Die Komplizen des Todes - Kirsten Sawatzki - E-Book
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Kirsten Sawatzki

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Beschreibung

Ein Zufallsfund bei einer Massenkarambolage: 48 Leichen werden in einem Container aufgefunden – ohne Papiere, ohne Fahrer und ohne erkennbaren Grund. Kommissarin Laura Braun und Gerichtsmedizinerin Elena Salonis stehen vor einem Rätsel: Handelt es sich um einen Unfall oder doch um ein gewaltiges Verbrechen? Die Ermittlungen ziehen die beiden Frauen immer tiefer hinein in einen Sog aus menschlichen Abgründen und grenzenloser Gier. Und zu allem Überfluss tritt auch Elenas Ex-Freund wieder in ihr Leben ... “Wer hat ein Interesse an so vielen toten Körpern? Fragen Sie lieber, wer keines hat…"

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Zum Buch:

Ein Zu­falls­fund bei ei­ner Mas­sen­ka­ram­bo­la­ge: 48 Lei­chen wer­den in ei­nem Con­tai­ner auf­ge­fun­den – oh­ne Pa­pie­re, oh­ne Fah­rer und oh­ne er­kenn­ba­ren Grund.

Kom­mis­sa­rin Lau­ra Braun und Ge­richts­me­di­zi­ne­rin Ele­na Sa­lo­nis ste­hen vor ei­nem Rät­sel: Han­delt es sich um ei­nen Un­fall oder doch um ein ge­wal­ti­ges Ver­bre­chen?

Zur Au­to­rin:

Kirsten Sawatzki

 

 

 

Die Komplizen des Todes

 

 

 

Ver­öf­fent­licht im Kirsch­buch Ver­lag,ein Im­print der Qua­li­Fic­ti­on GmbHHam­burg, März 2021Co­py­right © 2020by Qua­li­Fic­ti­on GmbH, Ham­burgUm­schlag­ge­stal­tung: Qua­li­Fic­ti­on GmbHSatz: Qua­li­Fic­ti­on GmbHISBN 9783948736101

 

Pro­log

Der Ge­stank des To­des um­gibt mich wie ei­ne zwei­te Haut. Ich öff­ne den Mund zu ei­nem stum­men Schrei und be­reue es so­fort, weil er mir den Atem nimmt. Ich über­le­ge, wie lan­ge wir schon in die­ser Dun­kel­heit ge­fan­gen sind. Aber mein Ge­hirn hat schon vor ei­ner Ewig­keit die Fä­hig­keit zu ra­ti­o­na­lem Den­ken ver­lo­ren.

Da­bei sind wir doch die Aus­er­wähl­ten!

Die Glü­ck­li­chen. Die­je­ni­gen, die es ge­schafft ha­ben.

Ich kann mich noch an die Bli­cke de­rer er­in­nern, die zu­rück­ge­las­sen wur­den. Ih­re Ent­täu­schung. Ich war ver­traut mit die­sem Ge­fühl. Wenn die Au­gen der Män­ner dich mus­tern und du ih­nen an­siehst, dass sie sich nicht für dich ent­schei­den. So vie­le Ma­le wur­den wir zu­rück in das La­ger ge­schickt, wo wir täg­lich ums Über­le­ben kämp­fen muss­ten.

Doch jetzt soll­te al­les an­ders wer­den.

Die­ses Mal war die Wahl auf uns ge­fal­len. Wir konn­ten un­ser Glück kaum fas­sen, als wir den LKW be­stei­gen durf­ten. End­lich. Wir dräng­ten uns in die hin­ters­te Ecke, zwi­schen Men­schen, die wir kaum kann­ten, aber die das glei­che Ziel hat­ten: Ein bes­se­res Le­ben.

Doch heu­te zweif­le ich an den gu­ten Ab­sich­ten der Schlep­per.

Nach der nächt­li­chen Odys­see über das Meer, in dem ei­ne Frau er­trank, war ich froh, dass die Rei­se an Land wei­ter­ging. Aber die En­ge in dem Stahl­ko­loss ist kaum zu er­tra­gen. Sie um­gibt mich wie schwar­zes Was­ser. Zu­sam­men­ge­pfercht wie Tie­re sit­zen wir in die­sem rol­len­den Kä­fig, wo die Käl­te des Me­talls mir schmerz­haft in den Rü­cken schnei­det, als woll­te sie mir al­les Le­ben aus­sau­gen.

Ich be­mer­ke ei­ne Be­we­gung ne­ben mir. Lang­sam dre­he ich den Kopf. Doch die Dun­kel­heit lässt kein Er­ken­nen zu. Muss sie auch nicht. Ich weiß, von wem das Wim­mern kommt. Es ist Naa­dir. Mein bes­ter Freund, mei­ne Fa­mi­lie. Ich ha­be die Jah­re nicht ge­zählt, aber es sind vie­le, in de­nen wir ge­mein­sam durch das stau­bi­ge Land ge­irrt wa­ren. Auf der Su­che nach ei­nem Zu­hau­se. Wir ha­ben zu­sam­men ge­stoh­len, ge­bet­telt, ge­kämpft und uns von ei­nem Flücht­lings­la­ger zum an­de­ren durch­ge­schla­gen.

Ich will ihn be­ru­hi­gen und stre­cke die Hand aus. Un­ter mei­nen Fin­gern spü­re ich das Bren­nen sei­ner feuch­ten Haut, sein Zit­tern. Ich rie­che die Fäul­nis sei­ner ei­tern­den Wun­den. Ver­let­zun­gen, die ihm nicht die so­ma­li­schen Sol­da­ten zu­ge­fügt hat­ten, son­dern die Män­ner, die uns hier ein­ge­sperrt ha­ben.

Naa­dir be­ginnt zu stöh­nen, als er von ei­nem hef­ti­gen Schüt­teln er­fasst wird. Ich zie­he ihn an mich und hal­te ihn so lan­ge, bis der Krampf ver­ebbt. Als sich sei­ne Atem­zü­ge be­ru­hi­gen, bet­te ich ihn wie­der auf den Bo­den. Lasst uns raus, fle­he ich. Aber die Wor­te fin­den nicht den Weg über mei­ne Lip­pen. Mei­ne Zun­ge fühlt sich dick und schwer an, und ich seh­ne mich nach Was­ser. Mir kommt ei­ne Idee, und ich be­gin­ne, mir den Schweiß von den Ar­men zu le­cken. Er schmeckt scheuß­lich.

In mei­nem Kopf ord­nen sich mei­ne Ge­dan­ken, und ich fas­se ei­nen Ent­schluss. Wir müs­sen hier raus. Jetzt!

Als ich mich er­he­be, ent­steht Tu­mult. Doch ich igno­rie­re ihn. Ich muss Hil­fe für mei­nen Freund fin­den. Mit der Klar­heit in mei­nem Kopf kom­men mir wie­der Zwei­fel an den gu­ten Ab­sich­ten un­se­rer Trans­por­teu­re. Mein Herz häm­mert wild ge­gen mei­ne Brust, als ich ver­su­che, das an­de­re En­de des Ku­bus zu er­rei­chen. »Setz dich wie­der hin!« ruft ei­ne Stim­me, und ei­ne an­de­re schimpft, dass ich al­le ner­vös ma­chen wür­de. Ich stol­pe­re über Glied­ma­ßen und muss auf­pas­sen, nicht hin­zu­fal­len.

»Ich will raus!«, heu­le ich.

Im nächs­ten Mo­ment pa­cken mich Hän­de und drü­cken mich zu Bo­den. Ei­ne Stim­me an mei­nem Ohr flüs­tert. »Mach kei­nen Scheiß, Jun­ge! Willst du, dass uns die Män­ner er­schie­ßen?«

Na­tür­lich will ich das nicht, trotz­dem weh­re ich mich ge­gen sei­nen Griff.

Die Brem­sen kreis­chen.

1  

Die Lau­ne von Dr. Ele­na Sa­lo­nis war schon übel ge­nug, noch be­vor sie das rechts­me­di­zi­ni­sche In­sti­tut be­tre­ten hat­te. Der Berg un­be­ar­bei­te­ter Do­ku­men­te, die fein säu­ber­lich auf ihrem Schreib­tisch ge­ord­net wor­den wa­ren, dämpf­ten ih­re Stim­mung noch mehr. Fast je­de Ak­te war ge­spickt mit ei­ner No­tiz. Des­halb war sie heu­te frü­her ge­kom­men. Ihr ers­ter Ar­beits­tag. Sie wuss­te, was drin­gend zu er­le­di­gen war, denn seit zwei Wo­chen la­gen die Be­fun­de und me­di­zi­ni­schen Un­ter­la­gen zur Durch­sicht auf ihrem Schreib­tisch. Hin­zu ka­men die Fäl­le, die sie schon vor ihrem Ur­laub nicht er­le­digt hat­te. Wäh­rend des Du­schens hat­te sie sich vor­ge­nom­men, dass sie noch vor der ers­ten Ob­duk­ti­on al­le Be­rich­te un­ter­schrei­ben wür­de. Jetzt fühl­te sie sich der Auf­ga­be kei­nes­falls ge­wach­sen.

Lust­los sank sie ge­gen den Tür­rah­men, um­klam­mer­te ihren Kaf­fee­be­cher und in­ha­lier­te förm­lich des­sen Aro­ma. Aus si­che­rer Ent­fer­nung be­äug­te sie ihren Schreib­tisch, als wür­de al­lein der Wunsch, der Bü­ro­a­r­beit zu ent­flie­hen, den Sta­pel Ak­ten in Luft auf­lö­sen. Na­tür­lich klapp­te das nicht. Sie kipp­te den Rest des Kaf­fees hin­un­ter und knall­te die Tas­se mit ei­nem un­sanf­ten Ge­räusch ne­ben den Com­pu­ter­bild­schirm.

Oh­ne den Un­ter­la­gen ei­nen wei­te­ren Blick zu schen­ken, stürm­te sie aus dem Zim­mer. Von ei­nem plötz­li­chen Ein­fall be­flü­gelt, stieß sie die Tür zur Lei­chen­hal­le auf. Die Stil­le des Rau­mes war ihr so ver­traut, dass sie ei­nen Mo­ment in­ne­hielt und die Ru­he auf sich wir­ken ließ. Küh­le Luft, ver­mischt mit dem Ge­stank nach to­tem Fleisch und Des­in­fek­ti­ons­mit­tel. Die meis­ten Men­schen hät­te jetzt si­cher das Grau­en ge­packt. Ihr war der Ge­ruch des To­des schon lan­ge nicht mehr fremd. Aber heu­te kratz­te er so ver­däch­tig in ih­rer Na­se, dass sie ei­nen Mo­ment in­ne­hielt. Die Leucht­stoff­lam­pen blin­zel­ten und zuck­ten, und schließ­lich er­hell­ten sie den Raum. Im Vor­bei­ge­hen zog sie ein Paar Ni­tril­hand­schu­he aus ei­nem Spen­der und ließ sie mit ei­nem sat­ten Schnal­zer über die Hän­de glei­ten. Bei­na­he mo­ti­viert steu­er­te Ele­na die ho­hen Kühl­schrän­ke an und zog ei­ne Schub­la­de her­aus.

Dunk­les Naht­ma­te­ri­al. Gro­be Sti­che. Die be­haar­te Brust trug die un­ver­kenn­ba­re Hand­schrift ei­nes Rechts­me­di­zi­ners. Sie öff­ne­te die nächs­te La­de. Ein Greis. Auch hier hat­ten die Kol­le­gen schon gan­ze Ar­beit ge­leis­tet. Sie wie­der­hol­te die Pro­ze­dur. Über­prüf­te ein Schub­fach nach dem an­de­ren.

»Das gibt’s doch nicht. Mist!«, stieß sie her­vor.

Ent­täuscht und ge­ra­de­zu ihres Elans be­raubt, pfef­fer­te sie die Hand­schu­he in den Müll­ei­mer und lief zu­rück zu ihrem Bü­ro. Ei­ne Lei­che wä­re jetzt ein gu­ter Grund ge­we­sen, um sich vor dem Schreib­kram zu drü­cken. Bü­ro­a­r­beit war nicht ihr Ding. Das hat­te sie wohl ihren grie­chi­schen Ge­nen zu ver­dan­ken. Hieß es nicht im­mer, dass die Grie­chen ein Volk der Ta­ten wa­ren und nicht ein Volk von Bü­ro­kra­ten?

Mit ei­nem re­si­gnie­ren­den Stöh­nen ließ sie sich in ihren Bü­ro­stuhl fal­len. Miss­mu­tig starr­te sie auf den Ak­ten­berg. War die­ser vor we­ni­gen Mi­nu­ten nicht um ei­ni­ges klei­ner ge­we­sen? Sie griff nach der obers­ten Klad­de.

Vik­tor Böhm. Die Wor­te spran­gen ihr ent­ge­gen, und so­fort hat­te sie den Fall vor Au­gen. Das Bild ei­nes at­trak­ti­ven Mitt­sech­zi­gers mit sil­ber­nem Haar und stahlblau­en, wa­chen Au­gen. Wie über­rascht sie dar­über ge­we­sen war, dass die­se Au­gen, auch nach Ein­tre­ten des To­des, ih­re Leucht­kraft nicht ver­lo­ren hat­ten. Schnell war sie hin­ter de­ren Ge­heim­nis ge­kom­men. »Far­bi­ge, iri­sie­ren­de Kon­takt­lin­sen«, hat­te sie da­mals Di­mi­tri er­klärt. Der Sek­ti­ons­as­sis­tent hat­te über­rascht die Au­gen­brau­en hoch­ge­zo­gen. »Wie­so trägt ein al­ter Mann leuch­tend blaue Kon­takt­lin­sen, das ist doch eher was für die jun­ge Ge­ne­ra­ti­on?«

»Al­ter Mann?!«

Ober­haupt­kom­mis­sar Bo­de war schon öf­ters Gast in Ele­nas Sek­ti­ons­saal ge­we­sen. Er stand kurz vor der Pen­si­on und sie wuss­te, dass er in sei­ner Dienst­zeit bei der Kri­po Mann­heim-Hei­del­berg schon ei­ni­ges ge­se­hen hat­te. Aber noch nie hat­te sie es er­lebt, dass Alex­an­der Bo­de durch et­was aus der Fas­sung ge­ra­ten war. Grim­mig hat­te er den Sek­ti­ons­as­sis­ten­ten an­ge­fun­kelt. Hat­te des­sen jun­gen, mus­ku­lö­sen Kör­per be­äugt, über dem sich das grü­ne OP-Hemd ge­spannt hat­te.

»Nur weil der Mann kei­ne drei­ßig mehr ist, ist er noch lan­ge kein al­ter Kna­cker!«

Ei­ne Ent­schul­di­gung mur­melnd, hat­te sich Di­mi­tri schnell den In­stru­men­ten zu­ge­wandt.

Mia Bau­er. Sie seufz­te, als sie die nächs­te Klad­de öff­ne­te und die fein säu­ber­lich ge­tipp­ten Sei­ten her­aus­zog. Sie wuss­te, dass sie sich auf ih­re Kol­le­gin ver­las­sen konn­te. Trotz­dem las sie den kom­plet­ten Text durch, um sich zu ver­ge­wis­sern, dass sich kei­ne Feh­ler ein­ge­schli­chen hat­ten, ehe sie in schwung­vol­len Let­tern un­ter­schrieb. Sie woll­te so­eben die nächs­te Fal­lak­te vom Sta­pel zie­hen, als ihr Han­dy klin­gel­te.

 

Be­reits aus der Fer­ne ver­such­te Ele­na, das Aus­maß des Un­falls zu er­ah­nen. Mas­sen­ka­ram­bo­la­ge. Das war ei­nes der Wor­te von Kom­mis­sa­rin Lau­ra Braun am Te­le­fon ge­we­sen. Mas­sen­ka­ram­bo­la­ge!

Aber das, was sich durch die Wind­schutz­schei­be ihres Dienst­wa­gens auf­tat, ging weit über ih­re Vor­stel­lungs­kraft hin­aus. Ein rie­si­ger Feu­er­schein zeich­ne­te sich ge­gen das Mor­gen­grau­en ab und stieß ei­ne gi­gan­ti­sche Rauch­säu­le in den Him­mel. Blau­lich­ter durch­zuck­ten die wei­chen­de Nacht und schraf­fier­ten al­les sa­phirblau. Längst hat­te man die Au­to­bahn ab­ge­sperrt und den Ver­kehr um­ge­lei­tet. Frü­he Pend­ler ver­stopf­ten die Stra­ße und mach­ten es fast un­mög­lich, durch die Ret­tungs­gas­se zu kom­men.

End­lich er­reich­te sie ei­ne Po­li­zeisper­re. Der Mann in Uni­form ließ sich Zeit, ihren Aus­weis zu kon­trol­lie­ren, dann warf er ihr ei­nen letz­ten prü­fen­den Blick zu und ließ sie pas­sie­ren. Im Schritt­tem­po roll­te sie über den As­phalt.

Ge­schickt lenk­te sie den Wa­gen zwi­schen ste­hen­den Fahr­zeu­gen hin­durch und such­te ei­ne ge­eig­ne­te Park­mög­lich­keit, um die ab­fah­ren­den Ret­tungs­fahr­zeu­ge nicht zu blo­ckie­ren. Um sich ei­nen Über­blick zu ver­schaf­fen, be­schloss sie, noch ei­nen Mo­ment im Wa­gen sit­zen zu blei­ben.

So­fort fie­len ihr die er­schöpf­ten Feu­er­wehr­män­ner am Stra­ßen­rand auf. Fah­le Ge­sich­ter, de­nen man das Grau­en und die Über­las­tung buch­stäb­lich an­sah. Ei­ner schraub­te ei­ne Was­ser­fla­sche auf, und sei­ne Hand zit­ter­te, als er sie zum Mund führ­te. Ei­ne kur­ze Pau­se, be­vor er sich wie­der dem Kampf ge­gen das Feu­er stel­len wür­de.

Sie griff nach Man­tel und Ein­satz­kof­fer und war ge­ra­de im Be­griff aus­zu­stei­gen, als sich ein dunk­ler Schat­ten vor ihr auf­bau­te.

»Hey, was wol­len Sie hier? Ver­schwin­den Sie!«

Noch be­vor Ele­na ant­wor­ten konn­te, fiel der Blick des Feu­er­wehr­man­nes auf das Ar­ma­tu­ren­brett. Auf die Wor­te, wel­che in di­cken ro­ten Let­tern auf ei­ne klei­ne Ta­fel ge­druckt wa­ren. Wor­te, die je­dem sag­ten, war­um sie hier war: Rechts­me­di­zin im Ein­satz.

»Sor­ry. Ich dach­te, Sie wä­ren ei­ner die­ser Re­por­ter, die hier stän­dig auf­tau­chen und uns nur im Weg rum­ste­hen!«, be­gann er mit ei­ner Ent­schul­di­gung.

Sie konn­te ihm kaum ei­nen Vor­wurf ma­chen. Sie hat­te selbst schon er­lebt, wie auf­dring­lich ei­ni­ge Jour­na­lis­ten sein konn­ten. Ele­na hob be­schwich­ti­gend die Hand. »Sa­gen Sie mir lie­ber, wo ich Kom­mis­sa­rin Lau­ra Braun fin­de.«

Er zuck­te mit den Ach­seln. »Hier sind Un­men­gen an Po­li­zis­ten. Wir sind schon seit Stun­den im Ein­satz. Ich weiß nicht, wie vie­le Last­wa­gen an dem Un­fall be­tei­ligt sind, aber es sind ei­ne gan­ze Men­ge, das kön­nen Sie mir glau­ben. Ganz zu schwei­gen von den vie­len PKWs. Aber das Schlimms­te ist der Tank­wa­gen. Der hat­te ir­gend­et­was Ex­plo­si­ves ge­la­den. Er hat sich und ein paar um­her­ste­hen­de Fahr­zeu­ge in die Luft ge­jagt. Die Tei­le sind bis auf die Ge­gen­spur ge­flo­gen. Ein In­fer­no, sa­ge ich Ih­nen. Sind Sie des­halb hier?«

Ele­na igno­rier­te die Fra­ge, je­doch nicht aus Un­höf­lich­keit. Ihr war im­mer noch nicht klar, war­um Lau­ra sie an­ge­ru­fen hat­te. Die Be­sorg­nis der Freun­din am Te­le­fon war deut­lich spür­bar ge­we­sen, aber es war nicht das ers­te Mal, dass sie zu ei­nem Un­fall­ort auf der Au­to­bahn ge­ru­fen wur­de. Die meis­ten Men­schen kann­ten die Ar­beit des Rechts­me­di­zi­ners nur aus Ro­ma­nen oder dem Fern­se­hen. Dort be­ka­men sie das Bild ver­mit­telt, wo­nach sich Rechts­me­di­zi­ner meist nur mit der Un­ter­su­chung von Lei­chen be­schäf­ti­gen wür­den. Die we­nigs­ten wuss­ten, dass die­ses Fach­ge­biet viel mehr Auf­ga­ben­be­rei­che um­fass­te. Die Ver­kehrs­me­di­zin war so ein The­ma. Al­ler­dings un­ter­such­te Ele­na die Op­fer in den sel­tens­ten Fäl­len di­rekt vor Ort. Heu­te war das of­fen­sicht­lich an­ders.

»Wo fin­de ich den Ein­satz­lei­ter?«

Mit ei­ner Kopf­be­we­gung deu­te­te der Mann auf ei­ne Grup­pe von Lösch­fahr­zeu­gen. »Ver­su­chen Sie es mal da vor­ne, aber pas­sen Sie auf, dass Sie nicht zu na­he an die LKWs kom­men. Die Rei­fen könn­ten durch die ex­tre­me Hit­ze plat­zen, und Sie wol­len so ein Ge­schoss si­cher­lich nicht ab­be­kom­men.«

»Ja, dan­ke.«

Un­ter den erns­ten Bli­cken der Feu­er­wehr­män­ner husch­te Ele­na an der Mit­tel­leit­plan­ke ent­lang. Sie späh­te über die ab­ge­sperr­te, lee­re Ge­gen­fahr­bahn, als das rhyth­mi­sche Don­nern von Ro­tor­blät­tern ei­nen He­li­ko­pter an­kün­dig­te. Kurz ver­folg­te sie den Flug des Ret­tungs­hub­schrau­bers auf der Su­che nach ei­nem ge­eig­ne­ten Lan­de­platz. Dann wand­te sie den Blick wie­der auf das, was sich auf der Au­to­bahn ab­spiel­te. Ein Bild des Schre­ckens.

Un­zäh­li­ge Fahr­zeu­ge wa­ren in­ein­an­der ver­keilt, PKWs, LKWs und Trans­por­ter. Ei­ni­ge stan­den quer. Ver­bo­ge­nes Me­tall reck­te sich in den Him­mel wie blei­che Kno­chen. Meh­re­re Wracks wa­ren un­längst von den Ber­gungs­kräf­ten an den Stra­ßen­rand ge­zo­gen wor­den und war­te­ten dar­auf, ab­ge­schleppt zu wer­den.

Die Fahr­bahn war über­sät von Fahr­zeug­tei­len und ver­lo­re­ner La­dung. Ver­letz­te wur­den ver­sorgt. Ei­ni­ge stan­den mit blei­chen Ge­sich­tern am Ran­de des Ge­sche­hens und starr­ten mit ge­wei­te­ten Au­gen auf die Res­te ih­rer Au­tos. Ei­ne Frau mit ei­nem wei­nen­den Klein­kind auf dem Arm ließ sich, wie in Tran­ce, von ei­nem Ret­tungs­sa­ni­tä­ter zu ei­nem Kran­ken­wa­gen füh­ren. Über­all lie­fen Feu­er­wehr­män­ner, Sa­ni­tä­ter und Po­li­zis­ten durch­ein­an­der. An­wei­sun­gen wur­den über die Fahr­bahn ge­brüllt. Pral­le Schläu­che zo­gen sich kreuz und quer über den nas­sen As­phalt, und nicht we­ni­ge wur­den kom­plett von ei­nem di­cken Tep­pich aus Lösch­schaum ver­deckt. Wie soll­te sie in die­sem Durch­ein­an­der Lau­ra fin­den?

Vor­sich­tig bahn­te sie sich ei­nen Weg durch das Cha­os. Der leich­te Herbst­wind weh­te ihr kühl ins Ge­sicht, trieb ihr ei­nen schar­fen Ge­ruch von Feu­er und ver­kohl­ten Kunst­stof­fen ent­ge­gen und brann­te in ihren Au­gen. Von Lau­ra fehl­te je­de Spur. Un­ge­dul­dig zog sie ihren Man­tel vor der Brust zu­sam­men. Jetzt erst wur­de ihr klar, wie kalt es heu­te mor­gen war. Sie hat­te weiß Gott kei­ne Lust dar­auf, die Kom­mis­sa­rin wei­ter in dem Durch­ein­an­der aus­fin­dig zu ma­chen und woll­te ge­ra­de nach ihrem Han­dy su­chen, als sie Falk Acker­mann ent­deck­te.

Um­ge­ben von Po­li­zis­ten hob ihn sei­ne Zi­vil­klei­dung von den uni­for­mier­ten Be­am­ten ab. Mit aus­drucks­lo­ser Mie­ne hör­te der Kom­mis­sar den Kol­le­gen zu und mach­te sich No­ti­zen. Un­ver­mit­telt schien er ihren Blick zu spü­ren und sah sie di­rekt an. Ein Aus­druck freu­di­ger Über­ra­schung husch­te über sein Ge­sicht. Dann ver­rutsch­te sein Lä­cheln, und sei­ne Mie­ne wur­de wie­der ernst. Er lös­te sich aus der Grup­pe und rief ihr et­was ent­ge­gen, aber der Lärm war zu stark.

»Was?«, brüll­te sie.

Statt ei­ner Ant­wort be­deu­te­te er ihr mit ei­nem Kopf­ni­cken, dass sie mit­kom­men sol­le. Vor­sich­tig wa­te­te sie durch den Lösch­schaum. Hier und da rag­ten die Spit­zen un­de­fi­nier­ba­rer Ge­gen­stän­de her­aus. Selbst wenn sie zu se­hen wa­ren, war es schwie­rig, zwi­schen ih­nen hin­durch­zu­ge­hen. Un­ter dem Schaum ver­bor­gen, wa­ren sie un­be­re­chen­bar. Als sie Acker­mann er­reich­te, wa­ren ih­re Schu­he kom­plett durch­nässt, und die voll­ge­so­ge­ne Ho­se kleb­te feucht an ihren Bei­nen.

Falk Acker­mann trug ei­ne Wild­le­der­ja­cke, dar­un­ter ei­nen schwar­zen Roll­kra­gen­pull­over und die ob­li­ga­to­ri­schen Jeans. Sein Haar, län­ger als sie es in Er­in­ne­rung hat­te und vom Wind zer­zaust, gab ihm das ju­gend­li­che Aus­se­hen ei­nes Dan­dys.

»Ele­na!« Sei­ne Au­gen lä­chel­ten, auch wenn er ernst blieb.

»Hal­lo, Falk, wo ist Lau­ra? War­um habt ihr mich ge­ru­fen?«

»Du weißt es nicht?«

Das Lä­cheln in sei­nen Au­gen ver­schwand. Er zog sie mit sich. Müh­sam scho­ben sie sich an den Wracks vor­bei. Im­mer wie­der muss­te er sich aus­wei­sen, da­mit sie pas­sie­ren konn­ten. Kurz vor dem bren­nen­den Tan­ker bo­ten sich zwei Feu­er­wehr­män­ner als Es­kor­te an. Trotz­dem muss­ten sie bis weit auf die Ge­gen­fahr­bahn aus­wei­chen, um si­cher an dem in Flam­men ste­hen­den Fahr­zeug vor­bei­zu­kom­men.

Ein Feu­er­wehr­mann er­klär­te: »In­zwi­schen ha­ben wir das Feu­er un­ter Kon­trol­le!« Er deu­te­te auf die ver­kohl­ten Über­res­te der in­vol­vier­ten Trans­por­ter. »Aber den Tan­ker kön­nen wir nicht lö­schen und müs­sen ihn kon­trol­liert ab­bren­nen las­sen!«

2  

Kom­missa­rin Lau­ra Braun trat seit min­des­tens fünf­und­zwan­zig fros­ti­gen Mi­nu­ten von ei­nem Bein auf das an­de­re. Ih­re Fü­ße hat­ten sich schon vor ei­ner ge­fühl­ten Ewig­keit in Eis­klum­pen ver­wan­delt, und das Auf-und-Ab-Lau­fen war le­dig­lich der ver­zwei­fel­te Ver­such, ir­gend­wie warm zu blei­ben. Wo blieb Ele­na?

Wie­so lie­ßen heu­te al­le auf sich war­ten? Sie seufz­te. Es war ein re­si­gnier­tes Seuf­zen, weil sie wuss­te, dass man­che Din­ge ein­fach ih­re Zeit brauch­ten. Sie hob die Hand zur Stirn und ließ ihren Blick über das Cha­os glei­ten, um Ele­na dar­in aus­fin­dig zu ma­chen. Aber das war nicht so ein­fach. Wie flei­ßi­ge Amei­sen wu­sel­ten die Ein­satz­kräf­te über den As­phalt, und es schien ihr ge­ra­de­zu un­mög­lich, ein be­kann­tes Ge­sicht zu er­ken­nen. Sie ver­such­te es in Fahrt­rich­tung. Ein Kran­ken­wa­gen lös­te sich aus dem Clus­ter von Ret­tungs­fahr­zeu­gen und fuhr ein­sam davon. Der ei­si­ge Wind und die Tat­sa­che, dass sie schon ei­ne Ewig­keit in der feuch­ten Käl­te stand, zerr­ten an ih­rer Ge­duld. Hin­zu kam die Mü­dig­keit. Kaf­fee.

Der Wunsch nach ei­ner hei­ßen Tas­se Kaf­fee wur­de na­he­zu über­mäch­tig. Als wür­de in dem Heiß­ge­tränk die Lö­sung für al­les lie­gen. Sie stöhn­te und über­leg­te, ob sie sich an die Kol­le­gen wen­den soll­te. Ir­gend­je­mand wür­de doch wohl ei­ne Ther­mos­kan­ne Kaf­fee da­bei­ha­ben.

Sie ha­der­te ei­nen Au­gen­blick mit sich, ent­schied sich aber schließ­lich zu blei­ben, um Ele­na kei­nes­falls zu ver­pas­sen. Lau­ra hat­te Ele­na auf ihrem pri­va­ten Han­dy an­ge­ru­fen, um si­cher­zu­stel­len, dass sie den Fall be­ar­bei­ten wür­de. Ob­wohl sie mit der Rechts­me­di­zi­ne­rin be­freun­det war, konn­te sie ob­jek­tiv be­ur­tei­len, dass Ele­na ei­ne der Bes­ten auf ihrem Ge­biet war. Ein wei­te­rer Vor­teil be­stand dar­in, dass Ele­na auch nach ihrem Fei­er­abend für sie er­reich­bar war. An­de­re Mit­ar­bei­ter aus dem In­sti­tut wa­ren da nicht so to­le­rant.

Au­ßer­dem war Lau­ra die Freund­schaft zu Ele­na wich­tig. Sie hat­ten sich bei ihrem ers­ten Fall letz­tes Jahr ken­nen­ge­lernt. Da­mals wur­de sie von ei­nem Seri­en­mör­der ge­fan­gen ge­hal­ten, und die gan­ze An­ge­le­gen­heit hat­te die bei­den ein­an­der sehr na­he ge­bracht.

Sie ließ ihren Blick su­chend über die ver­schie­de­nen Fahr­zeu­ge glei­ten und auf das, was von ei­ni­gen üb­rig war. So stark wa­ren sie in­ein­an­der ver­keilt, dass man teil­wei­se das Füh­rer­haus nur noch an­nä­hernd er­ah­nen konn­te. Das Aus­maß an Ver­letz­ten war an­ge­sichts der Schwe­re des Un­falls kaum aus­zu­ma­chen. Sie hat­te ge­se­hen, dass die Ret­tungs­kräf­te ei­nen Fah­rer nur noch tot ber­gen konn­ten.

Der Tod fährt mit, dach­te sie. Der Tod … Er hat­te auch sie am frü­hen Mor­gen aus dem Bett ge­ris­sen. Er war auch ihr Ge­schäft. Als lei­ten­de Er­mitt­le­rin der Mord­kom­mis­si­on Mann­heim-Hei­del­berg muss­te sie sich re­gel­mä­ßig mit dem Tod und sei­nen Op­fern be­schäf­ti­gen. Dass sie ein­mal zu ei­ner Mas­sen­ka­ram­bo­la­ge ge­ru­fen wer­den wür­de, hät­te sie nicht ge­dacht. Von Ele­na fehl­te wei­ter­hin je­de Spur.

Sie rieb sich die kal­ten Hän­de. Und plötz­lich ge­sell­te sich zu ihrem Wunsch nach Kaf­fee und Wär­me ein wei­te­res, sehr un­an­ge­neh­mes Ge­fühl. Sie muss­te zur Toi­let­te. Mist! Wie hat­te sie dies nur die gan­ze Zeit igno­rie­ren kön­nen?

Sie sah zum Stra­ßen­rand. Der Grün­strei­fen bot we­nig De­ckung. Zu­dem wur­de es merk­lich hel­ler. Ihr Blick blieb an ei­ner Bö­schung hän­gen. Dich­tes Ge­strüpp säum­te die Hü­gel. Sie über­leg­te, ob sie es wa­gen konn­te, sich hin­ter ei­nem Busch zu er­leich­tern, als sie zwei Ge­stal­ten ent­deck­te. »Na end­lich, das wur­de aber auch Zeit!«

Ele­na ließ es sich nicht an­mer­ken, ob es sie är­ger­te, von Lau­ra mit ei­nem Vor­wurf emp­fan­gen zu wer­den. Be­tont freund­lich be­grüß­te sie die Kom­mis­sa­rin. »Gu­ten Mor­gen, war­um bin ich hier?«

Lau­ras Blick schnell­te zu ihrem Part­ner. »Du hast es ihr nicht er­zählt?«

Ehe Falk Acker­mann et­was er­wi­dern konn­te, füg­te Lau­ra hin­zu: »Die gu­te Nach­richt zu­erst? Sie sind nicht im Feu­er um­ge­kom­men!«

Mit die­sen Wor­ten eil­te die Kom­mis­sa­rin zu ei­nem de­mo­lier­ten Sat­tel­schlep­per. Ele­na sah kurz zu Falk, seufz­te und folg­te der Po­li­zis­tin.

Oh­ne ih­re Schrit­te zu ver­lang­sa­men, sag­te Lau­ra: »Das Füh­rer­haus hat or­dent­lich was ab­be­kom­men. Der Fah­rer wur­de ent­we­der schon ge­bor­gen, oder war be­reits über al­le Ber­ge, noch be­vor wir ein­ge­trof­fen sind.« Sie sah zu Falk. »Konn­test du in Er­fah­rung brin­gen, in wel­ches Kran­ken­haus er mög­li­cher­wei­se ge­bracht wur­de?«

Acker­mann schüt­tel­te stumm den Kopf. Ele­na be­äug­te die ver­scho­be­ne Ka­ros­se­rie des Füh­rer­hau­ses. »Wenn es nicht um den Fah­rer geht, war­um hast du mich dann an­ge­ru­fen?«

»Weil du dir un­be­dingt et­was an­se­hen musst. Ich wet­te, so et­was ist dir auch noch nicht un­ter­ge­kom­men!«

Zwei Po­li­zis­ten stan­den am En­de des Über­see­con­tai­ners. Frisch­lin­ge, wie Lau­ra un­schwer an den na­gel­neu­en Uni­for­men er­kann­te. Ih­re ju­gend­li­chen Ge­sich­ter wa­ren blass, und man sah ih­nen die Er­leich­te­rung deut­lich an, als Lau­ra den Män­nern zu ver­ste­hen gab, dass sie ihren Pos­ten ver­las­sen konn­ten.

»Als die Kol­le­gen von der Au­to­bahn­po­li­zei den Fahr­zeug­füh­rer nicht aus­fin­dig ma­chen konn­ten, ha­ben sie den Schiffs­con­tai­ner ge­öff­net, um die La­dung zu über­prü­fen. Sie wuss­ten ja nicht, ob er et­was Gif­ti­ges oder Ex­plo­si­ves ge­la­den hat­te. Statt­des­sen ha­ben sie dann das hier ge­fun­den. Ich glau­be, dass die Jungs die­sen An­blick nie wie­der ver­ges­sen wer­den!«

Ele­na hat­te ihr stirn­run­zelnd zu­ge­hört. Jetzt starr­te sie auf die an­ge­lehn­te Stahl­tür, als wür­de sie mit dem Schlimms­ten rech­nen. Doch Lau­ra wuss­te, dass die Freun­din Pro­fi ge­nug war, um sich dem Fund zu stel­len. Was im­mer die jun­gen Po­li­zis­ten so scho­ckiert hat­te: Ele­na wür­de sich nicht davon ab­hal­ten las­sen, ihren Job zu ma­chen.

Die Kom­mis­sa­rin streif­te ein paar Hand­schu­he über und zog die rech­te Tür ei­nen Spalt weit auf. Ei­ne Wel­le fau­li­ger, feuch­ter Luft schwapp­te ih­nen ent­ge­gen. Acker­mann hielt sich den Arm vor Na­se und Mund und wand­te sich ab. »Na, wun­der­bar.«

Ele­na warf Lau­ra ei­nen Blick zu, der zwi­schen Neu­gier und Ab­scheu schwank­te, als der Ge­ruch in vol­lem Aus­maß auf die Grup­pe traf.

»Falk, leuch­te doch mal da rein, da­mit sie es se­hen kann«, sag­te Lau­ra.

Acker­manns Blick sprach Bän­de. Er sah aus, als wä­re er über­all lie­ber als hier. Zö­gernd kam er nä­her und knips­te sei­ne Mag-Li­te an.

Die Kom­mis­sa­rin ver­pass­te der Tür ei­nen un­sanf­ten Stoß. Der Ge­stank, der ih­nen dar­auf­hin ent­ge­gen­schlug, war ge­ra­de­zu un­er­träg­lich. Lau­ra war nicht ent­gan­gen, dass selbst die Rechts­me­di­zi­ne­rin an­ge­wi­dert die Na­se kraus zog. Und ihrem Ge­sicht konn­te man un­wei­ger­lich ab­le­sen, dass sie Schreck­li­ches ahn­te. Mit ei­ner Ta­schen­lam­pe be­waff­net stell­te sich Ele­na auf die Ze­hen­spit­zen, um bes­ser se­hen zu kön­nen. Doch als der Schein der bei­den Ta­schen­lam­pen auf das In­ne­re des Con­tai­ners traf, wich sie tau­melnd zu­rück und keuch­te: »Um Got­tes wil­len!«

Lau­ra, die di­rekt hin­ter Ele­na stand, konn­te nicht schnell ge­nug aus­wei­chen, und un­sanft prall­ten die Frau­en in­ein­an­der. Lau­ra schnapp­te er­schro­cken nach Luft, als Ele­na auf ih­re Ze­hen trat, was zur Fol­ge hat­te, dass sie ei­nen Schwall des Ge­stanks ein­at­me­te. Ein hef­ti­ger Schmerz jag­te durch ihren Fuß. Sie biss die Zäh­ne zu­sam­men und zisch­te: »Mensch, pass doch auf!«

Doch Ele­na, un­fä­hig zu ant­wor­ten, tau­mel­te ein paar Schrit­te zur Sei­te, wo die Luft bes­ser war. Acker­mann nahm eben­falls Reiß­aus.

Wäh­rend die Dun­kel­heit das In­ne­re wie­der um­hüll­te, tat Ele­na ein paar be­ru­hi­gen­de Atem­zü­ge, of­fen­bar scho­ckiert von dem, was sie ge­se­hen hat­te. »Das ist …«, be­gann sie, aber sie fand kei­ne wei­te­ren Wor­te.

Lau­ra trat zur Freun­din. Selbst hier war der Ge­stank nach ver­rot­ten­dem Fleisch noch deut­lich zu ver­neh­men. »Schlim­me Sa­che! Ob­wohl ich schon ein­mal in den Con­tai­ner ge­schaut ha­be, kann ich mich kaum an den An­blick ge­wöh­nen.«

»Sind … sind sie al­le tot?«, wis­per­te Ele­na.

»Wir ha­ben ei­nen der Not­ärz­te hin­ein­ge­schickt, und er kam nur kopf­schüt­telnd raus. Ich glau­be, er er­holt sich ge­ra­de in ei­nem der Ret­tungs­wa­gen.«

»Wie vie­le sind es?«

»Kei­ne Ah­nung. Das her­aus­zu­fin­den, ist dei­ne Auf­ga­be.«

Ele­na seufz­te, als wür­de ihr noch ein­mal be­wusst wer­den, welch grau­si­ge Auf­ga­be ihr be­vor­stand. Sie warf den Be­am­ten ei­nen Blick zu, den man fast als Vor­wurf be­zeich­nen konn­te, griff nach ihrem Ein­satz­kof­fer und zog ei­nen Schutz­an­zug her­aus. Ge­ra­de­zu um­ständ­lich schlüpf­te sie in den An­zug.

Lau­ra kann­te die Rechts­me­di­zi­ne­rin, und sie hat­te es noch nie er­lebt, dass sie bei ei­nem Lei­chen­fund ge­zö­gert hat­te. »Ist mit dir al­les okay?«

Ele­na nick­te, wäh­rend sie den Reiß­ver­schluss mit ei­ner ener­gi­schen Be­we­gung hoch­zog und ih­re Schu­he ge­gen Gum­mi­stie­fel tausch­te.

Lau­ras Ge­füh­le fuh­ren Ach­ter­bahn. Al­lein der Ge­dan­ke dar­an, dass oh­ne Ele­nas Hil­fe sie es ge­we­sen wä­re, die die Viel­zahl der Lei­chen hät­te be­gut­ach­ten müs­sen, ließ sie er­schau­dern. Um sich ab­zu­len­ken, wand­te sie sich an Acker­mann.

»Falk, wann kommt die Hun­de­staf­fel?«

»Der Ein­satz­lei­ter sag­te et­was von ei­ner hal­b­en Stun­de«, ant­wor­te­te er.

»Ich fra­ge mich, ob die Hun­de den Fah­rer fin­den. Kein Wun­der, dass der ab­ge­hau­en ist, bei der La­dung. Hast du was von den Spu­sis ge­hört?«

Aber Acker­mann hat­te sich be­reits ab­ge­wandt und schritt lang­sam an ei­ner der lan­gen Flan­ken des Vier­zig­ton­ners ent­lang. Er hör­te sie erst, als sie ihn er­neut an­sprach: »Was machst du da?«

Falk Acker­mann run­zel­te die Stirn, und in sei­nem Ge­sicht spie­gel­te sich Ver­wir­rung.

»Wäh­rend mei­ner Aus­bil­dung war ich für ei­ni­ge Zeit bei der Ha­fen­po­li­zei. Über­see­con­tai­ner ha­ben nor­ma­le­r­wei­se Lüf­tungs­bän­der oder we­nigs­tens Lüf­tungs­schlit­ze.« Er zeig­te auf die obe­re Kan­te des An­hän­gers. »Ich se­he aber kei­ne.«

Lau­ra um­run­dete den Con­tai­ner. Auf der an­de­ren Sei­te wa­ren eben­falls kei­ne Luftlö­cher zu se­hen. Statt­des­sen kleb­te ein grü­ner Strei­fen um den Stahl­man­tel.

Ein­ge­hend mus­ter­te Lau­ra den ros­ti­gen Ko­loss. Hier trans­por­tier­te je­mand auf die ganz bil­li­ge Tour. Aber es wa­ren nicht die Beu­len oder Rost­fle­cken, die sie scho­ckier­ten, son­dern die Tat­sa­che, dass je­mand die Lüf­tung mit ei­nem Kle­be­band ver­sie­gelt hat­te.

»Zu­gek­lebt!«, stieß Lau­ra atem­los her­vor. »Denkst du, das Band klebt schon län­ger dort oben?« Die Vor­stel­lung, je­mand hät­te meh­re­re Men­schen vor­sätz­lich und grau­sam er­sti­cken las­sen, war mehr als er­schre­ckend.

Acker­manns Blick haf­te­te auf dem Con­tai­ner. »Ich glau­be schon, aber war­ten wir lie­ber, was die Spu­ren­si­che­rung da­zu sagt.« Er sah auf sei­ne Uhr. »Die wer­den si­cher­lich gleich ein­tref­fen. Ich schau mich mal wei­ter um.«

Lau­ra nick­te kurz, froh dar­über, dass er sich wie­der ab­wand­te. Auch wenn der Lei­chen­fund ih­re gan­ze Auf­merk­sam­keit for­der­te, konn­te sie das Zie­hen in ihrem Un­ter­leib nun nicht mehr län­ger igno­rie­ren. In­zwi­schen wa­ren die Schmer­zen der­art hef­tig, dass sie bei je­dem Schritt an das Drän­gen ih­rer Bla­se er­in­nert wur­de. Ich muss jetzt! Die­ses Ge­fühl war plötz­lich so über­mäch­tig, dass sie an nichts an­de­res mehr den­ken konn­te. Sie spür­te, wie sich ihr Un­ter­leib ver­krampf­te und sich die Här­chen in ihrem Na­cken auf­stell­ten. Lan­ge wür­de sie es nicht mehr aus­hal­ten.

Sie sah sich hek­tisch um. Im­mer noch herrsch­te ein gro­ßes Durch­ein­an­der. Sie um­run­dete den Last­wa­gen und starr­te er­neut auf das schmut­zi­ge Grün des Sei­ten­strei­fens. Nein, hier wür­de sie je­der se­hen.

Wie oft hat­te sie schon mit­be­kom­men, dass die zu­meist männ­li­chen Ein­satz­kräf­te sich am nächs­ten Baum er­leich­tert hat­ten. Aber sie brauch­te Pri­vat­sphä­re oder we­nigs­tens ein Ge­büsch. Ihr Blick folg­te dem Hang. Die üp­pi­ge Be­pflan­zung wür­de ihr aus­rei­chend Schutz bie­ten. Ich bin schnel­ler wie­der zu­rück, als man mich ver­mis­sen wird.

Sie klet­ter­te über die Leit­plan­ke und sprin­te­te los. In­ner­halb von we­ni­gen Herz­schlä­gen hat­te sie den Gip­fel des Hü­gels er­reicht.

 

Lau­ra stieß ei­nen zu­frie­de­nen Seuf­zer aus, als sie we­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter ih­re Ho­se wie­der hoch­zog. Doch ein Ra­scheln hin­ter ihr ver­trieb das Ge­fühl der Er­leich­te­rung.

Schnell schloss sie den Reiß­ver­schluss. Das hat­te ihr ge­ra­de noch ge­fehlt, dass ei­ner der Ret­tungs­leu­te sie beim Pin­keln er­wi­schen wür­de.

Mit hoch­ro­tem Kopf dreh­te sie sich um. Aber da war nie­mand. Ner­vös lach­te sie auf. Sie muss­te sich ver­hört ha­ben.

Gott, wenn mich je­mand ge­se­hen hät­te. Wie pein­lich!

Er­leich­tert, dass ih­re Oh­ren ihr ei­nen Streich ge­spielt hat­ten, be­gann sie, den Hü­gel wie­der hin­ab­zu­stei­gen.

Ein Wim­mern.

Sie hielt in­ne. Dann ein Stöh­nen. Sie dreh­te den Kopf und ver­such­te noch ein­mal, das Ge­räusch ein­zu­fan­gen. Jetzt war sie sich si­cher. Sie hat­te et­was ge­hört. Je­man­den.

Sie klet­ter­te noch ein­mal den Hü­gel hin­auf. Oben an­ge­kom­men er­war­te­te sie, die Ur­sa­che des Ge­räu­sches um­ge­hend aus­zu­ma­chen. Aber es war nie­mand zu se­hen. Sie nahm sich noch ei­ne Mi­nu­te und hoff­te auf ei­ne Wie­der­ho­lung. Auf ir­gend­et­was, das ihr sag­te, dass sie sich nicht ge­irrt hat­te.

Sie kniff die Au­gen zu­sam­men und ließ ihren Blick über die Sträu­cher glei­ten. Das Laub der in Grup­pen ste­hen­den Bäu­me färb­te sich lang­sam gelb, und das knie­ho­he Gras hat­te sich teil­wei­se in Stroh ver­wan­delt. Tau­trop­fen glit­zer­ten in der Mor­gen­son­ne, die lang­sam den Kampf ge­gen den Bo­den­ne­bel ge­wann. Der Herbst hielt Ein­zug und zeig­te jetzt schon sei­ne ers­ten Spu­ren.

Schließ­lich gab sie auf und wand­te sich zum Ge­hen. Ver­mut­lich doch nur ein Ha­se, der von mir auf­ge­schreckt wur­de. Aber ir­gend­et­was nag­te an ihrem Un­ter­be­wusst­sein, das sie nicht zu fas­sen be­kam. Sie blieb ste­hen und schenk­te der Land­schaft ei­nen letz­ten prü­fen­den Blick. Nichts. Nur das me­lan­cho­lisch-trau­ri­ge Kräch­zen ei­ner Krä­he un­ter­brach die Stil­le. Viel­leicht doch nur ein Tier?

3  

Ele­nas ers­ter Im­puls war es, zu­rück­zu­wei­chen.

Es kos­te­te sie ih­re gan­ze Wil­lens­kraft, in den dunk­len Schlund des Stahl­ku­bus zu stei­gen. Ihr Kör­per sträub­te sich ge­gen das, was sie nun vor­hat­te. Sie straff­te die Schul­tern. Es war ihr Job, da hin­ein­zu­ge­hen, und ihr Be­ruf hat­te sie schon vor Lan­gem davon ge­heilt, all­zu zim­per­lich zu sein.

Aber wes­halb hat­te sie dann die­ses un­gu­te Ge­fühl?

Sie zog sich an dem Auf­lie­ger hoch. Sie wuss­te, dass Falk sie beo­b­ach­te­te, und be­müh­te sich, ei­ne ge­wis­se Ele­ganz in ih­re Klet­ter­ver­su­che zu le­gen.

Oben an­ge­kom­men, rich­te­te sie sich auf und schal­te­te die Ta­schen­lam­pe wie­der ein. Der schma­le Licht­ke­gel husch­te laut­los über das In­ne­re des Con­tai­ners und ver­deut­lich­te noch ein­mal das Dra­ma zu ihren Fü­ßen. Sie er­kann­te ein Wirr­warr aus Ar­men, Bei­nen, Köp­fen, Kör­pern! Kreuz und quer durch­ein­an­der ge­wür­felt, wie un­zäh­li­ge Kä­fer in ei­ner Streich­holz­schach­tel. Sie sah Klei­dung, nack­te Fü­ße, dunk­le Haa­re. Und Hän­de.

Ihr Herz trom­mel­te ge­gen ihren Brust­korb. Vor­sich­tig setz­te sie ei­nen Fuß vor den an­de­ren und spür­te ge­ra­de­zu, wie die Dun­kel­heit sie ver­schluck­te. Das Ma­te­ri­al des Schutz­an­zu­ges rieb über ih­re Haut, und durch die Vlies­mas­ke vor Mund und Na­se be­kam sie kaum Luft. Gleich­wohl ließ der Ge­stank kaum ei­nen Atem­zug zu.

Starr rich­te­te sie ihren Blick nach vorn und wag­te es nicht, sich zu Acker­mann um­zu­dre­hen. Er soll­te ihren Wi­der­wil­len nicht se­hen. Statt­des­sen kon­zen­trier­te sie sich auf das, was vor ihr lag. Sie muss­te oh­ne­hin höl­lisch auf­pas­sen, um in dem Halb­dun­kel nicht zu stol­pern oder gar aus­zu­rut­schen. Sie um­klam­mer­te die Mag-Li­te und rich­te­te de­ren Strahl ganz be­wusst nicht auf den Bo­den. Es reich­te ihr, dass sie bei je­dem Schritt et­was Er­ha­be­n­es spür­te und dass die Über­zie­her ein schmat­zen­des Ge­räusch mach­ten. Sie nahm sich vor, ih­re Stie­fel im An­schluss erst gar nicht zu rei­ni­gen, son­dern gleich weg­zu­wer­fen.

Sie schob sich wei­ter, und ein be­klem­men­des Ge­fühl, als woll­te sie das En­de nie er­rei­chen, er­fass­te sie. Der schwe­re, süß­li­che Ge­stank fau­len­den Flei­sches durch­drang die Atem­mas­ke und um­schloss sie wie ein Ko­kon. Drang in ih­re Po­ren, leg­te sich blei­ern auf ih­re Lun­ge. Ein Ge­ruch, den sie nur zu gut kann­te. Der stän­di­ge Be­glei­ter ih­rer Ar­beit, und er be­geg­ne­te ihr täg­lich; an Tat­or­ten oder im Sek­ti­ons­saal. Doch heu­te war er kaum aus­zu­hal­ten. Stär­ker, in­ten­si­ver, ge­ball­ter. Das war für sie das ers­te In­diz.

Die­se Men­schen wa­ren nicht durch den Un­fall ge­stor­ben. Sie wa­ren be­reits tot, be­vor die Last­wa­gen in­ein­an­der­ge­rast wa­ren. Der Auf­prall hat­te ih­re leb­lo­sen Kör­per wie rut­schen­de La­dung durch den An­hän­ger ge­schleu­dert. Sie ließ den Licht­schein der Lam­pe über die Men­schen glei­ten.

Mein Gott, so vie­le Lei­chen. Fast al­le­samt Män­ner. Nur hier und da konn­te sie fröh­li­che Farb­kleck­se und weib­li­che Um­ris­se er­ken­nen. Der Schein der Lam­pe er­fass­te ei­nen Kör­per. Dann ei­nen wei­te­ren. Ei­ne Hand. Ei­nen Kopf. Ein Ge­sicht, auf des­sen Wan­gen dunk­le Trä­nen ge­trock­net wa­ren. Sie ließ den Licht­strahl um­her­strei­fen und be­trach­te­te die un­will­kür­li­che La­ge der Glied­ma­ßen. Aber das Ge­wirr der Kör­per ließ kei­ne ge­naue Be­ur­tei­lung zu. Al­les, was sie er­blick­te, wa­ren ver­renk­te Ex­tre­mi­tä­ten, ver­dreh­te Lei­ber. Star­re Ge­sich­ter mit ent­setz­ten Bli­cken. Weit auf­ge­ris­se­ne Mün­der, ver­zerrt im To­des­kampf zu stum­men Schrei­en. Ein Mas­sen­grab.

Al­le Per­so­nen hat­ten dunk­le Haut. Nicht die Ver­fär­bun­gen, die Lei­chen häu­fig an­nah­men, son­dern die dunk­le Pig­men­tie­rung von Men­schen afri­ka­ni­scher Her­kunft. Aber noch et­was an­de­res scho­ckier­te sie. Es war et­was, was ihr Un­ter­be­wusst­sein die gan­ze Zeit ver­sucht hat­te zu sa­gen. Hek­tisch lenk­te sie den Licht­strahl zu­rück zu dem ei­nen Ge­sicht. Sie ging in die Ho­cke, um bes­ser se­hen zu kön­nen. Im Ke­gel der Ta­schen­lam­pe mus­ter­te sie die Trä­nen­flüs­sig­keit, die wie ris­si­ges Per­ga­ment die Wan­gen der Lei­che um­spann­te. Das wa­ren kei­ne Trä­nen, das war Blut. Blut.

Sie schob zwei Fin­ger un­ter die Ober­lip­pe des To­ten. Win­zi­ge Bluts­trop­fen fun­kel­ten wie klei­ne Ru­bi­ne in sei­ner Mund­schleim­haut. Sie hat­te so et­was schon ein­mal ge­se­hen. Ein Ver­dacht krat­ze an ihrem Ver­stand. Sie igno­rier­te ihn und über­prüf­te die Au­gen­li­der. Steck­na­del­kopf­gro­ße Ein­blu­tun­gen zeich­ne­ten sich deut­lich ge­gen die wäch­ser­ne Bin­de­haut ab.

Und dann traf sie die Er­kennt­nis wie ein Schlag ins Ge­sicht. Sie keuch­te, sprang auf. Der plötz­li­che Wech­sel war für ihren Kreis­lauf zu viel. Ihr ei­ge­nes Blut sack­te in ih­re Wa­den, und in ihrem Kopf dreh­te es sich. Die Mag-Li­te fiel pol­ternd zu Bo­den, und wäh­rend die Dun­kel­heit die to­ten Men­schen wie­der um­hüll­te, tau­mel­te sie atem­los rück­wärts. Ihr Ge­hirn war jetzt nur noch zu ei­nem Ge­dan­ken fä­hig. Raus! Ich muss hier raus!

Pa­nisch dreh­te sie sich zur Tür und sprin­te­te los. Ih­re Fü­ße ver­such­ten, auf dem schmie­ri­gen Holz­bo­den Halt zu fin­den. Sie durf­te jetzt auf kei­nen Fall aus­rut­schen. Es galt, je­den Kon­takt mit den Kör­per­f­lüs­sig­kei­ten die­ser un­glü­ck­li­chen Men­schen zu ver­mei­den.

Den Aus­gang fest im Blick hech­te­te sie wei­ter. Ih­re Lun­ge brann­te, und das ohn­mäch­ti­ge Ge­fühl, dass sie die Tür nicht vor dem nächs­ten, le­bens­wich­ti­gen Atem­zug er­rei­chen wür­de, trieb ihr die Trä­nen in die Au­gen, trüb­te ihren Blick. Sie hör­te das Rau­schen ihres ei­ge­nen Blu­tes und das hef­ti­ge Häm­mern ihres Her­zens, wäh­rend sie nur noch ein Ziel hat­te. Raus! Fri­sche, kla­re Luft at­men!

Der ret­ten­de Aus­gang war nah. Trotz­dem kam es ihr vor, als müss­te sie ei­nen Ma­ra­thon lau­fen, des­sen Ziel un­er­reich­bar blieb. Ei­nen Wett­lauf ge­gen den ei­ge­nen Tod. Er­schüt­tert von dem, was sie ge­ra­de ent­deckt hat­te, klam­mer­te sie sich keu­chend an die Tür des Auf­lie­gers.

Sie muss­te wür­gen. Sie riss die Mas­ke her­un­ter und zog scharf die küh­le Mor­gen­luft ein. Dann ein wei­te­rer Atem­zug. Sau­er­stoff drang tief in ih­re Lun­ge, und sie spür­te, wie je­de Al­veo­le um­spült wur­de.

»Was ist? Was hast du ent­deckt?«

Ele­na hob den Kopf und blin­zel­te ver­wirrt. Vor ihr ent­stand Be­we­gung. Es war Kom­mis­sar Falk Acker­mann, der et­was ab­seits ge­stan­den hat­te und nun mit schnel­len Schrit­ten auf sie zu kam. Sei­ne Mie­ne, ei­ne Mi­schung aus Neu­gier und Be­sorg­nis. Und noch et­was er­kann­te sie in dem ver­trau­ten Ge­sicht. Vor­wür­fe!

Aber da­für war jetzt kei­ne Zeit. Keu­chend schüt­tel­te sie den Kopf, als woll­te sie ei­nen na­men­lo­sen Schre­cken ab­schüt­teln. »Geh weg!«

»Was?«

Mit zit­tern­den Hän­den fisch­te sie nach ihrem Ein­satz­kof­fer, zog ihr Han­dy her­aus und such­te im Dis­play nach ei­ner Num­mer.

»Ele­na, was meinst du?«

Das Mo­bil­te­le­fon fi­xie­rend zisch­te sie: »Ver­schwin­de von hier!«

Ver­wirrt starr­te er sie an. Sie hat­te jetzt kei­ne Zeit für ihn und wich sei­nem Blick aus. Doch er in­ter­pre­tier­te ihr Ver­hal­ten falsch.

»Seit Ta­gen igno­rierst du mei­ne An­ru­fe, gehst mir aus dem Weg, und jetzt soll ich ver­schwin­den?«

Ele­na, im­mer noch mit dem Han­dy be­schäf­tigt, re­agier­te nicht auf ihn. Dann sah sie ihn di­rekt an. Doch an­statt ihm zu ant­wor­ten, schrie sie in das Te­le­fon: »Se­bas­ti­an? Ich ha­be ei­nen Stu­fe-Vier-Ver­dacht!«

»Stu­fe Vier? Was meinst du?«, misch­te sich Falk Acker­mann ein.

Er hat­te sich nicht von der Stel­le ge­rührt. Das war gut so. Für ihren Ge­schmack war er im­mer noch viel zu nah am Con­tai­ner, und sie warf ihm vor­sorg­lich ei­nen war­nen­den Blick zu, der of­fen­sicht­lich sei­ne Wir­kung nicht ver­fehl­te. Mit ver­schränk­ten Ar­men mus­ter­te er sie, und ihr war klar, dass er, so­bald sie das Te­le­fonat be­en­det hat­te, ei­ne Er­klä­rung for­dern wür­de.

Der Schock ebb­te lang­sam ab, trotz­dem konn­te sie ein Zit­tern kaum un­ter­drü­cken. Mit ei­ner Hand stütz­te sie sich am Con­tai­ner ab, und die an­de­re um­klam­mer­te das Han­dy, doch der Mann am Te­le­fon woll­te ihr kei­nen Glau­ben schen­ken. Wut keim­te in ihr auf.

»Ich bin mir ziem­lich si­cher. Komm vor­bei und schau es dir selbst an«, rief sie in die Sprech­mu­schel.

Of­fen­sicht­lich war ih­re Stim­me so laut, dass sich jetzt so­gar ein Feu­er­wehr­mann um­dreh­te und sie neu­gie­rig beo­b­ach­te­te. Doch er ver­lor schnell wie­der das In­ter­es­se, als sie die Stim­me senk­te.

Das galt nicht für Acker­mann. Mit auf­merk­sa­mem Blick ta­xier­te er sie. Doch sie hat­te jetzt we­der Zeit noch Lust, ihn auf­zu­klä­ren. Sie wuss­te, dass sie sich nicht ge­ra­de klug ver­hielt, aber ih­re Pri­o­ri­tä­ten la­gen jetzt ein­deu­tig wo­an­ders.

Sie dreh­te sich noch ein­mal um und be­trach­te­te die To­ten im Con­tai­ner, als könn­te Se­bas­ti­an Ke­ve­kor­des am an­de­ren En­de der Lei­tung durch ih­re Au­gen die schreck­li­chen Bil­der er­ken­nen. Sie gab sich Mü­he, sach­lich und re­la­tiv emo­ti­ons­los zu schil­dern, was sie ent­deckt hat­te.

Als sie den Blick wie­der auf die Stra­ße rich­te­te, war sie er­leich­tert und er­schro­cken zu­gleich. Er­leich­tert, weil sie die To­ten nicht mehr an­se­hen muss­te; er­schro­cken, weil sie jetzt durch das auf­kom­men­de Ta­ges­licht und die er­höh­te Po­si­ti­on das gan­ze Aus­maß des Un­falls über­bli­cken konn­te.

Kaum, dass sie das Ge­spräch be­en­det hat­te, setz­te sich Acker­mann in Be­we­gung. Sie hob ab­weh­rend die Hand und zisch­te: »Bleib weg von mir!«

Ih­re Wor­te ver­fehl­ten ih­re Wir­kung nicht. Sein Ge­sicht ver­zog sich, und er ließ je­de Höf­lich­keit fah­ren. »Das ist doch be­scheu­ert! Ver­dammt, sag mir end­lich, was los ist!«

»Du musst dich von dem Con­tai­ner fern­hal­ten!«

»War­um?«

Sie schüt­tel­te den Kopf, und ih­re schwar­zen Lo­cken fan­den ihren Weg aus der Ka­pu­ze. Mit ei­ner bar­schen Be­we­gung schob sie sich die Haa­re aus dem Ge­sicht. »Ich bin mir nicht si­cher, aber bleib weg von mir.« Sie sah ihm an, dass er mit die­ser Ant­wort nicht zu­frie­den war und frag­te: »Wo ist Lau­ra? Ihr müsst da­für sor­gen, dass sich nie­mand dem Con­tai­ner nä­hert.«

Sie ließ ihren Blick über Acker­mann hin­weg glei­ten. Ret­tungs­kräf­te wu­sel­ten über die Stra­ße, Ab­schlepp­wa­gen be­gan­nen, Au­tos weg­zu­kar­ren. Der Ret­tungs­hub­schrau­ber star­te­te mit lau­tem Ge­tö­se. Un­weit von ih­nen stan­den ei­ni­ge Po­li­zis­ten. Von Lau­ra fehl­te je­de Spur.

4  

Der Mann, der dem Su­per­pu­ma ent­stieg, war es ge­wohnt, dass man sei­nen An­wei­sun­gen Fol­ge leis­te­te, das konn­te Lau­ra selbst aus der Ent­fer­nung deut­lich er­ken­nen. Mit ei­ner schnel­len Be­we­gung sprang er aus der Ka­bi­ne, kaum dass die Ku­fen des Hub­schrau­bers den Bo­den be­rührt hat­ten. Im Schlepp­tau ei­nen Tross Per­so­nen, de­ren auf­fal­lend gel­be Voll­schutz­an­zü­ge sich ge­gen al­les ab­ho­ben, zog er im Ge­hen den Reiß­ver­schluss sei­nes ei­ge­nen Over­alls zu und ließ sich von ei­nem Mit­ar­bei­ter die La­schen mit Kle­be­band ver­schlie­ßen.

Lau­ra stand im­mer noch auf dem Hü­gel. Sie spür­te ein Po­chen im Na­cken. Kopf­schmer­zen. Ir­gend­wie hat­te sie es fer­tig­ge­bracht, die­se die gan­ze Zeit zu igno­rie­ren. Sie schloss die Au­gen und war ver­sucht, sich dem Schmerz hin­zu­ge­ben, kam aber so­fort zu dem Ent­schluss, dass es da­für der fal­sche Zeit­punkt war. Sie schüt­tel­te den Kopf, mas­sier­te sich den Na­cken und über­leg­te mit ge­schlos­se­nen Li­dern, was sie jetzt tun soll­te. Sie hat­te we­nig Lust, hier oben zu war­ten. Es gab ihr das Ge­fühl, aus­ge­bremst zu wer­den. Aber so lau­te­te nun mal die An­wei­sung, die man ihr ge­ge­ben hat­te, kurz nach­dem Acker­mann mit dem Ret­tungs­team bei dem Ver­letz­ten an­ge­kom­men war.

Sie stöhn­te lei­se und öff­ne­te die Au­gen. Wei­te­re Ge­stal­ten in Over­alls ström­ten aus dem Hub­schrau­ber wie eif­ri­ge Bie­nen aus ei­nem Nest. In stum­mer Cho­reo­gra­fie be­gan­nen sie aus­zu­la­den. Zel­te wur­den in Win­des­ei­le auf­ge­baut und der Con­tai­ner mit den Lei­chen ab­ge­sperrt. Zwi­schen all dem Ge­wu­sel lie­fen ver­mumm­te Per­so­nen und be­sprüh­ten je­den Zen­time­ter groß­zü­gig mit dem In­halt der Fla­schen auf ihren Rü­cken.

Lau­ra warf Acker­mann ei­nen ner­vö­sen Blick zu. Sie er­kann­te, dass es ihm nicht bes­ser er­ging. Sein Kör­per war ge­spannt wie ein Bo­gen, und sei­ne Lip­pen ver­zo­gen sich är­ger­lich, als er sprach: »Was geht denn hier ab? Wer sind die­se Leu­te?«

Lau­ra schüt­tel­te den Kopf. Ihr Blick kleb­te auf der Sze­ne­rie am Con­tai­ner. Der Mann hat­te Ele­na er­reicht. So­fort ent­stand ei­ne hit­zi­ge Dis­kus­si­on. Das war ein­deu­tig zu er­ken­nen. Über was auch im­mer die bei­den spra­chen, es schien ihm nicht zu ge­fal­len.

»Was hat sie ent­deckt? Wie­so ist der Typ so sau­er?«, frag­te sie.

Falk Acker­manns Mie­ne wur­de un­nach­gie­big. »Tja, das hat­te ich sie auch ge­fragt. Doch be­vor sie ant­wor­ten konn­te, hast du an­ge­ru­fen.« Er schüt­tel­te wü­tend den Kopf. »Das ist al­les so … ty­pisch für sie.«

Lau­ra hat­te ab­so­lut kei­ne Ah­nung, wes­halb Falk so wü­tend war, und sah ihn ver­wun­dert an. Mit ihren ei­ge­nen Ge­dan­ken über den Lei­chen­fund be­schäf­tigt, war ihr sein Zu­stand nicht auf­ge­fal­len. Die Stim­me des Not­arz­tes hin­ter ihr riss sie aus ihren Ge­dan­ken. »Das ist ei­ne De­kon­ta­mi­na­ti­on­s­ein­heit!«

»Ei­ne was?« Sie wir­bel­te her­um.

»Was ist in dem Con­tai­ner?«, frag­te der Not­arzt und ließ ih­re Fra­ge un­be­ant­wor­tet. Sie zö­ger­te und mus­ter­te die Män­ner, doch schließ­lich ent­schied sie, dass sie ihm ant­wor­ten soll­te.

»Lei­chen. Das Ding ist vol­ler Lei­chen.«

Der Arzt starr­te die Po­li­zis­tin un­gläu­big an, und die bei­den Sa­ni­tä­ter glucks­ten über­rascht. »Das ist ein Witz, oder?«, rief er, und Lau­ra er­kann­te ei­nen An­flug von Spott in den grau­en Au­gen des Man­nes.

»Lei­der nicht!« Sie sprach es so aus, als wür­de sie kei­ner­lei Be­den­ken dul­den. Al­ler­dings funk­ti­o­nier­te das nicht.

»Wir sind von der Mord­kom­mis­si­on«, sag­te sie, um je­de Un­ge­wiss­heit aus­zu­räu­men.

Die Au­gen­brau­en des Man­nes schnell­ten in die Hö­he. Sie merk­te ihm an, dass er ihr nicht glaub­te. »Wie­so ist dann ein Seu­chen­schutz­trupp auf­ge­taucht, wenn es sich um Mord han­delt?«

Lau­ra und Acker­mann war­fen sich stum­me Bli­cke zu. Sie woll­ten kei­nes­falls De­tails preis­ge­ben, an­de­rer­seits hat­ten sie bei­de kei­ne Ant­wort auf die Fra­ge des Man­nes.

Acker­mann brach schließ­lich das Schwei­gen. »Dr. Sa­lo­nis hat­te et­was von ei­nem Stu­fe-Vier-Ver­dacht er­zählt.«

Die­se Neu­ig­keit raub­te dem Arzt schier den Atem. Sei­ne Lip­pen wur­den schmal, und doch press­te er zwi­schen ih­nen her­vor: »Mein Gott! Sind Sie si­cher?«

Auf Acker­manns stum­mes Ni­cken füg­te er hin­zu: »Wa­ren Sie auch in dem An­hän­ger?«

»Nein. Was be­deu­tet Stu­fe Vier?«

Der Arzt sah in die Run­de. An den asch­fah­len Ge­sich­tern der Sa­ni­tä­ter er­kann­te Lau­ra, dass dem Ret­tungs­team schon lan­ge be­wusst war, was Ele­na ver­mu­te­te. Al­lem An­schein nach tapp­ten nur sie im Dun­keln. Ehe sich Är­ger in ih­rer Brust breit­ma­chen konn­te, raun­te der Arzt: »Töd­li­che Er­re­ger!«

»Geht das auch ge­nau­er?« Lau­ra spür­te, dass ihr lang­sam der Ge­dulds­fa­den riss. Töd­li­che Er­re­ger. Was soll­te das sein?

»Hoch­an­ste­cken­de Vi­ren wie zum Bei­spiel das Ebo­la- oder Mar­burg-Vi­rus«, er­klär­te der Arzt.

»Ebo­la!«, echo­te Lau­ra, und das Po­chen in ihrem Kopf schwoll zu ei­nem Häm­mern an. Sie spür­te, wie sich ih­re Na­cken­haa­re auf­stell­ten und das Ent­set­zen über die­se Aus­sa­ge di­rekt in je­de ih­rer Hirn­zel­len kroch. Ihr Blick schnell­te zu dem Mann auf der Tra­ge, den sie kurz vor­her hier ge­fun­den hat­te. Viel­leicht war er im Con­tai­ner ge­we­sen und könn­te nun in­fi­ziert sein?

Sie wich zu­rück und stell­te sich die Fra­ge, wie na­he sie ihm ge­kom­men war. Sie be­äug­te ih­re Hän­de. Hat­te sie ihn be­rührt? Zur Si­cher­heit wisch­te sie sich die Hän­de an ih­rer Ho­se ab. Sie wuss­te, dass das kei­ne Wir­kung hat­te. Trotz­dem konn­te sie die­sen Im­puls nicht un­ter­drü­cken.

Doch dann zog et­was an­de­res ih­re Auf­merk­sam­keit auf sich. Zwei ver­mumm­te Ge­stal­ten klet­ter­ten den Wall hin­auf. Bei­de be­packt mit Fla­schen und et­was, das aus­sah wie Schutz­an­zü­ge. Durch die Atem­schutz­mas­ke hör­te sich die Stim­me des Man­nes selt­sam dumpf an.

»Kom­mis­sa­rin Braun?«

Oh­ne Lau­ras Ant­wort ab­zu­war­ten, kam er so­fort zur Sa­che. »Ich bin Kars­ten Hum­mel, Zug­füh­rer des ABC-Trupps. Wir über­neh­men jetzt.«

»Das kommt nicht in Fra­ge. Dies ist schließ­lich mein Tat­ort!«, sag­te Lau­ra und ver­schränk­te die Ar­me vor der Brust. Nicht nur, dass man sie an­ge­wie­sen hat­te, auf dem Hü­gel aus­zu­har­ren und sie so­mit von dem Con­tai­ner mit den Lei­chen fern­hielt. Jetzt tauch­te auch noch je­mand auf, der mein­te, die Re­gie über­neh­men zu müs­sen.

»Ich dis­ku­tie­re nicht!«, ant­wor­te­te Hum­mel scharf.

Lau­ras Wan­gen brann­ten, und sie warf ihm ei­nen ver­nich­ten­den Blick zu. Wie konn­te er so mit ihr re­den? Sie war schließ­lich die lei­ten­de Er­mitt­le­rin. Sie war seit Stun­den auf den Bei­nen, kämpf­te mit Mü­dig­keit und der Käl­te, und dann auch noch das. Sie schnaub­te ver­ächt­lich und hol­te tief Luft. Doch dann fing sie Falk Acker­manns Blick auf und ver­stand. Of­fen­sicht­lich war jetzt nicht der rich­ti­ge Zeit­punkt für Macht­spiel­chen.

Sie ließ die Luft aus ihren Lun­gen ent­wei­chen und be­müh­te sich um ei­nen freund­li­che­ren Ton: »Was ist ei­gent­lich pas­siert, wie­so be­darf es ei­nes ABC-Trupps?«

Der Mann in dem Schutz­an­zug igno­rier­te ih­re Fra­ge und wand­te sich an die Ret­tungs­kräf­te: »Wie geht es der ver­letz­ten Per­son?«

»Der Mann muss drin­gend in ein Kran­ken­haus!«, sag­te der Not­arzt.

Hum­mel schenk­te dem Ver­letz­ten kei­nen wei­te­ren Blick. »Wir ha­ben ei­nen Stu­fe-Vier-Ver­dacht. Sie ken­nen ja das Pro­ze­de­re, oder?«

Die Ret­tungs­sa­ni­tä­ter schlüpf­ten kom­men­tar­los in die Over­alls. Doch die Aus­sa­ge des Not­arz­tes nag­te im­mer noch an Lau­ras Ver­stand.

»Könn­te es tat­säch­lich Ebo­la sein?«

»Es muss nicht zwangs­läu­fig Ebo­la sein!«, sag­te Hum­mel, und die Kom­mis­sa­rin woll­te schon auf­at­men, als er hin­zu­füg­te: »Es könn­te auch ein an­de­res Hä­mor­rhagi­sches Fie­ber sein. Auf je­den Fall ist es zwin­gend not­wen­dig, dass Sie al­le de­kon­ta­mi­niert wer­den. Bit­te ach­ten Sie dar­auf, dass Ih­re Kör­per kom­plett be­deckt sind, und be­nut­zen Sie die Über­zie­her und den Mund­schutz.«

Ver­wirrt griff sie nach dem Over­all. Das Kunst­stoff­ge­we­be knis­ter­te, und so­fort ver­fing sich der Wind in dem Ma­te­ri­al. Mit dem An­zug kämp­fend sah sie zu Falk Acker­mann. Er be­müh­te sich um ei­ne neu­tra­le Mie­ne, doch lei­der pass­te sei­ne Ge­sichts­far­be nicht da­zu.

Ebo­la!, summ­te es in ihren Oh­ren. So­fort er­schie­nen grau­si­ge Bil­der von Re­por­ta­gen aus Afri­ka vor ihrem in­ne­ren Au­ge. Fo­tos hoff­nungs­los über­füll­ter Auf­fang­la­ger von Or­ga­ni­sa­ti­o­nen wie Ärz­te oh­ne Gren­zen, die ver­zwei­felt ver­such­ten, die Er­krank­ten zu ret­ten. Ebo­la!

Sie sah zu den Ret­tungs­sa­ni­tä­tern, und ein selt­sa­mes Ge­fühl der Pa­nik nahm ihr den Atem. Sie keuch­te. Doch der Zell­stoff ihres Mund­schut­zes mach­te ein tie­fes Ein­at­men na­he­zu un­mög­lich.

Die Men­schen auf dem Hü­gel er­in­ner­ten sie an die Hel­fer in den Kri­sen­ge­bie­ten. Ein­ge­mummt in wei­ße Ka­pu­zen­over­alls mit Atem­schutz und Schutz­bril­le, die kei­nen Blick auf den Trä­ger zu­lie­ßen, pau­sen­los da­mit be­schäf­tigt, Lei­chen in schwar­zen Plas­tik­sä­cken in an­ony­men Grä­bern zu ver­schar­ren. Ebo­la!

Der Ab­stieg in den Schutz­an­zü­gen er­wies sich als äu­ßerst schwie­rig. Die Schuh­über­zie­her wa­ren glatt und für ei­nen Steil­hang nicht ge­schaf­fen. Sie droh­te ab­zu­rut­schen, denn nach je­dem Schritt be­sprüh­ten die Män­ner den ver­meint­lich kon­ta­mi­nier­ten Bo­den und ver­wan­del­ten den Un­ter­grund in ei­ne schlam­mi­ge Bahn.

Es kam, wie es kom­men muss­te. Lau­ra schlit­ter­te. Aber Hum­mel pack­te sie und ver­hin­der­te, dass sie den Hang her­un­ter­pur­zel­te. »Dan­ke!«, mur­mel­te sie und sah ver­le­gen an ihm vor­bei.

Was den Con­tai­ner ge­ra­de­wegs in ihr Blick­feld schob. Ver­mumm­te Män­ner ver­sie­gel­ten den Stahl­ko­loss. So­fort er­fass­te sie wie­der ein un­gu­tes Ge­fühl. Wo­hin hat­te man Ele­na ge­bracht?

Ih­re Ge­dan­ken ras­ten, und ihr Puls ga­lop­pier­te, als sie dar­an dach­te, dass sie