Die Kobra von Kreuzberg - Michel Decar - E-Book

Die Kobra von Kreuzberg E-Book

Michel Decar

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Beschreibung

Ein modernes Großstadtabenteuer - Ganovenstück und Lovestory zugleich Für Beverly Kaczmarek läuft es überhaupt nicht. Eigentlich ist sie nach Berlin gekommen, um im großen Stil Museen und Juweliere auszuräumen, doch so richtig wollen ihre Pläne nicht zünden. Denn während ihre Brüder Fabergé-Eier aus der St. Petersburger Eremitage entwenden und es damit in die internationale Presse schaffen, ärgert sich über ihre mittelmäßige Ausbeute. Also beschließt sie einen Coup zu landen, der an Logistik und Tollkühnheit neue Standards setzen wird, und etwas wirklich Großes zu stehlen: die Quadriga auf dem Brandenburger Tor. Michel Decar beschwört mit Verve und Tempo eine Welt, in der Diebstahl die einzige Möglichkeit geworden ist, zu bekommen, was einem zusteht. Mit stilistischer Leichtigkeit erzählt er von einer Gegenwart, in der die Grenzen zwischen Recht und Gerechtigkeit neu gezogen werden müssen. Eine Ganoven-Saga voll schräger Figuren.

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Die Kobra von Kreuzberg

Der Autor

MICHEL DECAR, geboren 1987 in Augsburg, lebt als Autor und Regisseur in Berlin. Seine Theaterstücke wurden an zahlreichen Bühnen im In- und Ausland inszeniert und mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kleist-Förderpreis. Seine Hörspiele werden von Deutschlandfunk Kultur produziert. Zuletzt lief sein Film Europa zum Beispiel im Wettbewerb des Max Ophüls Preis. 2018 erschien sein Debütroman Tausend deutsche Diskotheken.

Das Buch

Für Beverly Kaczmarek läuft es überhaupt nicht. Eigentlich ist sie nach Berlin gekommen, um im großen Stil Museen und Juweliere auszuräumen, doch so richtig wollen ihre Pläne nicht zünden. Denn während ihre Brüder Fabergé-Eier aus der St. Petersburger Eremitage entwenden und es damit in die internationale Presse schaffen, ärgert sie sich über ihre mittelmäßige Ausbeute. Also beschließt sie einen Coup zu landen, der an Logistik und Tollkühnheit neue Standards setzen würde, und etwas wirklich Großes zu stehlen: die Quadriga auf dem Brandenburger Tor.Michel Decar beschwört mit Verve und Tempo eine Welt, in der Diebstahl die einzige Möglichkeit geworden ist, zu bekommen, was einem zusteht. Mit stilistischer Leichtigkeit erzählt er von einer Gegenwart, in der die Grenzen zwischen Recht und Gerechtigkeit neu gezogen werden müssen.

Michel Decar

Die Kobra von Kreuzberg

Roman

Ullstein

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© 2021 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotive: © shutterstockAutorenfoto: © Niklas VogtE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2376-3

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

A

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Cover

Titelseite

Inhalt

A

A

Beverly Kaczmarek hatte schlechte Laune. Neben ihre Matratze hatte sie eine Nuss-Rosinenmischung gestellt. Die Nüsse hatte sie alle gegessen, mit den Rosinen hatte sie den Umriss einer Kalaschnikow aufs Parkett gelegt. An Aufstehen war gar nicht zu denken, an Frühsport sowieso nicht. Sie war vom Marmorpalais enttäuscht, sie war von sich selbst enttäuscht, ihre Enttäuschung kannte keine Grenzen. Beverly hatte weniger einen Einbruch geplant, als ein eigenes Kunstwerk. Ein Werk von Stil und Größe. Ihre Brüder Yves und Billy Kaczmarek waren eine Woche zuvor in die Petersburger Eremitage eingestiegen und hatten zwei ordinär teure Fabergé-Eier mitgehen lassen. Der Bruch, den die beiden begangen hatten, war nicht nur spektakulär und waghalsig, er zog auch eine anschließende Verfolgungsjagd (Motorboote, Explosionen) nach sich und erhielt ein überwältigendes Medien-Echo. Internationaler Beifall von Le Monde und BBC. Ihr eigener Bruch war dagegen keines Vergleichs würdig. Wie würde sie damit dastehen? Durchschnittlich, provinziell, vorhersehbar.

Beverly, die Haare zu mittleren Gebirgen getürmt, ging in die Küche, setzte Wasser auf und lief mit der Zahnbürste im Flur auf und ab, sodass die Zahnpasta auf den Boden tropfte. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und blätterte durch die Gazzetta dello Sport vom 31. Oktober. In der Vorbereitung auf den Coup hatte sie die Haushaltsführung schleifen lassen. Von ihrem Platz aus erspähte sie einen letz­ten Teebeutel im Regal. Sie konnte nicht erkennen, welche Sorte es war. Womöglich Birne, womöglich Brennnessel, möglicherweise Birne-Brennnessel. Auf jeden Fall etwas Abartiges. Von Nahrungsmitteln keine Spur. Sie würde sich anziehen müssen, auf die Straße gehen, gar mit Menschen reden. Das Letzte, was sich jemand wünschen konnte.

Im Treppenhaus fand sie zwei Briefe vor ihrer Tür. Der eine war von ihrem Vater, das sah sie an den geschwungenen Bs und Ks, der andere kam vom Amt. Sie hielt den Umschlag gegen das Licht und betrachtete ihn kritisch. Dann steckte sie beide Briefe in ihre Anoraktasche, sie hatte keine Lust, sich noch mehr zu ärgern.

Als sie Karstadt betrat, schüttelte sie das Laub von ihren Schultern und ging zur Rolltreppe. Karstadt beruhigte Beverly, Karstadt war geil. Man konnte sich Sachen ansehen, man konnte Sachen anfassen, kaum ein Verkäufer wagte es, sie mit einer Meinung zu belästigen. Beverly fuhr ins Untergeschoss und bezahlte eine Flasche Mineralwasser und Coco-Crisps mit Karte. Dann lief sie die Urbanstraße hinunter und beobachtete, wie ihr der November die Papiertüte aufweichte. Im Park vor ihrer Wohnung setzte sie sich auf eine Bank und ärgerte sich, dass sie Nichtraucherin war. Es regnete, sie saß auf einer Parkbank, sie hatte schlechte Laune. Es wäre der perfekte Moment für eine Zigarette. Stattdessen nahm Beverly einen Schluck Mineralwasser und stellte den schwachen Kohlensäuregehalt des Getränks fest. Sie riss die Coco-Crisps-Packung auf und warf sich ein paar Flocken in den Mund. Dann fielen ihr wieder die Briefe in ihrer Tasche ein. Sie öffnete den Brief ihres Vaters und las im Gehen. Warum ist Dein Handy aus?Wie lief’s im Palais? Alles klar? Floyd. Beverly zerknüllte das Papier und warf es ins Gebüsch. Dann öffnete sie den zweiten Brief. Ein gewisser Kommissar Hotfilter bat sie, so schnell wie möglich, am besten sofort, usw. usf., in sein Büro zu kommen, um einige dringende Fragen zu klären. Dringende Fragen? Das war ja ganz toll.

Wieder in der Wohnung, zog sich Beverly aus, suchte ihre restlichen Klamotten zusammen und stopfte alles in die Waschmaschine. Sie beobachtete die ersten Umdrehungen, wünschte, sie hätte sich gleich mitgewaschen, und setzte sich, nackt, wie sie war, zum zweiten Frühstück an den Küchentisch. Sie hatte grüne Augen, wenige Sommersprossen und ungewöhnlich braune Haare. Ein solches Braun, wie es sonst nur Braunbären auf dem Kopf tragen. Im Gibraltar Chronicle war sie einmal als terrifying beschrieben worden, ein Cop in Mexicali hatte sie als maliciosa bezeichnet und ein österreichischer Staatsanwalt ganz bezaubernd genannt, wofür ihn Beverly umgehend anmotzte:

– Ganz bezaubernd? Habe ich vielleicht Ähnlichkeiten mit den Niagarafällen? Sehe ich etwa aus wie ein venezianischer Sonnenuntergang? Ich glaube kaum, ich glaube kaum!

Ansonsten trug Beverly am liebsten Grau. Ihre Pullover, Sweatshirts und Hosen: schlichtes Grau. Sie besaß einen hellgrauen Jumpsuit. Eine dunkelgraue Mütze. Zwei ihrer Unterhosen waren anthrazit und ein Paar ihrer Socken bestimmt mal schwarz gewesen, doch aufgrund des jahrelangen Waschens jetzt völlig grau. Selbst wenn sie nackt war, wie an diesem Novembernachmittag, an dem kleinen Tisch in der Küche, schien sich ihre Hautfarbe einem leichten Grauton anzunähern, als würde sie sich wünschen, mit den Mauern zu verschmelzen, im trüben Himmel zu verschwinden und wie ein Gespenst unter den Menschen zu sein.

Als die Waschmaschine durchgelaufen war, holte sie ihren delfinfarbenen Adidas-Trainingsanzug heraus und föhnte ihn trocken. Dann machte sie sich auf den Weg zum Kommissariat. Der Raum, den Beverly um 17 Uhr betrat, war klein, aber stilvoll eingerichtet. Aserbaidschanische Mahagonischränke, Zimmerpalmen, Bauhaus-Aschenbecher. Nur die Filterkaffeemaschine und die obligatorische Pinnwand erinnerten Beverly an die Beschaffenheit eines Dienstzimmers. Vielleicht ein Zitat, dachte sie, womöglich Ironie oder sogar eine Hommage. Aber an was? Eine dunkle Stimme mit ungarischem Akzent holte sie aus ihren Gedanken.

– Kaczmarek?

– Ja.

– Beverly Kaczmarek?

– Vollkommen richtig.

Ferenc Hotfilter umrundete den Schreibtisch. Er holte einige Unterlagen aus der Schublade, studierte sie kurz, notierte sich etwas und blickte unvermittelt auf:

– Könnte es unter Umständen sein, dass Sie vorgestern ins Potsdamer Marmorpalais eingestiegen sind und zwei Wedgwood-Vasen geklaut haben, wobei eine beim Aus-dem-Fenster-Klettern kaputtgegangen ist?

Beverly dachte kurz nach. Dann sagte sie:

– Nein.

Der Kommissar zögerte einen Augenblick und blätterte noch mal durch seine Unterlagen, als hätte er ein entscheidendes Detail übersehen. Dann schaute er Beverly an:

– Danke. Das wär’s dann auch schon.

– Das wär’s dann auch schon?

– Ich habe alles erfahren, was ich wissen wollte. Sagen Sie mir nur, wie ich Sie am besten erreichen kann.

– Sie können mich mal auf den Galapagosinseln erreichen.

Beverly knallte die Tür zu und lief zurück zum Fahrstuhl. Dieser Kommissar versaute ihr die Wochenendplanung. Auch die nächste Woche war im Eimer, die übernächste ebenso. Eigentlich konnte sie den ganzen Monat abhaken, das Jahr war gelaufen.

Als sie wieder zu Hause war und das Handy anschaltete, kam eine SMS von ihren Brüdern rein:

– Hey Bev, was geht? Haben gehört, dass du’s wieder voll vermasselt hast. Mach mal ’ne Ausbildung bei der Sparkasse, ist besser für dich.

Küsschen aus dem Excelsior, Y+B.

PS: Hast du zufällig unseren Interskol-Schlagbohrer? Wir finden den nirgends.

B

Am nächsten Morgen stand Beverly früh auf und begann, ihre Sachen zu packen. In ihr wütete ein kristallener Aktionismus. Die Hälfte ihrer Klamotten warf sie in den Reisekoffer, die andere Hälfte aus dem Fenster. Hinterher flogen ihre Pfannen und Töpfe, Porzellantassen, die sie mal in Nowa Sól geklaut hatte, der Zeitungsständer aus dem Badezimmer, die bulgarische Stehlampe mit den Flauschekordeln, nichts sollte dem Feind überlassen werden. Dann überlegte sie kurz und warf auch ihre georgische Science-Fiction-Sammlung hinterher, dazu noch ihre Holzkatzen, überlegte es sich anders, lief runter in den Innenhof und holte die Holzkatzen wieder hoch, warf stattdessen den Stabmixer aus dem Fenster, dann noch die Pappkiste, die sie für ihre Schmutzwäsche benutzt hatte, die Pappkiste, die sie für das Ablegen von Büchern und Krimskrams benutzt hatte, noch eine andere Pappkiste, die sie als Nachttisch benutzt hatte, und den Internetrouter, aber der hatte eh selten funktioniert. Nachdem sie ihren Koffer in einem Schließfach am Ostbahnhof deponiert hatte, beschloss Beverly, spazieren zu gehen. Vielleicht noch mal bei João klingeln, vielleicht noch mal bei Stani, vielleicht bei Mike, wer weiß.

Sie hatte Lust, jemanden zur Rede zu stellen, einfach irgendwen wegen irgendwas zur Rede zu stellen, jemandem eine Ohrfeige zu verpassen oder Hannover mit Mittelstreckenraketen zu attackieren. Stattdessen kickte sie nur Steinchen durch die Gegend und kaufte sich eine Flasche Rotwein am Kiosk, die sie im Gehen austrank. Ihr Entschluss, für immer aus der Stadt zu verschwinden, stand fest, sie wusste nur noch nicht, wohin sie wollte. Warschau war ihr zu ungemütlich, Prag zu albern und in Los Angeles schmeckte das Leitungswasser nicht. Als sie die Ringbahn erreicht hatte und noch zu keiner Entscheidung gekommen war, kehrte sie um und lief Richtung Westen.

Mittelmäßigkeit, dachte Beverly. Wohin man schaut Mittelmäßigkeit. Und darauf sind sie auch noch stolz, das nennen sie hier Lebensart. Sie hatte sich an der Tankstelle eine zweite Flasche Rotwein gekauft, von der sie je nach Ampelphase kleine, große oder mittlere Schlücke nahm und überlegte, ob sie noch ein letztes Mal bei João oder Stani vorbeischauen sollte, bis ihr einfiel, dass ja auch João und Stani mittelmäßig wie Zucchini waren. Und während sie weiter am Merlot nippte, überlegte sie, ob sie noch eine Ciao-das-war’s-ihr-Nullen-SMS rausfeuern sollte, oder ob die beiden selbst das nicht verdient hatten.

Inzwischen war es dunkel geworden, und Beverly lief noch immer durch die Straßen. Taxen und Busse brausten in die Nacht, Tauben und anderes Geflügel flatterten dicht über den Denk-, Mahn- und Muttermälern der Hauptstadt. Die Tauben und Mütter mahnten zum Frieden.

– Seid lieb zueinander!, gurrten sie vom Himmel und aus den Fenstern. Es half alles nichts. Während Beverly an hell erleuchteten Schaufenstern vorbei­schlenderte, tobte die Stadt um sie herum. Sport- und Kinderwagen italienischer Fabrikation rasten über die Gehwege. Sven, 11 Jahre, schürfte sich beim Basketball das Knie auf. Waffenfabrikant Flottwell, 61 Jahre, verschickte Sturmgewehre nach Somalia. Scheinwerfer kreisten zwischen den Hochhäusern am Bahnhof Zoo, Rotorblätter schnitten durch die Luft. Polizeisirenen im Nebel, schrille Schreie im Regen, eine Verhaftungswelle überzog das Tiergartenviertel, korrupte Polizisten ermittelten im Nirgendwo.

Beverly lief die Friedrichstraße hinab, links und rechts leuchteten sahneweiße Neonreklamen, oben und unten waren Beton und Betonhimmel. Sie grübelte nach: Was nun, was tun? Noch mal von vorne anfangen? Den ganzen Kunstraub an den Nagel hängen? Warum hatte sie nichts Anständiges gelernt, etwa Sonnenstudiomanagement oder Inkasso? Das wäre eine solide Sache gewesen. Genau wie Abzockereien im Internet oder eine Karriere beim Zoll an der weißrussischen Grenze, da lag das Geld auf der Straße.

In diesem Moment vibrierte ihr Handy, SMS von Yves und Billy:

– He Dummkopf, warum antwortest du nicht? Schick mal deine IBAN, dann überweisen wir dir Kohle für Grundnahrungsmittel und Leggins vom Discounter. Y+B.

Während Beverly noch darüber nachdachte, das Handy gegen die nächste Hauswand zu schmettern, schlich sich jemand an sie heran und versuchte, ihr den Geldbeutel aus der Tasche zu ziehen. Der Dieb stellte sich jedoch so amateurhaft an, dass es Beverly fast leidtat und sie ihm das Geld gerne freiwillig gegeben hätte. Stattdessen trat sie ihm gegen das Schienbein und schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf.

– Hau ab!, rief sie ihm hinterher. Anfänger!

Wo waren die wahren Verbrecher geblieben, die kriminellen Giganten, die Großhirne des Eigentumdelikts? Das alles war Vergangenheit. Es sei denn –

Auf einmal bekam Beverly wieder Aufwind. Ihre Gedanken rasten, ihre Schritte federten über die Kreuzung, sie spürte den Anflug einer außerordentlichen Idee. So einfach würde ihr diese Stadt nicht davonkommen! Vor ihr leuchtete das Brandenburger Tor in der Nacht. Etwas blitzte in Beverlys Augen, etwas zuckte in ihren Händen, wie gebannt starrte sie nach oben. Da stand er, der Pferdewagen auf dem Brandenburger Tor. Den wollte sie haben, den würde sie sich holen und den würde sie nie wieder rausrücken. Das wäre ein Diebstahl, für den es sich zu leben lohnte.

Das Polizeipräsidium würde zu sieben Sondersitzungen zusammenkommen, die London Times acht Sonderausgaben drucken, die New York Times möglicherweise neun. Väter würden ihre Töchter wegschließen und Mütter ihre Söhne im Keller verstecken. Internationale Haftbefehle würden in alle Himmelsrichtungen verschickt, das Parlament müsste sie zur Staatsfeindin auf Lebenszeit ernennen. Ihre Brüder würden dastehen wie die letzten Idioten mit ihren Fabergé-Eiern, und Floyd würde nie wieder mitleidige Briefchen verschicken. Ja, darum ging es. Um nichts weniger. Und nichts weniger wollte Beverly Kaczmarek.

C

Der Beruf des Pferdediebs ist in der Bevölkerung wenig anerkannt. Natürlich gibt es den Ausspruch Mit dem kann man Pferde stehlen, und das ist immer nett gemeint. Aber wenn es jemand wirklich durchzieht, hört der Spaß sofort auf. Man wird auf Titelseiten und in Polizeireviere gezerrt, bekommt öffentliche Verachtung zu spüren, und wenn man beim Zahnarzt im Wartezimmer sitzt, kommt man nur mit größter Verzögerung dran. Der Pferdedieb hat es schwer. Das Risiko ist groß und der Verdienst gering. Vielleicht kann man als Junggeselle gut damit durchkommen, aber muss man erst mal eine Familie ernähren, stößt man finanziell schnell an Grenzen. Warum sollte also jemand diese Unannehmlichkeiten auf sich nehmen? Zum einen könnte es ja sein, dass die Pferde, die man stehlen möchte, gar nicht aus Fleisch und Blut sind, sondern aus Gold, Silber oder wenigstens Bronze. Zum anderen wäre es auch möglich, dass man völlig übergeschnappt ist. Und in diesem Fall hieß die Übergeschnappte Beverly Kaczmarek, geboren am 30.12.1999 im Universitätsklinikum von Opole.

Ihre Kindheit und Jugend verbrachte Beverly in einem Dorf namens Thule, das bei Laskowitz lag, das in der Nähe von Budkowitz lag, das wiederum bei Opole lag, und saß da die ersten 18 Jahre ihres Lebens ab wie eine zu Mord-und-Papstbeleidigung-Verurteilte. Ihre Mutter war früh mit einem ukrainischen Geschäftsmann durchgebrannt, ihr Vater war selten da und ihre Onkel saßen abwechselnd im Gefängnis von Lubliniec.

Der einzig okaye Typ war ihr Großvater Sylvester Kaczmarek, legendärer Panzerschrankknacker und Oberhaupt des polnischen Kaczmarek-Clans, der inzwischen wild über die Welt verstreut lebte. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte sich die Verwandtschaft in alle Himmelsrichtungen verteilt: Es gab Tanten und Onkel auf Kap Verde und Kuba. Neffen und Nichten in Uruguay und Israel. Cousins und Cousinen in Antwerpen, Taschkent und Beirut. Doch wenn man aus dem Fenster schaute, unter dem Beverlys Bett stand, sah man nur das verdammte Thule.

Als Beverly ihren Großvater das erste Mal sah, sprang er aus einem wassermelonengrünen Peugeot 504, mit dem er zuvor hupend um die Kirche gedriftet war. Eine gigantische Sonnenbrille verbarg die Hälfte seines Gesichtes und eine viel zu große, dutzendfach geflickte Adidas-Trainingsjacke hing von seinen Schultern. Mit schnurrender Stimme wünschte er ihr einen herrlichen Abend, reichte seine Visitenkarte und stellte sich als Fürst von Rio vor. Er selbst, sagte Sylvester Kaczmarek, sei nicht nur ihr Großvater, sondern auch zur Hälfte Kasache und zu einem Drittel Kolumbianer.

– Zu einem Drittel?, fragte Beverly, wie soll denn das gehen?

– Du bist viel zu jung, um das zu verstehen. Also frag nicht!

Beverly schaute böse und spuckte vor seine Füße.

– Wo warst du die letzten 12 Jahre?

– Hatte zu tun. Muss auch gleich wieder weg.

Beverly nickte und sie gingen ein Stück.

– Hat dein Vater mal was von mir erzählt?

– Nein. Der mag dich nicht.

Sylvester fragte seine Enkeltochter noch nach ihren Sportnoten, erkundigte sich, ob sie wüsste, wie man einen simplen Telefonbetrug durchzieht, und steckte ihr einen 5000-Rubel-Schein zu. Er versprach, in ein paar Wochen wieder vorbeizuschauen, und sollte dann noch eine Kopeke übrig sein, wäre er verdammt enttäuscht.

– Und? Wie läuft’s sonst mit der Familie?

– Weiß nicht. Alle nerven.

Sylvester nickte wissend, zog ein Päckchen Papierosy aus der Jackentasche und bot seiner Enkelin eine an.

– Heute nicht, lehnte Beverly ab.

– Nichtraucherin?

– Klar, ich bin erst zwölf Jahre alt.

– Na und? Deine Urgroßmutter hat mir Lungenzüge beigebracht, als ich vier war.

Abgesehen davon, dass ihre komplette Verwandtschaft aus Kriminellen bestand, erlebte Beverly eine ganz normale Kindheit. Sie verknotete die Schnürsenkel fremder Menschen unter dem Tisch und spielte 1–2-3-Ich-knall-dich-ab auf dem Sportplatz. Manchmal trat sie gegen Bälle, manchmal trat sie neben Bälle. Hin und wieder fuhr sie nach Opole, um irgendeinen Krimskrams zu klauen oder den Menschen am Hauptbahnhof zuzusehen, wie sie ihre Züge verpassten. Die Jahre vergingen, und Beverlys Hobbys blieben konstant unsolide. Sie brach Kaugummiautomaten auf und Mercedes-Sterne ab. Sie sah der Fußballmannschaft von Kluczbork heimlich beim Duschen zu. Sie träumte davon, eine große Reise nach Moskau oder Mexiko zu unternehmen.

Und je älter sie wurde, desto dicker wurden die Dinger, die sie drehte. Ihr Vater Floyd Kaczmarek war stolz auf sie. Ihren ersten richtigen Diebstahl hatte sie mit fünf Jahren im Baumarkt begangen. Ihren zweiten mit sieben, da war es die Brieftasche des Bademeisters. Mit acht brach sie das erste Mal in das Haus der Nachbarn ein, als die gerade im Urlaub waren. Sie entwendete Handtaschen, Autoschlüssel oder die Kreditkarte des Schuldirektors. Mit 14 knackte sie drei Bankautomaten und räumte den Tresor von Osowskis Juwelierladen aus. Und jeden Dienstag und Donnerstag trainierte Beverly Kung-Fu in der Mehrzweckhalle, weil sie es cool fand, dass Kung-Fu wörtlich übersetzt »Hart erarbeitete Fertigkeit« heißt, aber auch weil sie jeden vermöbeln wollte, der ihr an der Bushaltestelle blöd kam.

Auch mit ihren Brüdern gab es häufig Streit. Yves war zwei Jahre älter und Billy drei, trotzdem verpasste sie beiden regelmäßig Kinnhaken, und das musste sie auch, weil Floyd selten einschritt und Yves und Billy so gut wie alles durchgehen ließ: dass sie Beverlys Videokassetten, auf denen sie alle Folgen Turbo Baloo aufgenommen hatte, mit Softpornos aus dem Spätprogramm überspielten. Dass sie ihre South Island Giant Moa-Spielfiguren im Klo runterspülten. Dass sie sich mit ihrer Zahnbürste unter den Achseln schrubbten und trotz eindeutiger Beweise alles abstritten. Dass sie abstruse Evolutionstheorien am Frühstückstisch hinausposaunten. Dass sie ihr ständig den Arm umdrehten. Dass sie sie ein Jahr lang nur »Dicke Maus« nannten. Dass sie Beverly ständig in die Hecke schmissen. Dass sie das Marihuana aus der Blechdose unter ihrem Bett wegrauchten. Dass sie ihr einmal die Goldhamster der Nachbarskinder ins Bett schmissen, während Beverly gerade einen höllischen Johannisbeerwodkakater auspennte. Dass sie ihr zu ihrem 16. und 17. Geburtstag nichts außer zwei Ohrfeigen schenkten.