Ich habe dich nie vergessen - Britta Winckler - E-Book

Ich habe dich nie vergessen E-Book

Britta Winckler

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Beschreibung

Die große Arztserie "Die Klinik am See" handelt von einer Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie "Die Klinik am See" ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. »Isabell, vergiß nicht, in Ulm umzusteigen. Und laß dich nicht ansprechen«, ermahnte die füllige Ordensschwester ihren Schützling. Isabell war ein junges Mädchen von achtzehn Jahren. Ein weitgeschnittenes und nicht sehr modisches Kleid verhüllte ihren schlanken Körper. Herrliches, gepflegtes Haar fiel in hüpfenden Locken auf ihre Schultern. Ihr Mund war schön geschwungen, und wenn sie lachte, zeigte sie sehr weiße und ebenmäßige Zähne. Isabell war gerade zwölf Jahre alt gewesen, als ihre Mutter, eine bekannte Opernsängerin, gestorben war. Ihr Vater, ein einflußreicher Börsenmakler, hatte sie in ein renommiertes Mädcheninternat gegeben, das von Ordensschwestern geleitet wurde. Während der sechs Jahre, die Isabell im Internat verbrachte, hatten Vater und Tochter sich nur während der Ferien gesehen. Die herzliche Liebe, die sie miteinander verband, hatte jedoch nicht unter der Trennung gelitten. Nach dem Abitur hatte Isabell vorgehabt, mit ihrer Freundin Katja Ehrenfeldt und deren Eltern eine Studienreise nach Ägypten zu machen. Ihr Vater war einverstanden gewesen. An diesem Morgen hatte er jedoch angerufen und Isabell gebeten, so bald wie möglich zu ihm nach Tegernsee zu kommen. Er werde sie vom Bahnhof abholen, hatte er ihr mitgeteilt. Isabell liebevoll und auch besorgt zu. Sie fragte sich, wie das junge Mädchen, das so behütet aufgewachsen war, im Leben zurechtkommen würde. Was wußte Isabell denn schon von den Gefahren, die überall lauerten? Sie war mit ihren achtzehn Jahren noch so unbekümmert und naiv. Vielleicht, überlegte die Ordensschwester, war es ein Fehler, die jungen Mädchen von allem Bösen abzuschirmen.

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Die Klinik am See – 51 –

Ich habe dich nie vergessen

Wie schön, dass ich dich wiederfand!

Britta Winckler

»Isabell, vergiß nicht, in Ulm umzusteigen. Und laß dich nicht ansprechen«, ermahnte die füllige Ordensschwester ihren Schützling.

Isabell war ein junges Mädchen von achtzehn Jahren. Ein weitgeschnittenes und nicht sehr modisches Kleid verhüllte ihren schlanken Körper. Herrliches, gepflegtes Haar fiel in hüpfenden Locken auf ihre Schultern. Ihr Mund war schön geschwungen, und wenn sie lachte, zeigte sie sehr weiße und ebenmäßige Zähne.

Isabell war gerade zwölf Jahre alt gewesen, als ihre Mutter, eine bekannte Opernsängerin, gestorben war. Ihr Vater, ein einflußreicher Börsenmakler, hatte sie in ein renommiertes Mädcheninternat gegeben, das von Ordensschwestern geleitet wurde.

Während der sechs Jahre, die Isabell im Internat verbrachte, hatten Vater und Tochter sich nur während der Ferien gesehen. Die herzliche Liebe, die sie miteinander verband, hatte jedoch nicht unter der Trennung gelitten.

Nach dem Abitur hatte Isabell vorgehabt, mit ihrer Freundin Katja Ehrenfeldt und deren Eltern eine Studienreise nach Ägypten zu machen. Ihr Vater war einverstanden gewesen. An diesem Morgen hatte er jedoch angerufen und Isabell gebeten, so bald wie möglich zu ihm nach Tegernsee zu kommen. Er werde sie vom Bahnhof abholen, hatte er ihr mitgeteilt.

Die Ordensschwester lächelte

Isabell liebevoll und auch besorgt zu. Sie fragte sich, wie das junge Mädchen, das so behütet aufgewachsen war, im Leben zurechtkommen würde. Was wußte Isabell denn schon von den Gefahren, die überall lauerten? Sie war mit ihren achtzehn Jahren noch so unbekümmert und naiv. Vielleicht, überlegte die Ordensschwester, war es ein Fehler, die jungen Mädchen von allem Bösen abzuschirmen.

Isabell ahnte nichts von den Gedanken der Schwester. Sie stellte sich auf die Fußspitzen. »Da kommt schon der Zug«, rief sie mit fröhlicher Stimme.

Gleich darauf erreichte der Vorortzug den Bahnhof des kleinen Ortes. Isabell gab der Ordensschwester die Hand. »Sobald ich in Tegernsee angekommen bin, schreibe ich Ihnen, Schwester Monika«, erklärte sie lächelnd.

»Laß auch später immer mal wieder etwas von dir hören, Isabell«, bat die Ordensschwester.

»Das verspreche ich Ihnen«, antwortete Isabell. Sie wollte nach ihrer Reisetasche greifen.

Ein junger Mann, der neben ihr und der Schwester stand, kam ihr jedoch zuvor. »Steigen Sie nur ein. Ich reiche Ihnen Ihr Gepäck in den Wagen«, sagte er.

»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen«, freute sich Isabell.

Zwischen den Augenbrauen der Ordensschwester bildete sich jedoch eine kleine Falte. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, daß ihr Schützling einen jungen Mann als Begleiter gefunden hatte. Sie wartete, bis Isabell im Abteil war und das Fenster heruntergeschoben hatte. Dann ermahnte sie das junge Mädchen noch einmal. »Isabell, sei Fremden gegenüber äußerst zurückhaltend. Prüfe immer sehr genau, wem du dein Vertrauen schenkst«, bat sie.

»Mir passiert schon nichts. Ich passe auf mich auf«, versicherte Isabell der Schwester.

Gleich darauf ertönte aus der Pfeife des Bahnhofvorstehers ein schriller Pfiff. Der Zug setzte sich in Bewegung. Isabell winkte der Ordensschwester zu, bis sie nur noch etwas Schwarz-Weißes auf dem Bahnsteig erkennen konnte. Sie schloß das Fenster und ließ sich auf das Lederpolster sinken. Ihr gegenüber hatte der junge Mann, der ihr das Gepäck ins Abteil getragen hatte, Platz genommen.

»Sie müssen also auch in Ulm umsteigen«, meinte er.

»Woher wissen Sie das?« wunderte sich Isabell.

»Ich stand auf dem Bahnsteig neben Ihnen. Auf die Weise konnte ich hören, wie die Schwester Sie daran erinnerte, daß Sie in Ulm einen anderen Zug nehmen müssen«, erwiderte der junge Mann.

Isabell lachte. »Schwester Monika ist immer sehr besorgt. Als ob ich nicht selbst auf mich aufpassen könnte«, meinte sie.

Der junge Mann betrachtete sie noch aufmerksamer als vorher. Er fand, daß sie ganz reizend war. Nicht nur vom Aussehen, sondern auch von der Art her. Besonders ihre offene Unbekümmertheit gefiel ihm sehr.

»Verraten Sie mir, wo Sie letztendlich hin müssen?« erkundigte er sich.

»Ja. Ich fahre nach Tegernsee. Mein Vater wartet dort auf mich. Er holt mich auch vom Bahnhof ab«, berichtete Isabell.

»Dann haben wir ja fast das gleiche Ziel. Ich steige auch in Tegernsee aus und fahre von dort aus weiter nach Auefelden«, erklärte der junge Mann.

»Auefelden… den Namen habe ich schon einmal gehört… Gibt es dort eine große Klinik?« fragte Isabell.

»Ja. Genau dort will ich hin. Ich bin Assistent von Herrn Dr. Lindau, dem Chefarzt der Klinik am See«, antwortete der junge Mann. Plötzlich fiel ihm ein, daß er sich noch gar nicht vorgestellt hatte. »Mein Name ist Böhringer. Peter Böhringer«, fügte er schnell hinzu.

»Isabell Theobald«, erwiderte

Isabell lächelnd.

»Isabell. So heißt auch meine Mutter. Und wenn ich jemals eine Tochter bekommen sollte, werde ich sie auch Isabell nennen. Für mich ist Isabell der schönste Name auf der ganzen Welt«, erklärte Peter.

»Dann wünsche ich Ihnen, daß Sie tatsächlich eine Tochter bekommen«, antwortete Isabell. Gleich darauf erhob sie sich von ihrem Sitz und nahm zwei Äpfel aus ihrer Reisetasche, die Peter über ihr im Gepäcknetz verstaut hatte.

»Mögen Sie einen?« fragte sie Peter und reichte ihm einen Apfel.

»Gerne.« Peter griff nach dem Apfel und biß hinein.

»Der ist aber sehr aromatisch«, meinte er.

»Das finde ich auch. Er ist ungespritzt. In unserem Klostergarten werden überhaupt keine chemischen Mittel verwendet«, erklärte Isabell.

»Sie waren also auf einer Klosterschule?« wollte Peter genau wissen.

Isabell nickte. »Ja, sechs Jahre lang. Ich glaube, wenn meine Mutter noch gelebt hätte, hätte sie mich niemals dort hingegeben. Aber Mama starb, als ich zwölf Jahre alt war, und mein Vater war der Ansicht, daß ich nirgendwo besser aufgehoben wäre als auf einem von Nonnen geführten Mädcheninternat«, berichtete sie.

»Hat es Ihnen denn dort nicht gefallen?« erkundigte sich Peter.

»O doch. Es war eine schöne Zeit. Ich habe dort viele Freundinnen gewonnen, und die Lehrerinnen – ich meine die Schwestern – waren alle sehr lieb. Aber mir fehlte die Freiheit. Verstehen Sie, was ich meine?« fragte Isabell.

»Ich glaube schon. Wahrscheinlich war genau vorgeschrieben, wann Sie was machen mußten«, erwiderte Peter.

»Genau. Und jetzt kann ich endlich tun und lassen, was ich will. Wenn ich ins Schwimmbad gehen will, dann muß ich niemanden fragen, ob ich das auch darf. Und wenn ich mich danach mit einer Freundin treffen möchte, muß ich auch nicht erst die Erlaubnis einholen«, erklärte Isabell.

Peter lachte. »Sie sind also so frei wie die Vögel dort draußen«, sagte er und deutete auf einen Vogelschwarm, der sich gerade auf einer Erle niederließ.

Isabell steckte beide Arme von sich. Es sah aus, als wollte sie ihre Flügel ausbreiten. »Ja, frei wie ein Vogel. Das bin ich«, entgegnete sie.

Kurz darauf fuhr der Zug in Ulm ein. Peter half Isabell, ihr Gepäck in den Zug zu schaffen, der nach Bayrisch-Zell fuhr. Er selbst hatte nur eine leichte Reisetasche, die er sich um die Schulter hängte.

Während der Fahrt unterhielten sie sich über alles mögliche. Peter hatte ein Jahr vorher eine Reise durch Australien unternommen und berichtete von den Abenteuern, die er bestanden hatte. Danach erzählte er Isabell von seinem Beruf, in dem er ganz aufging.

Isabell berichtete von ihren Freundinnen und ihrem Hündchen »Lady«, das ein Jahr vorher zu ihrem großen Leidwesen gestorben war. Plötzlich rief sie: »Wir sind ja schon in Tegernsee. So schnell ist mir die Fahrt hierher noch nie vorgekommen.«

Peter hob ihr Gepäck von der Ablage. »Ich möchte Sie gern wiedersehen, Isabell«, sagte er danach mit leiser Stimme.

Bevor Isabell noch eine Antwort geben konnte, bremste der Zug. Isabell fiel nach vorne und direkt in die Arme von Peter Böhringer. Erschrocken sah sie ihm in die Augen. Dabei durchströmte sie ein Gefühl, das sie vorher noch niemals empfunden hatte.

Der junge Arzt lächelte. »Ja, wir werden uns wiedersehen, Isabell«, erklärte er mit leiser und zärtlicher Stimme, die jedoch jeden Zweifel an seinen Worten ausschloß.

Isabell löste sich aus seinen Armen. Sie war so verwirrt und zugleich so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. »Wir müssen aussteigen. Sonst fährt der Zug noch mit uns weiter«, meinte sie.

Peter lachte. »Mit Ihnen würde ich am liebsten bis ans Ende der Welt fahren«, versicherte er.

Isabell hatte ihre Geistesgegenwart inzwischen wiedererlangt. »Aber nicht in diesem Bummelzug«, antwortete sie und lachte ebenfalls.

Peter nahm wieder das Gepäck. Sie verließen eilig das Abteil. Als

sie an die Tür kamen, entdeckte Isabell auf dem Bahnsteig unter den anderen Wartenden sofort ihren Vater.

Berthold Theobald war ein großgewachsener kräftiger Mann, der eine Vorliebe für englische Anzüge hatte. Auch an diesem Tag trug er einen hellgrauen Anzug aus leichtem Flanell, den sein Schneider in London für ihn angefertigt hatte.

»Papa«, rief Isabell. Sie schwenkte ihren Arm, und dann sprang sie die drei Stufen der Treppe auf den Bahnsteig.

Berthold Theobald eilte seiner Tochter mit weit ausholenden Schritten entgegen.

»Isabell, meine Kleine«, sagte er mit gerührter Miene.

»Papa, sag nicht immer meine Kleine. Immerhin bin ich schon achtzehn Jahre und habe gerade das Abitur bestanden«, erwiderte sie.

Ihr Vater strich ihr zärtlich über das helle Haar. »Ich weiß. Wenn ich es wieder einmal vergessen sollte, erinnere mich daran«, bat er mit sehr viel Zärtlichkeit in der Stimme.

Inzwischen war auch Peter herangekommen. Isabell wandte sich ihm zu. »Papa, das ist Peter Böhringer. Er ist Assistent von Herrn Dr. Lindau«, erklärte sie.

»Ah, dem Chefarzt der Klinik am See«, erwiderte Berthold Theobald und reichte Peter die Hand.

»Ja. Guten Tag, Herr Theobald«, sagte Peter und drückte die Hand von Isabells Vater.

»Wie kommen Sie denn jetzt in die Klinik? Haben Sie Ihren Wagen am Bahnhof stehen oder holt Sie jemand ab?« wollte Isabell von Peter wissen.

»Nein, ich habe niemanden informiert, mit welchem Zug ich ankomme, und ein Auto will ich mir erst kaufen. Ich werde den Bus nehmen«, erwiderte der junge Arzt.

»Mein Vater und ich können Sie doch zur Klinik fahren«, entgegnete Isabell und blickte fragend auf ihren Vater.

Bevor der jedoch noch eine Antwort geben konnte, entschied Peter: »Nein, das wäre zu umständlich für Sie. Ich kann wirklich sehr gut den Bus nehmen. Er hält nur wenige Schritte von der Klinik entfernt.«

»Gut. Dann ist das ja geklärt«, meinte Berthold Theobald. Sie hatten inzwischen das Bahnhofsgebäude verlassen.

»Sehen Sie, da steht schon mein Bus«, rief Peter. Er verabschiedete sich von Berthold Theobald und wandte sich danach Isabell zu. »Bis bald«, versprach er mit leiser Stimme.

»Ja, bis bald«, antwortete Isabell.

Sie und Peter sahen sich in die Augen. Ein Wind, der vom See herüberkam, wehte Peters dunkelblondes Haar nach vorne. Er strich es mit einer Handbewegung zurück. Sein schmales, junges Gesicht mit den hellen Augen schien von innen heraus zu strahlen.

»Lassen Sie es sich gutgehen«, sagte er noch, dann lief er mit seiner Reisetasche über der Schulter zum Bus. Bevor er einstieg, drehte er sich noch einmal um und winkte Isabell zu.

Isabell winkte zurück, dann stieg sie in die silbergraue Limousine ihres Vaters.

*

Das Haus, zu dem Berthold

Theobald mit seiner Tochter fuhr, wurde im Kreise der Familie nur das »Hüttchen« genannt. Eine kleine Hütte war das Gebäude jedoch keineswegs. Im Erdgeschoß hatte es drei Zimmer. Darüber gab es einen ausgebauten Dachboden. Das Wohnzimmer schmückte ein großer Kamin, und alle Räume waren mit erlesenen Antiquitäten ausgestattet. Auf den Parkettfußböden lagen antike orientalische Teppiche mit kräftigen Farben. Eine Vitrine aus der Barockzeit enthielt die Sammlung kostbarer Zinngegenstände, die Isabells Vater im Laufe von zwei Jahrzehnten zusammengetragen hatte.

Im Vergleich zu der großen Luxusvilla, die die Familie in München besaß, war das Haus jedoch tatsächlich nur ein »Hüttchen«. Berthold Theobald hatte es kurz nach der Geburt seiner einzigen Tochter Isabell bauen lassen.

Hierhin hatte er sich mit seiner Frau und seinem Kind zurückgezogen, wenn er dem Trubel von München entfliehen wollte. Hier hatten Berthold und Annika Theobald mit ihrem Töchterchen die glücklichsten Wochen ihres Lebens verbracht. Und ins »Hüttchen« hatte es Berthold auch nach dem Tod seiner Frau immer wieder zurückgezogen, wenn er über ein Problem nachzudenken oder eine schwere Entscheidung zu fällen hatte.

Gleich nachdem Berthold Theobald und seine Tochter vor der Garagentür neben dem »Hüttchen« aus dem Wagen gestiegen waren, kam ein Mann von etwa fünfzig Jahren auf sie zu. Es war der Gärtner Wilfried Bauer, der sich seit Jahren um den großen Garten kümmerte, der das »Hüttchen« umgab.

»Isabell, besuchen Sie uns auch mal wieder«, meinte er, während er Isabell, die er schon als kleines Mädchen mit langen dünnen Storchenbeinen gekannt hatte, die Hand schüttelte.

»Es stimmt, ich war lange nicht mehr hier. Mindestens ein halbes Jahr nicht mehr«, bestätigte Isabell. Sie lächelte dem Gärtner zu und fuhr dann fort: »Papa hat mir erzählt, daß bei Ihnen ein kleiner Enkel angekommen ist.«

»Ja, ein goldiges Kerlchen. Er ist jetzt schon wieder vier Monate alt. Ich kann kaum glauben, wie schnell die Zeit verfliegt. Aber das sieht man ja auch an Ihnen, Isabell. Ich habe noch genau vor Augen, wie Sie mit Ihren Puppen hier im Garten gespielt haben. Und jetzt sind Sie schon eine richtige Dame geworden«, erklärte der Gärtner und betrachtete Isabell mit großem Wohlwollen.

»Ja, aus Kindern werden Leute«, meinte auch Isabells Vater und wollte sich das Gepäck seiner Tochter aufladen.

Der Gärtner kam ihm jedoch zuvor. »Lassen Sie nur das Gepäck, Herr Theobald. Ich kümmere mich schon darum«, erklärte er mit Entschiedenheit

»So alt bin ich ja nun wirklich noch nicht«, wehrte sich Berthold Theobald. Die Szene war ihm sichtlich peinlich.

»Alt nicht. Aber denken Sie an Ihr Herz. Sie müssen sich sehr schonen«, mahnte der Gärtner und trug Isabells Gepäck ins »Hüttchen«.

Isabell blickte erschrocken auf ihren Vater. Dabei fiel ihr auf, daß sich sein Haar, das noch bei ihrem letzten Besuch tiefschwarz gewesen war, an den Schläfen grau gefärbt hatte. Unter seinen Augen entdeckte sie plötzlich dunkle Schatten. Überhaupt kam ihr der Vater sichtlich gealtert vor. Seine Haltung war immer sehr aufrecht gewesen. Jetzt hielt er seine Schultern vorgeneigt.

»Papa, was ist mit deinem Herzen?« stieß Isabell hervor.

Berthold Theobald machte mit seiner rechten Hand eine wegwerfende Bewegung. »Überhaupt nichts, Isabell. Ich weiß gar nicht, wie Herr Bauer darauf kommt, so etwas zu sagen«, versicherte er seiner Tochter.

»Aber du siehst wirklich nicht besonders gesund aus, Papa«, fuhr Isabell besorgt fort.

»Na ja, ich habe wieder einmal etwas zuviel gearbeitet. Aber jetzt laß uns nicht über Krankheiten sprechen«, entgegnete Berthold Theobald und trat mit seiner Tochter in die Diele des »Hüttchens«.

Der Gärtner Wilfried Bauer hatte das Gepäck inzwischen in Isabells Zimmer getragen. »Kann ich noch etwas für Sie tun?« erkundigte er sich freundlich bei dem Hausherrn und dessen Tochter.

»Nein, vielen Dank, Herr Bauer«, antwortete Berthold Theobald.

»Wenn Sie mich brauchen, lassen Sie es mich bitte wissen«, meinte der Gärtner.

»Ich werde daran denken«, entgegnete Isabells Vater. Nachdem der Gärtner wieder in den Garten zurückgekehrt war, schloß er die Haustür.

»Bist du durstig? Magst du etwas trinken?« erkundigte er sich bei seiner Tochter.

»Nein, danke, Papa.«

»Ich werde mir aber einen Cognac gönnen«, erklärte Berthold Theobald.

»Papa, wenn mit deinem Herzen etwas nicht stimmt, solltest du vielleicht doch lieber keinen Alkohol trinken«, wagte Isabell einzuwenden.

»Hör bitte auf, mir einreden zu wollen, daß ich krank sei. Ich mag das nicht«, wies Berthold Theobald seine Tochter zurecht. Gleich darauf bedauerte er, so heftig gewesen zu sein. »Entschuldige. Meine Nerven sind in letzter Zeit nicht die besten. Ich weiß ja, daß du es nur gut meinst«, fügte er hinzu und strich Isabell über das volle, gelockte Haar.

Nachdem er tief aufgeseufzt hatte, holte er sich eines der edel geschliffenen Gläser aus einem Eckschrank und eine Flasche mit französischem Cognac aus der Küche. Er goß sich ein und trank das Glas mit kleinen Schlucken leer.

»So, das hat gut getan«, erklärte er danach und stellte das Glas neben die Flasche auf den Tisch.

Isabell stand vor dem Fenster und beobachtete ihren Vater. Sie spürte, daß er etwas mit sich herumtrug, das ihn bedrückte. Sie wollte jedoch keine Fragen stellen, sondern entschloß sich zu warten, bis ihr Vater von sich aus auf das Thema zu sprechen kam, das ihm ganz offensichtlich am Herzen lag.