Kapitulation - Michel Decar - E-Book

Kapitulation E-Book

Michel Decar

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Beschreibung

Seit Jahren ist László Carassin erfolglos. Noch nie hat er mit seinen Gedichten Geld verdient, doch dann wird er mit dem Sparkassen-Kunstpreis ausgezeichnet. Als die Preisverleihung im Wolfsburger Ritz-Carlton zur Farce gerät, beschließt László, noch am selben Abend sein altes Leben an den Nagel zu hängen und mit den 7.500 Euro Preisgeld in großem Stil neu anzufangen. Was folgt, ist eine nicht enden wollende Reise, eine Suche nach Identitäten und Lebensentwürfen, die nur eines gemeinsam haben: ihr verlässliches Scheitern. László versucht sich als Kapitalist an der bulgarischen Riviera, als Frührentner am Balaton, als Großkünstler in Nikosia und als bedingungslos Liebender in Odessa. Schließlich ist das Preisgeld aufgebraucht, alle Pläne liegen in Schutt und Asche. Mit László Carassin schenkt Michel Decar uns eine der mitreißendsten literarischen Figuren seit Holden Caulfield. Endlich leidet, liebt, lungert und lustwandelt wieder jemand bis zum bittersüßen Ende – und mit einem unbedingten Glauben ans Leben. »Gut, Amalfi ist das hier nicht, sagte Onkel Bernát, vielleicht auch nicht Antibes. Und wenn schon! Wer braucht schon Antibes? Schmeckt das Leitungswasser da vielleicht besser? Strahlen die Sterne in Antibes heller? Wohl kaum!«

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MICHEL DECAR

Kapitulation

MÄRZ

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

1.

Es ging darum, dass ich keine Lust mehr hatte, Schriftsteller zu sein. Ich hatte keine Lust mehr, in Berlin zu leben. Das war mir hier zu laut oder zu leise, zu weit oder zu eng, das war nichts mehr für mich.

Ich wollte mein altes Leben ausziehen, so wie man einen Wollpullover auszieht. Ich wollte raus aus dem Alten und rein in das Neue – diesmal wirklich – und lief am Morgen des 2. September 2017 die Lilienthalstraße hoch zum Südstern und von dort weiter zur Urbanstraße. Über meiner Schulter hing meine Sporttasche, und in dieser Sporttasche befanden sich zwei Hemden, mein fliederfarbenes Leinenhemd und mein Estensi-Hemd, Shorts und Socken, mein Florida-Gators-T-Shirt, meine italienische Reisezahnbürste und ein Umschlag mit 7.500 Euro in Bar. Bücher hatte ich keine dabei. Sie hatten mich nie glücklich gemacht.

Es war viertel nach fünf, als ich die Haltestelle erreichte, und zwanzig vor sechs, als der Bus am Hauptbahnhof ankam. Ich hatte Diamantis nicht Bescheid gesagt, dass ich fahre, so wie ich niemandem Bescheid gesagt hatte. Ich hatte meinen Schlüssel auf den Tisch gelegt und die Tür leise ins Schloss schnappen lassen. Alles Weitere würde ich erklären, sobald ich unterwegs war, dachte ich.

Der Eurocity lief pünktlich ein, und nachdem ich einmal durch den leeren Zug gegangen war, setzte ich mich in ein Abteil im letzten Wagen, streckte mich aus und beobachtete, wie der Zug langsam aus Berlin herausrollte, vorbei am Südkreuz und den südlichen Vororten, einer schrecklicher als der andere, bis die Stadt ausfranste und ins schreckliche Brandenburg überging.

Immer vergesse ich, wie schrecklich Brandenburg in Wirklichkeit ist, dachte ich, als ich aus dem Fenster schaute. Wie oft bin ich mit Mercedes Czeminski zu einem Brandenburger Waldsee oder einem Happening in einem aufgemöbelten Landgut gefahren, weil wir uns davon irgendwas erhofft haben, irgendwas Neues oder anderes oder wenigstens nicht Schreckliches, nur um dann jedes Mal festzustellen, dass es in Brandenburg noch viel schrecklicher war, und wir schon nach kürzester Zeit zurück nach Berlin fuhren, das uns dann für einige Stunden etwas weniger schrecklich vorkam.

An diese kleinen Ausflüge mit Mercedes Czeminski dachte ich in diesem Moment und beschloss dann, nicht mehr an Mercedes Czeminski zu denken, am besten nie wieder, so wie ich nie wieder an das schreckliche Berlin denken wollte. Mit Berlin reicht es endgültig, dachte ich, und als die Schaffnerin kam, nahm ich einen der Hundert-Euro-Scheine aus dem Umschlag in meiner Sporttasche und kaufte mir eine Fahrkarte bis nach Brno, wo ich umsteigen wollte.

Dann lief ich in den Speisewagen, um mir ein Stück Honigtorte und ein Fläschchen Bohemia-Sekt zu kaufen, um mit mir selbst darauf anzustoßen, meinem alten Leben entkommen zu sein.

Nie wieder fährst du nach Berlin zurück, schwor ich mir, während ich mit dem Tortenstück und dem Sektfläschchen durch den schmalen Gang des Eurocitys balancierte, wie plötzlich befreit von einer gigantischen Last.

Im Abteil rollte ich mich wie eine Straßenkatze auf der Sitzbank zusammen, die Sporttasche als Kissen drapiert. Und während ich, kleine Schlücke trinkend, langsam eindöste, spürte ich unter meinem Kopf den Umschlag mit den 75 Hundert-Euro-Scheinen, die jetzt nur noch 74 Hundert-Euro-Scheine waren, weil einer davon für die Fahrtkarte und den Bohemia-Sekt aus dem Speisewagen draufgegangen war.

2.

Jahrelang hatte ich Gedichte geschrieben, die niemanden interessiert haben. Jahrelang hatte ich geschrieben und geschrieben, ohne einen Cent mit meinen Gedichten zu verdienen, und jetzt plötzlich – wie aus dem Nichts – hatte ich 7.500 Euro dafür erhalten, gestiftet von der Sparkasse Celle-Gifhorn-Wolfsburg.

Eine Frau von der Sparkassen-Stiftung hatte mich angerufen und mir mitgeteilt, dass ich zusammen mit anderen Talenten ausgewählt worden sei, den Sparkassen-Kunstpreis zu erhalten. Zusammen mit anderen hoffnungsvollen Talenten, wie sie sagte.

Jahrelang hatte ich meine Gedichte in Underground-Magazinen und im Internet veröffentlicht, ohne damit einen einzigen Cent zu verdienen, obwohl ich mir nichts sehnlicher gewünscht hätte. Und jetzt, wo ich zum ersten Mal einen angemessen Lohn dafür erhielt, bekam ich ihn ausgerechnet von der Sparkasse Celle-Gifhorn-Wolfsburg. Was für eine Gemeinheit, dachte ich.

Ob ich mich denn nicht freuen würde?, fragte die Frau von der Sparkasse, und schob gleich hinterher, dass die diesjährige Sparkassen-Gala im Wolfsburger Ritz-Carlton-Hotel stattfinden würde, wo mir die Preissumme von 7.500 Euro überreicht werden sollte. Erst sollte ich Gedichte lesen, dann würde es ein Buffet geben, dann die Preisurkunde, so sagte es die Sparkassen-Frau am Telefon.

Warum ausgerechnet ich für diesen Preis ausgewählt worden war, sagte sie dagegen nicht, und ich konnte es mir auch nicht erklären. Ich nahm einfach an, dass diese Stiftung ein gewisses Budget hatte, das sie ausgeben musste. Es ist ja bekannt, dass die Sparkassen wirklich alles sponsern, um PR-mäßig gut dazustehen oder um Steuern zu sparen, es war mir zu diesem Zeitpunkt auch egal. Zu diesem Zeitpunkt sah ich nur die 7.500 Euro vor mir, die ich mir sofort in Cash auszahlen lassen wollte.

Und auch als ich zwei oder drei Wochen später mit dem ICE zur Sparkassen-Gala fuhr, dachte ich nur an diese 7.500 Euro, die mir versprochen worden waren. Und gleichzeitig dachte ich daran, dass es die Stadt Wolfsburg nur wegen der Nazis gab. Nur weil die Nazis diese gigantische Fabrik in die niedersächsische Steppe gewuchtet hatten, gibt es jetzt Wolfsburg in seiner ganzen wehrmachtgrauen Schrecklichkeit, dachte ich, während ich mir im Bordbistro ein kleines Bier einschenken ließ. Nur weil die Nazis diesen Konzern jahrelang von oben bis unten mit Reichsmark tapeziert haben, gibt es jetzt diese monströse Stadt mit ihren Stiftungsbeiräten und Sparkassen-Galas.

Das dachte ich, und dann dachte ich wieder an das Geld, an die mir versprochenen 7.500 Euro, die schon bald in meiner Tasche knistern würden. Zuerst dachte ich an die Nazis, dann wieder an das Geld, dann an die Nazis, dann wieder an das Geld, bis der Zug in den Wolfsburger Bahnhof einfuhr und ich den letzten Schluck Bier hinunterstürzend zum ICE-Ausstieg lief und dem Schaffner auf dem Bahnsteig das leere Glas in die Hand drückte.

Wolfsburg, sagte ich immer wieder leise vor mich hin murmelnd, während ich vom Bahnhof zum Hotel lief, Wolfsburg, Wolfsburg, Wolfsburg.

Als ich in der Lobby des Ritz-Carlton ankam, führte man mich zu den drei anderen Preisträgerinnen, die blass und eingeschüchtert am Panoramafenster standen und mit der Wolfsburger Skyline verschmolzen. Ich weiß nicht mehr, was für Künstlerinnen das waren. Ich glaube, eine Oboistin, ein Librettistin, irgendeine Bildhauerin. Es hat mich nicht interessiert, und ich habe mich auch nicht mit ihnen unterhalten. Alles, woran ich denken konnte, waren die 7.500 Euro und ob ich vor der Lesung noch einen Drink bekommen konnte.

Ich trank zwei oder drei Wodka-7-Up an der Bar und betrat dann das Podium, auf dem schon ein Stuhl und ein Mikrofon standen. Ich hatte eine Auswahl meiner besten Gedichte vorbereitet, die ich jetzt vorlas.

Ich las Das Kristallmeer und die Einsamen Sonnen, ich las die Dinosaurier-Jahre, ich las sogar Isabelle Ofczarek, das ich sonst nie lese, weil ich dabei schrecklich emotional werde, vor allem wenn ich betrunken bin. Und deswegen wurde ich auch diesmal schrecklich emotional und hatte ein oder zwei Tränen in den Augen, während ich auf der Terrasse des Ritz-Carlton saß und las:

Am Mittwoch warst du bei mir

und wir ordneten den Monaten

Farben zu.

Am Samstag hätte ich dich gerne

gesehen. Doch du warst auf einem

Auswärtsspiel und ich tanzen

in der Diskothek.

Am Dienstagmorgen lag ich mit

Maren im Bett und dachte doch

nur an dich. Und dass ich dich mag.

Am Mittwoch warst du wieder bei mir

und wir spielten den Urknall auf

unseren Gitarren nach.

Und als ich in diesem Moment aufschaute und eine kurze Pause machte, blickte ich in die teilnahmslosen, maschinenhaften Gesichter der Sparkassen-Menschen, die in Zehnerreihen vor mir saßen und die herumschwirrenden Ritz-Carlton-Boys zu sich winkten, um den Nachschub an ihren Rosé-Schorlen nicht abreißen zu lassen.

Immer wieder blickte ich runter auf mein Manuskript und wieder hoch in die Sparkassen-Gesichter und versuchte, das Gedicht zu Ende zu lesen, doch es ging nicht mehr. Nie wieder, dachte ich in diesem Moment, werde ich in meinem Leben Gedichte vorlesen.

Dann stand ich auf und ging von der Bühne, ohne mich noch mal umzusehen, während in meinem Rücken ein langsam einsetzender verhaltener Applaus ertönte. Ich ging auf die andere Seite der Terrasse, umklammerte das Geländer, und in diesem Moment wollte ich nur noch in den Kanal springen, und ich schwöre, ich hätte es auch getan, wenn nicht eine der Sparkassen-Frauen hinter mir aufgetaucht wäre, die mir einen Blumenstrauß und einen Umschlag mit 75 giftgrünen Hundert-Euro-Scheinen in die Hand drückte.

Völlig aufgedreht, wie nach einem Zuckerschock, lief ich zurück zum Bahnhof, nur dass ich keinen Zuckerschock hatte, sondern einen Geldschock.

Und während meine Schritte immer schneller wurden, drehte ich mich ständig um, als würde ich verfolgt werden, als würden die Sparkassen-Menschen jede Sekunde hinter mir auftauchen und den Umschlag zurückfordern.

Erst als der ICE Wolfsburg verlassen hatte und ein paar Minuten gefahren war, beruhigte ich mich wieder. Ich beschloss, auf der Stelle zu packen, sobald ich wieder zu Hause war. Ich beschloss, meine Sporttasche zu packen und am nächsten Morgen, so früh wie möglich, den Eurocity zu nehmen und das schreckliche Berlin und die schreckliche Bundesrepublik zu verlassen. Und genau das tat ich auch.

3.

Ich musste dann zwei oder drei Stunden im Eurocity geschlafen haben, denn als ich aufwachte, waren wir schon hinter der tschechischen Grenze und ich in meinem Abteil nicht mehr allein.

Mir gegenüber saßen zwei Männer, beide mit Bürstenhaarschnitten und Schneidezahnlücken. Im sanft einfallenden Licht der Vormittagssonne kamen sie mir wie die Abgesandten einer neuen Welt vor.

Brüder, schoss es mir durch den Kopf, Cousins oder Brüder. Beide hielten eine Energydrinkdose der Marke Hell in der Hand, und nachdem sie mich aufmerksam gemustert und etwas gesagt hatten, was ich nicht verstand, griff der Jüngere in seinen Rucksack und reichte auch mir eine.

– Danke, sagte ich und stellte mich vor: László Carassin, Ex-Schriftsteller.

– Ex-Schriftsteller? Was soll das sein?

– Ist doch klar, sagte der Ältere. Das heißt, er hat früher mal geschrieben.

– Ja, noch gestern, sagte ich, aber damit ist es vorbei. Das ist nichts mehr für mich. Jetzt bin ich auf dem Weg zum Schwarzen Meer, um da mein eigenes Ding zu drehen.

Die beiden pfiffen anerkennend durch ihre identischen Schneidezahnlücken.

– Zum Schwarzen Meer also, sagte der Jüngere und knackte dabei mit seiner Energydrinkdose, und was willst du da?

– Da wird mir schon was einfallen, sagte ich. Vielleicht mache ich einen Minigolfplatz auf, wer weiß.

Und dann fügte ich noch an, dass die bulgarische Riviera immerhin der Ort sei, an dem man was aus sich machen könne. Wo sich’s unter Zitronenbäumen sitzen lasse und die Aussicht noch nicht verbaut sei wie im kaputt gedachten Berlin, wo die Möchtegerns das Sagen haben.

Die beiden nickten, als hätten sie genau verstanden, was ich meinte. Und dann erzählten sie mir, wie der Motoröl-Vertrieb aussehen würde, den sie in den nächsten Jahren hochziehen wollten.

Ich lehnte mich zurück und beobachtete diese funkelnden Menschen, die mit ihrer Energie um sich warfen, als wären sie kleine Sonnen. Zu hundert Prozent hatte ich das zwar nicht verstanden mit dem Motoröl-Vertrieb und den anderen Motoröl-Ideen. Aber mir war klar, dass diesen beiden die Zukunft gehörte, dass sie durch nichts aufzuhalten waren.

Und während sie mir in ihrem Gemisch aus Englisch, Deutsch und Tschechisch immer wieder von Neuem erzählten, wie ihre Zukunft aussehen werde, und ich ihnen wiederum erzählte, wie meine Zukunft aussehen werde, tranken wir weitere Energydrinkdosen und gerieten nach und nach in eine aufgepeitschte Stimmung.

Wir redeten allen möglichen Unsinn, wie man ihn nur in einer übernächtigten, am Rande des Zusammenbruchs befindlichen Verfassung reden kann. Und nachdem wir immer wieder zwischen Abteil und Speisewagen hin- und hergelaufen waren, um weitere Energydrinkdosen und Honigtortenstücke zu kaufen, und irgendwann auch durch Kolin und Pardubice gerattert waren, fanden wir uns nachmittags gegen fünf am Bahnhof von Brno wieder, wo sich meine Reisebekanntschaften von mir verabschiedeten und in ein Taxi stiegen, das sie raus zum Automotordrom bringen sollte.

Ich blieb allein vor dem Bahnhof stehen und überlegte, wie es nun weitergehen sollte und bis wohin ich heute Abend überhaupt noch fahren konnte. Ich studierte den Fahrplan und lief, die Sporttasche über der Schulter, etwas ratlos auf den Stufen vor der Bahnhofshalle hin und her, als ich auf der anderen Straßenseite auf einem Hausdach in großen Leuchtbuchstaben das Wort Grandhotel las.

Und auch wenn das n nicht leuchtete, weil es defekt war, zogen mich dieses Wort und das Gebäude, auf dem es stand, magnetisch an. Ja, dachte ich, warum übernachte ich nicht hier, anstatt die Nacht in einer ungarischen Bahnhofshalle zu verbringen, wie ich es eigentlich geplant hatte.

In einem Fünfsternehotel, wie es dieses Grandhotel offenkundig war, hatte ich noch nie übernachtet, nicht einmal in einem Viersternehotel. Ich hatte nie das Geld dazu gehabt. Doch jetzt ging ich geradewegs auf die andere Straßenseite, legte einen meiner giftgrünen Hundert-Euro-Scheine auf den Rezeptionstresen und verlangte nach einem Zimmer mit Minibar und Safe.

4.

Ich schloss die Zimmertür zweimal hinter mir ab und inspizierte den Wandschrank, in dessen unterstem Regal der Safe stand. Ich zog die Vorhänge zu und legte den Umschlag aus meiner Sporttasche hinein.

Dann fiel mir ein, dass ich Diamantis noch nicht angerufen hatte, um ihm zu sagen, dass ich nie wieder zurück nach Berlin kommen würde. Ich rief aber auch jetzt nicht an, weil es inzwischen 18 Uhr war und es mich ehrlich gesagt überraschen würde, wenn Diamantis am Samstagabend um 18 Uhr ans Handy ginge, weil Diamantis am Samstagabend um 18 Uhr für gewöhnlich in irgendwelchen Wettbüros sitzt und auf Ärger aus ist. Wahrscheinlich im 90 Minutes am Hermannplatz oder im Tipico auf der Sonnenallee, dachte ich, wo er so lange herumstänkern würde, bis sie ihn rausschmissen.

Ich holte mir ein 0,2-Heineken aus der Minibar und schrieb Diamantis, dass ich mich morgen bei ihm melden würde. Dann überlegte ich, ob ich auch Mercedes Czeminski eine Nachricht schreiben sollte, merkte aber, dass das keine gute Idee war, und steckte das Handy wieder ein.

Stattdessen tippte ich die Zahlen-Kombination in das Nummernfeld des Safes und holte aus dem Umschlag einen Hundert-Euro-Schein, den ich zusammenfaltete und in meine Jackentasche steckte. Danach schloss ich die Safetür wieder und rüttelte daran, um zu prüfen, ob sie auch wirklich zu war.

In den nächsten zwei Stunden lief ich kreuz und quer durch Brno, um herauszufinden, ob es hier irgendwas zu sehen gab. Ich lief durch die Innenstadt und dachte mir: Ja, charmant, hässlich, aber charmant. Anders als das schreckliche Berlin, das städtebaulich unter sibirischem Einfluss stand, stand Brno vielmehr unter dem Einfluss der Donaumonarchien, die hier und da in den Details der Häuserfassaden aufblitzten, hinter denen sich mittlerweile dieselben H&Ms, Subways und Rossmanns befanden wie überall anders auch.

Ich lief also etwas ziellos durch die Straßen, und weil die Septemberabende in Brno schon ziemlich kalt waren, zippte ich mir die Trainingsjacke bis oben zu und nestelte mit den Händen in den Taschen herum, in denen sich noch die von allen Seiten angeknickte Zugfahrkarte und der zusammengefaltete Hundert-Euro-Schein befanden.

Und weil ich keine Ahnung hatte, was ich sonst mit dem Abend anfangen sollte, ging ich in eines dieser Multiplex-Kinos, die es auch überall sonst gibt, und kaufte mir eine Karte für den neuen Transformers-Film, Transformers 5. Ich dachte wohl, dass der Titel ein gutes Omen sei, auf meine Situation bezogen. Denn auch ich hatte ja vor, mein Leben zu transformieren. Nur zu was, wusste ich noch nicht.

Ich kaufte mir eine Coca-Cola im 1-Liter-Becher und die größte Tüte Popcorn, die im Angebot war, und setzte mich damit in die letzte Reihe, weil ich mich immer in die letzte Reihe setze, wenn ich ins Kino gehe.

Zu Transformers 5 kann ich aber überhaupt nichts sagen, außer dass der Film komplett schrecklich war. Wäre ich der Regisseur gewesen, hätte ich jedenfalls jede Szene anders gedreht. Ich kann auch nicht sagen wie, nur eben ganz anders. Ich glaube, wenn jede Szene anders gewesen wäre, hätte das ein guter Film sein können, aber so halt nicht. Und weil ich es irgendwann nicht mehr ausgehalten habe, bin ich eine halbe Stunde vor dem Ende aus dem Kino gegangen. Ich wollte nicht sehen, wie der Film ausging. Ich wollte mir das selbst ausdenken.

Ich lief also mit meiner noch halbvollen Tüte Popcorn durch das immer dunkler werdende Brno, um mir den Film zu Ende zu denken, ohne dass mir da jemand reinreden konnte. Und während ich am Ufer der Svratka entlanglief und mir schon ein oder zwei gute Enden für Transformers 5 eingefallen waren, die alle tragisch und finster waren, wurde auch ich immer finsterer. Ich dachte mal wieder über Mercedes Czeminski nach, mit der es einfach nicht hinhauen wollte, so sehr ich mir das auch wünschte, und dann dachte ich daran, dass ich mir vorgenommen hatte, nie wieder an Mercedes Czeminski zu denken.

Kurz bevor ich nach Wolfsburg gefahren war, um mir die 7.500 Euro abzuholen, hatte ich Mercedes Czeminski noch ein letztes Mal getroffen, weil wir es beide nicht fassen konnten, dass wir unsere Lovestory gegen die Wand gefahren hatten, und weil wir uns wünschten, dass alles nur ein großes Missverständnis wäre. Aber es war eben kein Missverständnis, es war die Wirklichkeit, und diese Wirklichkeit bestand daraus, dass es nicht funktionierte und auch nie funktionieren würde.

Und während ich an diese Dinge dachte und am menschenleeren Ufer durch die Nacht schlich, wurde ich plötzlich ganz still und traurig und blieb einfach stehen und setze mich ins Gras, um von da aus weiter in die dunklen Wellen zu schauen. Und auf einmal fand ich es überhaupt keine gute Idee mehr, an die bulgarische Riviera zu fahren und einen Minigolfplatz aufzumachen. Die ganze Riviera-Idee kam mir auf einmal falsch vor.

Ich hatte ja in Wirklichkeit gar kein Interesse, ein Business aufzuziehen. Von Business hatte ich nicht die geringste Ahnung, ich hatte mir das nur in den Kopf gesetzt, um mich an den Wolfsburger Sparkassen-Menschen und an Mercedes Czeminski zu rächen.

Und auch als ich später in meinem Fünfsterne-Hotelbett lag, dachte ich noch über Mercedes Czeminski und die Sparkasse Celle-Gifhorn-Wolfsburg nach und schlief hundeelend, was auch daran lag, dass ich zwei- oder dreimal aus dem Schlaf fuhr und rüber zum Safe ging, um zu kontrollieren, ob der Umschlag noch drin lag, was er jedes Mal tat.

Als ich dann am nächsten Morgen unausgeschlafen auf dem Bahnhofsvorplatz stand, war mir jedenfalls klar, dass das mit dem Minigolfplatz an der bulgarischen Riviera eine schreckliche Idee war. Ich wusste gar nicht mehr, was ich da überhaupt wollte. 24 Stunden lang hatte ich mir diese Riviera als Sehnsuchtsort herbeifantasiert, nur um jetzt festzustellen, dass die Idee von Anfang an schrecklich gewesen war. Und während ich das dachte und auf dem Bahnhofsvorplatz eine Energydrinkdose trank, um richtig wach zu werden, fiel mir plötzlich ein, wohin ich stattdessen fahren konnte. Nicht über Bukarest nach Varna, wie ich es eigentlich geplant hatte, sondern über Győr nach Zánka. Denn in Zánka am Balaton wohnte mein Onkel Bernát, und der Balaton war immerhin so etwas wie die ungarische Riviera.

Ja, dachte ich, bei Onkel Bernát an der ungarischen Riviera werde ich mich erst mal erholen. Vom schrecklichen Berlin werde ich mich erholen und von der Sparkasse Celle-Gifhorn-Wolfsburg, aber am allermeisten von Mercedes Czeminski, bevor ich in der Lage bin, irgendwo anders hinzufahren.

5.

Insgesamt habe ich fünf Onkels, und alle fünf sind unmöglich. Schon seit Jahren führt sich einer unmöglicher auf als der andere, das wird mir jeder bestätigen. Geld zum Geburtstag hat mir von denen jedenfalls noch keiner geschickt. Meine Onkels väterlicherseits heißen Gaspard, Serge und Boris. Meine Onkels mütterlicherseits Bernát und Sascha. Tanten habe ich keine, jedenfalls keine echten, nur angeheiratete und dann wieder geschiedene, denn mit meinen Onkels hält es keiner lange aus.

Gaspard ist Filialleiter bei Foot Locker und hat eine uneheliche Tochter in Ixelles, meine Cousine Aurélie. Serge züchtet Rottweiler, das reicht ihm an väterlichen Gefühlen. Und Boris steht nur auf Boys aus dem Maghreb, wo er ständig hinfliegt und sich ausnehmen lässt. Und was Onkel Sascha den ganzen Tag treibt, weiß eigentlich keiner. Onkel Sascha saß sechs Jahre im Gefängnis und während dieser Zeit ist er religiös geworden. Nach dem Gefängnis ist er in eine evangelikale Sekte abgerutscht und hat den Kontakt mit allen abgebrochen. Und dann gibt es noch Onkel Bernát, der schon immer mein Lieblingsonkel war und den wir als Kinder immer Onkel Bernstein genannt haben.

Onkel Bernát schickte mir zwar auch nie Geld zum Geburtstag, aber dafür ausgefüllte Lottoscheine, was er für eine wahnsinnig gute Idee hielt, denn das Glück, sagte Onkel Bernát, sei auf seiner Seite. Die Wahrheit war allerdings, dass Onkel Bernát an keinem Spielautomaten vorbeigehen konnte, ohne da eine Münze reinzuwerfen, denn er hatte ein ziemliches gambling problem, und ob das Glück wirklich auf seiner Seite war, das wusste ich auch nicht so genau, denn mit den Lottoscheinen, die er mir zum Geburtstag schickte, habe ich nie etwas gewonnen.

Von meiner Mutter wusste ich aber, dass Onkel Bernát bereits ein paar Autos, ein paar Sparkonten und die Wohnung seiner Ex-Frau in München-Harlaching verspielt hatte. Und ich wusste, dass Onkel Bernát das Casino immer mit dem linken Fuß betrat, so wie es auch Tennisspieler gibt, die den Court aus Aberglauben nur mit dem linken Fuß betreten.

Mir war das alles egal, denn ich hatte Onkel Bernát richtig gern. Wenn Onkel Bernát lachte, klang er wie ein Walross. Und wenn Onkel Bernát hustete, hörte man es noch im Raum nebenan durch die Wand, denn pro Tag rauchte Onkel Bernát zwei Packungen Reval ohne Filter. Ansonsten hatte er ständig Ideen, wie er Millionär werden könnte. Aus denen wurde aber nie etwas, soweit ich weiß. Und während er sich diese Ideen ausdachte, trug Onkel Bernát seine dunkelblaue Cordhose, mit einer anderen Hose habe ich ihn jedenfalls nie gesehen.

Nur zu besonderen Anlässen zog Onkel Bernát seinen hellen Leinenanzug an, wie auch an diesem Tag, als er mich in Zánka vom Bahnhof abholte.

6.

– Wie war die Reise?, fragte Onkel Bernát, während wir über das einzige Gleis des Bahnhofs liefen.

– Schrecklich, sagte ich, ich fühle mich ausgepresst wie eine Blutorange. Ich bin am Ende, total erledigt. Vielleicht werde ich einige Tage hierbleiben, Onkel Bernát. Ich habe das Gefühl, Zánka ist jetzt genau das Richtige für mich.

– Lacika, sagte Onkel Bernát, du kannst so lange bleiben, wie du willst.

Und dabei wedelte er mit seinem Taschentuch die Mückenschwärme davon, die uns umkreisten.

Am Kiosk legten wir einen Stopp ein, und als Onkel Bernát nach seinem Portemonnaie greifen wollte, um die beiden Soproni-Flaschen zu bezahlen, sagte ich: Lass mich das machen. Und holte aus dem Umschlag in meiner Sporttasche einen 5000-Forint-Schein, den ich beim Umsteigen als Wechselgeld bekommen hatte.