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Was ist für dich Magie?
Ohne die leiseste Ahnung zu haben, wie sie hierherkommt, erwacht Loopi in einer fremden Welt. Als man sie dann noch auf die Suche nach einem Weisen schickt, der einen mehr als ungewöhnlichen Namen trägt, ist ihre Verwirrung vollkommen.
Wie es scheint, ist sie nicht zum ersten Mal hier. Oder wie sonst ließe sich das albtraumhafte Wesen erklären, das ihr seit ihrer Ankunft auf den Fersen ist?
Diese Welt hütet ein Geheimnis. Es aufzuklären obliegt Loopi. Doch wie sich herausstellt, ist sie nicht allein …
Hinweis: Es empfiehlt sich, vorab das Buch "Die Sternwolkenallee" des Autors gelesen zu haben.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Alle Rechte vorbehalten.
1. Auflage 2022
ISBN: 9783754628508
Lektorat: Lisa Reim-Benke, Bayreuth, www.lektorat-reim.de
Umschlaggestaltung und Satz: chaela (www.chaela.de)
Satz des E-Books: Ambra Kerr
Stephan Hemming
c/o autorenglück.de
Franz-Mehring-Str. 15
01237 Dresden
www.stephan-hemming.com
Band 1 „Die Sternwolkenallee“
978-3-75462-260-5 (Hardcover)
978-3-75461-847-9 (Taschenbuch)
978-3-75462-292-6 (E-Book)
Begrüßung
Vorwort
Prolog
Kapitel 1
1. Schiffbruch
2. Filmrolle 1: Im Butterbrothaus
3. Filmrolle 2: Von Messern und Stürmen
4. Die Bitte eines Fremden
5. Liebes Tagebuch
6. Leere Seiten
7. Das Dorf am Ende der Welt
8. Eine Nacht, an die man sich erinnert
9. Mitten im Nichts
10. Nirgendwo
11. Überall
Kapitel 2
12. Ein gefallener Riese
13. Ein Herz vielleicht?
14. Wie man eine Welt rettet
15. Über den Fluss
16. Ein Echo
17. Das Zwillingsplateau
18. Allein
19. Die letzten Stufen ins Königreich der Träume
20. Zeit in einer Nussschale
Kapitel 3
21. Träume und mehr
22. Der Plan: Erster Teil
23. Von oben ist unten am schönsten
24. Abwärts
25. Du willst also zum Mittelpunkt der Welt?
26. Aus Stein und Flammen
Kapitel 4
27. Das Herz der Welt
28. Der Plan: Zweiter Teil
29. Ein Traum aus Licht
30. Wir sind Feuerwerk
31. Durch die Adern eines steinernen Giganten
32. Wahrscheinlich unwahrscheinlich
Kapitel 5
33. Das Ende und sein Anfang
34. Ein Ballon mit Fenstern
35. Das Ende und seine Mitte
36. Da bist du
37. Abschied
Epilog
Eine (kurze) Danksagung
Über den Autor
Hallo
Bevor du umblätterst, um jenes Mädchen mit dem eigenartigen Namen auf ihrer Reise zu begleiten, lass mich dir noch ein paar Worte mit auf den Weg geben.
Vergiss unter keinen Umständen, dass sich diese Geschichte in einer anderen Welt genau so zugetragen hat. Wenn das Mädchen könnte, sie würde es dir bestätigen. Nimm stattdessen mein Versprechen und glaube mir jede Zeile.
Die Geschichte soll dir Freude bringen. Wenn du zwischen all den Buchstaben aber etwas findest, das dein Leben bereichert, dann behalte es. Nur deswegen habe ich es dorthingelegt.
Ganz wichtig und zu guter Letzt:
Dieses Buch ist der zweite Teil einer größeren Geschichte. Du kannst dich ihm nun widmen, gerade so, als gäbe es den ersten nicht einmal. Oder du beschließt, nicht nur einen Ausschnitt, sondern das vollständige Bild sehen zu wollen und beginnst zuerst mit
Die Sternwolkenallee.
Es ist allein deine Entscheidung. Würdest du mich allerdings um Rat fragen …
Es roch nach Salz und verkohlten Träumen. Seelenruhig legte sich Asche auf die noch zitternde Welt und färbte sie in ein dreckiges Schwarz. Rußflocken tänzelten an ihr vorüber. Die Glühenden waren die schlimmsten, zeigten sie ihr doch in unverhohlener Deutlichkeit, dass ihr nichts mehr je wieder etwas anhaben könnte. Grausame Unsterblichkeit, weil die Luft zum Atmen fehlte.
»Wenn ich die Wahl hätte, wäre ich ganz woanders.«
»Wenn du die Wahl hättest?«, wiederholte eine männliche Stimme, sanft und verständnisvoll. »Warum glaubst du, dass du keine hast?«
»Weil – das weißt du doch.« Sie blies Luft aus der Nase. Fragen, die sie zwangen, über etwas nachzudenken, worüber sie nicht nachdenken wollte, wurden für gewöhnlich dann gestellt, wenn sie lieber Zustimmung und einen Wunsch frei gehabt hätte.
»Ich weiß nichts«, sagte die Stimme auf eine Weise, als zuckte sie mit den Schultern.
»Du weißt alles«, widersprach sie ihm.
Dass das Mädchen damit recht hatte, war kein Geheimnis. Teilweise zumindest. Dennoch ließ die Stimme sie nicht in Ruhe. »Wo wärst du gerne, sag schon.«
In ihrem Gesicht erschien ein Lächeln; so warm, dass es eine Farbe irgendwo zwischen porzellanrosa und rosenrot annahm. Minuten vergingen. Da der Stimme gefiel, was sie sah, beschloss sie, das Mädchen nicht weiter mit bohrenden Fragen zu quälen. Vorerst.
»Wir werden ein andermal darüber reden. Vielleicht bist du dann ja einen Schritt weiter?«
Sie hatte ihm nicht zugehört und bekam nur einen Schritt weiter mit.
»Einen Schritt …«, wiederholte sie gedankenverloren.
»Einen Schritt. Aber sei nicht enttäuscht, wenn es mehr werden.« In der Stimme lag eine Idee.
Das Mädchen nickte. »Zwei Schritte.«
Etwas berührte ihre Wange, dann wurde es still. So wie vor jedem Sturz.
Eine warme Nasenspitze konnte vielerlei bedeuten. Erst recht, wenn man schlief. Beispielsweise war es nicht ausgeschlossen, dass man die Nacht neben einer Herdplatte verbracht hatte, auf der ein gemächlich vor sich hin blubbernder Eintopf köchelte. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, während eines Traums durch eine Wüste gewandert zu sein. Etwas Leckeres zu riechen sorgte bisweilen ebenso für eine glühende Nase, nicht anders ein sich ankündigendes Niesen. Was es auch war – Klarheit fände sie nicht im Halbschlaf.
Noch im Schlummer öffnete das Mädchen die Augen und blickte in den hellblauen Ozean über ihr, in dem eine strahlende Sonne schwamm. Salziges Wasser schwappte gegen ihren Körper und sie schob eilig die Hände vors Gesicht. Sie stöhnte. Ihr Rücken schmerzte, Arme und Beine nicht minder, und zu allem Überfluss hatte sie auch noch Hunger. Als hätte er nur auf seinen Einsatz gewartet, knurrte ihr Magen wie ein übellauniger Wolf. Mühevoll setzte sie sich auf und sah sich um. Vor ihr ein endloses Meer, hinter ihr ebenso. Auch zu beiden Seiten der gleiche trostlose Anblick. Von der Eintönigkeit über ihr ganz zu schweigen.
Wie bin ich nur hierhergekommen?
Nirgendwo waren Vögel zu sehen und auch von Schiffen fehlte jede Spur. Rasch untersuchte sie den Horizont, doch bis auf ein Flimmern entdeckte sie dort nichts Auffälliges. Das Mädchen wurde unruhig. Diese Situation war alles andere als angenehm. Abgesehen von dem Stück Holz, auf dem sie hockte, war sie mutterseelenallein; und nicht anders fühlte sie sich. Hilflos. Verlassen.
Allein.
Ihre Blicke pflügten über die glitzernde Wasseroberfläche, hinauf in den Himmel und schließlich auf die Innenseiten ihrer Handflächen, die sie verzweifelt auf ihr Gesicht drückte. Sie wollte schreien, entschied sich aber für ein Schluchzen.
»Allein«, sagte sie und schniefte.
Das nasseste Wort von allen.
So verging eine Stunde oder zwei, in der das Mädchen mit dem Schicksal haderte. Dieses zeigte sich wenig einsichtig, gab ihr jedoch eines zu bedenken: »Es wird schon einen Grund geben, warum du hier bist. Wenn du Glück hast, einen guten. Wenn du allerdings Pech hast …« Es sparte sich die restliche Schwarzmalerei und zuckte mit den Schultern, wie es das Schicksal so gerne tat. Und tatsächlich zeigten die Worte Wirkung. Ja, natürlich könnte sie vom Schlimmsten ausgehen und warten, bis sie ertrank oder verhungerte. Oder beides – erst das eine, dann das andere. Aber auf Glück zu hoffen wäre auch eine Möglichkeit.
Einmal noch atmete sie tief ein, tief aus und wischte sich eine verirrte Träne von der Wange. Glück also, das gefiel ihr. Es gefiel ihr so gut, dass sie sich sagte, es gehöre zum Glück, auch Pech zu haben, da all die glücklichen Momente begrenzt und daher gerecht aufgeteilt werden müssten. Dann aber fand sie, dass es ein denkbar schlechter Zeitpunkt für Gedankenspiele jeglicher Art sei. Glück hin, Pech her. Wer allein auf dem offenen Meer trieb, mit nicht mehr als einem Holzbrett zwischen sich und einer nassen Unendlichkeit, tat gut daran, nicht zu optimistisch in die Zukunft zu schauen. Glück war das kurze Gefühl der Rettung – Land zu erreichen, in Sicherheit zu sein –, Pech der ganze Rest. Trübsal blasen brachte sie zwar nicht weiter, aber dass sie hier gehörig in der Patsche saß, ließe sich auch mit Glück nicht schönreden.
Nun, wenigstens trachtete ihr die See nicht nach dem Leben – wie etwa mit einer Springflut oder mäßig gelaunten Raubfischen, die in ihr einen Happs für zwischendurch sahen. Ohne diese Planke wäre sie wesentlich schlechter dran, das wusste sie und klopfte mit den Fingerknöcheln dankbar auf das Holz.
»Ich weiß es doch nicht«, beantwortete sie die Frage von eben, welche ihr erneut in den Sinn kam:
Wie um Himmels willen bin ich nur hierhergekommen?
Aus dem Nichts erschienen albtraumhafte Bilder eines Sturms vor ihren Augen. Haushohe Wellen schossen in die Höhe und Regentropfen prasselten auf sie ein, während ihr eine peitschende Gischt den Atem nahm. Um sie herum klebte grauer Nebel in der Luft, so zäh, dass sie kaum hindurchzusehen vermochte. Ein winziges Objekt, glühend wie ein Funke, sauste an ihr vorbei; dann noch eins, direkt neben ihrem Ohr, und verfehlte sie nur haarscharf. Mit ihrem grellen Pfeifen hoben sie sich deutlich vom übrigen Getöse ab. Erschrocken verlor sie den Halt, stürzte …
Sie schüttelte sich und bemerkte, wie ihre Finger das Brett umkrallten. Die Bilder hatten sich so echt angefühlt und ihr war, als hätte sie den Sturm tatsächlich erlebt. Mit aufgeblasenen Backen ließ sie Luft durch ihre gespitzten Lippen strömen, ehe sie eine Hand ins Meer tauchte, sich durchs Gesicht fuhr und ihre langen salzverklebten Haare hinter die Ohren wischte. Auf Tagträume wie diese konnte sie gut verzichten.
Angenommen, diese Bilder entsprachen der Vergangenheit und waren nicht nur ihrer Angst geschuldet – was bedeuteten sie dann? Dass sie heil aus der Sache herausgekommen war, gewiss, aber eben auch, dass sie Passagier auf einem Schiff gewesen sein musste. Doch wohin hatte es sie bringen sollen? Es fiel ihr nicht ein, so sehr sie darüber nachdachte.
Nun, dann würde sie eben ganz von vorne und mit etwas beginnen, das man nie und nimmer vergessen konnte: dem eigenen Namen.
»Ich heiße …«, erhob sie feierlich die Stimme.
»…«
»Hm?«
Die Schiffbrüchige seufzte. Auch der war verschwunden. In ihrem Kopf herrschte gähnende Leere; etwa wie in einer Vorratskammer, die man hungrig öffnete, nur um enttäuscht festzustellen, dass dort nichts außer einem Glas von Omas Fenchelmarmelade mit Rosinen, Nelken und anderen Furchtbarkeiten wartete.
»Kein Grund zur Panik«, sprach sie sich Mut zu. »Gedächtnisverlust ist nach schweren Unfällen nicht unüblich.«
Und dass sie mit löchrigem Gedächtnis auf einer Planke im Meer trieb, konnte kaum eine andere Ursache haben. Früher oder später kämen all ihre Erinnerungen von ganz alleine zurück, sie musste nur Geduld haben. Am wichtigsten war ohnehin, dass sie so schnell wie möglich Land erreichte. Aber – in welche Richtung sollte sie rudern?
Während sie sich den Kopf zerbrach, bemerkte sie die volle Last ihrer Erschöpfung. Was immer hinter ihr liegen mochte, war gewiss kein Zuckerschlecken gewesen. Sie streckte die Beine aus, legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Bald würde die Sonne ins Meer tauchen und die Nacht hereinbrechen. Fast schon fürsorglich wiegten die Wellen das Mädchen auf und ab, Rauschen und ein sanfter Wind ließen sie die Ausweglosigkeit für den Moment vergessen.
Sie war beinahe eingeschlafen, als sie auf der Leinwand ihrer Augenlider die Umrisse eines altmodischen Filmprojektors erkannte. Von der Seite betrachtet hatte er Ähnlichkeit mit dem Kopf einer Schnecke und deren abgespreizten Fühlern. Sie vernahm Schritte, fragte sich, woher sie kamen, und ehe sie sich versah, tauchte aus der Dunkelheit ein Filmvorführer mit Schnauzbart, kurzen Hosen und schlaff auf dem Kopf liegender Mütze auf. Unter beiden Armen trug er je eine runde matt-silbrige Schutzhülle.
»Zeigst du mir einen Film?«, nuschelte sie traumselig.
Völlig außer Atem legte der Vorführer die Hüllen neben den Projektor, wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn, öffnete die kreisrunden Behälter und holte zwei Filmrollen hervor, um sie dem Mädchen mit hochgezogenen Augenbrauen zu präsentieren.
»Sogar ein Zweiteiler«, staunte sie. »Zweiteiler sind mir viel lieber als Trilogien. So weiß ich eher, wie die Geschichte endet.«
Die Ansichten seines Gasts gefielen ihm. Dreiteiler mochte er auch nicht sonderlich; zwei Filmrollen schleppen zu müssen war anstrengend genug. Flink und mit fachmenschlicher Sicherheit platzierte er die erste Rolle am vorderen Arm des Projektors und legte einen winzigen Hebel um. Stotternd setzte sich der Motor in Bewegung und die Spule drehte sich.
10 … 9 … 8 …
Ein Dorf.
… 6 … 5 … 4 …
Ein Baum.
… 2 … 1 …
Loopi.
Unversehens verschwamm das Bild, gefolgt von klopfenden Geräuschen. In der nächsten Sekunde schaltete sich der Projektor aus.
Klack.
Rauch stieg aus dem Gehäuse auf und ließ die Luft nach verschmortem Gummi schmecken. Der Filmvorführer fiel aus allen Wolken. Dass gerade ihm das passieren musste. Mit einer Pinzette, die er stets für solche Fälle bei sich trug, stocherte er im mechanischen Innenleben des Geräts herum und holte einen winzigen Stein hervor. Tadelnd hielt er ihn vor sich.
»Loopi?«, fragte die Zuschauerin. »Was ist das?«
Das Männchen in kurzen Hosen hob den Zeigefinger und blies einige Male auf den Motor, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Danach griff er an die Krempe seines Huts, betätigte den Schalter, trat zur Seite und war nicht mehr zu sehen.
Im Butterbrothaus
Ein Film von: mir
Ein schöner Name, dachte sie. Und so einfach zu merken.
An den Grashalmen klebten dickbauchige Tropfen und verwandelten die Wiese in ein Perlenmeer. Am Morgen hatte es geregnet, aber nur kurz und nicht stark – gerade so viel, dass es der Welt guttat. In aller Seelenruhe kehrten Bienen, Hummeln, Grashüpfer und Libellen aus ihren Verstecken zurück und gingen ihrem Tagwerk nach, das aus Summen, Brummen, Hüpfen und regungslos in der Luft schweben zu bestehen schien.
Ein Windhauch fuhr ihr durchs Gesicht, dass ihre Haarspitzen die Nase kitzelten. Es gab Schlimmeres.
»Lass das«, sagte sie trotzdem.
Der Wind gehorchte ihr.
Etwas, das sich wie die Spitze eines Grashalms oder einer Feder anfühlte, strich ihr über den Hals. Entweder, um sie zu ärgern, oder – nein, ein anderer Grund war undenkbar. Dennoch gab es Schlimmeres.
»Lass das!«, sagte sie bestimmt.
Der Grashalm gehorchte ihr.
Plötzlich fiel ihr etwas auf die Stirn. Es war hart und glatt, am unteren Ende spitz zulaufend – wie eine Eichel oder eine Haselnuss.
»Au!«, rief sie, riss die Augen auf und schoss in die Höhe.
Sie sah nur verschwommen, wie man es so gerne tat, wenn man von herabfallendem Baumschmuck aus dem Schlaf gerissen worden war. Als ihr Blick jedoch schärfer wurde, erkannte sie drei um sie herum stehende Gestalten. Zwei von ihnen waren Kinder, die jeweils eine Hand vor ihre lachenden Münder hielten und mit der anderen auf sie zeigten. Jungen dieser Größe hatten nichts als Flausen im Kopf. Die dritte Person war reifer und entpuppte sich als Mädchen in ihrem Alter; achtzehn oder neunzehn vielleicht. Alle drei hatten sie gemeinsam, dass sie komisch gekleidet waren – komisch im Sinne von lustig, aber auch von eigenartig. Keine der Farbkombinationen auf ihren Kleidungsstücken wollte zusammenpassen. Das Hemd des einen Jungen war mit grasgrünen, grellgelben und weinroten Flecken gemustert, während das des anderen von einem abenteuerlichen Streifenmuster in violett und grün geziert wurde. Der Kleidungsstil ihrer Begleiterin war ähnlich eigenwillig, denn sie trug ein bis zu den Knien reichendes Kleid mit weiten Ärmeln und wirrbuntem Batikmuster, auf dem sich eine regenbogenfarbige Spirale immer kleiner werdend dem Nichts entgegen drehte. Ihre Füße steckten in ungebundenen grauschwarzen Stiefeln; einer mit einem gelben, der andere mit einem rosa Schnürsenkel. Daneben wartete ein dunkelgrüner Rucksack.
Je länger sie die drei Fremden betrachtete, desto besser gefiel ihr deren Sinn für Mode.
Die beiden Dreikäsehoch hatten genug gesehen. Der Tag war jung und es gab vieles zu entdecken – wenn sie Glück hatten, vielleicht sogar noch andere unter Bäumen schlafende Menschen. Gelangweilt hüpften sie auf den angrenzenden Weg und liefen davon. Das fremde Mädchen hingegen grinste so breit es konnte und ging in die Knie. »Hallo Loopi.«
»Loopi?« Geistesabwesend – und wohl auch aus Gewohnheit – reichte sie der Fremden die Hand. Ein kräftiger Händedruck riss sie aus dem Tran und entlockte ihr einen protestierenden Laut. »Au!«
Nachdem sie ihre fünf Finger wiederhatte, blickte sie sich um. Loopi saß am Fuß eines ungefähr acht bis zehn Meter hohen Baums, dessen dichtes Astwerk fast schon süßholzraspelnd zum Klettern einlud. Die Rinde war knochig, bräunlich und an manchen Stellen nahezu schwarz. Dunkelgrünes Moos erschwerte zwar den Aufstieg, hatte sie augenscheinlich aber keineswegs von Dummheiten abhalten können. Sie streckte den Rücken und verzog das Gesicht.
»Ich muss runtergefallen sein«, stöhnte sie.
»Das musst du wohl«, sagte die ihr Gegenübersitzende und zuckte mit den Schultern.
Loopi lehnte sich mit ausgestreckten Beinen an den Stamm. Gerade als sie das Mädchen nach ihrem Namen fragen wollte, bemerkte sie, dass ihr Gedächtnis vor Lücken nur so strotzte. Weder wusste sie, wo sie war, noch was sie hierher verschlagen hatte. Sie erinnerte sich an nichts mehr; ja, noch nicht einmal, wie sie auf den Baum gestiegen und heruntergefallen war.
»Mach dir keine Gedanken«, beruhigte sie das bunt gekleidete Mädchen. »Gedächtnisverlust ist nach schweren Unfällen nicht unüblich.«
»Mhm!« Loopi nickte.
Die Fremde sprang auf und stemmte die Arme in die Hüfte, wie eine Piratin. Nur die Augenklappe fehlte. »Geh zu Oma Grimbo«, sagte sie.
»Oma …?«
»Einfach den Weg entlang«, fiel sie ihr ins Wort, verabschiedete sich, schnappte ihren Rucksack und lief davon.
»Grimbo?« Loopi seufzte.
Kein sehr vertrauenerweckender Name für eine ältere Dame.
Loopi stand auf und streckte sich erneut, ehe sie sich auf den Weg machte. Hoffentlich war es bis zum Dorf nicht weit. Je früher sie ihre Erinnerungen zurückhatte, desto wohler wäre ihr – vorausgesetzt, diese Oma Grimbo könnte ihr dabei helfen.
Gelegentlich kamen ihr Wanderer oder Händler mit Karren entgegen. Mehr als ein Nicken und gegrunztes »Mmh« hatten sie für sie nicht übrig. Eine Viertelstunde später erreichte Loopi eine Kuppe, von der aus sie hinab ins Tal schaute. Der Anblick war überwältigend. Vor einem bis schier in die Unendlichkeit reichenden Ozean ruhte ein Fischerdorf, das einem Gemälde entsprungen sein konnte; die Häuser in den unterschiedlichsten Farben, auf dem Marktplatz geschäftiges Treiben und am Ufer ein Hafen für Fischerboote. Stege führten ins Meer, an deren Seiten kleinere und größere in den aberwitzigsten Farbkombinationen gestrichene Kähne schaukelten.
Nachdem sie genug gestaunt hatte, marschierte sie weiter, bis sie das Ortsschild erreichte: So’RonaTâi. Auf einer Tafel daneben las sie folgende Worte:
»Loopi! Wenn du zu Oma Grimbo möchtest, biege in fünfzig Schritten rechts ab, geh geradeaus, dann links, dann wieder rechts, bis du vor einer gelben Tür stehst. Blau ist falsch, grün auch. Tritt dir die Füße ab! Wenn nach dreimal Klopfen niemand die Tür öffnet, hat ein viertes Mal auch keinen Sinn. Komm später wieder.«
Gewissenhaft und Schritt für Schritt hielt sie sich an die Anweisungen und fand sich tatsächlich vor einer gelben Tür wieder. Nervös atmete sie tief ein, ehe sie zaghaft gegen das Holz pochte.
Nichts geschah, daher klopfte sie nochmal.
Wieder nichts. Als sie gerade für den letzten Versuch ausholte, öffnete sich die Tür. Vor ihr stand die junge Frau von eben, und sie strahlte sie an.
»Ja?«
»Ich … also ich …« Mehr bekam Loopi vor Verwunderung nicht heraus. »Bist du etwa Oma Grimbo?«
»Nein.« Das Mädchen im Batikkleid lachte und schüttelte den Kopf. »Seh ich etwa so aus, als würde ›Oma‹ zu mir passen?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Loopi. Ein wenig peinlich war es ihr schon.
Die Frau im Türrahmen bat sie herein. »Setz dich. Oma ist bestimmt gleich bei dir.« Danach huschte sie an ihr vorbei und verschwand so rasch, wie sie es zuvor schon beim Baum getan hatte.
Loopi schlich zum Tisch und setzte sich. Neben Papierbögen und Bleistiften hatten unzählige Brotkrümel ein Zuhause auf ihm gefunden. Der Raum war karg eingerichtet und beherbergte nicht mehr als eine Küchenzeile, besagten Tisch, zwei Stühle und einen rußgeschwärzten Kamin. Es roch muffig und nach kalter Asche. Nicht mal ein Sofa oder ein gemütlicher Sessel luden zu hochgelegten Beinen ein.
Wie aus dem Nichts knallte etwas an die Wand neben dem Eingang. Das Mädchen fuhr herum und erkannte einen hünenhaften alten Mann, der sie vom Türrahmen aus mit misslaunigem Blick anstierte.
»Was tust du hier?«, bellte er sie an.
»Was – was meinen Sie?«, fragte sie kleinlaut.
»Na was du hier suchst?«, präzisierte er die Frage, indem er jede Silbe stakkatoartig betonte.
Der Alte machte zwei Schritte auf sie zu, woraufhin Loopi zurückwich.
»Sind Sie Oma Grimbo?«
»Ein und derselbe.« Er stampfte an ihr vorbei zum Tisch, wo ihm eine krümelfreie Stelle verriet, dass etwas nicht an seinem Platz war. »Wo ist mein goldener Füllfederhalterbehälter? Hast du ihn?«
»Natürlich nicht!«, rief sie. Dass sie dieses Wort zweimal hintereinander in Gedanken wiederholte, versuchte sie sich nicht anmerken zu lassen. »Wo bitteschön soll ich Ihren Füllfederhalterbehälter versteckt haben?« Sie sprang auf, zog demonstrativ das Innere ihrer Hosentaschen heraus, drehte sich einmal im Kreis und ließ sich empört auf den Stuhl plumpsen.
Grimbo glaubte ihr, brummte aber dennoch und bedachte sie mit einem abschätzigen Blick, bevor er aus dem Schrankfach oberhalb der Küchenarbeitsplatte einen Laib Brot hervorholte. »Hunger?«
Loopi nickte.
»Dachte ich mir.«
Oma Grimbo war eine herzerwärmende Person – jedenfalls, wenn man nicht wusste, was herzerwärmend bedeutete. Tat man es hingegen, war er das genaue Gegenteil.
Ohne Vorwarnung warf er ihr einen hölzernen Gegenstand zu, an dem noch etwas klebte, das niemals auf einen sauberen Teller gehörte. Danach zog er ein Messer aus dem dazugehörigen Schuber. In Grimbos Augen zeigte sich ein Funkeln. Mit unübersehbarer Lust stach er auf den Laib ein wie jemand, der nicht seine erste Backware massakrierte. Nach getaner Arbeit flatterte ein unförmiger Ranken durch die Luft und klatschte auf Loopis Teller. Die Butter stellte er freundlicherweise auf den Tisch, allerdings so weit von ihr entfernt, dass sie aufstehen musste, um sie zu erreichen. Um zu verhindern, dass er ihr als zuvorkommender Gastgeber in Erinnerung bliebe und sie dadurch womöglich ermunterte, wiederzukommen, ließ er den Käse dort, wo er war. Brot und Butter mussten genügen. Und für Loopi tat es das. Jeder Biss fühlte sich an, als hätte sie seit Jahren nichts mehr gegessen. Sie schmatzte und kaute, schluckte und begann von vorne.
Satt und mit vollem Bauch spürte Loopi ein unbehagliches Gefühl auf ihrer Haut. Der Alte beobachtete sie und machte keinen Hehl daraus.
»Nimms nicht persönlich, aber ich mag dich nicht«, brummte er.
Sie schluckte den letzten Bissen herunter. »Wie soll ich das nicht persönlich nehmen?«, erwiderte sie stutzig.
Oma zuckte mit den Schultern.
»Ihre – Ihre Tochter sagte mir, ich solle zu Ihnen kommen«, fuhr Loopi fort.
»Tochter? Welche Tochter?«
»Ihre To… Das Mädchen sagte mir, Sie würden mir helfen.«
»Ach?« Er knallte ein Bein auf den Tisch. »Und du glaubst Fremden alles, was sie dir erzählen?«
»Nein, ich …«
Grimbo blies Luft aus der Nase, was einem spöttischen Lachen gleichkam. »Du hast keine Ahnung, wo du bist. Richtig?«
Sie nickte.
»Also stehst du noch ganz am Anfang.«
»Am Anfang von was?«, wollte sie wissen.
»Du suchst etwas. Oder musst etwas erledigen. Vielleicht auch beides.«
»Aber – was?«
Er stöhnte. »Geh aus dieser Tür hinaus. Das, was du suchst, könnte nicht weiter von hier entfernt sein.«
»Was – meinen Sie?«, stammelte Loopi. Wenn sie hartnäckig bliebe, würde er ihr womöglich irgendwann antworten.
Oma rollte gelangweilt mit den Augen. »Hast du etwas kaputt gemacht, das du jetzt reparieren möchtest? Ein Schaukelpferd, ein Paar Strümpfe – ein Herz vielleicht?«
»Nein, bestimmt nicht. Für Schaukelpferde bin ich zu alt«, schnaubte sie. »Und ich könnte niemals jemandem wehtun. Auf keinen Fall! Das wüsste ich, wenn ich es getan hätte.«
»Ist das so?«, fragte der Gastgeber.
»Natürlich ist das so!«, bestätigte sie und verzog die Augen zu Schlitzen.
»Dann liegt eine spannende Zeit vor dir, herauszufinden, was du suchst.«
»Aber Ihre Tochter … Ihre … na, sie sagte, Sie würden mir helfen«, ließ Loopi nicht locker.
Der Alte seufzte. »Weißt du, was Schicksal ist?«
»Natürlich«, log sie. »Also – nein, weiß ich nicht. Ich habe eine Vermutung, aber …«
Bedächtig streckte er den Zeigefinger aus und deutete auf die Tür. Eine klarere Definition von Schicksal konnte er ihr nicht geben.
»Aber …« Loopi wollte aufstampfen wie ein kleines Kind, erinnerte sich jedoch gerade noch rechtzeitig daran, dass sie viel zu alt dafür war. Sie tat es trotzdem. »Warum sollte ich dann herkommen?«
Er lehnte sich zurück. »Meine Aufgabe ist es, dir einige warme Worte auf den Weg mitzugeben. Stattdessen gab ich dir etwas zu essen. Das eine oder andere könnte ich dir gewiss noch verraten, aber ich mag dich nicht, schon vergessen?« Grimbo zuckte mit dem Zeigefinger vor und zurück, als klopfte er auf die Tür.
»Ist ja schon gut«, brummte Loopi, sprang auf und stapfte gekränkt zum Ausgang. »Danke für das Butterbrot«, und schlug die Tür hinter sich zu.
Grummelig und mit schnellen Schritten lief sie die Straße entlang. Rote Türen, blaue Türen, violette Türen, Türen mit abgeblätterter Farbe – sie flogen nur so an ihren Augenwinkeln vorbei. »Du hättest mir auch nicht weniger helfen können, wenn ich an dir geklopft hätte«, schnauzte sie eine grüne an.
Ihr Ärger legte sich, als sie nach einer engen Kurve unverhofft den Marktplatz vor Augen hatte. Den steigenden Geräuschpegel hatte sie kaum wahrgenommen; der Lärm von über das Kopfsteinpflaster geschobenen Karren, das Geschrei der Händler, das verwaschene Geplapper der Marktbesucher. So viele Eindrücke prasselten auf sie ein, dass sie zusammenzuckte. So viele Menschen, so viele Verkaufsstände. So viele ihr unbekannte Waren. So viele Gerüche von Gewürzen, die die Luft gelb und rötlich färbten, wenn ein Beutel geöffnet wurde, um den Kunden von einem etwaigen Gaumenschmaus zu überzeugen. Früchte in den unterschiedlichsten Formen, manche langgezogen, manche kugelig, dass allein ihre Farben verrieten, wie süß sie schmeckten. Verzaubert jagten ihre Blicke über den Marktplatz. Sie konnte sich nicht entscheiden, welchen Stand sie zuerst besuchen sollte, ließ sich aber schnell von ihrer Nase überzeugen, denn der Geruch von gerösteten Kaffeebohnen war nur schwer zu überbieten.
An der Duftquelle angekommen, beobachtete sie den Händler beim Zubereiten der Getränke. Bläulicher Milchschaum – leicht wie ein Wölkchen – schwebte sanft über frisch gekochtem Kaffee, aus dem Luftperlen blubberten.
»Kommt sofort, die Dame«, las er ihre Gedanken.
»Nein, nein«, schüttelte sie hastig den Kopf. »Ich habe kein Geld bei mir.« Sicherheitshalber untersuchte sie ihre Hosentaschen, nur um festzustellen, dass sie recht hatte.
Mit einem Mal wurde ihr klar, wie verloren sie war. Kein Geld für Kaffee zu haben war schade, aber nicht zu wissen, was sie nun tun sollte, eine ausgewachsene Katastrophe. Verlassen senkte sie den Kopf.
»Zwei davon«, sagte eine Stimme, gefolgt von vier auf den Tresen klimpernden Geldstücken.
Loopi fuhr herum, und da war sie wieder – das Mädchen vom Baum.
»Nelinda«, stellte sie sich vor und schob Loopi an die Seite des Verkaufsstands, wo weitaus weniger Trubel herrschte.
»Hat Oma dir helfen können?«, fragte sie und nippte an der Tasse. Blauer Milchschaum blieb ihr an der Nasenspitze kleben.
»Leider überhaupt nicht. Er sagte nur, dass ich etwas finden müsse, das sehr weit weg von hier ist. Und …« Sie trank einen Schluck, woraufhin auch ihre Nase eine Schaumkrone zierte. »Woher kennen wir uns eigentlich?«
»Ich kenne deinen Namen, aber nicht dich«, antwortete das bunt gekleidete Mädchen. »Du warst mir sympathisch, deswegen habe ich dir helfen wollen.«
Loopi fühlte sich geschmeichelt. »Ach so. Und – woher …?«
Nelindas Zeigefinger huschte an ihre gespitzten Lippen. »Hör auf, blöde Fragen zu stellen. Sowas ist hier auf dem Markt strengstens untersagt.« Geheimnistuerisch zog sie den Kopf ein und blickte an Loopi vorbei, ehe sie grinste.
Diese wunderte sich. »Zu fragen, was etwas kostet, etwa auch?«
»Da, du tust es schon wieder. Bist echt ein hoffnungsloser Fall.«
»Aber wie kann ich sonst herausfinden, was ich jetzt tun soll?«, klagte sie. »Für dich ist es einfach, du weißt, wohin du gehörst. Ich hingegen weiß überhaupt nichts.«
Nelinda wischte ihr den Schaum von der Nase. »Wenn du nicht weißt, wohin du gehen sollst, nimm einen Punkt am Horizont und mach dich auf den Weg. Selbst wenn er umsonst war, bist du danach um Einiges schlauer. Und besser als herumzustehen ist es allemal.« Sie nahm ihr die leere Tasse aus der Hand und ließ sie in ihrem Rucksack verschwinden. »Los! Augen zu, Finger ausstrecken und im Kreis drehen!«
»Ich soll …?«
Nelinda stöhnte auf. »An der Sache mit den blöden Fragen musst du wirklich arbeiten. Mach schon, dreh dich! Was soll schiefgehen?«
Unsicher schloss Loopi die Augen und tat, was ihr aufgetragen worden war. »Weiter … weiter … noch weiter!«, lauschte sie Nelindas Anweisungen. Als ihr schwindelig genug war, kam sie zum Stillstand und öffnete die Lider. Alles um sie herum war verschwommen, aber wenn sie sich nicht irrte, zeigte ihr Finger auf den Bereich des Marktplatzes, der vor dem Hafen lag.
»Übers Meer also«, sagte sie und lehnte sich an die Seitenwand des Kaffeestandes. Niemand antwortete. »Übers Meer?«, wurde eine Frage daraus, woraufhin ein ertapptes Lächeln ihre Lippen umspielte. »Ja, ich weiß. Blöde Frage.«
Allmählich kehrte ihre klare Sicht zurück und ihre Augen bestätigten ihr, was Loopis Ohren längst bemerkt hatten.
Nelinda war verschwunden.
»Wo …?«, fragte sie kleinlaut. »Wo bist du?«
Loopi verstand nicht und machte zwei Schritte ins Getümmel, bevor ihr klar wurde, dass Nelinda sie verlassen hatte.
Ähm … ähm, also …«, machte eine Stimme und klang maßlos verlegen. »Darf ich dir … Ihnen … wenn es dir nichts ausmacht und … na ja, also. Ein … O-oder …«
Das Gestammel kam von einem jungen Mann, nur unwesentlich älter als sie selbst. Loopi drehte sich um und sah in zwei Augen, deren Blicke auf dem Boden herumpickten. Fremde Frauen anzusprechen war für ihn anscheinend alles andere als Gewohnheit.
»Ein Kaffee«, fasste er Mut und sah sie an. »Darf ich einen Kaffee trinken?«
»Sicher darfst du.« Sie lächelte aus reiner Höflichkeit, doch der Anblick des Fremden und wie er mit den Worten und der Mimik rang, drängte ihre eigene Verlorenheit fürs Erste in den Hintergrund.
»Nein, ich mein…« Der Junge seufzte. Ein Kopf voller Buchstaben, aber keine Kombination ergab etwas Sinnhaftes.
»Ich weiß, was du meinst«, unterbrach sie ihn. »Gerne.«
Nachdem er mit zitternden Händen zwei Tassen Kaffee geholt und – ungeschickt, wie er war – die Hälfte verschüttet hatte, stellte er sich ihr vor. Danach wurde er ruhiger, zumindest ein wenig.
Kaleel war Maat auf einem Schiff. Nicht irgendein Maat, nein – er war der erste Maat des prachtvollsten Seglers, welcher jemals die See befahren hatte: der Salzsonne. Dass er hierbei zu erwähnen vergaß, der einzige Maat zu sein und direkt unter dem Smutje zu dienen, war gewiss keine Absicht gewesen. Mit blauem Milch- anstelle eines Schnurrbarts erzählte er von seinen Abenteuern und gestikulierte so wild, als sei er mittendrin. Anschließend war Loopi an der Reihe. Es wurde eine recht kurze Geschichte und begann mit einem Fingerzeig auf die eigene Stirn und der dort gewachsenen Beule. Sie sagte ihm, dass sie auf die andere Seite des Meeres gelangen müsste, aber nicht wüsste, wie sie dorthin käme.
Kaleel hatte eine Idee. Flugs nahm er sie mit zu seinem Käpt’n und trug ihm ihr Anliegen vor. Wenig begeistert, eine taugenichtsige Landratte an Bord zu wissen, brüllte er ihnen ins Gesicht, dass er keine Eisenbahn zu Wasser befehligte und Passagiere nie und nimmer infrage kämen. Nach Loopis Angebot, sich nützlich zu machen, widerrief er es jedoch zähneknirschend. Es gab noch eine kurze Diskussion über dies und das, »Finger weg vom Rum!« und »Fall nicht über Bord!«, bis der Käpt’n schließlich sein Einverständnis brüllte.
Loopi staunte. Das war reibungsloser gelaufen, als sie gedacht hatte; wobei sie natürlich wusste, dass das böse Erwachen meist nicht lange auf sich warten ließ, wenn etwas auf Anhieb funktionierte. Es war wie Mathematik, nur ohne Zahlen, dafür aber nicht weniger frustrierend.
In aller Frühe des folgenden Tages stach das Schiff in See.
Die Salzsonne erwies sich als eindrucksvolles Segelschiff mit zwei Masten und neun Segeln. Loopi schnappte das Wort »Brigg« auf, konnte aber nichts damit anfangen. Manche Menschen schienen es zu lieben, mit Fachbegriffen oder Fremdwörtern um sich zu werfen, nur um Laien dadurch zu beeindrucken oder blöd dastehen zu lassen. Dies ist eine axiomatische Tatsache.
Zunächst deutete nichts auf Schwierigkeiten hin, alles verlief perfekt. Vielleicht zu perfekt: Die Sonne strahlte nach Kräften, das Meer war ruhig, die Seeleute mürrisch und das Essen schlecht; eben genau das, was sie erwartete, wenn sie auf ein Schiff stieg, dessen Besatzung aus bärtigen Männern und Frauen bestand, die sich mit Rum zu waschen schienen. Wie versprochen half Loopi ihnen, so gut sie konnte. Morgens schrubbte sie das Deck, weil es sich als Passagier so gehörte. Mittags schälte sie Kartoffeln oder Möhren, nachmittags kletterte sie von Seilnetz zu Seilnetz und gegen Abend verschwand sie zumeist ins Krähennest, um den Horizont nach möglichen Gefahren abzusuchen. So vergingen die Tage, und schon bald hatte sich Loopi so gut eingelebt, dass sogar der Käpt’n nicht mehr mit den Augen rollte, wenn sie ihm über den Weg lief.
Am sechsten Tag spürte sie eine deutliche Anspannung an Deck. Es wurde nur noch geflüstert, und sogar der Kapitän brüllte verhaltener. Der Maat setzte sich zu ihr und erzählte, dass dieser Teil des Meeres das Jagdrevier der Neunhundertneunundneunzig hungrigen Messer sei. Erschrocken zuckte Loopi zusammen. Allein der Name verhieß nichts Gutes. Kaleel rückte näher an sie heran und berichtete weiter, dass es sich bei den Neunhundertneunundneunzig hungrigen Messern um Piraten handelte. Auf pechschwarzen Schiffen durchkreuzten sie das Meer; so jedenfalls war es in den düstersten Spelunken einer jeden Hafengegend zu vernehmen. Es klang wie eines der üblichen Ammenmärchen, die man sich nachts am Lagerfeuer erzählte, doch wenn Loopi in die angsterfüllten Augen der Mannschaft sah, erkannte sie wahre Furcht. Niemand wusste, welche Ziele die hungrigen Messer verfolgten, da sie nichts als zerstörte Schiffe und auf Planken treibende Matrosen zurückließen. Loopi bekam eine Gänsehaut, der Maat beruhigte sie jedoch und schwor ihr, sie mit seinem Leben zu beschützen. Dabei lief er knallrot an – in etwa wie ein Stück Eisen über einem Glutofen, das im festen Griff einer Schmiedezange auf den Einschlag des Hammers wartete.
Sie lächelte gerührt, fühlte sich aber kein bisschen besser.
Zwei Nächte darauf wurden sie von grellen Klängen geweckt. Der Wachposten im Krähennest hatte die sich nähernde Gefahr zu spät erkannt: Drei schwarze Schiffe vor einem Schwarz dahinter – die perfekte Tarnung. Fieberhaft läutete er die Alarmglocke und rutschte am Mast hinunter.
Auf den Planken der Salzsonne herrschte hektisches Treiben. Männer und Frauen, bis an die Zähne bewaffnet und nicht wenige sturzbetrunken, stolperten zu ihren Posten. Kanonen wurden geladen und die Segel nach dem Wind ausgerichtet, um der Gefahr vielleicht doch noch entkommen zu können. Die schwarze Flotte kam näher. Immer näher. Es war ein angespanntes Warten, ein banges Hoffen, dass die Piraten von ihnen abließen oder nur durch Zufall in dieselbe Richtung segelten. Ängstlich schauten sie einander an.
Fünf Kanonenschläge beendeten jede Hoffnung.
Schwere Eisenkugeln zischten an den Masten vorbei über das Deck und verfehlten es nur knapp. Erneutes, nicht enden wollendes Donnern; als spien hunderte Geschütze ihre tödliche Fracht auf ein gemeinsames Ziel. Geschosse jagten durch den sich auf dem Schiff ausbreitenden Rauch. Manche glühten und zogen eine klebrige Leuchtspur hinter sich her, andere fraßen sich in die Segel und zerfetzten sie. Dieser Schlagkraft hatte die Salzsonne nichts entgegenzusetzen. Alles, was sie tun konnte, war fliehen.
Die Verfolgungsjagd dauerte Stunden. Gegen Morgen entdeckte der Kapitän am Horizont eine zuckende Wolkenfront und signalisierte dem Steuermann, Kurs auf sie zu setzen. Die geschundene Salzsonne schleppte sich in den Sturm. Endlich gaben die Verfolger auf. Nur Lebensmüde segelten in einen Hurrikan.
»Ist das eine gute Idee?«, rief Loopi dem sich an die Reling klammernden Maat zu.
Kaleel zuckte mit den Schultern. Woher sollte er das wissen? Bei all seinen – zumeist erdachten – Abenteuern war es das erste Mal, dass er einen so heftigen Sturm erlebte. Schließlich segelten nur Lebensmüde in einen Hurrikan.
Hagelkörner, so scharf wie Pfeilspitzen, jagten durch die Luft und zerbarsten auf den Holzplanken. Fast schon verzweifelt quälte sich die Brigg durch den Sturm, wurde hin- und hergeworfen. Windstöße im Sekundentakt erfassten alles, was nicht an Deck festgenagelt oder vertäut war, und rissen es mit sich. Irgendein Meeresgott schien sich in der Rolle des Schulhofschlägers pudelwohl zu fühlen. Der Käpt’n aber dachte nicht daran, die Segel zu streichen und einem lausigen Hurrikan klein beizugeben. Seine Anweisungen dröhnten gegen das Unwetter an und jedes einzelne Mannschaftsmitglied konnte sie klar und deutlich hören. So klar, als stünde er neben ihnen. Sie kannten den Tonfall seiner Stimme, denn er hatte nur diesen einen – den, mit dem er ihnen Befehle gab, auf dem Markt einkaufen ging, seiner Frau zum Geburtstag gratulierte und seinen Enkeltöchtern vor dem Zubettgehen eine Geschichte vorlas.
Zischend zerriss eines der Rahsegel und flatterte in den Sturm. Weg war es. Etwas krachte in die Seite des Schiffs, dass Loopi den Halt verlor und stürzte. Im letzten Moment bekam sie ein Seil zu greifen und zog sich an ihm zum Mast, um den sie sich mit Armen und Beinen klammerte.