unter denen Unglaubliches geschieht?«