Die Kobalt-Akte - Eric Van Lustbader - E-Book

Die Kobalt-Akte E-Book

Eric Van Lustbader

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Beschreibung

»Evan Ryder ist eine für die Ewigkeit!« David Baldacci  Als die Kinder ihrer verstorbenen Schwester entführt werden und jemand ihren Schwager ermordet, ahnt Evan Ryder, dass die Jagd auf sie eröffnet ist. Hinter all diesen Vorfällen scheint Omega zu stecken, eine ultrareligiöse Organisation, die vor nichts zurückschreckt, um die westliche Welt zu destabilisieren. Da ihre Abteilung beim amerikanischen Geheimdienst geschlossen wurde, muss Evan Ryder sich auf einen Verbündeten einlassen: Ben Butler, ihren früheren Vorgesetzten, mit dem sie eine bewegte Vergangenheit teilt. Die Suche nach den Kindern führt die beiden von Washington über Moskau, Istanbul und Köln bis zu einer alten Kirche tief in den Karpaten und stellt alles in Frage, was Evan Ryder über sich selbst und ihre Familie zu wissen meint.  

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Die Kobalt-Akte

Der Autor

ERIC VAN LUSTBADER ist Autor zahlreicher New York Times-Bestseller und wurde von Robert Ludlum's Estate ausgewählt, dessen Bourne-Reihe fortzuführen. Er lebt mit seiner Frau auf Long Island.

Von Eric van Lustbader ist in unserem Hause außerdem erschienen: Das Nemesis-Manifest

Eric Van Lustbader

Die Kobalt-Akte

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Barbara Ostrop

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juni 2023© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023© 2021 by Sakura Express, Ltd.Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel: The Kobalt Dossier (Forge)Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © Stephen Mulcahay / Arcangel (Frau mit Pistole); © Rekha Garton / Arcangel Images (rennende Frau); © Rekha Garton/ Arcangel Images (Kopf der rennenden Frau); © FinePic®, München(Skyline, Washington DC)E-Book-Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2925-3

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Inhalt

Titelei

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Prolog

Erster Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

9

Zweiter Teil

10

11

12

13

14

15

16

17

Dritter Teil

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

Vierter Teil

34

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36

37

38

39

40

41

42

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44

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47

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49

50

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57

58

59

60

61

Anhang

Anmerkungen zu diesem Roman

Dank

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Widmung

Für Victoria, die Eine, mein Ein und Alles.

   

Rache ist zu unserer Lebensweise geworden. Jetzt betreten wir das Reich der Dunkelheit.

Lyudmila Alexeyevna Shokova

Prolog

Dreieinhalb Jahre früher

»Es ist entscheidend, das Gesicht zu zerstören«, sagte Anouk. Sie musterte Bobbi Fisher mit ihren mattgrauen Augen. »Das kann ich gar nicht genug betonen. Wird es nicht vollständig vernichtet, kann die Forensik die Zähne zurückverfolgen.« Sie hob ihren langen Zeigefinger. »Schon ein einziger Zahn genügt unter Umständen zur Identifikation, und dann sind Sie erledigt. Die Ausschleusung wäre nicht mehr möglich.«

Sie hielt inne, eine breitschultrige Frau mit muskulösen Armen, kräftigen Beinen und Gesichtszügen, die so hart waren wie eine Waffe. Bobbi hatte den Kopf zur Seite gedreht, um sich zu vergewissern, dass die Tür zu dem quadratischen Raum geschlossen war – einer Küche, die man zu einem improvisierten Kursraum umgemodelt hatte. Sie saß auf einem Barhocker an der zentralen Kochinsel aus Beton. Neben ihr standen ein Krug mit Eiswasser und ein Glas. Der Regen trommelte mit Fäusten gegen die schmutzigen Fenster und ließ die Umrisse der schwankenden Bäume verschwimmen, die zwischen dem zweigeschossigen Haus und seinen gleichförmigen Nachbarbauten standen. Die vom Regen gepeitschten Straßen waren so sauber und leer gefegt, als lägen sie in Virginia in einer neu errichteten Vorstadt von Washington D. C.

»Bobbi.« Anouks Stimme war messerscharf. »Was schauen Sie nach draußen? Sie sollen hier genau aufpassen.«

»Wo ist Leda?«, fragte Bobbi, ohne sich umzuschauen.

»Jetzt bin ich hier, Bobbi.« Kerzengerade wie ein Wachtposten stand Anouk neben dem Kühlschrank, die Hände halb zu Fäusten geballt. »Die Person, der Sie Bericht erstatten, bin ich.«

Bobbis Kopf fuhr herum. »Als ich mich rekrutieren ließ, war meine Bedingung, dass Leda – und nur Leda – meine Führungsoffizierin ist.«

Beim Lächeln entblößte Anouk die kleinen weißen Zähne. »Das liegt Jahre zurück«, erklärte sie. »Leda ist weitergezogen.«

»Dann hätte ich mit ihr zusammen weiterziehen sollen.«

Anouk verzog angewidert die Lippen. »Sie hatten eine Affäre mit Leda, oder?«

»Das geht Sie nichts an.«

»Alles, was Sie betrifft, geht mich etwas an, Bobbi. Das sollten Sie wissen.« Als keine Antwort erfolgte, fuhr Anouk fort: »Nach den Berichten, die ich gelesen habe, war das zwischen Ihnen eine richtig heiße Kiste.«

»Zum Teufel mit Ihnen.«

»Ah.« Anouk grinste wie ein Krokodil. »Endlich habe ich Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.«

»In der Tat.«

»Nun, also, Sie sollten wissen, dass Leda tot ist.«

»Tot? Nein.«

»Eine Säuberung.« Anouk lächelte höhnisch. »Und ich kann mühelos dafür sorgen, dass Sie ihr folgen.«

Bobbi erhob sich von ihrem Hocker. »Ist das eine Drohung?«

Anouk zuckte mit den Schultern. »Besser, Sie gewöhnen sich gleich daran. So ist meine Methode.«

Bobbi packte das Glas und leerte es. »Ich möchte ein anderes Getränk«, sagte sie. »Etwas Süßeres.« Sie schob sich an der Theke entlang zu der Stelle, wo Anouk stand. »Wenn Sie gestatten.«

Anouk trat gerade so weit zur Seite, dass Bobbi an den Griff des kleinen Kühlschranks kam, der unter der Theke stand.

Als Bobbi die Kühlschranktür aufzog, zerschmetterte sie das Trinkglas an der Thekenkante. Anouks Arm schoss vor, doch Bobbi hatte das erwartet und packte sie am Handgelenk. Anouk war stärker als Bobbi, doch Bobbi hatte sie im Griff. Ohnehin brauchte sie nur den Bruchteil einer Sekunde, um eine messerscharfe Scherbe in Anouks linkes Auge zu stoßen. Anouk sprang hoch, als hätte sie einen elektrischen Schlag erhalten. Bobbi hielt den Glasboden umklammert und trieb die Scherbe immer tiefer, bis sie sich in Anouks Gehirn bohrte.

Sie trat geschickt zurück und wich dabei sowohl der zusammenbrechenden Leiche als auch den letzten Blutspritzern aus. Die Küchentür ging auf. Als Bobbi sich umdrehte, sah sie Leda schwungvoll eintreten. Leda schloss die Tür hinter sich.

Sie lächelte. Alles an ihr war normal: mittlere Statur, mittleres Gewicht, unauffällige Gesichtszüge, und doch hatte sie etwas an sich, eine Ausstrahlung, die beinahe körperlich zu spüren war. Vielleicht würde man sich nicht an sie erinnern, wenn sie auf der Straße an einem vorbeiginge, doch wenn man ihr in einer Bar oder einem Restaurant gegenübersäße, würde man nur ungern aufstehen wollen.

Sie machte sich nicht einmal die Mühe, die am Boden liegende Leiche zu überprüfen, sondern trat beim Durchqueren des großen quadratischen Raums einfach nur über sie hinweg. »Wie ich sehe, sind deine Reflexe so scharf wie eh und je«, sagte sie.

»Oder mein Zorn.«

Die beiden Frauen umarmten sich.

»Fisher. Ich konnte mich nie an deinen Ehenamen gewöhnen.«

Bobbi zuckte mit den Schultern. »Was bedeutet schon ein Name?«

Leda lachte glucksend. »Unsere letzte Begegnung liegt lange zurück.«

Bobbi nickte, das Gesicht von einem Lächeln verschönt. »Zu lange. Textnachrichten sind kein Ersatz für ein echtes Treffen.«

Sie küssten sich und trennten sich dann. Es war zwar ein neutraler Kuss, doch ihre Augen glänzten in der Erinnerung an das, was einmal zwischen ihnen gewesen war.

Ein Mann und eine Frau in Overalls und mit Gummihandschuhen an den Händen traten ein, doch Leda forderte sie mit einer gebieterischen Handbewegung zum Warten auf. Jetzt kniete sie sich nieder und untersuchte Anouks Leiche so gründlich wie eine Gerichtsmedizinerin. Als sie wieder aufstand, sagte sie: »Idem.« Und dann: »Komm mit.«

Leda führte sie durch das karg möblierte Wohnzimmer in einen Raum, der wohl einmal der Bereich für Fernsehen und Unterhaltungselektronik werden würde. Das Paar im Overall blieb zurück, um das Blut aufzuwischen und die Leiche zu entsorgen.

Bobbi zog die Augenbrauen zusammen. »Sie wusste von unserer Affäre.«

»Ach ja?«

»Sie sagte, sie hätte Berichte darüber gelesen.«

»Das war rundweg gelogen.«

»Wirklich?« Bobbi legte den Kopf schief. »Aber ist das nicht dein Job: Menschen durch Verführung rekrutieren?«

»Verführung ist nur ein Teil meiner Aufgaben. Ein kleiner Teil – oder, genauer gesagt, ein sorgfältig ausgewählter Teil. Ich stehe viel höher als eine Schwalbe, sonst wäre ich jetzt nicht mit dir hier. Ich bin deine Führungsoffizierin.«

»Aber du hast andere verführt.«

Ledas Gesichtsausdruck wurde rätselhaft, als wären ihr zwei oder noch mehr Gedanken gleichzeitig gekommen. »Du bist eifersüchtig.«

»Auf deine Zeit, nicht auf deine Reize.«

»Mag sein«, antwortete Leda. »Hör mir zu, Bobbi. Ich habe dich wirklich verführt. Keine Frage. Aber drücken wir es klar aus: Du wolltest verführt werden.«

Bobbi dachte über Ledas Worte nach, darüber, wie recht sie hatte. Sie wollte wirklich verführt werden. Unbedingt. Vielleicht sogar verzweifelt. War dieses Bedürfnis eine Schwäche? Falls ja, würde sie gut daran tun, es auszulöschen. Andererseits befand sie sich da, wo sie sein wollte, warum sollte sie sich also wegen des Rests scheren? Und doch störte es sie. Sie hatte einen angeborenen Abscheu vor Schwäche in jeder Form. Sie gab sich einen fast schon körperlichen Ruck und wandte ihre Gedanken wieder der Gegenwart zu. »Du hast meine Frage nicht beantwortet: Woher konnte Anouk von unserer Affäre wissen?«

»Nun«, sagte Leda mit einem Funkeln in den Augen, »das ist eine ausgezeichnete Frage.«

Zwischen ihnen entstand Schweigen. Hinter der Küchentür hörte man Scharren und gedämpfte Geräusche der Reinigungsarbeiten. Ansonsten war es im Haus, das ja neu war, ganz still.

Dann begriff Bobbi. »Du hast es ihr erzählt.«

Leda lachte leise. »Es hat dich aufgebracht, dass sie Bescheid wusste, oder?«

Plötzlich erschien Bobbi alles offensichtlich. »Das war also ein Test.« Der Satz war keine Frage.

»Oh, es war mehr als das.«

»Ernsthaft?«

»Du warst immer für Größeres bestimmt, Bobbi. Ich habe dich sorgfältig ausgewählt. Ich habe dich nicht aus einer Laune heraus verführt oder weil ich bei dir eine Schwäche entdeckte. Du warst in keiner Position, die für uns von Vorteil war.«

»Nein.« Ein bedächtiges Lächeln. »Evan ist wie ein fest verschlossener Tresor.«

»Nun«, sagte Leda, »wollen wir mal schauen.«

Bobbi runzelte die Stirn. »Was soll das bedeuten?«

»Das wirst du sehen.« Leda ging wieder in die Küche und kehrte mit einer eisbedeckten Flasche Wodka, zwei getüpfelten Wassergläsern und einem Umschlag aus Manilapapier zurück, ebenfalls von Eis bedeckt. Sie gab einen dreifachen Wodka in beide Wassergläser und reichte eines davon Bobbi. Leda prostete ihr mit erhobenem Glas zu, und Bobbi erwiderte die Geste. Sie tranken auf die russische Art, alles in einem einzigen Zug. Offensichtlich feierten sie etwas. Bobbis bestandene Prüfung? Anouks Tod? Bobbi hatte keine Ahnung.

Leda stellte ihr Glas weg. »Anouk war dein Abschlussexamen«, sagte sie, als hätte sie Bobbis Gedanken gelesen. »Deine Ausbildung hat viel Zeit in Anspruch genommen, das weiß ich. Und jetzt hast du die Prüfung summa cum laude bestanden. Im Gefolge davon wird Bobbi Ryder Fisher in zwei Wochen aufhören zu existieren. Sie wird sterben. Und von da an wird man dich nur noch unter dem neuen Decknamen kennen, den ich dir geben werde, wenn du von hier aufbrichst.«

»Ein neues Leben.« Ihr Blick wanderte zum Umschlag, doch sie sagte nichts. Sie war klug genug, zu warten.

Leda nickte. »Genau das hatten wir dir versprochen. Du wolltest es mehr als alles andere. Ist es immer noch so?«

Die Frage machte Bobbi fassungslos. »Natürlich!« Als sie heiratete, hatte sie gewusst, dass das eines Tages geschehen würde. Paul hatte auf Kindern bestanden, und als Bobbi Leda konsultierte, hatte die seinen Wunsch unterstützt und klug angemerkt, dass Bobbis Deckgeschichte dadurch nur umso glaubwürdiger würde. »Aber es gibt ein Risiko«, hatte sie gewarnt. »Mutterliebe kann …«

»Ich besitze nicht die geringste Spur von Mutterinstinkt«, hatte Bobbi sie unterbrochen. »Ich verstehe nicht, wieso man Kinder haben sollte, nicht in unserer Zeit.« Das hatte Leda zufriedengestellt.

»Seit man mir die Bedingungen meiner Rekrutierung vorgelegt hat, hat sich absolut nichts geändert.«

»Dann zu deinem ersten – und letzten – Auftrag in Washington.« Leda öffnete den Umschlag, zog ein Foto im Format 5 x 7 he­raus und reichte es Bobbi. Es war ein Bild von Kopf und Schulterpartie einer Frau. Es wies eine matte Färbung auf, und da es sich um die Weitwinkelaufnahme einer Überwachungskamera handelte, fehlte die Tiefenschärfe. »Du kennst diese Frau?«

»Natürlich«, antwortete Bobbi. »Das ist Benjamin Butlers Frau Lila.«

»Sie ist eine Freundin von dir, oder?«, fragte Leda.

»Du möchtest, dass ich nach Berlin fliege?«

»Mrs Butler ist heute Morgen hier eingetroffen«, erklärte Leda. »Ihrem Vater geht es nicht gut.«

Bobbi dachte kurz darüber nach. »Dafür hast du gesorgt, oder?«

»Nun, nicht persönlich«, antwortete Leda halb gekränkt. »Aber der Befehl ging von mir aus.«

»Das Ziel war also, dass sie hierherkommen sollte, wo ich mich aufhalte.«

Ledas Lächeln wurde langsam breiter, so wie Butter, die in der Sonne verläuft. »Du bist meine beste Schülerin, Bobbi. Das wusste ich schon, als ich dich damals mit siebzehn zum ersten Mal in Kopenhagen gesehen habe. Jetzt ist es, als gehörten wir zur selben Familie.«

»Wie kam das?«, fragte Bobbi. »Woher konntest du wissen, dass ich deine beste Schülerin werden würde?«

»Da waren deine Schwester und du, aber du warst diejenige, die Spaß hatte.«

»Ich habe das Leben genossen.«

»Nein«, entgegnete Leda. »Du hast es verschlungen.«

Achtundvierzig Stunden später hielt der Regen trotz kurzer Pausen noch immer an, jetzt allerdings nur noch als ein Nieseln. Die Einwohner Washingtons eilten mit aufgespannten Regenschirmen über glitschige Bürgersteige. Wer so tapfer oder so dumm war, keinen Regenschutz zu haben, suchte dicht gedrängt mit anderen in Hauseingängen oder unter Vordächern Schutz.

Bobbi entdeckte Lila Butler, bevor diese sie bemerkte. Sie hatte Lila am Vortag eine Nachricht geschickt und ein Treffen vorgeschlagen, gemeinsames Shopping mit anschließendem Lunch, »um dich von deinem Vater abzulenken«, wie sie sagte. Lila war unverhohlen dankbar gewesen, sowohl für die Ablenkung als auch für die Gesellschaft einer alten Freundin, was Bobbi das Gefühl vermittelte, dass das Leben in Berlin ihr allmählich auf die Nerven ging. Dagegen hatte Bobbi ein Mittel.

Sie schaute nach rechts und links und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Beim Überqueren der Straße im Gegenlicht beschleunigte sich ihr Herzschlag, denn sie wollte Lila abfangen, bevor die sich in das Kaufhaus begab, in dem sie verabredet waren.

Sie umarmten sich unter Lilas Regenschirm. Lila war schon immer zart wie ein Vögelchen gewesen, doch nun war sie noch schmaler und blasser als sonst, und ihre Wangen waren von Tränen feucht, nicht vom Regen. Bobbis Vermutung war richtig gewesen: Berlin gefiel ihr nicht.

Als Erstes erkundigte sich Bobbi nach dem Befinden von Lilas Vater. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Bobbi fragte sich, was Ledas Leute ihm wohl verabreicht hatten. Erst danach fragte sie nach dem Leben in Berlin.

Lila seufzte tief. »Berlin ist so grau«, sagte sie. »Und die Leute …« Lila schauderte. »Oberflächlich betrachtet sind sie freundlich. Darunter aber scheint es etwas Dunkles zu geben – eine Art Unterwelt. Und jetzt hat die Migrationsfrage der Neonazi-Bewegung neuen Auftrieb gegeben.«

Schulter an Schulter standen sie unter Lilas Regenschirm am Bordstein, um den Passanten auszuweichen. Bobbi legte sanft die Hand auf Lilas Arm, der so knochig war wie ein Spatzenflügel.

»Es tut mir leid, dass du unglücklich bist«, sagte sie, ein Auge auf den entgegenkommenden Verkehr geheftet. »Wie steht es mit Zoe? Wie kommt sie zurecht?«

»Im Gegensatz zu mir gefällt es Zoe dort drüben sehr. Aber sie ist ja auch erst vier, und ihre Welt ist entsprechend klein.«

»Vergiss nicht, sie von mir zu grüßen, auch wenn sie sich wohl kaum an mich erinnern wird.«

»Natürlich erinnert sie sich an dich«, rief Lila aus. »Sie erinnert sich an alles und an jeden.«

Bobbi lächelte. Sie sah den SUV. Seine regennassen, getönten Scheiben reflektierten das Bild der Gebäude und des niedrigen Himmels wie in einem Spiegelkabinett. »Was meinst du, wann kommt ihr alle wieder nach Hause?«

Lila zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ben hat dort immer noch beruflich zu tun.«

»Selbstredend. Und wie lange bleibst du jetzt in Washington?«

»Das hängt vom Gesundheitszustand meines Vaters ab. Aber Zoe fehlt mir schon jetzt.«

»Natürlich macht dein Vater dir Sorgen, und natürlich vermisst du Zoe«, sagte Bobbi. »Aber davon abgesehen glaube ich, dass der Aufenthalt hier dir guttun wird, selbst wenn er nur ein paar Tage dauert. Berlin ist so düster, oder?«

»Furchtbar düster.« Lila lächelte. Bobbi hatte ganz vergessen, wie sich alles um Lila aufhellte, wenn sie lächelte. »Ich bin so froh, dass du dich bei mir gemeldet hast.« Lila drückte kurz Bobbis Arm. »Ich kann dir nicht sagen, was für ein gutes Gefühl es ist, ein freundliches Gesicht zu sehen. Bei meinen Eltern steht es ziemlich schlimm.« Damit beugte sie sich vor und gab Bobbi ein Küsschen auf die Wange.

Das war der Moment, in dem Bobbi vom Bordstein zu taumeln schien. Sie schleuderte Lila herum. Lila verlor das Gleichgewicht, und ihr Regenschirm kippte herunter und schirmte sie vor den Blicken des Menschengedränges auf dem Bürgersteig ab. Bobbi ließ Lilas Ellbogen los und versetzte ihr einen kräftigen Stoß mit der Hüfte, der sie direkt in die Bahn des auf sie zuschießenden SUV katapultierte.

Bobbi ging sofort weg, noch bevor das Geräusch des Aufpralls ihr Ohr erreichte, ein schwerer, Übles verheißender Schlag. Im exakt gleichen Tempo wie der restliche Passantenstrom schob sie sich mit der Menge weiter. Hinter ihr ertönten das Schrillen quietschender Reifen, Schreien und Rufen. Von der Szene angelockt drängte die Menge zum Bordstein. Als die Sirenen der Notfallfahrzeuge heulten, befand Bobbi sich bereits im dritten Geschoss des Kaufhauses, abgeschirmt durch einen Wald teurer Designerklamotten. Von dort begab sie sich zur Rolltreppe, die zum Ausgang auf der anderen Seite des Kaufhauses führte.

Erster Teil

1

Washington D. C.

Gegenwart

Benjamin Butler hatte einen Fehler begangen. Einen großen Fehler. Und zwar getrieben von Zoes Entschlossenheit. Seine Tochter, acht Jahre alt, aber so selbstsicher wie eine Sechzehnjährige, hatte ihm das Versprechen abgenommen, dass es im Haus immer Oreo-Kekse geben würde. Weil sie beide gerade von einer Woche im Hotel Atlantis auf Paradise Island zurückgekehrt waren, wo sie Zoes achten Geburtstag gefeiert hatten, waren die Kekse heute Abend jedoch ausgegangen. Daher ging Ben, von einer ungeduldigen Zoe gefolgt, im Washingtoner Costco-Supermarkt an der Market Street NE gerade durch den breiten Mittelgang. Es war beinahe zwanzig Uhr, und sie hatten nur noch wenig mehr als dreißig Minuten Zeit, um die Oreos zu finden und zu bezahlen, bevor der Laden schloss. Er hätte wissen sollen, wo die Kekse sich befanden, er kaufte sie ja oft genug. Aber Costco hatte die ärgerliche Gewohnheit, die Waren immer wieder umzuräumen.

Nach langen Minuten der Suche entdeckte Zoe sie endlich in der Mitte des Süßigkeitengangs.

»Da, Dad! Da sind sie!«

Er schob den Einkaufswagen hinter seiner davonstürzenden Tochter her und holte sie vor einem riesigen Stapel der übergroßen blauen Schachteln ein, gefüllt mit Sechsunddreißigerpacks der Kekse, die Zoe so sehr liebte. Er packte eine Schachtel in den Wagen, betrachtete Zoes glückliches, gieriges Gesicht und beschloss, gleich zwei mitzunehmen, damit er die nächsten Wochen nicht mehr daran denken musste, Oreos zu kaufen. Als er sich nach der Kasse umschaute, entdeckte er einen Anzugträger, der am Ende des Ganges stand. Bei einem Blick über die Schulter bemerkte er am anderen Ende den Zwillingsbruder des Mannes – oder jemanden, der ihm fast so ähnlich sah. Ben arbeitete lange genug im Geheimdienst, um vom Staat angestellte Bodyguards auf den ersten Blick zu erkennen. Außerdem roch er sie – eine Mischung aus billigem Aftershave, billigem Stoff und Schweiß. Außer ihm selbst und Zoe befand sich niemand im Gang. Er entschied sich vernünftigerweise dafür, an Ort und Stelle zu verharren und abzuwarten, bis die Situation durchschaubarer wurde. So blieb er mit den Händen auf den Griffen des Einkaufswagens stehen, Zoe vor ihm zwischen seinen Armen, und wartete ab.

Kurz darauf trat ein neuer Mitspieler hinter einer Auslage von M&M-Schachteln hervor, die jede das Volumen seiner Brust hatten. In dem halslosen Koloss erkannte Ben General Ryan Aristides, seinen Chef im Verteidigungsministerium, der sich als Wunder an Rückgratlosigkeit erwiesen hatte, als Bens Stelle und Ruf vor einigen Monaten unter Beschuss geraten waren. Statt Ben gegen Brady Thompson, den Verteidigungsminister, zu Hilfe zu kommen, hatte Aristides seine Hände in Unschuld gewaschen, um nicht in Mitleidenschaft gezogen zu werden, wenn Brady Ben fertigmachte und den von Ben geleiteten Geheimdienst in den Orkus beförderte. Dann gelang es Ben und Evan Ryder jedoch, Thompson unschädlich zu machen, denn sie fanden Beweise, dass er für die Russen arbeitete, und drehten ihn um. Als Doppelagent lieferte er Aristides nun wichtige Erkenntnisse, während er seine ehemaligen russischen Herren mit Falschinformationen fütterte.

Unter dem harten, blauweißen Deckenlicht wirkte das große, breite Gesicht des Generals bleich. Er ging leicht o-beinig mit einem etwas schwankenden Gang, was seiner Zeit auf See geschuldet war.

»Du bist ja ein richtiges Schleckermaul, Ben«, sagte er und deutete auf die Oreos.

Ben. Aristides nannte ihn immer Benjamin. Etwas war im Busch. Erst als der General sich näherte, wurde Ben bewusst, dass Aristides keine Uniform trug: Er hatte einen eleganten Anzug an, der auch bei der Hochzeit seiner Tochter gepasst hätte.

»Zoe«, sagte Ben.

»Ach ja, die süße Zoe.«

Der General hätte lächeln sollen, doch das tat er nicht. Jeder andere hätte das Mädchen begrüßt und es gefragt, wie es ihm gehe, doch Aristides war damit beschäftigt, eine Auslage von Gummibärchen zu studieren. »Als Kind hab ich die gehasst«, sagte er mit tiefer, grollender Stimme. »Widerliches Zeug, findest du nicht? Der ganze Zucker, der einen ruiniert.« Doch es war klar, dass er keine Antwort erwartete. Tatsächlich war nicht einmal vollständig sicher, ob er überhaupt über Gummibärchen sprach.

Seufzend wandte der General sich wieder Ben zu. »Ich glaube, am besten macht Zoe jetzt einen kleinen Spaziergang mit Wilson hier.« Einer der Anzugträger trat vor. Er war jung, hatte ein munteres Gesicht, und im Gegensatz zu seinem Chef lächelte er Zoe an.

Ben nahm sich einen Moment Zeit für die Lageeinschätzung. Die war nicht schwierig; Aristides ließ ihm kaum eine Wahl. Er beugte sich vor und legte den Mund an Zoes Ohr: »Wie wär’s, Schatz? Der General und ich müssen ein bisschen plaudern.« Er kleidete die Aufforderung in eine möglichst harmlose Formulierung.

Zoe, die intelligent war und den geheimniskrämerischen Aspekt der Arbeit ihres Vaters kannte, nickte. »Okay.«

»Ich bin kein Kind mehr«, sagte sie, als sie zwischen ihrem Vater und dem Einkaufswagen herausschlüpfte, überging Wilsons ausgestreckte Hand und fixierte ihn mit ihrem verstörend direkten Blick.

»Sorry, mein Fehler.« Wilson reagierte sofort.

Als die beiden außer Sichtweite waren, räusperte sich Aristides. »Ben, ich habe leider schlechte Nachrichten.«

Ben hob sich der Magen, als stünde er in einem schnell nach unten rauschenden Lift. »Dann mal los«, sagte er.

Der General griff nach einer riesigen Tüte von Mini-Snickers, betrachtete sie so intensiv, als wäre sie eine Kristallkugel, und schob sie dann beinahe verärgert zu ihren Schwestern zurück. Als er sich Ben zuwandte, war sein Blick auf einen Punkt mitten auf dessen Stirn geheftet.

Er schafft es nicht, mir in die Augen zu sehen, dachte Ben und machte sich auf das Schlimmste gefasst.

Aristides stieß einen Seufzer aus. Sein Hals schwoll so stark, dass er drohte, aus dem Kragen zu platzen. »Ab heute ist dein Geheimdienst aufgelöst.«

»Was? Moment mal.« Ben traute seinen Ohren nicht. »Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Allen außer Evan wurden bereits neue Jobs zugewiesen.«

»Nachdem wir Thompson umgedreht und zum Doppelagenten gemacht haben? Den Verteidigungsminister? Das war der größte Spionagecoup seit …« Ben schüttelte den Kopf. »Wie ist das möglich?«

»Du hast Thompson an mich persönlich überstellt. Außer mir weiß keiner, dass wir ihn haben auffliegen lassen, und um ihn zu schützen, muss es so bleiben.«

»Das verstehe ich. Natürlich. Aber trotzdem …«

»Hör mir zu, Ben. Zunächst einmal gefällt es dem US-Präsidenten nicht, dass du mit Agentinnen arbeitest, mit Frauen.« Aristides zählte die Punkte an den Fingern auf. »Zweitens hast du die Kontrolle über eine von ihnen verloren, Brenda Myers. Sie ist durchgedreht und hat einen Zivilisten getötet. Drittens hast du dir und Ryder mit dem Vordringen deines Geheimdienstes ins Ausland samt den unerfreulichen Folgen einige extrem gefährliche Feinde hier zu Hause geschaffen – Milliardäre mit dem Geld und der Macht, den Präsidenten zu beeinflussen.«

Ben knurrte angewidert. »General, bei allem gebührenden Res­pekt, aber Sie brauchen mich und meinen Geheimdienst weiter. Diese Leute sind noch nicht fertig. Samuel Wainwright Wells steht im Zentrum derselben evangelikal-konservativen Verschwörung, die Nemesis’ Neonazi-Ableger hier in Amerika finanziert. Der rechte Flügel hat den Plan, seine Art von Konservativismus mit einer Ideologie der Vorherrschaft der weißen Rasse zu verschmelzen. Wells ist der Anführer. Ich habe ihn im Blick, da seine Leute ihren evangelikalen Rassismus in seinen Fernseh- und Radiosendern ausspeien.«

»Zweifellos. Dennoch haben diese evangelikalen Konservativen das Ohr des Präsidenten, Ben. Wells Super PAC hat massenhaft Wahlkampfspenden eingesammelt und bei der Unterstützung seines Wahlkampfs eine entscheidende Rolle gespielt. Seit Wells vor einem Jahr seine dritte Frau geheiratet hat, die vormalige Lucinda Horvat, engagiert er sich noch mehr für den Evangelikalismus.«

Ben schüttelte den Kopf. »Stimmt. Sie haben ihre Hochzeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefeiert, in einem Washingtoner Hotel, das einer Firma des Präsidenten gehört. Wie ich hörte, hat er ihnen das Hotel gratis angeboten – als Hochzeitsgeschenk.«

Aristides nickte. »Eine Liste handverlesener Gäste – eine Versammlung seiner Mitstreiter, aber niemand von ihrer Familie; ihre Leute sind alle tot. Wahrscheinlich, weil Lucinda erst Ende zwanzig ist, hat die Hochzeit in den Mainstream-Medien für Aufmerksamkeit gesorgt.«

»Was zur üblichen Gegenreaktion in den Medien der extremen Rechten geführt hat. Aber nicht einmal die durften Fotos schießen.«

Der General nickte. »Wells ist bekannt dafür, dass er zurückgezogen lebt, die Medien konnten also keine große Story daraus machen. Und Wells’ eigenes rechtes Mediennetzwerk hat den Altersunterschied natürlich gar nicht erst erwähnt. Jedenfalls hat die neue Mrs Wells nicht lange gebraucht, um sich ins Eheleben einzufinden. Wie man hört, benutzt er sie gern als seine Sprecherin. Und der Präsident scheint richtiggehend verliebt in sie zu sein. Sie leitet oft seine private Gebetsgruppe. Es heißt außerdem, sie übernähme inzwischen eine aktivere Rolle bei Wells’ Geschäften. Sie erscheint öfter zu hochrangigen Firmentreffen als er.«

»Na also. Dass die beiden Verbindungen zu Nemesis haben, ist eine logische Schlussfolgerung, General. Auch dir kann das nicht entgehen.«

Aristides’ Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Das alles sind nur Indizien und Schlussfolgerungen. Du hast keine Beweise, Ben. Soweit wir es beurteilen können, haben die Wells saubere Hände.«

»Ihre Hände sind so schmutzig, wie es nur geht.« Ben schüttelte den Kopf. »Das ist doch verrückt, General. Ich weiß es, und du weißt es.« Ben bemerkte, dass er unbewusst eine Verteidigungshaltung eingenommen hatte: die Beine hüftbreit aufgestellt, die Arme herabhängend und die Hände leicht geballt. Doch das half nichts – Aristides hatte seinen Schlag bereits geführt. Ben taumelte auf die Fersen zurück. Man hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, und er fiel in einen Abgrund.

»Ich wünschte, es wäre so, Ben, aber die Tatsachen sind nun einmal, wie sie sind. Diese Verschwörung extrem reicher Konservativer, wer auch immer sie sein mögen …«

»Die nicht zufälligerweise außerdem dieses Land ausplündern, ganz in der Tradition der Räuberbarone des frühen neunzehnten Jahrhunderts.«

»Das spielt hier keine Rolle. Entscheidend ist, dass du ihnen in die Quere gekommen bist, als du Nemesis zu Fall gebracht hast«, fuhr Aristides fort, ohne Bens wütenden Ausbruch zu beachten. »Das werden sie nicht so schnell vergessen. Sie sind nicht daran gewöhnt, zu verlieren.«

Und das ist mein Dank, dachte Ben. Ich werde abserviert, während sie straflos davonkommen. Doch das sagte er nicht. Aristides stand nicht auf Selbstmitleid. Dennoch spürte Ben Wut wie Galle in sich aufsteigen. Sie brannte ihm im Magen und in der Kehle, sodass er kurze Zeit stumm war.

Er hatte ein Jahrzehnt als Agent im Einsatz gearbeitet und dabei zahllosen Gefahren in die Augen gesehen, die ihn dem Tod so nahe gebracht hatten, dass er seinen eisigen Herzschlag spüren konnte. Dann hatte er bewusst beschlossen, sich von den Einsätzen zurückzuziehen – obwohl er sich in dieser Rolle zu Hause fühlte –, um Karriere in der Geheimdienstwelt zu machen. Und endlich hatte er seine Belohnung erhalten: seinen eigenen verdeckt operierenden Geheimdienst.

Nun war er weg, von einer zynischen, eigennützigen Führung vernichtet.

»Ich habe ein paar Beziehungen spielen lassen und ein paar Regeln umgangen, um dir eine extrem großzügige Abfindung zu sichern.«

Ben verzog die Lippen. »Soll ich dir dafür jetzt dankbar sein?«

Aristides hob und senkte die fleischigen Schultern. »So oder so, das Geld gehört dir. Es liegt schon auf deinem Konto.«

»Und das war’s?«, fragte Ben mit unverhohlener Feindseligkeit.

»Es ist eine verdammte Menge Geld«, erklärte Aristides gleichmütig.

»Was ist mit Evan?«

»Sie hat die Wahl. Entweder lässt sie sich in eine Behörde des Energieministeriums versetzen, oder sie akzeptiert eine Abfindung.«

»Ins Energieministerium, Scheiße noch mal? Das soll wohl ein Scherz sein. Was soll sie denn da?«

Der General zuckte mit den Schultern. »Politik, Ben.«

»Du weißt bereits, wie sie entscheiden wird, General.«

Aristides nickte. »Das Geld trifft morgen früh auf ihrem Konto ein.«

Aristides trat noch einen Schritt näher. »Noch eine Warnung. Diese Leute werden das, was ihr beide, du und Ryder, getan habt, niemals verzeihen«, erklärte Aristides in einem rauen Flüsterton. »Niemals.«

Ben wischte sich mit der Hand über die feuchtkalte Stirn. Er war froh, dass Zoe ihn nicht in dieser Verfassung sah. Der General hatte immerhin etwas getan, um Bens Schmerz zu lindern – und es war keine Kleinigkeit.

»Aber …«, Aristides sprach nun wieder normal. »Aus etwas Schlechtem muss man das Beste machen.«

Ben zog die Augen zusammen. Jetzt war nicht die Zeit für Wortspiele. »Bitte.«

Die Gesichtszüge des Generals wurden weich wie ein Karamellbonbon. Ben erkannte echtes Mitgefühl in seinen Augen.

»In einem anderen Licht betrachtet, kann diese Wendung der Ereignisse auch ein Glücksfall sein«, sagte Aristides.

Ben starrte ihn an. Ein bitteres Lachen entfuhr seinen Lippen. »In welchem anderen Universum?« Er konnte es nicht fassen.

»In deinem.« Aristides breitete die Hände aus. »Ein neuer Anfang, neue Möglichkeiten. Dazu hattest du immer Talent.«

Aristidesʼ Gesicht wirkte im Kunstlicht bleich. Einen Augenblick fragte sich Ben, ob er selbst vielleicht ebenso schlecht aussah.

General Aristides schaute auf seine Armbanduhr; ihre gemeinsame Zeit war aufgebraucht. »Evan Ryder ist die einzige Agentin, die sich derzeit in einem Auslandseinsatz befindet, oder?«, fragte er.

Ben nickte.

»Um deiner selbst und um Evan Ryders willen, hol sie so schnell wie möglich zurück.«

2

Unterwegs

Drei Tage später

Aus zehntausend Meter Höhe sah der Pazifik aus wie ein flaches Messingblech. Doch kurz darauf breiteten sich Wolken aus, die einem unbekannten Ziel entgegeneilten, und der Blick aus dem Fenster fiel nur noch auf eine weiße Fläche wie auf einen Wüstenhimmel am Nachmittag.

Evan Ryder, die angeschnallt auf ihrem Platz saß, schob die Kunststoffjalousie vor dem Fenster nach unten und schloss die Augen. Sie dachte an Lyudmila und ihre gemeinsamen Wochen auf Sumatra. Als Evan an Bord der Fähre nach Bali ging, hatten sie sich vermutlich für viele Monate voneinander verabschiedet.

Lyudmila Alexeyevna Shokova, eine von zwei weiblichen Apparatschiks im Inneren Führungszirkel, hatte dort so viel Macht angehäuft, dass der russische Souverän ihre Eliminierung befohlen hatte. Doch ihre Kontaktleute hatten sie gewarnt und sie mit einem Privatflugzeug in einer Kiste aus Moskau ausgeflogen. Dann wurde sie an Bord eines Frachters aus Odessa geschmuggelt und überquerte das Schwarze Meer nach Istanbul, wo sie im Menschengewimmel untertauchte.

Lyudmila hatte Evan berichtet, dass deren jüngere Schwester Bobbi eine Schläfer-Agentin für eine extrem geheime Abteilung des russischen Geheimdiensts gewesen sei.

»Was?« Evan war erbleicht. »Ich … ich kann mir nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte.«

Doch die Akte, die Lyudmila ihr gezeigt hatte, hatte ihre Worte belegt. Die Kobalt-Akte, denn Kobalt lautete der Deckname der Verräterin. »Wir werden herausfinden, wie es dazu kommen konnte«, hatte Lyudmila erklärt. »Du wirst meine Hilfe brauchen. Bobbi gehörte zu einer Abteilung 52 123, vermutlich innerhalb des SVR.«

»Aber im Auslandsgeheimdienst SVR oder auch im Inlandsgeheimdienst FSB gibt es meines Wissens keine Abteilung 52 123.«

»Richtig, und deswegen sind wir uns auch nicht sicher, ob die Abteilung 52 123 wirklich zum SVR gehört. Tatsächlich ist sie so streng geheim, dass keiner, den ich kontaktiert habe, von ihr wusste oder irgendeinen Hinweis auf sie entdecken konnte. Der einzige Beweis für die Existenz der Abteilung 52 123 steht in dieser Akte, die tief in den Eingeweiden des SVR-Servers verborgen war.«

»Ich muss unbedingt wissen, wie sie rekrutiert wurde. Und warum.«

»Du bist entsetzt, und mir tut es ebenfalls weh, pchelka. Rache ist nun unser Lebensinhalt geworden. Jetzt betreten wir das Reich der Dunkelheit.«

Evan starrte aus dem Perspex-Fenster in das weiße Nichts. Hätte Ben sie nicht heimbeordert, wäre sie noch immer mit Lyudmila zusammen. Sie hatten sich darauf vorbereitet, weiterzuziehen und sich heimlich und auf Umwegen zu dem Ort zu begeben, an dem Lyudmila ihren unabhängigen Geheimdienst aufgebaut hatte.

Evan schloss die Augen. Sie vermied das Nachdenken über die Frage, was hinter dem Signal stecken mochte, das Ben an ihr Handy geschickt hatte. Sie sehnte sich danach, mit Lyudmila zusammenzubleiben und mit ihr gemeinsam in den dunklen Kern von Bobbis Rätsel vorzudringen. Wie konnte ihre Schwester nur …? Es war unausdenkbar und unaussprechlich. Seit sie von Lyudmila die Akte über ihre Schwester erhalten und sie gelesen hatte, fühlte sich Evan, als wäre sie von einem Eiszapfen durchbohrt worden.

Aber was, wenn …

Was wenn die in der Akte dargestellten Tatsachen eine absichtliche Fehlinformation wären? Möglich war das; die Russen waren Experten für dezinformatsiya, eine finstere Kunst, die ihren Ursprung in der geheimen Propagandaabteilung von Stalins KGB hatte.

Das einzige Problem bei dieser Theorie war, dass Evan sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, warum sie sich die Mühe machen sollten. Was bedeutete Bobbi ihnen, außer dass sie Evans Schwester war? Ihre kleine Schwester, die vor gut drei Jahren – zehn Tage nach einem ähnlichen Unfall von Bens Frau Lila – in Washington von einem Fahrerflüchtigen totgefahren worden war? Evan und Ben waren immer überzeugt gewesen, dass diese beiden Todesfälle miteinander in Beziehung standen – dass sie Morde waren, Vergeltung für die Zerstörung, die sie beide bei ihrem letzten gemeinsamen Einsatz in Russland angerichtet hatten. Was würden die Russen durch eine solche dezinformatsiya gewinnen, selbst wenn sie ihren Weg zu Evan fand?

Also entsprach die Akte wahrscheinlich der Wahrheit.

Evan riss sich von dem Versuch los, ihre Schwester freizusprechen, nahm ihre Handtasche auf den Schoß und holte die Geschenke heraus, die sie auf dem Pasar-Atas-Markt in Bukittinggi gekauft hatte. Für Bens Tochter Zoe ein Bündel alter Hotelzimmerschlüssel – einige angeblich von Hotels, in denen Gespenster umgingen. Zoe hatte ihre Begeisterung für Dinosaurier hinter sich gelassen – das erschien ihr jetzt kindisch – und interessierte sich nun für Hotels, in denen Geister hausten – Gespenster von Menschen, die man dort ermordet hatte oder denen dort großes Unrecht widerfahren war. Daher sammelte sie jetzt Hotelzimmerschlüssel. Hatte sie früher die Namen jeder Dinosaurierart gekannt, die je über die Erde gestreift war, kannte sie nun die Herkunft jedes einzelnen Schlüssels in ihrem Besitz, einer Sammlung von Hunderten sorgfältig etikettierten und katalogisierten Exemplaren. Für ihre Nichte Wendy hatte Evan ein Batiktuch besorgt und für ihren Neffen Michael ein T-Shirt mit der Aufschrift Rettet den Sumatra-Tiger. Wendy war elf und Michael neun. Sie wurden so schnell groß. Evan schloss die Augen und stellte sich die Frage, die ihr so oft zu schaffen machte: Was, wenn sie Bobbis Lebensweise gewählt hätte – Ehe, Kinder, ein Haus in der Vorstadt, zwei Autos und vielleicht ein Hund? Dieselbe alltägliche Fron. Sie hatte nie begriffen, wieso Bobbi sich für ein so langweiliges Leben entschieden hatte, und noch viel weniger, wie sie es hatte ertragen können.

Doch nun war Evan klar, dass Bobbi sich für etwas ganz anderes entschieden hatte. Sie hatte ein Doppelleben gewählt – verheiratet und Mutter zweier Kinder, ein Ehemann, der eine konservative Wahlspendenorganisation – einen Super PAC – zugunsten von Kandidaten leitete, die von Samuel Wells unterstützt wurden, und ein Leben der Geheimnisse und Schatten in den Zwischenräumen, wo keiner hinschaute. Was an Evan nagte, war die Frage, wie ihre Schwester sich nur für die andere Seite entscheiden konnte. Was hatte Russland so verlockend für sie gemacht? Diese Fragen schossen Evan ständig durch den Kopf. Doch da Bobbi tot war, würde es keine Antworten mehr geben. Diese Endgültigkeit machte Evans Zorn auf ihre Schwester nur umso quälender.

Noch immer in Gedanken, steckte sie die Geschenke wieder in ihre Handtasche. Natürlich hatte sie vergessen, ein Geschenk für Paul zu besorgen. Er kam ihr immer als Letzter in den Sinn, falls überhaupt. Sie hatte nie begriffen, warum Bobbi ihn anziehend gefunden hatte. Tatsächlich konnte Evan ihn nicht ausstehen; an guten Tagen fand sie ihn herablassend, und respektlos an schlechten. Er hatte sie einmal aufgefordert, ihre aggressive und streitlustige Haltung aufzugeben. Offensichtlich war ihm Bobbis Art lieber, die jedes Mal umkippte, wenn er ein Machtwort sprach. Je weniger Kontakt Evan mit Paul hatte, desto besser. Wenn sie seit Bobbis Tod die Kinder besuchte, gab sie sich um Wendys und Michaels willen immer herzlich gegenüber dem Vater, dennoch waren ihre Begegnungen stets kurz und kühl. Vermutlich konnte Paul sie ebenso wenig ausstehen wie sie ihn. Und allmählich schien ihr, dass er ihr ihre Zeit zusammen mit den Kindern missgönnte. Nicht dass er sich selbst viel um sie gekümmert hätte, soweit Evan das beurteilen konnte. Aber dennoch hatte er ganz unverblümt verkündet: »Es gefällt mir nicht, wie du hier im ganzen Haus deine Duftmarken setzt.«

Doch Paul war Evan gleichgültig. Sie vermisste die Kinder: Wendys strahlend blaue Augen, ihr gewinnendes Lächeln und den Zitronengrasduft ihres dichten, blonden Haars; Michaels ernste Miene, seine Neugier und Intelligenz und die Art, wie er ihr die Arme um den Hals schlang und sein Gesicht an ihrer Halsbeuge vergrub. Sie vermisste es auch, wie die Geschwister ihre Gedanken gegenseitig zu Ende brachten, als wären sie Zwillinge und nicht Wendy die um zwei Jahre ältere. Seit Bobbis Ermordung hatte Evan Wert darauf gelegt, die beiden regelmäßig zu besuchen, wann immer sie in Washington war. Und auch mit Zoe verbrachte sie Zeit. Manchmal brachte sie sie zu den beiden mit. Vor allem die Mädchen verstanden sich ausgezeichnet, doch zum Glück hatten sie eine unausgesprochene Abmachung, Michael nicht außen vor zu lassen. Trotz aller Besuche hatte Evan allerdings immer das Gefühl, den Kindern nicht genug Zeit zu widmen. Tatsächlich war es so, dass sie Washington verabscheute und sich so selten wie möglich in der Hauptstadt aufhielt. Wenn die Kinder nicht wären, würde sie wahrscheinlich Bens neue Aufträge aus der Ferne annehmen.

Noch immer von Gedanken an die drei Süßen erfüllt, döste sie schließlich ein.

Zwanzig Reihen weiter hinten starrte ein Mann – unauffällig, harmlos und so wenig bemerkenswert, dass selbst seine Sitznachbarn seine Anwesenheit kaum wahrnahmen – so angestrengt auf Evans Hinterkopf, als prägte er sich jede einzelne Haarsträhne ein. Wann immer eine Stewardess oder ein Passagier durch den Mittelgang gingen und ihm die Sicht versperrten, schloss er die Augen, als versuchte er, das Gesehene unauslöschlich in sein Gedächtnis einzugravieren.

Von einem Kribbeln, das vom Nacken bis zum Scheitel reichte, aus dem Schlaf geweckt, öffnete Evan die Lider. Sie war sofort hellwach und drehte sich auf dem Sitz herum. Beim Mustern der Reihen hinter ihr entdeckte sie niemanden, der in ihre Richtung schaute. Dennoch stand sie auf und ging zur Toilette hinten im Flugzeug. Sie kam an einer jungen Frau vorbei, die in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Vogue las, an einem Mann im Anzug, der in den Bildschirm seines Laptops vertieft war, an einem Kind, das Nintendo spielte, an einem jungen Paar, das Händchen haltend miteinander flüsterte, und an einem schmalen Mann, der in einer alten, gebundenen Ausgabe von The Ugly American schmökerte. Zur Zeit seiner Erstveröffentlichung hatte der Roman einen Skandal verursacht, da er die Korruptheit und Inkompetenz der US-Außenpolitik in Südostasien beschrieb. Keiner dieser Menschen wirkte ungewöhnlich, keiner schien das Kribbeln ausgelöst zu haben. Und doch hielt es auch noch an, als sie im Heck des Flugzeugs stand und auf eine freie Toilette wartete. Sie musterte die Passagiere von hinten, registrierte jedes Detail, jede Bewegung von Kopf oder Hand, entdeckte aber nichts Außergewöhnliches oder Auffälliges.

Eine Stewardess lächelte sie an und deutete auf die Toilettenkabine zu ihrer Rechten. »Es ist jetzt frei«, sagte sie.

Bevor ihr Flugzeug in Singapur abhob, hatte Evan ihr Handy eingeschaltet, durch die Liste eigens zusammengestellter Bilder gescrollt und Benjamin Butler – seit einigen Jahren ihr Chef in einem namenlosen, vom Verteidigungsministerium finanzierten Geheimdienst – das Bild für Singapore Airlines geschickt, zusammen mit der Flugnummer.

Nach der Landung auf dem Dulles Airport passierte sie rasch die Zollabfertigung und schaltete ihr Handy ein, während sie am Gepäckband wartete. Ben hatte seine Antwort bereits geschickt, als sie noch in der Luft war: eine Uhr ohne Stunden- oder Minutenzeiger. Sie benutzten Bilder mit vorher festgelegten Bedeutungen, damit ihre Abmachung selbst dann geheim bliebe, sollte das Handy gehackt werden. Für Evan und Butler war der Sinn jedoch klar:

Treffen um eins.

Alle Diensthandys galten als sicher, da die Software zweimal wöchentlich upgedatet wurde, doch in dieser Zeit ständig geschickter werdenden Hackings von feindseligen Kräften in China, Nordkorea, Russland, Kasachstan, Iran und sogar Israel zahlte es sich aus, paranoid zu sein.

Sie schnappte sich ihren Koffer und schlängelte sich durch die Menge zum Ausgang. Draußen angekommen atmete sie die milde Mailuft in tiefen Zügen ein. Der Himmel war bewölkt und die Atmosphäre feucht, doch im Vergleich zum schwülwarmen Klima Sumatras, in dem sie beinahe zwei Monate lang versunken war, fühlte die Luft sich beinahe kühl und trocken an. Rudel weiterer frisch eingetroffener Passagiere wimmelten herum und schoben und drängten auf dem Weg zu ihren Taxis, Ubers oder Shuttlebussen.

Evan verharrte und zwang sich, sich gelassen umzuschauen, als hielte sie nach jemandem Ausschau, mit dem sie verabredet war. Inzwischen kribbelte es sie schon wieder am Hinterkopf, und jetzt noch stärker als zuvor. Doch über der herumwimmelnden Menschenmenge sah sie nur den nächtlichen Washingtoner Himmel und die frisch belaubten Zweige im leichten Wind schwankender Bäume.

Sie hatte ihren Wagen auf einem Hotelparkplatz in Herndon stehen lassen, wo man Langzeitparkplätze dreimal billiger als direkt am Flughafen bekam. Mit winselnden Bremsen und einem pneumatischen Seufzen der Türen traf ihr Shuttlebus ein, und erschöpft von den langen Flügen sowie besorgt über Bens plötzliche Rückkehraufforderung beeilte sie sich, in das Fahrzeug zu steigen. Sie setzte sich der Falttür gegenüber und beobachtete jeden einzelnen einsteigenden Passagier. Wieder beschlagnahmte ihre Schwester ihre Gedanken; kaum dass Evan das Flughafengebäude verlassen hatte, erhob Bobbi sich wie ein schwarzer Schatten. Der Verrat, den sie an Evan und den Idealen ihres Landes begangen hatte, war unfassbar. Evans Gefühle wurden keineswegs dadurch gemildert, dass Bobbi seit drei Jahren tot war. Warum hatte Evan nicht gesehen, was aus Bobbi geworden war? Die Antwort auf diese Frage war natürlich offensichtlich. Die Nähe war zu groß gewesen; Geschwisterkonflikte hatten sie für die größere Wahrheit blind gemacht.

Der Fahrer griff gerade nach dem Hebel, um die Türen zu schließen, als sie Ben entdeckte. Er stand vor dem Flughafengebäude, den Rücken ihr zugekehrt, und reckte den Hals, wahrscheinlich, weil er nach ihr Ausschau hielt. Sie wusste, dass er es war – sie erkannte ihn zweifelsfrei.

»Anhalten!«, rief sie und sprang auf. »Ich muss raus.«

Mit einem Satz war sie aus dem Bus und traf bei Ben ein, als er sich gerade umdrehte.

»Ben, was machst du hier, gegen alle Regeln?«

»Ah, wie gut, dass ich dich gefunden habe.« Er ergriff sie am Ellbogen und steuerte sie vom Randstein weg zu einer freien Stelle, wo sie von anderen Passagieren unbehelligt waren.

»Hör zu, Ben, ich habe eine Neuigkeit, die mir schon auf dem ganzen Flug zu schaffen gemacht hat.«

»Was immer es ist, es kann warten.« Er räusperte sich. Sein Blick verhakte sich mit ihrem. »Wir müssen deine Nichte und deinen Neffen suchen.«

»Was?« Ihr Herz machte einen Satz und hämmerte so schnell und heftig, dass sie es bis in den Hals spürte. »Was hast du gesagt?«

»Wendy und Michael sind verschwunden.«

Sie zwinkerte verstört. Ihre Lippen zitterten, und ein eiskalter Schauer durchlief sie. »Ich verstehe nicht …«

»Da geht es dir nicht anders als allen«, erwiderte er. »Nicht einmal die Leute vom FBI, die auf den Fall angesetzt wurden, kapieren, was los ist. Die beiden Kinder sind so spurlos verschwunden, als hätte es sie niemals gegeben.«

»Aber das ist doch unmöglich. Was ist mit Paul?«

»Paul Fisher ist verschollen. In seinem Büro hat keiner eine Ahnung, wo er sich befindet. Seine Mitarbeiter haben nichts von ihm gehört, und auch sonst niemand, die Betreuerin der Kinder eingeschlossen. Und bevor du nachfragst, Fisher hat sein Handy entweder ausgeschaltet oder zerstört. Kein Signal, keine Ortung, nichts.«

»Wie lange sind sie schon weg?« Ihre Augen glänzten, von sich ankündigenden Tränen geweitet.

»Jetzt ist Montagnacht … zwischen Freitagabend und heute früh, als die Kinder nicht in der Schule erschienen sind, ist also jeder Zeitraum möglich.«

»Ich möchte, dass wir zu ihnen nach Hause fahren. Sofort.«

Er nickte. »Komm. Ich fahre dich.«

»Mein Auto steht auf einem Parkplatz in Herndon. Ich möchte es nicht dort zurücklassen.«

»Dann lass uns hinfahren.«

Sie gingen zum Mittelstreifen, wo sein Auto mit blinkenden Warnleuchten stand. Als sie eingestiegen waren, fädelte Ben sich in den langsam rollenden Verkehr ein.

Auf dem Beifahrersitz war Evan sich seines warmen, kräftigen Körpers neben ihr bewusst. Während ihrer ganzen Reise hatte sie nicht an Ben gedacht, doch jetzt, da sie wieder in Washington war, überfielen sie die Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit im Einsatz, als bohrten sie sich mit Nadeln in sie. Ganz besonders quälte sie der Fehler, den sie bei ihrer letzten gemeinsamen Mission begangen hatten.

Eine Viertelstunde später hielten sie an der Einfahrt des Parkplatzes.

»Ich warte hier auf dich, und wenn du kommst, fahre ich vor dir her.«

Sie nickte stumm, ein Schwirren von Gedanken im Kopf. Was konnte Wendy und Michael zugestoßen sein? Hatte Paul sie weggebracht? Aber warum? Und wo um alles in der Welt könnte er sie hingebracht haben?

Am Rande des Parkplatzes blieb sie stehen und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Wie ihr hartes Training es verlangte, musterte sie die gerade ausgerichteten Reihen der parkenden Wagen und registrierte jeden Einzelnen genau. Eine vierköpfige Familie kam lärmend aus der Seitentür des Hotels. Mit Gepäck beladen blafften sie sich auf dem Weg zu ihrem Ford Explorer gegenseitig an. Ein Geschäftsmann schwang seinen Aktenkoffer in einen Audi und stieg anschließend ein.

Sonst rührte sich nichts. Sie sah die beiden Schweinwerfer des Wagens, in dem Ben sie erwartete.

Sie schloss den mattschwarzen Dodge Charger SRT 8, Baujahr 2013, auf, setzte sich hinters Steuer und dachte müßig ich muss die Rückleuchte reparieren lassen. Von außen mochte der Charger wie ein Schrotthaufen aussehen, doch das war einfach nur Tarnung. Sein Innenleben war raffiniert, er war mit einem neuen, 650-PS-Turbomotor, modernsten Dreipunktgurten und Airbags sowie einer Reihe weiterer Raffinessen ausgestattet. Sie schnallte sich an und steckte den Schlüssel in die Zündung. In diesem Moment, leicht vorgebeugt, nahm sie aus dem linken Augenwinkel einen Schatten wahr, der aus der Dunkelheit auftauchte. Er bewegte sich rasch. Sie auch. Doch sie war nicht schnell genug. Gerade hatte sie sich im Sitz zur Seite gewandt, da sah sie sich der Mündung einer Sig Sauer P320 Compact gegenüber, die mitten auf ihre Stirn zielte.

Sie versuchte, den Kopf zu heben, um zu sehen, wer die Pistole in der Hand hielt, doch er sorgte dafür, dass sie nicht höher als bis zu seiner Brust schauen konnte.

»Die hinteren Wagentüren entriegeln«, sagte er mit einer verschleimten Raucherstimme.

Sie tat wie geheißen. Ihr Körper war angespannt und ihre Muskeln verkrampft, obwohl sie sich nach Kräften bemühte, locker zu bleiben. Sie befand sich in keinem Einsatz und in keiner Kampfzone. In Gedanken war sie halb bei ihrer Nichte, ihrem Neffen und Ben gewesen und halb noch mit Lyudmila auf dem sonnigen Strand der Küste von Sumatra. Sie verfluchte sich dafür, dass sie nicht wachsamer gewesen war.

»Hände ans Lenkrad«, befahl er. »Bei zehn Uhr und bei zwei Uhr.« Er setzte sich unmittelbar hinter ihr auf die Rückbank, ohne sich die Mühe des Anschnallens zu machen. Das unterließen die Leute auf der Rückbank eines Fahrzeugs oft, und gerade er würde sich nicht in seiner Bewegungsfreiheit einschränken wollen.

Ein Blick in den Rückspiegel erwies sich als fruchtlos; er hatte sich eine wollene Skimaske über den Kopf gezogen. Von seinem Gesicht sah sie nur seine Augen und seinen Mund, die beide nichts preisgaben.

»Fahr los«, kam die Anweisung von der Rückbank.

»Und dann?«

»Das wirst du bald genug erfahren.« Ein hartes Lachen. »Eins nach dem anderen.«

Ihre Gedanken waren in Aufruhr, als rasten sie in einem Looping im Kreis. Wie hatte sein Kommen ihr entgehen können? Sie meinte doch, den Parkplatz in alle Himmelsrichtungen überprüft zu haben. Ihre Erschöpfung, der Jetlag, Bens schockierende Nachricht, das alles hatte zu ihrem Fehler beigetragen. Aber er hätte trotzdem nicht passieren sollen.

»Jetzt sofort!«

Sie spürte die Mündung der Sig kalt wie einen Eiszapfen im Nacken. »Oder sonst? Bringst du mich um?« Sie zwang sich zu einem Lachen, es klang metallisch. »Wenn das deine Absicht wäre, hätte ich bereits eine Kugel im Hinterkopf.«

»Und wie ist das?« Mit einem Knurren versetzte er ihr einen Schlag mit dem Pistolengriff, seitlich am Kopf direkt hinterm Ohr.

Ihr Oberkörper kippte zur Seite, und sie unterdrückte einen Aufschrei, vom Schmerz wie von einem elektrischen Schlag getroffen.

»Das gefällt dir wohl, was?«

Sie versuchte, etwas zu sagen, doch zwischen ihren Lippen drang nur ein Keuchen hervor.

»Na dann. Fahr jetzt.«

Sie legte den Gang ein und setzte aus der Parklücke. Plötzlich begann es zu regnen, die Tropfen machten die Straße rutschig und erschwerten die Sicht durch die Windschutzscheibe. Sie schaltete die Scheibenwischer ein und musste sie auf schnell stellen.

»Okay«, knurrte ihr Entführer. »Nimm die östliche Ausfahrt.«

Als sie den Parkplatz verließ, fädelte Bens Wagen sich vor ihr ein. Ihrem Entführer fiel es gar nicht auf; er war vollständig da­rauf konzentriert, seinen Auftrag auszuführen und sie zu bewachen. Er befahl ihr, nach links abzubiegen. Der Regen erschwerte die Orientierung im Verkehr, da das Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Fahrzeuge die nasse Windschutzscheibe überschwemmte. Die Straße führte geradeaus, so weit ihr Blick reichte, was überhaupt nicht weit war. Der Regen donnerte aufs Fahrzeugdach.

In diesem Moment hörte sie das Klingeln ihres Handys. Ben!

»Denk nicht einmal daran.« Die Pistolenmündung grub sich schmerzhaft in ihren Nacken. Sie zuckte zusammen und ärgerte sich sofort, erneut, dass sie sich vom Schmerz hatte beeindrucken lassen. Gleichzeitig wusste sie, dass sie aufhören musste, sich Vorwürfe zu machen, doch ihre Geistesverfassung war ungewöhnlich, ihre Gedanken überstürzten sich förmlich. Ich muss klar denken, sagte sie sich. Schnell und strategisch denken, sonst endet das hier für mich mit Tränen.

Gerade noch hatte er sie im Rückspiegel gesehen, doch jetzt war sie verschwunden. Was zum Teufel, dachte Ben. Er gab ihre Nummer in sein Handy ein, doch als sie nicht reagierte, drehte er in einer gefährlich schnellen Wende auf der Straße um. Bremsen quietschten, Hupen kreischten, und im Verkehr stießen Fahrer Flüche aus, die von den Autofenstern verschluckt wurden. All das ignorierend kehrte Ben zu der Kreuzung zurück, an der er sie verloren hatte. Er schaute nach links, dann nach rechts, erkannte den Charger sofort an seiner kaputten Schlussleuchte und trat aufs Gas. Beim schnellen Abbiegen geriet er auf der nassen Straße ins Schlingern. Er riss am Steuer, bekam den Wagen wieder unter Kontrolle und schoss los.

Autos kamen ihr entgegen, doch weder Fahrer noch Beifahrer hatten eine Ahnung von der tödlichen Gefahr, in der sie schwebte.

»Was willst du von mir?«, fragte sie. Das Beste – das Einzige –, was sie jetzt noch tun konnte, war, ihn zum Reden zu bringen. Vielleicht würde er versehentlich etwas Wichtiges preisgeben.

»Fahr einfach.«

»Wo fahren wir hin?«

»Dorthin, wo du hinmusst«, antwortete er mit einem glucksenden Lachen. »Und nach allem, was ich gehört habe, wirst du dir wünschen, ich hätte dich immer weiterfahren lassen.«

Das war so etwas wie ein winziger Lichtblick. »Das könntest du, weißt du.«

»Was?«

»Mich weiterfahren lassen«, antwortete sie. »Wir könnten …«

»Ach was. Wir könnten nirgends hin, wo sie uns nicht finden würden.«

Sie. Sie hatte also recht. Es gab ein »sie«.

»Wer sind diese Leute, die mich so dringend sehen wollen?«

»Weiß ich nicht, mir egal.«

Er dirigierte sie in nördliche Richtung.

»Eines ist jedenfalls sicher, sie werden dich auf eine sehr unangenehme Weise töten. Auf eine schrecklich langsame und schmerzhafte Weise. Sie hassen dich.« Mit dem Lauf der Sig tippte er ihr auf die linke Schulter. »Bei dieser Gabelung nach links abbiegen. Und bei der ersten Ampel nach rechts.«

»Warum hassen sie mich? Was wissen sie über mich?«

»Alles.« Er lachte erneut. »Jede verdammte Kleinigkeit.«

Konnte das stimmen? Oder hatte man ihm das einfach nur gesagt? Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter. In dieser immer tiefer werdenden Finsternis brauchte sie noch einmal einen Lichtblick. »Was denn genau?«

Sie sah die Ampel weiter vorn, eines dieser neuen Dinger aus Stahl mit LED-Lampen.

In der verzweifelten Hoffnung, Ben könnte hinter ihr sein, zuckte ihr Blick nach links. Doch im Seitenspiegel bemerkte sie keine Scheinwerfer. Sie war allein mit einer Pistolenmündung am Hinterkopf und dem Wissen, von nichts als einem sicheren und grauenhaft schmerzhaften Tod erwartet zu werden.

Mit einem Blick in den Rückspiegel vergewisserte sie sich, wo genau ihr Entführer saß. So gut sie konnte, berechnete sie die Geschwindigkeitsvektoren, sein Gewicht und die Auswirkung der Fliehkraft. Außer sich vor Entsetzen zählte sie die Sekunden.

»Alles, was du je getan hast, von deiner Geburt bis heute früh.« Endlich beantwortete er ihre Frage.

Das Blut stockte ihr in den Adern. »Wie das?«, brachte sie mit einer sich dick und pelzig anfühlenden Zunge heraus.

Jetzt oder nie, dachte sie.

»Sie können zaubern, verdammt noch mal, so haben sie …«

Er hätte den Satz zu Ende gebracht, doch Evan trat aufs Gas und riss das Steuer, so heftig sie konnte, nach links herum. Der Charger geriet auf der regennassen Straße ins Schleudern. Sie hatte es genau richtig kalkuliert. Die rechte Rückseite des Wagens schleuderte so heftig gegen den Stahlpfosten der Ampel, dass die hintere Tür eingebeult wurde. Der Wagen ruckte, zuckte und kreischte wie ein Tier in Todesqualen. Glas und verbogene Metallteile flogen über die Rückbank. Wie Speere, Pfeile und scharfkantige Waffen bohrten sie sich in Oberschenkel, Leiste, Bauch und Brust ihres Entführers. Ein Schuss löste sich aus der Sig, als sein Zeigefinger automatisch zuckte. Die Kugel jagte durch die Luft. Ein Sprühregen von heißem Blut, ein süßlicher, kupferartiger Geruch, und dann ein heißer Schmerzstrahl.

Ganz schwach roch sie Rauch und spürte von hinten eine Hitze wie von Feuer. Sie versuchte, den Kopf zu drehen, doch Sicherheitsgurt und Airbag hatten sie zu fest im Griff und fixierten sie an Ort und Stelle. Sie versuchte es energischer, und …

Alles verschwand in einem großen, schwarzen Wirbel.

3

Moskau, Russische Föderation

Fast schon auf der anderen Seite der Welt fiel gerade Schneeregen vom Himmel. Der Eismatsch sammelte sich in Ecken, auf Treppen, Dächern und in Türeingängen, bevor er langsam dahinschmolz, bläulich im trügerischen Licht der Stunde vor dem Tagesanbruch. Der Frühling in Moskau konnte wunderbar sein, oder aber trübe und noch halb im Griff des langen Winters.

In den Privatgemächern des Kreml, wo sie sich in einem bodentiefen Spiegel betrachtete, herrschte eine Bruthitze. Der Souverän wollte es so. Sie musterte ihr Gesicht und vergewisserte sich, dass sie weder zu wenig noch zu viel Make-up aufgetragen hatte. Kein Lidschatten, aber deutlich Mascara. Ihre grünen Augen schauten sie unerbittlich und undurchdringlich an.

Das Haar hatte sie sich bei ihrer Ausschleusung blond gefärbt. Da die Farbe ihr gefallen hatte, hatte sie sie beibehalten und trug eine kinnlange Bobfrisur. Ein betulicher Haarknoten kam für sie nicht infrage.

Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, wer sie eigentlich war und wann genau sie die eine Welt verlassen hatte und in die andere eingetreten war. Vielleicht hatte sie sich aber auch schon immer in dieser zweiten Welt aufgehalten, denn dreieinhalb Jahre in Moskau hatten sie nicht verändert. Ihr war mehr als einmal der Gedanke gekommen, dass sie mit Moskau im Blut geboren war. Tief in ihr vergraben hatte ein Samenkorn darauf gewartet, dass Russlands wässrige Sonne es herauslockte. Und nun würde gleich der Moment kommen, in dem sie leuchten und selbst eine Sonne werden würde, die unter dem vergoldeten Deckengewölbe von Russlands Palast der Macht hell loderte. Sie hatte weniger als eine halbe Stunde gebraucht, um sich in der barocken Maßlosigkeit dieser Innenräume wohlzufühlen, die einen so krassen Gegensatz zu den nüchternen Straßenzügen jenseits des Platzes bildeten.

»Sie sehen großartig aus!«

Ihr Blick wanderte von ihrem Spiegelbild zu dem von Dima Nikolaevich Tokmakov, einem Mann mit riesigem Ego. Er war zwar schon in den mittleren Jahren, doch noch immer so schlank wie in seiner Jugend. Er sah gut aus und wusste es. Sein Vollbart und sein Haarschopf waren so dicht wie eine Heckenlandschaft und von silbernen Strähnen durchzogen.

Lächelnd wandte sie sich ihm zu und wirbelte dabei herum wie ein Model auf dem Laufsteg.

»Ich bin stolz auf Sie«, sagte Dima. »Sie sind genauso gut geworden, wie Leda es versprochen hat.«

»Und besser«, erwiderte sie ein wenig prahlerisch.

Dima ergriff lachend ihre Hand. »Das werden wir sehen, moya malen’kaya osa.« Meine kleine Wespe, der Name, den nur er für sie verwendete. Keiner nannte sie bei dem Namen, den ihre Eltern ihr gegeben hatten. In der Außenwelt war sie unter verschiedenen Decknamen bekannt, die die Abteilung für Tarnung für sie erfand. Innerhalb der Abteilungen nannte man sie nur bei ihrem Einsatznamen. Doch Dima nannte sie so, wie es ihm gerade passte, je nach Stimmung.

»Mein Stich hat nichts Niedliches«, sagte sie. Und dann ganz ernst: »Ich werde Sie nicht enttäuschen, Dima. Was immer Sie von mir verlangen, wird erledigt.«

Seine dunklen Augen glommen wie schwarze Opale. »Alles?«

Sie nickte mit derselben Miene wie er. Sie war Furcht einflößend, wenn sie diese Art von Maske aufsetzte. »Alles und jedes.«

Seine Augen wurden schmal. »Leda hat mich gewarnt. Sie glaubte, dass Sie einen Todeswunsch haben.«

»Und doch«, entgegnete sie, »ist jetzt Leda tot und nicht ich.«

Dima stieß die Luft aus. »Sie haben sie auf äußerst einfallsreiche Weise beseitigt.«

»Ihr Tod wurde als ›Unfall‹ behandelt.«

»Na ja, dafür haben Sie gesorgt«, erwiderte Dima mit einem Schmunzeln. »Ihr beide seid klettern gegangen. Mit dem Fußknöchel verfing sie sich in einem Seil, sie stolperte und fiel von der Felswand.« Sollte er erwartet haben, dass sie ihn erkennen ließ, was sie dabei empfand, wurde er enttäuscht. Er stieß einen Seufzer aus; der stand ihm nicht gut zu Gesicht. »Leda war eine meiner fähigsten Agentinnen. Sie wird mir fehlen.«

»Ach, Scheiße, Dima. Wer hat mir denn den Befehl erteilt, sie mit einem gezielten Schlag auszuschalten?«

»Es hieß Sie oder Leda. Ich fand das Ergebnis erhellend und auch erbaulich.«

Sie schwieg kurz und starrte ihn an. »Sie haben gegen mich gewettet. Wie viel haben Sie verloren?«

»Das ist absurd«, schalt er sie.

Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Hoffentlich war es eine Menge, Dima.« Ihr Blick ließ den seinen nicht los. »Ich hoffe, es war wirklich erbaulich.«

Er gab sich mit einem Lachen geschlagen, doch es war ein unbehagliches Lachen, in dem etwas Unheilvolles mitschwang, das nur sie erkennen konnte. Sie wusste, dass sie ihn nicht zu sehr bedrängen durfte. Sie hätte beinahe seine rote Linie überschritten. Das wäre schlecht für sie, gerade in Anbetracht ihrer ehrgeizigen Ziele hier im Herzen von Mütterchen Russland.

Sie wollte sich rundheraus entschuldigen, beschloss dann aber, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen.

Die Tür zum Vorzimmer schwang auf, und einer von Dimas Untergebenen tauchte auf. »Es ist Zeit, Genosse Direktor.« Tokmakov war der Chef von Zaslon, das im SVR – dem russischen Auslandsgeheimdienst – tief im Inneren der Abteilung für Einsätze beheimatet war. Offiziell gab es Zaslon gar nicht, weder in Russland noch außerhalb. Selbst in den wenigen existierenden Dokumenten lief es unter dem Namen Abteilung 52 123. Zaslon war eine fast schon legendäre Geheimorganisation, die gefürchtetste weltweit, zumindest versuchte der Genosse Direktor das seinen Leuten einzureden. Sie hatte sich bereits an die Doppelzüngigkeit in den russischen Behörden gewöhnt. Man musste einen sechsten Sinn entwickeln, um in dem Dickicht von Übertreibungen, absichtlicher Desinformation und offenen Lügen, das im Kreml und seiner Umgebung wucherte, die Wahrheit zu wittern.

Dima, der auf seine Armbanduhr geschaut hatte, blickte auf. »Ah, richtig.« Er lächelte sie an. »Zeit für Ihren Auftritt.«