Eine Frau kämpft mit sich selbst - Britta Winckler - E-Book

Eine Frau kämpft mit sich selbst E-Book

Britta Winckler

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Beschreibung

Die große Arztserie "Die Klinik am See" handelt von einer Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie "Die Klinik am See" ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. Dr. Anja Westphal schob mit einem erleichterten Seufzer die beiden Krankenakten beiseite. Von Schreibarbeiten war sie noch nie begeistert gewesen. Aber sie gehörten nun auch einmal zu den Pflichten und Aufgaben einer Ärztin. Präzise und umfassende Krankengeschichten waren wichtig und konnten manchmal sogar fast lebensrettend sein, wenn der behandelnde Arzt genau über Vorgeschichte, frühere Leiden und Behandlungen im Bilde war.Anja Westphal blickte auf die Uhr. Zweieinhalb Stunden blieben ihr noch bis zum Ende ihres heutigen Spätdienstes um 20 Uhr. Sie erhob sich hinter ihrem Schreibtisch und verließ ihr Dienstzimmer, um in der Kantine einen kleinen Imbiß zu sich zu nehmen. Im Augenblick wurde sie nicht gebraucht. Auf den Stationen hatte die Essenszeit für die Patienten begonnen. Pünktlich um 17 Uhr.Mit schnellen Schritten ging die Ärztin zum Aufzug, der gerade oben ankam und dem Dr. Köhler entstieg, der ebenfalls Spätdienst hatte. »Ich war nur rasch in der Kantine und habe ein paar belegte Brote gegessen«, sagte er in entschuldigendem Ton.»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Herr Köhler«, entgegnete Anja Westphal lächelnd. »Ich habe nämlich auch vor, meinem Magen eine Kleinigkeit zukommen zu lassen. Sie wissen also, wo ich in der nächsten Viertelstunde zu finden bin.»Lassen Sie sich Zeit«, erwiderte Dr. Köhler. »Heute war eigentlich ein ruhiger Tag, und ich hoffe, er bleibt auch weiter so.

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Die Klinik am See – 30–

Eine Frau kämpft mit sich selbst

Marianne fehlte jeder Lebensmut

Britta Winckler

Dr. Anja Westphal schob mit einem erleichterten Seufzer die beiden Krankenakten beiseite. Von Schreibarbeiten war sie noch nie begeistert gewesen. Aber sie gehörten nun auch einmal zu den Pflichten und Aufgaben einer Ärztin. Präzise und umfassende Krankengeschichten waren wichtig und konnten manchmal sogar fast lebensrettend sein, wenn der behandelnde Arzt genau über Vorgeschichte, frühere Leiden und Behandlungen im Bilde war.

Anja Westphal blickte auf die Uhr. Zweieinhalb Stunden blieben ihr noch bis zum Ende ihres heutigen Spätdienstes um 20 Uhr. Sie erhob sich hinter ihrem Schreibtisch und verließ ihr Dienstzimmer, um in der Kantine einen kleinen Imbiß zu sich zu nehmen. Im Augenblick wurde sie nicht gebraucht. Auf den Stationen hatte die Essenszeit für die Patienten begonnen. Pünktlich um 17 Uhr.

Mit schnellen Schritten ging die Ärztin zum Aufzug, der gerade oben ankam und dem Dr. Köhler entstieg, der ebenfalls Spätdienst hatte. »Ich war nur rasch in der Kantine und habe ein paar belegte Brote gegessen«, sagte er in entschuldigendem Ton.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Herr Köhler«, entgegnete Anja Westphal lächelnd. »Ich habe nämlich auch vor, meinem Magen eine Kleinigkeit zukommen zu lassen. Sie wissen also, wo ich in der nächsten Viertelstunde zu finden bin.«

»Lassen Sie sich Zeit«, erwiderte Dr. Köhler. »Heute war eigentlich ein ruhiger Tag, und ich hoffe, er bleibt auch weiter so.«

»Bis auf den Schlaganfall, ja, da haben Sie recht«, gab die Ärztin zurück. »Apropos – Schlaganfall, sehen Sie doch bitte gleich einmal nach der Patientin.«

»Sie meinen Frau Grever.« Dr. Köhler nickte. »Da kann ich Sie beruhigen«, fuhr er fort. »Ich war vor einer halben Stunde bei der alten Dame. Sie fühlt sich ganz gut. In ein paar Tagen kann sie uns bestimmt wieder verlassen.«

»Freut mich, das zu hören«, entgegnete die Ärztin. »Also dann bis später«, fügte sie hinzu, betrat den Aufzug und fuhr ins Erdgeschoß. Als sie die Halle betrat und die Richtung zur Kantine einschlagen wollte, sah sie durch die breite verglaste Eingangspforte der Klinik einen Polizeiwagen vorfahren und unmittelbar danach auch einen dunkelblauen Mercedes, der neben dem Polizeifahrzeug hielt.

Die Ärztin blieb stehen und blickte erwartungsvoll zum Eingang, durch den Sekunden später ein Polizeibeamter eine Frau hereinführte. Gleich hinter ihm tauchte noch ein Mann in Zivil auf.

Sicher irgendein Unfall, ging es Anja Westphal durch den Kopf, und sie trat auf die Eintretenden zu. »Unfall?« fragte sie und sah die Frau an, die der Polizist führte. Sie sah ein hübsches, rundes blasses Gesicht, aus dem ein Paar braune Augen sie anstarrten. Die Frau war noch nicht alt. Anja Westphal schätzte sie auf Mitte bis Ende dreißig. Kräftig war die Gestalt, korpulent, ja, fast schon als dick zu bezeichnen.

»Nein, kein Unfall, Frau Doktor«, antwortete der Beamte. »Wir kamen gerade vorbei, als die Dame… tja, wie soll ich es formulieren… eine Art Nervenzusammenbruch hatte. Das vermute ich jedenfalls. Aber…«, er deutete auf den Mann hinter sich, »… das kann Ihnen dieser Herr sicherlich besser berichten.«

Fragend sah die Ärztin den Bezeichneten an. »Ich höre, Herr… Herr…«

»Raven ist mein Name und ich…«

»Herr Raven – ich bin Dr. Westphal – bitte erzählen Sie!« fiel die Ärztin Horst Raven ins Wort.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen, Frau Doktor«, stieß Horst Raven hervor. »Meine Bekannte, Frau Marianne Thorben, hat die Nerven verloren und ist dann zusammengebrochen.« Sichtlich widerwillig kamen die Worte über seine Lippen.

»Werde ich noch gebraucht?« meldete sich der Polizeibeamte.

»Nein, ich kümmere mich um die Dame«, erwiderte die Ärztin und tat das auch sofort. Sanft faßte sie Marianne um die Hüfte und zog sie mit sich fort in das Untersuchungszimmer der Aufnahme. Dem unschlüssig dreinblickenden Horst Raven rief sie nur noch zu, daß er in der Halle warten konnte.

Der aber gab einen unwilligen Laut von sich, blieb noch stehen und wandte sich dann ruckartig um, als er den Polizeiwagen abfahren hörte. »Was soll ich hier noch?« stieß er hervor und verließ Sekunden später die Klinik, setzte sich in seinen Wagen und fuhr weg.

Es schien fast so, als ob dadurch in Marianne eine Wandlung vorging. Ihre Teilnahmslosigkeit verflüchtigte sich, und in ihre Augen kam wieder etwas Leben. Wortlos aber ließ sie die Untersuchung der Ärztin über sich ergehen. Zögernd beantwortete sie dann deren Fragen.

»Haben Sie solche Anfälle öfter, Frau Thorbeck?«

»Manchmal«, erwiderte Marianne leise. »Immer wenn mich die Angst überkommt.«

»Was für eine Angst? Wovor?« wollte die Ärztin wissen.

So gut Marianne es konnte, erklärte sie es. »Nach einer Weile geht das dann aber wieder vorüber«, setzte sie hinzu. »Ich fühle mich jetzt auch schon wieder etwas besser.«

»Ich werde Sie aber trotzdem hierbehalten, Frau Thorbeck«, gab die Ärztin zurück. Sie machte sich so ihre Gedanken.

»Warum?« Mit großen Augen sah Marianne die Ärztin an.

»Sie haben einen extrem niedrigen Blutdruck, Frau Thorbeck«, antwortete Anja Westphal. »Außerdem stört mich Ihr Herzflattern. Deshalb möchte ich, daß unser Chefarzt Sie sieht und daß wir noch einige spezielle Untersuchungen vornehmen. Das aber kann erst morgen geschehen. Solche Anfälle können sich zu einem tödlichen Kollaps auswirken. Sie sollten das nicht leichtnehmen.«

»Wenn Sie meinen…«, flüsterte Marianne ergeben.

Die Ärztin nickte und winkte der Schwester. »Bringen Sie Frau Thorbeck zur Inneren hinauf!« befahl sie, griff nach dem Telefon und rief die Station von Dr. Reichel an.

»Innere Station, Schwester Karin…«

»Dr. Westphal hier – ich schicke Ihnen gleich eine Patientin hinauf, die Sie unterbringen müssen, Schwester Karin. Haben wir noch Einbett-Zimmer frei?«

»Leider nicht«, kam die Antwort. »Ich könnte die Patientin nur in einem der Zweibett-Zimmer unterbringen.«

»Bei wem?« fragte Anja Westphal.

»Es kommen nur zwei in Frage«, erwiderte die Schwester. »In dem einen liegt Frau Burgstaller und in dem anderen der Neuzugang von heute nachmittag – Frau Grever.«

Anja Westphal überlegte kurz. Sie kannte die eben genannte Frau Burgstaller, eine Querulantin, die wegen eines Magenleidens in der Klinik war und außerdem ihr Mundwerk nicht unter Kontrolle hatte. »Nein, nicht zu Frau Burgstaller«, rief sie der Schwester zu. »Legen Sie Frau Thorbeck zu Frau Grever.«

»In Ordnung, Frau Doktor, ich bereite schon alles vor.«

»Danke.« Die Ärztin legte auf und wandte sich an Marianne, die inzwischen schon wieder ihre Bluse angezogen hatte und abwartend neben der Aufnahmeschwester stand. »Sie kommen zu einer älteren Dame ins Zimmer, Frau Thorbeck«, sagte sie. »Morgen sehen wir dann weiter. Ich denke, daß Sie in zwei Tagen wieder nach Hause können. Wo wohnen Sie eigentlich?« wurde sie neugierig.

»In Bayrischzell…«

»Aha. Nun, das ist ja gar nicht so weit von hier.« Anja Westphal sah auf die Uhr. »Ich komme nachher und gebe Ihnen eine Beruhigungsspritze«, gab sie Marianne zu verstehen und nickte der Schwester zu.

»Bitte, Frau Thorbeck.« Die Schwester faßte nach Mariannes Arm.

Wortlos verließ Marianne an der Seite der Schwester den Untersuchungsraum.

Nachdenklich sah Anja Westphal den beiden nach. Sekunden darauf ging auch sie – in die Kantine, um nun eine Kleinigkeit zu essen.

*

Marianne, die sich tatsächlich wieder etwas erholt hatte, fand ihre Zimmergenossin nicht unsympathisch, hielt aber dennoch eine gewisse Distanz zu ihr. Das lag aber nicht an Maria Grever, wie diese sich vorgestellt hatte, sondern daran, daß es Marianne zur Gewohnheit geworden war, sich zurückzuhalten und sich vor der Umgebung und den Menschen zurückzuziehen, seit sie so dick geworden war. Ihre augenblickliche Zimmergefährtin schien auch nicht der Typ zu sein, der sich jemandem aufdrängte. Bis auf wenige Höflichkeitsfloskeln, ein paar kurzen Fragen nach dem Woher, stellte sie keine neugierigen Fragen. Marianne empfand es fast als wohltuend, daß Frau Grever nicht einmal wissen wollte, weshalb sie, Marianne, in die Klinik gelegt worden war. Von sich selbst berichtete sie nur mit ein paar kurzen Worten, daß sie einen Schlaganfall erlitten hatte und schon in den nächsten Tagen wieder entlassen zu werden glaubte.

»Wenn mein Neffe nicht zufällig gekommen wäre und mich in meinem Ferienhaus gefunden hätte, wäre ich jetzt vielleicht nicht mehr am Leben«, erklärte sie. »Er kommt mich morgen besuchen, hat mir der Doktor gesagt.«

Damit war die Unterhaltung der beiden Frauen eigentlich schon für diesen Abend beendet. Marianne war das nur recht. Nachdem die Ärztin kurz vor 20 Uhr gekommen und ihr, wie angekündigt, eine Beruhigungsspritze gegeben hatte, gab sie sich ihren Gedanken hin. Die Bettdecke zog sie bis ans Kinn hoch und starrte vor sich hin. Vieles ging ihr durch den Kopf. Natürlich erinnerte sie sich wieder an ihren Angstanfall im Cafe und an das, was dann draußen auf der Straße geschehen war. Auch daß sie von der Polizei hierher in diese Klinik gebracht worden war, wußte sie. Eine Art von Bitterkeit bemächtigte sich ihrer aber, als sie an Horst dachte. Ja, er war mit bis hierher gekommen, aber er hatte sich nachher nicht mehr um sie gekümmert. Es wäre doch eigentlich für ihre Begriffe selbstverständlich gewesen, wenn er nach der ersten Untersuchung durch die Ärztin noch ein paar Worte mit ihr gesprochen und sich nach ihrem Befinden erkundigt hätte. Aber nichts dergleichen war geschehen. Er war einfach wieder weggefahren. Die Ärztin hatte ihr das gesagt, als sie ihr die Spritze gegeben hatte. Merkwürdigerweise jedoch war Marianne über dieses gleichgültige Verhalten von Horst gar nicht traurig. Enttäuscht, ja, das war sie. Sekundenlang wurde der Wunsch in ihr wach, Horst jetzt noch anzurufen, um ihm zu sagen, daß sie ihn nicht wieder sehen wollte. Doch im nächsten Augenblick wurde ihr bewußt, daß sie das nicht fertigbrachte, denn er war ja der einzige Mensch, mit dem sie noch eine engere Verbindung hatte, der ihr trotz seiner egoistischen Haltung ihre Einsamkeit doch ein wenig erträglicher machte.

Diese Einsamkeit der Seele und des Herzens aber war es, die Marianne zusetzte. Was war das überhaupt für ein Leben? Diese zwar nicht mehr so häufig kommenden Angstzustände – dank der Injektionen, die sie wöchentlich bekam, die aber doch dann und wann wiederkehrten, machten ihr das Leben fast zur Hölle. Mehr noch aber belastete es sie, daß ihre früher so schlanke Gestalt, auf die sie immer stolz gewesen war, sich nun so verformt hatte, daß sie dick geworden war. Das brachte sie fast zur Verzweiflung, und niemand, keiner von den Ärzten, die sie bisher konsultiert hatte, war in der Lage gewesen, ihr zu helfen. Sie bereute schon längst, daß sie auf diese Injektionskur eingegangen war. Ihr war ziemlich klar, daß sie ihre jetzige Figur nur diesen Injektionen zu verdanken hatte. Aber was hätte sie tun sollen? Die früher viel häufiger aufgetretenen Angstzustände hätten ihr vielleicht noch mehr zugesetzt und sie möglicherweise sogar in eine Psychiatrie gebracht. Tatsache war nun einmal, daß die wöchentlichen Injektionen ihre Angstzustände wirklich reduziert hatten. Aber der Preis dafür war, daß sie jetzt dick aussah. Damit wurde sie einfach nicht fertig, und daher rührte auch nicht zuletzt ihre innere wie äußere Einsamkeit. Sie war schließlich eine Frau in den besten Jahren, in deren Adern warmes Blut floß, die noch berechtigte Wünsche an das Leben hatte und sich nach Liebe sehnte.

Welcher Mann aber würde sie mit ihrem jetzigen Aussehen noch wollen und mit ihr eine feste Beziehung eingehen?

Horst? Unwillkürlich schüttelte Marianne den Kopf.

Sie hatte inzwischen erkannt, daß er, von dem sie geglaubt hatte, daß er sie trösten wollte in ihrer seelischen Not, in erster Linie selbst hatte getröstet werden wollen, um leichter über den Tod seiner Frau hinwegzukommen. Das hatte er nun geschafft. Sie aber, die ihm dabei ehrlich geholfen hatte, blieb auf der Strecke. Er hatte seinen Schicksalsschlag verkraftet, hatte wieder Oberwasser bekommen und zeigte das auch durch sein Verhalten ihr gegenüber und durch sein mangelndes Verständnis für ihre seelische Not und ihre Verzweiflung.

Marianne wandte den Kopf und blickte zum Nachbarbett. Ihre Mitpatientin schien eingeschlafen zu sein. Sie selbst merkte aber auch, daß die Müdigkeit mehr und mehr über sie kam. Die Spritze der Ärztin begann zu wirken. Marianne fielen die Augen zu.

Schlafen, dachte sie, und nicht mehr aufwachen, dann gäbe es keine Not und keine Verzweiflung mehr. Das war das letzte, was ihr noch durch den Sinn ging, bevor sie Sekunden später in einen tiefen Schlaf versank.

*

Dr. Lindau hatte gerade am nächsten Morgen die letzte der drei Wartezimmerpatientinnen abgefertigt und bereitete sich nun auf die Chefvisite vor, als seine Stellvertreterin, Dr. Anja Westphal, bei ihm erschien. Freundlich begrüßte er die Kollegin. »Was führt dich zu mir?« fragte er.

»Da ich gerade auf dem Weg zum Labor war, dachte, ich, daß ich dir gleich kurz von dem Neuzugang gestern abend berichte«, erwiderte die Ärztin.

»Ach ja, der Nervenzusammenbruch«, entgegnete Dr. Lindau. »Ich habe es vorhin im Rapportbuch gelesen. Was ist mit der Frau?«

»Ich möchte nicht unbedingt auf der Diagnose bestehen bleiben.«

»Also kein Nervenzusammenbruch?« Fragend sah Dr. Lindau seine Mitarbeiterin an.

»Ja und nein«, erwiderte diese. »Wie ich inzwischen festgestellt habe, vermischen sich bei Frau Thorbeck Nervenzusammenbruch mit einem Kollaps. Ich bin mir noch nicht ganz klar, was von beiden das andere ausgelöst hat. Fast wäre ich geneigt, zu sagen, daß das mehr ein Fall für den Neurologen ist.«

»Interessant«, murmelte Dr. Lindau, »wenn du damit andeuten willst, daß die Patientin in die Psychiatrie gehört?«

»Nein, das wollte ich nicht damit sagen«, widersprach die Ärztin. »Ich gebe zu, daß ich gestern nicht dazu kam, die Hintergründe des Anfalles der Patientin zu ergründen, weil sie noch nicht vollkommen ansprechbar war.«

»Verstehe.« Dr. Lindau lächelte fein. »Jetzt möchtest du, daß ich mich einmal der Sache annehme.«

»So ist es«, gab die Ärztin freimütig zu.

»Hm, wie ist der Zustand der Patientin?«

»Völlig normal, als ich vor einigen Minuten bei ihr war«, gab Anja Westphal zurück. »Sie liegt übrigens mit Frau Grever in einem Zimmer zusammen. Du weißt – der Schlaganfall von gestern nachmittag.«

Dr. Lindau nickte. »Wie geht es der alten Dame?« fragte er.

»Sie hat sich erholt, und ich denke, daß wir sie in einigen Tagen wieder nach Hause schicken können. Der Kollege Reichel, der ja die Behandlung eingeleitet hat, meint das auch.«

Dr. Lindau sah auf die Uhr und erhob sich hinter seinem Schreibtisch. »Weißt du was, Frau Kollegin?« sprach er die Ärztin an. »Ich beginne jetzt mit der Visite in der Kinderabteilung und komme dann nach oben in die Innere. Sagen wir in einer halben Stunde etwa. Dann werden wir uns gemeinsam einmal mit dieser Frau… Frau…«

»Thorbeck, Marianne Thorbeck«, warf Anja Westphal ein.

»… befassen und feststellen, was los ist«, beendete der Chefarzt den Satz.

»In Ordnung, ich werde zur Stelle sein«, entgegnete die Ärztin, murmelte einen Gruß und ging ihrer Wege.

Sekunden später verließ auch Dr. Lindau sein Dienst- und Sprechzimmer.

Zwanzig Minuten später war er mit der Kinderstation fertig. Zur Zeit waren in dieser Abteilung, die sein Schwiegersohn Dr. Mertens leitete, seit Astrid, seine eigene Tochter und Dr. Mertens’ Frau, es vorzog, zu Hause zu bleiben und sich mehr um die Erziehung des kleinen Stefan zu kümmern, keine komplizierten Fälle.

Dr. Mertens und seine Mitarbeiterin, die Kinderärztin Dr. Renate Bertram, eine Studienfreundin Astrids, hatten also keine Probleme. Mit ein paar freundlichen Worten verabschiedete sich Dr. Lindau von den beiden und fuhr wenig später zur inneren Abteilung hinauf, in der er schon von deren Leiter, Dr. Reichel, erwartet wurde. Auch Anja Westphal und Dr. Göttler waren zur Stelle.

»Wo liegt die Problempatientin?« fragte Dr. Lindau die Ärztin.

»Zimmer neun…«

»Gut, das heben wir uns bis zum Schluß auf«, entschied Dr. Lindau. Gefolgt von seinen Mitarbeitern und der Stationsschwester begann er mit dem Stubengang, wie er die Visite für sich bezeichnete.

*

Vor sich hin sinnend saß Marianne Thorbeck auf einem Stuhl neben ihrem Bett. Sie war bereits angekleidet. Das hatte sie gleich nach dem Frühstück getan, weil sie damit rechnete, noch an diesem Tag wieder nach Hause zu können. Der Schlaf hatte ihr gutgetan. Sie fühlte sich wieder völlig in Ordnung, auch wenn hinter ihrer Stirn die unterschiedlichsten Gedanken und Überlegungen rumorten. Die bittere Erkenntnis, geistig irgendwie gehandicapt zu sein – ihre Angstanfälle schienen das ja zu beweisen –, wollte nicht von ihr weichen. Mindestens genauso bitter empfand sie aber auch ihr Figurproblem.

»Wollen Sie denn wirklich schon wieder nach Hause, Frau Thorbeck?« meldete sich Maria Grever fragend zu Wort.

Marianne bedachte die alte Dame mit einem erstaunten Blick. »Ja«, antwortete sie leise. »Was soll ich noch hier? Ich fühle mich wieder gut, und bei dem, was mir fehlt, kann mir hier doch niemand helfen.« Es klang resignierend, wie sie das sagte.