Die Kraft des Vergebens - Melanie Wolfers - E-Book

Die Kraft des Vergebens E-Book

Melanie Wolfers

4,8

Beschreibung

Zentrales Element unseres Lebens sind Beziehungen. Es lässt sich nicht vermeiden, dass wir andere kränken und von anderen gekränkt werden. Wie ist damit umzugehen? Sich mit erlittenen Kränkungen auszusöhnen ist ein Weg in die Freiheit. Vergeben heißt, nicht länger auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen, sondern in der Gegenwart zu leben. Vergebung ist der Ausstieg aus der Opferrolle. Die Autorin, erfahrene Leiterin eines spirituellen Übungswegs zur inneren Versöhnung, zeigt Wege auf, mit den eigenen Kränkungsgefühlen wie Wut, Scham und Angst umzugehen und den Blick nach vorn zu richten. Ein psychologisch und spirituell fundiertes Buch zu einem zentralen Lebensthema.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 216

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Melanie Wolfers

Die Kraft desVergebens

Wie wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden

Impressum

Titel der Originalausgabe: Die Kraft des Vergebens

Wie wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Umschlagmotiv: © Getty Images - Magda Indigo

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80330-7

ISBN (Buch): 978-3-451-32631-8

Inhalt

Einladung

1. Leben verletzt

Es gibt kein Leben ohne Kränkungen

Das verwundete Selbstwertgefühl

Wir sind unterschiedlich verletzbar

Was es kostet, nicht zu vergeben

2. Warum wir Kränkungen nachtragen

Unversöhnlichkeit hat auch Vorteile

Falsche Vorstellungen von Vergebung

3. Vergeben als Chance, wieder lebendig zu werden

Gute Gründe, um zu vergeben

Rahmenbedingungen für den Vergebungsprozess

4. Die Schmerzen zulassen

Der Schmerz als Freund und Feind

Die Flucht vor dem Schmerz wird zur Falle

»Zeige deine Wunde« (Joseph Beuys)

5. Die eigenen Gefühle spüren

Im Kontakt mit den eigenen Gefühlen

Der Ärger

Die Scham

Angst und Ohnmacht

Neue Handlungsmöglichkeiten gewinnen

6. Sich selbst und andere besser verstehen

Unser Deuten beeinflusst unser Erleben

Den anderen in einem neuen Licht sehen

Sich selbst besser verstehen lernen

Handlungsalternativen abwägen

7. Das Vergangene verabschieden

Trauern als Weg zu neuen Lebensmöglichkeiten

Heilsame Enttäuschungen

Wage das Ja und du erlebst Sinn (Dag Hammarskjöld)

Die Kunst der Selbstannahme

8. Sich für die Zukunft entscheiden

Erfahrene Vergebung erinnern

Vergeben heißt nach vorne leben

Bejahende Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen entwickeln

Das Ziel der Vergebung

An der Vergebung festhalten

Vergebung geschehen lassen

9. Liebe erlöst

Jesus als Therapeut

Befreiende Erfahrung

Eine Schlüsselgeschichte

Krankmachende Gottesbilder

Erfahrenes weitergeben

Leben ohne Drachenblut

Danksagung

Anmerkungen

Verwendete Literatur in Auswahl

Zur Autorin

Ein Puzzle aus sieben Milliarden Teilen! Jedes Puzzleteil ist einzigartig und einmalig – und will seinen Platz haben in dem einen großen Bild. Doch es gibt ein Problem: Die Puzzleteile passen nicht ganz zueinander. Wie man sie auch drehen und wenden mag: Immer steht eine Ecke über oder die Ausbuchtung ist zu klein und fügt sich nicht nahtlos an die anderen Teile.

Jeder Mensch ist ein Puzzleteil der Menschheit mit seiner ganz eigenen Form und Prägung, mit Ecken und Kanten. Aber niemand passt wirklich ganz in das Ganze. Und auch wenn wir versuchen, uns anzupassen, gelingt es nicht. Immer gibt es Überstehendes oder Fehlendes. Es verletzt, wenn uns jemand sagt oder spüren lässt: »Du passt nicht hierher! Du gehörst nicht zu uns!« Auf der Suche nach unserem Platz werden wir verletzt – und wir verletzen andere.

Man kann von Glück reden, wenn Familie und Umwelt weitgehend stimmen oder wenn man Beziehungen und Beruf findet, die einem entsprechen. Wunderbar und nicht aus eigener Kraft herzustellen ist die Erfahrung, dass sich zwei Teile an einer Stelle zusammenfügen, als wären sie von jeher füreinander bestimmt: eine Freundschaft, eine Ehe, ein traumhafter Job. Doch dann passen oft andere Seiten wieder nicht: die Familie der Freundin, der Chef der Firma, die Nachbarn. Dazu kommt, dass die Zeit das große Puzzle des Lebens ständig umbaut und oft sogar durcheinanderwirft. Was heute noch passend war, kann morgen unstimmig werden und manchmal völlig zerbrechen. Das große Puzzlespiel des Lebens bleibt ein Fragment mit leeren und losen Stellen.

Einladung

Die tiefsten Wunden unseres Lebens sind Beziehungswunden. Wenn diese nicht heilen, dann drohen verletzte Gefühle und Erinnerungen unseren Lebenshorizont zu verdunkeln. Die Schatten der Vergangenheit trüben den Blick für die Gegenwart, und das mögliche Glück des Augenblicks geht ungesehen vorüber. Stück für Stück verlieren wir innere Leichtigkeit, Lebensfreude und Liebesfähigkeit.

Vielleicht leiden auch Sie unter einer schweren Kränkung und wollen die Last von Ihrer Seele abwerfen. Und Sie fragen sich: Wie geht das? Wie bewältige ich das Geschehene so, dass es mein Leben nicht auf Dauer blockiert und einengt? Wie finde ich den inneren Frieden und gewinne neuen Mut, mich offen einem Menschen anzuvertrauen?

Dazu kann vieles verhelfen. Eine heilende Weise, den Verwundungen des Lebens zu begegnen, ist die Vergebung. Wer verzeiht, lässt – Schritt für Schritt – das Erlittene los und befreit sich so von dem, was ihm angetan wurde. Wer vergibt, verwandelt Wunden in neue Lebensmöglichkeiten. Ich bin davon überzeugt: Unser Lebensglück hängt entscheidend davon ab, ob wir vergeben können! Doch während es unvermeidlich zu unserem Alltag gehört, dass wir verletzen und verletzt werden, ist der chancenreiche Weg der inneren Aussöhnung keineswegs selbstverständlich.

Mit dem vorliegenden Buch möchte ich Ihnen eine Orientierung auf dem Weg des Vergebens bieten. Es zeigt Schritte, wie der Schmerz auch Ihrer Verletzung langsam abklingen kann und wie Sie zu einer tieferen Annahme des Lebens finden. Die zusammenfassenden Fragen zur Selbstreflexion, auf die Sie im Textverlauf zuweilen treffen, geben Ihnen die Möglichkeit, sich das Gelesene für Ihre Situation persönlich zu erschließen.

Das Buch gliedert sich in mehrere Abschnitte: Zunächst entfalte ich, was eine Kränkung ist und welche verheerenden Folgen es hat, wenn wir unversöhnlich an dieser festhalten (Kapitel 1). Da wir Menschen nichts ohne Grund tun, kommen verschiedene Aspekte zur Sprache, warum wir trotz der negativen Auswirkungen häufig dennoch so nachtragend sind (Kapitel 2). Im Anschluss daran lege ich dar, warum es gut und sinnvoll ist, sich auf den Weg der Vergebung zu machen und welche Rahmenbedingungen für diesen Prozess hilfreich sind (Kapitel 3). Im weiteren Buchverlauf steht dann der Prozess des Vergebens selbst im Mittelpunkt: Eine Kränkung löst seelische Schmerzen und verschiedene »negative« Gefühle aus. Dass wir diese innere Not häufig nicht wahrhaben, sondern lieber ausblenden wollen, ist verständlich. Doch wie eine körperliche Wunde Luft braucht, um heilen zu können, so muss auch der Schmerz ans Licht kommen dürfen (Kapitel 4). Wut, Scham, Angst und das Gefühl von Ohnmacht sind zentrale Kränkungsgefühle, die zugelassen und durchlebt werden müssen, damit sie sich verwandeln können (Kapitel 5). Zugleich ist es wichtig, die erlittene Verletzung gedanklich zu verarbeiten (Kapitel 6). Beginnen wir, über deren mögliche positive Auswirkungen für das eigene Leben nachzusinnen, dann verändert sich die Perspektive: Der Blick richtet sich nicht mehr auf die rückwärts orientierte Warum-Frage, sondern auf die Wozu-Frage, der es um die Zukunft geht (Kapitel 7). Doch all diese Schritte auf dem Weg der Vergebung führen nicht automatisch zum Vergeben. Ob wir die kränkende Geschichte »gut sein« lassen und so eine neue, nicht mehr von der Vergangenheit diktierte Zukunft eröffnen, bleibt eine Sache unseres Entscheidens. Zugleich wird die Fähigkeit, aus tiefem Herzen ehrlich vergeben zu können, immer auch als ein Geschenk erlebt, etwas, das wir eines Tages – hoffentlich – in uns selbst vorfinden (Kapitel 8).

Psychologische Studien zeigen, dass die meisten Menschen im Lauf des Vergebungsprozesses eine spirituelle Perspektive einnehmen, die je nach persönlichem Hintergrund unterschiedlich gefärbt ist.1 In diesem Buch biete ich Ihnen an, menschliche Grunderfahrungen, die auf dem Weg der inneren Aussöhnung gemacht werden, im Licht des christlichen Glaubens zu deuten. Dunkles wird dadurch weder sofort hell, noch wird das erlittene Erlebnis unmittelbar zum Besseren gewendet. Ein solches Versprechen würde den Glauben zu einem Instrument für schnelle Problemlösungen verzerren. Doch wenn wir die anderen Menschen und uns selbst als Teil einer größeren göttlichen Wirklichkeit sehen und achten lernen, dann kann uns dies darin bestärken, uns – allen Widrigkeiten zum Trotz – dem Leben und der Liebe anzuvertrauen. In meiner Ordensgemeinschaft der »Salvatorianerinnen« steht der »salvator«, also Jesus Christus als Heiland, als Arzt und Therapeut im Mittelpunkt der Spiritualität. In der tastenden Erfahrung, grenzenlos geliebt zu sein, kann unser durch die Kränkung verletztes Selbstwertgefühl genesen – und dies ist die Basis, um ehrlichen Herzens vergeben zu können (Kapitel 9).

Ich hoffe, dass ich Ihnen mit diesem Buch Orientierung geben kann auf dem Weg des Heilerwerdens, der mit innerer Wandlung zu tun hat und zu neuem Leben führt.

1Leben verletzt

Tagebucheintrag

Ich werde das Bild nicht mehr los. Wir saßen einander stumm gegenüber und schauten uns fassungslos an. Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich konnte immer noch nicht begreifen, wie es mein Kollege vermocht hatte, mich derart zu hintergehen und mir in den Rücken zu fallen. Und dabei hatte ich so viel Vertrauen in ihn gesetzt. Mehr vielleicht, als angemessen war. Aber ich hatte mich in meiner Verantwortung und meinen Entscheidungen oft einsam gefühlt. Daher hatte ich mir jemanden gewünscht, der mich und meine Aufgabe mitträgt. Jemanden, der mich versteht und bei dem ich auch meine Enttäuschungen abladen konnte.

Vielleicht hatte ich meinen Kollegen durch das zu große Vertrauen, das ich in ihn gesetzt hatte, auch überfordert. Ich hatte mehr von ihm erwartet als nur kollegiale Verlässlichkeit. Ich hatte freundschaftliche Nähe und Verbundenheit gesucht. Und das Interesse an einer solchen hatte er signalisiert! Doch nun das böse Erwachen, dass er über mich geredet hat. Er hat sich vor anderen mit Informationen wichtig gemacht, die ich ihm höchst vertraulich mitgeteilt hatte. Heute Morgen habe ich es durch einen dummen Zufall erfahren und ihn sofort zu mir gebeten, um ihn damit zu konfrontieren.

Nun saßen wir da, Aug’ in Auge. Ich atmete laut durch und schüttelte den Kopf. Voll Unverständnis. Und tief verletzt. Ich konnte nichts mehr sagen. Nach einer langen Zeit der Stille stand ich auf und öffnete die Tür. Als mein Kollege draußen war, brach der Schmerz über mich herein. Ich fing an zu weinen, ballte die Fäuste, stampfte auf den Boden. »Das darf nicht wahr sein!«, sagte ich immer wieder. Widersprüchliche Gefühle rissen mich hin und her. »Dem werde ich es zeigen!«, stieß ich mit hartem Gesicht hervor. Zugleich gab es den Wunsch, dass es doch wieder wie vorher sein sollte, als ich meinte, eine Vertrauensperson gefunden zu haben. Ich fühlte mich, als ob jemand mit Stiefeln durch meinen inneren Garten getrampelt wäre und dabei die zarten Pflanzen rücksichtslos niedergetreten hätte.

Es gibt kein Leben ohne Kränkungen

Wir kommen nicht unverletzt durchs Leben. Ob mit Absicht oder aus Versehen, ob bewusst oder unbewusst: Immer wieder kränken wir andere Menschen und werden gekränkt. Manche dieser Wunden gehen tief und wollen einfach nicht heilen. Ruhelos kreisen unsere Gedanken um die andere Person und ihr verletzendes Verhalten. In uns schreit es empört auf: »Wie konntest du mir das antun?!« Wir werden mit dem, was passiert ist, nicht fertig, sondern wie bei einem Endlosband spielen wir das einschneidende Geschehen wieder und immer wieder durch. Die schmerzhafte Kränkung wirbelt unser Inneres durcheinander. Widerstreitende Gefühle zerren an uns und werfen uns aus der Bahn: Wut und Zorn flammen auf, vielleicht gepaart mit Rachefantasien, in denen wir uns genüsslich ausmalen, wie wir dem anderen seinen Fehler heimzahlen. In einer Mischung aus Zorn und Angst würden wir ihn am liebsten auf den Mond schießen. Fühlen wir uns so gedemütigt und erniedrigt, dann wünschen wir uns vor lauter Scham ganz weit weg oder würden uns gern in Luft auflösen. Besonders unerträglich wird es, wenn uns das beklemmende Gefühl von Ohnmacht beschleicht. Denn dann überschwemmen uns Angst und Selbstzweifel und wir fühlen uns wie gelähmt. Derart tief verletzt ziehen sich manche von uns verängstigt oder schmollend zurück, andere gehen zum Angriff über.

Das Beunruhigende ist: Es scheint keinen Lebensbereich zu geben, in dem wir nicht durch andere verletzt werden können oder selbst andere verletzen. Folgende Beispiele zeigen in erschreckender Weise, wie verwundbar wir in den verschiedenen Zusammenhängen unseres Alltags sind.

Immer wieder kommt es im Berufsleben zu Kränkungen: Illoyalität, Mobbing, Gerede, fehlende Informationen, unfaire Kritik, Sexismus, ungerechter Lohn, Benachteiligung und Kündigung sind Beispiele für schmerzhafte Erfahrungen, um welche wohl keiner im Lauf seiner Arbeitsbiografie herumkommt. Dabei können andere uns nicht nur durch ihr aktives Verhalten verletzen, sondern auch dadurch, dass sie uns etwas vorenthalten, beispielsweise indem sie Hilfe verweigern oder es an Wertschätzung fehlen lassen. Dies ist etwa der Fall, wenn in einem Betrieb oder in der eigenen Familie das Lob gar nicht vorgesehen ist – gemäß dem schwäbischen Sprichwort »Ned g‘schempfd isch gnug g‘lobd« (»Nicht geschimpft ist genug gelobt«). Oder wenn uns durch falsche Rücksichtnahme ein kritisches Echo vorenthalten wird, das uns hätte aufrütteln können. So etwas ist umso enttäuschender, wenn es in einer Freundschafts- oder Liebesbeziehung passiert. Die Wunde geht tief, wenn wir erfahren müssen: Mein Partner oder meine Freundin plaudern Anvertrautes weiter, missbrauchen mein Vertrauen, demütigen oder hintergehen mich. Eine mir nahestehende Person verweigert mir ihre Unterstützung oder wird gewalttätig gegen mich; sie verlässt mich oder reicht die Scheidung ein; sie erwidert meine Liebe nicht …

In unserer Kindheit waren wir möglichen Kränkungen und Attacken besonders schutzlos ausgeliefert. Wir alle kommen mit der Sehnsucht auf die Welt, dass wir die Liebe eines anderen spüren und erfahren, erwünscht zu sein. Wir brauchen Eltern oder nahe wichtige Bezugspersonen, die uns Geborgenheit und Urvertrauen schenken; die uns den Rücken stärken und ermutigen, das Leben zu wagen. Wenn wir als Kind aber permanent beschimpft oder entwertet, zurückgesetzt oder vernachlässigt wurden, oder wenn wir uns unerwünscht fühlten, so ist das Weiche und Sensible in uns schwer verwundet worden. Und wer Gewalt oder Missbrauch ausgesetzt war, wurde bis ins Mark verletzt.

Doch nicht nur Menschen, sondern auch Strukturen können uns tief verletzen. Viele leiden unter systemischer Ungerechtigkeit: Benachteiligung aufgrund von Geschlecht oder Hautfarbe, das oft ausbeuterische Diktat von Gewinnmaximierung, ungerechte Entlohnung oder Entscheidungsstrukturen, die Partizipation ausschließen, all das sind Beispiele dafür, wie tagtäglich strukturelle Ohnmacht erzeugt wird. Und all dies kann chronisch krank machen!

Wenn wir Kränkungen nicht einfach verdrängen, sondern aufmerksam betrachten, werden wir vermutlich schnell eine unterschiedliche Verletzbarkeit feststellen. Manchmal kann der finstere Blick eines anderen unsere heitere Stimmung in keiner Weise trüben, ein andermal verdirbt er uns den ganzen Tag. Woran liegt es, dass wir in manchen Situationen verwundbarer sind als in anderen? Wann treffen uns Kränkungen besonders heftig?

Verletzungen können uns tiefer verwunden, wenn sie schwerwiegend sind. Oder wenn wir uns zu dem Zeitpunkt eher instabil fühlen und somit leichter aus der Bahn geworfen werden. Sie treffen uns auch umso mehr, je weniger wir uns in anderen Beziehungen aufgehoben und angenommen erfahren. Darüber hinaus empfinden wir eine Kränkung als besonders gravierend, wenn wir die andere Person und ihre Motive als böswillig erleben: Eine Nachbarin, die absichtlich Gerüchte über mich in die Welt setzt, um meinen Ruf zu schädigen, kränkt mich mehr als jemand, der aus einem Missverständnis heraus eine falsche Anschuldigung verbreitet.

Am meisten verletzbar sind wir in Beziehungen, die für uns bedeutsam und emotional wichtig sind: als Kinder in der Beziehung zu unseren Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen; als Jugendliche und Erwachsene in Freundschaften, Liebesbeziehungen und Partnerschaften. Während der grantige Tonfall eines Wiener Kellners an mir abgleitet, kann der boshafte Stich eines geliebten Menschen ins Mark treffen. Denn je größer meine Zuneigung ist, desto näher lasse ich mein Gegenüber an mich heran. Nie bin ich verletzlicher als in Beziehungen, in denen ich mich aus Liebe einem anderen öffne und anvertraue. Ich lege Panzer und Schutzschild ab und daher schneidet eine Zurückweisung von Freundschaft und Liebe tief ins Fleisch. Je enger die Beziehung, umso schmerzlicher und heftiger trifft mich ein Missverständnis, eine gefühlte Distanz und Fremdheit, eine verweigerte Nähe oder gar eine Gemeinheit. Bei einem Verrat entsteht sogar der Eindruck, dass der Dolch der Verletzung von hinten kommt: Ein Mensch, von dem ich glaubte, dass er hinter mir steht, fällt mir von dort aus in den Rücken!

Schließlich kann uns das Verhalten einer anderen Person über die Maßen treffen, wenn es eine alte Narbe berührt. Wir alle haben aufgrund unserer Lebensgeschichte wunde Punkte, an denen wir verletzt wurden und nun besonders verwundbar sind. Wir kennen sensible Stellen von empfindsamer Dünnhäutigkeit. Ein Beispiel: Angenommen, Sie wurden in Ihrer Kindheit immer wieder mit Liebesentzug bestraft. An Ihrem Geburtstag warten Sie vergeblich auf den Glückwunsch Ihrer Kollegen und am Abend vergisst dann auch noch ein Freund Ihre Essenseinladung. Mit einem Schlag werden Ihre (vor allem emotionalen) Erinnerungen an die früheren Kränkungen wieder wach. Sie fühlen sich äußerst verunsichert oder haben den Eindruck, nichts wert und keinem Menschen wichtig zu sein – Selbstzweifel, die Sie schon längst überwunden glaubten. Vielleicht wundern Sie sich über die Heftigkeit Ihrer Reaktion. Diese wird verständlicher, wenn Sie mit der Zeit entdecken: »Weil ich an einem wunden Punkt getroffen worden bin, konnte die Sache mich derart tief verletzen.«

Das verwundete Selbstwertgefühl

Kränkungen, die aus böser Absicht geschehen, sind deshalb so schmerzhaft, weil sie unser Selbstwertgefühl in besonderer Weise verletzen. Wenn wir ein Verhalten als böswillig empfinden, dann vermittelt es den Eindruck: »Du bist es nicht wert, dass ich dir mit Achtung begegne und fair zu dir bin.« Dadurch wird das Sensibelste in uns angegriffen: das Selbstwertgefühl. Unser Selbstwertgefühl ist – wenn auch unterschiedlich stark – auf Bestätigung von außen angewiesen. Denn wir wollen um unserer selbst willen akzeptiert und geachtet werden und für andere eine Bedeutung haben. Wir wollen uns als wertvoll und liebenswürdig erfahren. Wir wollen zu uns selbst, zu unseren Gaben und Grenzen Ja sagen und uns achten können. Der Kern einer Kränkung liegt darin, dass sie unser Selbstwertgefühl angreift und schwächt. Wer sich als gesamte Person in Frage gestellt oder abgelehnt sieht, fühlt sich gekränkt. Darauf weist bereits die Etymologie des Wortes hin: »Krenken« bedeutet im Mittelhochdeutschen »schwächen, erniedrigen, schädigen, mindern, zunichtemachen«. Und das mittelhochdeutsche »kranc« meint »schwach, schmal, gering, gebeugt«. Ein Verhalten wird als kränkend erlebt, wenn wir uns dadurch abgewertet und in unserem Selbstwertgefühl bedroht fühlen. Es werden Selbstzweifel und Selbstunsicherheit mobilisiert und die oft unbewussten Gefühle von Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit genährt.

Die Angst, nichts wert zu sein, scheint wie ein Wasserzeichen das menschliche Leben zu prägen – und zwar von Geburt an. Wir Menschen kommen mit einer Verwundung auf die Welt. Die große Narbe in der Mitte unseres Körpers drückt bildhaft die zentrale Wunde unseres Daseins aus: Der Nabel ist das Merkmal jener einschneidenden Erfahrung, dass die ursprüngliche Lebensverbindung mit der Mutter durchtrennt worden ist. Vor der Geburt war der Embryo in der Fruchtblase rundum aufgehoben und genährt. Durch die Geburt wird er aus der »paradiesischen« Verbundenheit vertrieben. Plötzlich ist er allein. Die Nähe eines sorgenden anderen ist nicht mehr selbstverständlich gegeben. Das Kind fühlt sich verlassen und hat Angst. Es schreit nach Nahrung und Nähe, nach Zuneigung und Zärtlichkeit, nach Geborgenheit und Liebe. Es scheint jedoch, dass alle geschenkte Fürsorge und Zuwendung die übergroße Leere nie ganz ausfüllen können, die durch die Abtrennung vom Ursprung entstanden ist. Zeit unseres Lebens sehnen wir Menschen uns nach der Liebe eines anderen, die uns zu erfahren gibt, dass wir liebenswürdig und wertvoll sind; die uns glaubhaft zusagt, dass wir ohne Einschränkungen und Vorbedingungen erwünscht und bejaht sind. Auf diesen Zuspruch sind wir existenziell angewiesen.

Wir sind unterschiedlich verletzbar

Wodurch Menschen sich kränken lassen, ist individuell sehr verschieden. Was einen anderen nicht im Geringsten berührt, kann für mich selbst eine massive Grenzverletzung bedeuten – und umgekehrt. Das verdankt sich dem unterschiedlichen zugrunde liegenden Selbstbild. Denn ob wir etwas persönlich nehmen, hängt davon ab, wie wir uns selbst verstehen und worauf wir unsere Identität aufbauen. Im Selbstbild fließt zusammen, was wir für unsere Selbsterhaltung und Selbstentfaltung als wesentlich ansehen. In einem Bild ausgedrückt: Viele Tiere haben einen Lebensraum, den sie gegen das Eindringen von Artgenossen schützen. Hartnäckig verteidigen sie ihr Revier, das ihnen Ressourcen zum Leben und Fortpflanzen bietet. Beim Menschen gibt es so etwas wie ein »innerpsychisches Revier«. Dieser seelische Innenraum umfasst alles, was wir als konstitutiv für die eigene Identität erachten. Daher wird er um des eigenen Selbstwertgefühls willen verteidigt. Jede Handlung, die den inneren Lebensraum verletzt, wird als kränkende Grenzüberschreitung erfahren.

Wenn ich mich beispielsweise aufgrund meines Aussehens und Charmes für unwiderstehlich halte, dann fühle ich mich bereits gekränkt, wenn mir keine Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Oder: Ich habe das innere Bild von mir, leistungsstark und erfolgreich zu sein. Dann wird ein negatives Arbeitszeugnis oder eine ausbleibende Beförderung für mich zur persönlichen Katastrophe. Ich fühle mich in meiner Identität angegriffen und in meiner Würde herabgesetzt. Die Kränkung wird mich umso überraschender und heftiger erwischen, je weniger ich mir bewusst bin, dass Leistung und Anerkennung zentrale Bausteine meines Selbstwertgefühls darstellen.

Es hängt also auch von uns selbst – von unserem leitenden Selbstbild – ab, ob wir uns durch ein Verhalten verletzt fühlen oder nicht. Umgekehrt wird offensichtlich, dass wir selbst mit beeinflussen können, ob und wie stark uns etwas kränkt.

Tagebucheintrag (Fortsetzung)

Heute Nacht hatte ich einen schrecklichen Traum: Ich bin mit der Straßenbahn unterwegs. Hinter mir befindet sich auch mein Kollege in der Tram. Er lacht und scherzt mit ein paar Freunden. Plötzlich bemerke ich, dass ich ganz allein in der Straßenbahn bin. Wann waren die anderen ausgestiegen? In diesem Augenblick kommt ein Kontrolleur und will meine Fahrkarte sehen. Ich merke, dass ich eine falsche Fahrkarte gelöst habe. Ich habe eine viel zu teure Fahrkarte gekauft, die aber in dieser Bahn gar nicht gültig ist. Ich öffne meinen Geldbeutel und bezahle den Preis eines gültigen Fahrscheins. Der Kontrolleur erklärt mir, dass das Ticket, das ich gekauft habe, nur in ganz seltenen Fällen gebraucht wird.

Mit diesem Traum bin ich sehr früh aufgewacht und spürte ein Unwohlsein in der Magengegend. Mir wird klar, was der Traum bedeuten könnte: Ich habe viel in eine Beziehung investiert in der Hoffnung, eine vertrauensvolle Freundschaft zu finden. Doch eine solche gibt es nur in seltenen Fällen. Jedenfalls ist mein Kollege aus der Beziehung ausgestiegen und hat sich bei anderen wichtig gemacht. Und ich zahle den Preis.

Wie sollen wir mit zwischenmenschlichen Kränkungen umgehen? Es gibt so etwas wie eine alltägliche Versöhnungskultur, die uns hilft, mit den kleineren Verletzungen des täglichen Lebens umzugehen. Dazu gehört, etwas nicht so wichtig zu nehmen. Oder damit zu rechnen, dass andere – wie wir selbst – einen schlechten Tag haben oder gedankenlos handeln können; dass wir alle Fehler machen und der Nachsicht bedürfen. Dazu gehört auch, den Ärger nicht zu kultivieren, sondern zu versuchen, eine erlittene Kränkung angemessen einzuschätzen. Denn oft zeigt sich mit etwas Abstand, dass eine Sache gar nicht so schlimm ist, wie sie sich im ersten Augenblick angefühlt hat. Ohne die wichtige Kunst der alltäglichen Versöhnung wäre ein Miteinander in der Familie, unter Freunden, im Kreis der Kollegen und Kolleginnen oder in Vereinen kaum möglich. Wer eine gute Beziehungs- und auch Streitkultur pflegt, dem fällt es leichter, erlittene Kränkungen wieder »gut sein« zu lassen.

Doch das Leben fügt uns auch Verletzungen zu, für deren Heilung die alltägliche Versöhnungskultur nicht ausreicht. Die Wunde sitzt zu tief. Eine schwere Kränkung lässt sich nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie wird vielmehr zu einer drückenden Last. Auch können wir sie nicht einfach wegstecken – wohin denn auch? Manche wollen die Last loswerden, indem sie ein Wurfgeschoss daraus schmieden und rächend zurückschlagen. Doch mit einem aggressiven Gegenschlag lösen wir weder den Konflikt noch heilen wir die eigenen Wunden. Andere ziehen sich deprimiert zurück und fressen alles in sich hinein. Was aber zu schnell heruntergeschluckt wird, erzeugt Bauchschmerzen und stößt immer wieder sauer auf.

Werden wir mit einer Enttäuschung oder Verletzung auf Dauer nicht fertig, dann droht die Gefahr der Verbitterung. Das Leidvolle verfolgt uns und wird zu einer Quelle von Bitterkeit. Und wo immer diese hinfließt, wird das Leben vergällt und nichts kann mehr blühen. Unsere Seelenlandschaft verarmt und wir verlieren zunehmend innere Leichtigkeit und Lebensfreude.

Was es kostet, nicht zu vergeben

Tagebucheintrag

Wer nachträgt, trägt schwer« lautet ein Kurs, an dem ich teilnehme. Wie sehr dieser Titel trifft, habe ich heute erfahren: Im Rahmen einer Gruppenübung schlüpfte ich in die Rolle einer Gekränkten; Richard spielte die Person, die mich verletzt hatte, und die übrigen bildeten eine lose Gruppe, die mit uns in Kontakt stand. Als erstes wurde ich aufgefordert, an jemanden zu denken, auf den ich wütend bin. Sofort stand mir Sabina und ihr unmögliches Verhalten vor Augen. Als nächstes sollte ich aus einem Steinhaufen einen Brocken auswählen, der meinen Groll symbolisiert. Ich hob einen schweren, scharfkantigen Bruchstein auf. Die einzige Regieanweisung für das nun beginnende Rollenspiel lautete, dass ich körperlich das tun soll, was im Wort »nachtragen« ausgedrückt ist: der Person, die mich gekränkt hat, ihr Verhalten nachtragen, indem ich ihr auf dem Fuß folgend den Stein hinterhertrage.

Anfangs war es amüsant, Richard hinterherzugehen, doch schon bald machte sich das Gewicht des Steines bemerkbar. Während Richard unbeschwert seiner Wege ging, wog der Stein in meinen Händen immer schwerer und seine scharfen Kanten schnitten mir in die Finger. Als Richard dann noch entspannt mit den anderen zu plaudern begann, hätte ich ihm am liebsten den Stein auf die Füße geschmissen. Mir kam Sabina in den Sinn und schlagartig ging mir auf: Nicht Sabina, sondern ich trage schwer daran, dass ich ihr das unfaire Verhalten nachtrage. Meine schwelende Wut und meine vorwurfsvollen Gedanken, die ich mit mir herumtrage, belasten vor allem mich selbst und kosten mich viel Kraft – und nicht Sabina!

Wenn doch endlich dieses Spiel aufhören würde! Doch obwohl es offensichtlich für mich beschwerlich war, brach die Kursleiterin das Spiel nicht ab. Richard ging mal hier und mal dort hin, unterhielt sich, griff zum Handy oder schaute in den blühenden Garten hinaus und ich folgte ihm in kurzem Abstand. Wie fremdbestimmt bin ich! Solange ich jemandem – sei es Richard, Sabina oder irgendjemand anderem – etwas nachtrage, laufe ich dieser Person wie ein Hund hinterher. Meine Wut ist wie eine Fessel, die mich an sie kettet. Und weil ich alle Hände voll zu tun habe mit der Last meiner Gefühle und Gedanken, bekomme ich alles andere nur am Rande mit und bin kaum ansprechbar. Könnte ich doch endlich aufhören nachzutragen!

Fesseln der Vergangenheit

»Das verzeih ich dir nie!« Dieser Satz hat Konsequenzen – vor allem für einen selbst. Denn wer anderen nicht vergeben kann oder will, hält die Gedanken an das, was ihm angetan wurde, wach. So erlebt er die schmerzhafte Vergangenheit ständig neu.

Wenn uns jemand tief gekränkt hat, geraten wir häufig in die Falle eines Kreislaufs, der uns immer wieder zum verletzenden Ausgangspunkt zurückführt. Wieder und wieder spielen wir das Geschehen gedanklich durch, machen dem anderen Vorwürfe oder stellen Fragen wie: »Warum hast du mir das angetan?« Die inneren Diskussionen beginnen stets von vorn, morgens beim Aufwachen, beim Spazierengehen, unter der Dusche, beim Versuch einzuschlafen und selbst noch in den Träumen. In einem solchen Kreisverkehr lassen sich endlose Runden drehen. Selbst wenn wir den Eindruck haben sollten, dass wir etwas bearbeiten und uns vorwärts bewegen, so umkreisen wir in einer Endlosschleife von Gedanken und Gesprächen doch nur the same old story