Die Krimi-Ladys von Dedley End - Victoria Walters - E-Book
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Die Krimi-Ladys von Dedley End E-Book

Victoria Walters

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Beschreibung

Im malerischen englischen Örtchen Dedley End betreiben Nancy Hunter und ihre Großmutter Jane eine Krimi-Buchhandlung. So aufregend ihre Bücher sind, so beschaulich ist ihr eigenes Leben – bis die Krimi-Ladys zu einem Empfang im Herrenhaus der Familie Roth eingeladen werden. Denn noch während des Begrüßungscocktails stürzt die schöne Lucy Roth über eine Brüstung in den Tod. Schnell wird klar, dass Lucy gestoßen wurde. Aber wer könnte sie ermordet haben und warum? Nancy und Jane beschließen, Nachforschungen anzustellen. Bald jedoch fragen sie sich, ob das eine gute Idee war. Denn der Mörder hat längst bemerkt, dass sie ihm auf den Fersen sind ...

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Buch

Im malerischen englischen Örtchen Dedley End betreiben Nancy Hunter und ihre Großmutter Jane eine Krimi-Buchhandlung. So aufregend ihre Bücher sind, so beschaulich ist ihr eigenes Leben – bis die Krimi-Ladys zu einem Empfang im Herrenhaus der Familie Roth eingeladen werden. Denn noch während des Begrüßungscocktails stürzt die schöne Lucy Roth über eine Brüstung in den Tod. Schnell wird klar, dass Lucy gestoßen wurde. Aber wer könnte sie ermordet haben und warum? Nancy und Jane beschließen, Nachforschungen anzustellen. Bald jedoch fragen sie sich, ob das eine gute Idee war. Denn der Mörder hat längst bemerkt, dass sie ihm auf den Fersen sind …

Autorin

Victoria Walters arbeitet als Buchhändlerin bei Waterstones und hat mehrere Frauenromane geschrieben. »Die Krimi-Ladys von Dedley End« ist der Beginn einer Landhaus-Krimi-Reihe, die in den malerischen Cotswolds spielt. Die Autorin lebt mit ihrer nach Harry Potter benannten Katze Harry in Surrey.

Victoria Walters

Die Krimi-Ladys von Dedley End

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Gertrud Wittich

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Murder at the House on the Hill« bei Hera Books, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2022

Copyright © der Originalausgabe 2021 by Victoria Walters

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Gestaltung des Covers und der Coverinnenseiten: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München

Redaktion: Gerhard Seidl

BH · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-29042-9V001

www.goldmann-verlag.de

Ein ganz dickes Dankeschön an Anna Bell, die den Einfall mit dem Dorfnamen hatte (und dem Namen für die Buchserie!) – meine ewige Dankbarkeit ist dir sicher!

2. Kapitel

»Hier ist’s ja so still!«, rief eine fröhliche Männerstimme, und Nancys Kindheitsfreund, Jonathan Murphy, trat mit einem munteren Winken über die Schwelle.

Diesmal erhob sich Charlie; er liebte Jonathan und lief schwanzwedelnd zu ihm hin. Jonathan bückte sich und kraulte dem Beagle die Ohren. »Ich hab was zum Mittagessen für euch mitgebracht!«

»O toll, ich bin schon am Verhungern«, antwortete Nancy, deren Blick sich wieder auf die Einladung in ihrer Hand richtete.

»Wie immer.« Er trat zu ihnen und stellte eine Papiertüte auf den Tresen, sie stammte aus dem Teahouse, dem Dorfcafé. »Ist genug für drei, Mrs. H.«, fügte er hinzu und schenkte Jane ein gewinnendes Lächeln. Diese schnalzte missbilligend. Nancy musste grinsen. Oma tat immer so, als habe Jonathan einen schlechten Einfluss auf ihre Enkelin. »Und, was gibt’s Neues?«, erkundigte er sich betont beiläufig.

Nancy blickte auf. Misstrauisch verfolgte sie, wie Jonathan ein Kresse-Ei-Sandwich für Jane auspackte, ein Käse-Tomaten-Sandwich für sie und Schinken mit Gürkchen für sich selbst, dazu drei Tüten Kartoffelchips, drei Fläschchen Orangensaft und drei Schokomuffins. »Wie kommen wir zu der Ehre?«

Jonathan wich Nancys Blick aus. »Was soll das heißen? Darf ich nicht mal meinen ältesten und liebsten Freunden was zur Mittagspause vorbeibringen – ohne dass mir sofort Hintergedanken unterstellt werden?«

»Doch, genau das.«

Jonathan blickte auf und grinste kläglich. Er war ein wenig kleiner als Nancy, hatte zerzaustes dunkles Haar und dunkle Augen und trug immer dieselbe abgerissene Jeans und dieselbe begrenzte Anzahl ausgeleierter Pullis. Mit seinen achtundzwanzig war er zwei Jahre älter als Nancy, womit sie ihn früher oft gnadenlos aufgezogen hatte. Er revanchierte sich, indem er ihr den Spitznamen »Nancy, the Vampire« gab, wegen ihrer überschlanken Figur und ihrer sehr hellen Haut, und auch wegen ihres Nachnamens, »Hunter«.

Eigentlich war es ein Wunder, dass sie überhaupt Freunde geworden waren.

»Okay, gut, stimmt, ich müsste mal mit dir reden …« Sein Blick heftete sich sehnsüchtig auf die Einladung in Nancys Hand.

»Hat es zufällig was damit zu tun?« Nancy wedelte mit der Karte.

»Okay, okay, ich muss dich unbedingt was fragen. Und du musst einfach Ja sagen, denn meine Karriere hängt davon ab!«

Jane konnte nur die Augen verdrehen, denn diese beiden kabbelten sich ständig. »Ach, kommt, jetzt setzen wir uns erst mal und essen in aller Ruhe. Bei der ganzen Aufregung brauche ich was in den Magen.«

Jonathan verteilte gehorsam die Brote, Jane nahm hinter der Kasse Platz, er selbst in dem Ohrensessel, der für die Kundschaft vorgesehen war, und Nancy ging zur Fensterbank. Von dort hatte man den schmalen kleinen Laden gut im Blick. Charlie sprang zu ihr auf die Bank und legte ihr eine Vorderpfote aufs Bein. Nancy brach lächelnd ein Stück von ihrem Sandwich ab und verfütterte es dem Beagle. Sie liebte es hier: Bücher, wo man nur hinsah, Regale vom Boden bis zur Decke. Auch wenn den Kunden manchmal der Durchblick fehlte, was das Ordnungssystem betraf – Nancys Vater war nicht gerade ein Organisationstalent gewesen –, und manchmal musste selbst Nancys Freundin Penelope, die als Teilzeitkraft hier aushalf, nachfragen, aber Nancy wusste immer ganz genau, wo jeder Titel stand. Sie hatte einfach nicht umräumen wollen, weil es sie an ihren verstorbenen Vater erinnerte.

Im hinteren Teil des Ladens befand sich der Tresen mit der Registrierkasse und dahinter der Durchgang zum Bürokabuff sowie eine kleine Toilette; in einer Ecke stand die alte Standuhr, die George Hunter, Nancys Großvater, seinem Sohn vererbt hatte und die immer noch zuverlässig und vor allem laut tickte. An den Wänden wachten die berühmtesten Detektivgeschichten und Mystery Thriller in großen gerahmten Plakaten über sie. Und direkt hinter der Theke hing ein großes Foto von Nancys Vater vom Tag der Eröffnung. Er stand vor dem Buchladen, und man sah ihm deutlich an, dass er vor Stolz fast platzte. Dieses Foto betrachtete Nancy ganz besonders gern, weil er darauf so glücklich aussah und weil die Ähnlichkeit zwischen ihnen unübersehbar war. Nancy sah mehr ihrem Vater ähnlich und nicht der Oma – und schon gar nicht ihrer abwesenden Mutter, worüber Nancy erleichtert war. Alle hatten die gleichen grünen Augen, aber während sie und ihr Vater groß und schlank waren, war Jane, nun ja, klein und rundlich.

Nancy biss in ihr Sandwich und tätschelte Charlie, der sich wieder in seinem Körbchen auf der Fensterbank zusammenrollte. Jonathan saß schweigend im Sessel, während sie aßen, und wippte ungeduldig mit der Fußspitze. Nancy und Oma grinsten sich verstohlen zu. Schließlich gab Nancy nach und sagte: »Okay, spuck’s aus. Was willst du?«

»Es geht um die Party bei den Roths. Mein Gott, was wäre das für eine Story! Zum ersten Mal seit wer weiß wie vielen Jahren öffnen sie wieder ihre Pforten für die Außenwelt. Ich meine, wie lange ist das her? Dreißig Jahre? Irre, oder? Also, da muss ich unbedingt dabei sein, damit ich was darüber schreiben kann.« Jonathan arbeitete bei der Lokalzeitung, dem Cotswold Star, und war ständig auf der Suche nach einem interessanten Stoff. Nicht immer einfach, denn hier passierte ja so gut wie gar nichts. Dedley End war tatsächlich ein totes Ende, ein verschlafenes kleines Kaff, in dem es sich zwar gut lebte, das einem aufstrebenden Journalisten aber wenig Aufregendes zu bieten hatte. »Als wir hörten, dass diese Einladungen im Dorf kursieren, hat mein Chefredakteur, Tony, gleich versucht, eine für mich zu ergattern. Aber die Roths lassen sich nicht erweichen – die Leute aus dem Dorf sind willkommen. Die Presse nicht.«

»Kann man ihnen nicht verdenken«, bemerkte Jane trocken.

»Mrs. H., das will ich jetzt mal nicht gehört haben«, meinte Jonathan gekränkt. An Nancy gewandt fuhr er fort: »Aber man hat Tony bestätigt, dass alle Geschäftsinhaber eingeladen werden, und als ich dann Paul Postler in eure Richtung gehen sah, und weil ja jeder eine Begleitperson mitbringen darf …« Er schwieg vielsagend und grinste gewinnend.

»Du solltest ihn wirklich nicht so nennen«, meinte Jane vorwurfsvoll.

»Ach was, das mag er doch! Na jedenfalls, ihr seid also eingeladen, ja? Da könnte ich doch deine Begleitperson sein, was meinst du, Nancy?«

Aber Nancy schüttelte den Kopf. »Das letzte Mal, als du mich begleitet hast, auf diese Weihnachtsfeier des Rotary Clubs, da hat der alte Andrews mir zwischen die Beine gefasst.« Sie erschauderte angeekelt.

»Mag sein, aber du hast dich gut gewehrt. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, hast du ihm dein Getränk über den Kopf gekippt.«

»Das hat er auch verdient«, entgegnete Nancy ohne Reue.

»Allerdings«, pflichtete Oma ihr bei, »außerdem, wie kommst du auf den Gedanken, dass wir die Einladung annehmen?« Oma grinste Nancy heimlich an. Sie triezten Jonathan zu gerne und taten es bei jeder sich bietenden Gelegenheit. »Was mich betrifft, ich bin nicht gerade begeistert, bei so einem Wetter ausgehen zu müssen!« Sie deutete aus dem Fenster und auf den wirbelnden Schneeregen, der sich zunehmend in Schneefall verwandelte.

»Aber das ist das gesellschaftliche Ereignis des Jahres! Und du wolltest doch immer mal sehen, wie’s dort drinnen aussieht, in diesem großen viktorianischen Kasten«, appellierte Jonathan flehentlich an Nancy.

Das stimmte. Nancy, die früher auf ihrem Schulweg zweimal täglich am Haus auf dem Hügel vorbeigekommen war, hatte sich oft gewünscht, nur einmal in ihrem Leben sehen zu dürfen, wie es in so einem Anwesen zuging. Aber sie war, ebenso wie der Rest des Dorfs, noch nie dorthin eingeladen worden. Bis heute. Sie seufzte. »Tja, neugierig bin ich schon, das kann ich nicht bestreiten. Ich würde mir das Haus liebend gerne mal von innen ansehen. Nicht zu fassen, dass sie tatsächlich das halbe Dorf eingeladen haben. Die haben doch noch nie einen von uns reingelassen.«

»Früher schon, vor langer Zeit«, meinte Jane. »Früher war dort jede Menge los, aber seit dieser Gartenparty bin ich nicht mehr dagewesen, und das ist schon dreißig Jahre her, wie du sagst, Jonathan. Vergessen werde ich diese Party nie, das kann ich euch sagen.« Oma blickte sich im Laden um. »Die hatten da eine ganz tolle Bibliothek in dem Haus, Nancy, die hätte dir gefallen!« Es hörte sich wehmütig an.

»Alle, die wichtig sind im Dorf, sind eingeladen«, versuchte es Jonathan mit Schmeichelei. »Die Mitarbeiterin, mit der Tony gesprochen hat, meinte, es war eine ziemlich kurzfristige Entscheidung, die von Maria ausging. Offenbar hat sie ihren Eltern so lange zugesetzt, bis sie nachgegeben haben. Die ganze Welt soll von ihrer Verlobung erfahren. Das ist wohl der Grund, warum die Einladung so kurzfristig erfolgt.«

»Na ja, nach all den Jahren, da müssen wir doch wohl hin, oder, Liebchen?«

»Ich glaube, wir würden es bereuen, wenn wir nicht hingingen«, musste auch Nancy einräumen. »Obwohl, ich hab keine Ahnung, was ich zu so was anziehen soll! Abendgarderobe!«

»Ach, wir finden schon was, da bin ich ganz sicher«, überlegte Jane, die jetzt selbst ganz aufgeregt wurde. »Wen sie wohl sonst noch eingeladen haben? Ich glaube, ich rufe gleich mal Gloria an und frage, ob sie auch eine Einladung gekriegt haben.« Jane verschwand im Kabuff. Sie liebte nichts mehr, als die Überbringerin aufregender Neuigkeiten zu sein.

»Also, was sagst du? Nimmst du mich mit? Wenn ich’s schaffen würde, reinzukommen, bekäme ich die Story ganz exklusiv«, bettelte Jonathan, sobald er mit Nancy allein war.

Diese schmunzelte, sie brachte es nicht übers Herz, den Freund noch länger hinzuhalten. Und es war ja auch eine einmalige Gelegenheit, die man sich nicht durch die Lappen gehen lassen durfte. Zeit hatte sie auch, ihr Kalender war nicht gerade brechend voll. Eine Verlobungsparty auf Roth Lodge, wenige Wochen vor Weihnachten, würde auf Monate Gesprächsstoff liefern. Dann fiel ihr ein weiterer Anreiz ein. »Du müsstest aber einen Smoking tragen.«

Jonathan seufzte. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Na ja, ich kann mir ja den von Tony ausborgen.« Jonathans Chefredakteur lief zwar nicht viel gepflegter herum als sein Mitarbeiter, hatte sich aber irgendwann einen Smoking anschaffen müssen, weil er auf eine Hochzeit eingeladen gewesen war. Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Okay, prima, das wäre geklärt. Dann fahre ich jetzt besser wieder in die Redaktion zurück. Ich muss alles über die Roths nachlesen, damit ich weiß, wer wer ist und welche Skandälchen es zu enthüllen geben könnte.«

Nancy zog eine Augenbraue hoch. »Skandale? In Dedley End? Da mach dich lieber auf eine Enttäuschung gefasst.« Im Dorf geschah nie etwas Skandalöses, das wusste jeder.

»Mag sein. Wir werden sehen. Die haben sich dreißig Jahre lang abgeschottet, da oben. Wieso wohl? Das frag ich mich.«

»Das hat wohl was mit dieser Gartenparty zu tun, die Oma erwähnt hat. Du fragst besser sie selbst. Ich glaube, es ist damals was gestohlen worden. Obwohl, wenn man nach dem Dorfklatsch geht, könnte es sich um wer weiß was handeln, von einem Fall für die Polizei bis hin zu dem Verdacht, die Roths könnten Geheimmitglieder der Illuminati sein.«

»Die Reichen haben immer die eine oder andere Leiche im Keller, da kannst du sicher sein.« Jonathan erhob sich und machte sich auf den Weg zur Tür, blieb aber noch kurz bei Charlie an der Fensterbank stehen, um ihn zum Abschied zu streicheln.

Nancy drehte sich auf ihrem Sitz herum und blickte auf die Straße hinaus. »Wenn ich du wäre, würde ich noch ein paar Minuten warten.«

»Wieso?«

Sie wies mit dem Kopf auf den kleinen Supermarkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Gerade kam eine junge Frau heraus und mühte sich mit ihren Einkaufstüten und ihrem Regenschirm ab.

Jonathan folgte ihrem Blick. »Ach du dicke … Danke für die Warnung.« Er lehnte sich sicherheitshalber vom Schaufenster zurück, um nicht gesehen zu werden.

»Irgendwann wird sich das rächen, so, wie du die Frauen behandelst, Jonathan Murphy. Und dann werde ich nicht zur Stelle sein, um dich rauszupauken.« Kate war Jonathans Ex-Freundin, und Nancy hatte das Gefühl, dass sie ihn immer noch liebte. Obwohl sie doch wissen sollte, dass man, wenn es um eine feste Beziehung ging, von Jonathan nur noch eine Staubwolke sah.

Jonathan warf erneut einen vorsichtigen Blick nach draußen. »Ah, gut, die Luft ist rein. Liebe Nancy, du wirst immer da sein, um mich rauszupauken, hoffe ich! Dafür sind Freunde schließlich da.« Er zog die Tür auf. »Ich hol dich ab, wenn die Party bei den Roths steigt, wie es sich für einen anständigen Kavalier gehört.«

»Du und ein Kavalier?«, spottete Nancy belustigt, doch Jonathan war bereits pfeifend hinausgetreten und tat, als ob er nichts gehört hätte. Sie schüttelte den Kopf. Sein leichtfertiger Umgang mit Frauen gefiel ihr zwar nicht, andererseits beneidete sie ihn manchmal gerade um diese Eigenschaft. Sie selbst hatte sich auf keine Beziehung mehr eingelassen, seit sich ihr Freund Richard, den sie auf der Uni kennengelernt und mit dem sie drei Jahre zusammen gewesen war, von ihr getrennt hatte. So schnell wollte sie sich das Herz nicht noch einmal brechen lassen.

Nancy konnte hören, wie Oma hinten im Kabuff aufgeregt mit der Frau des Pastors telefonierte. Jetzt wurde sie selbst ganz aufgeregt beim Gedanken an diese Party und daran, dass sie das große alte Anwesen endlich betreten würde. Und sich dafür außerdem richtig in Schale werfen müsste. Sie fühlte sich fast wie Aschenputtel, das schließlich doch noch auf den Ball gehen würde.

Nancy nahm sich Jonathans Muffin, den dieser nicht angetastet hatte. Charlies Kopf zuckte hoffnungsvoll hoch. »Ich glaube, den hab ich mir nach der ganzen Aufregung redlich verdient«, sagte sie zu dem treuen Tier und biss herzhaft hinein.

3. Kapitel

Nach Ladenschluss führte Nancy Charlie auf dem weitläufigen Dorfanger Gassi. Jane war schon etwas früher heimgegangen, um das Abendessen vorzubereiten. Nancy sah zu, wie der Beagle nach dem langen Tag im Laden übermütig auf der Wiese herumtollte. Sie gingen zweimal täglich auf dem Dorfanger spazieren, was Charlie liebte, denn dort hatte er genügend Auslauf, und auch Nancy freute es immer, ihren Hund glücklich zu sehen. Der Abend war bitterkalt, und sie musste ständig in Bewegung bleiben, um nicht zu sehr zu frieren. Sie warf den Ball für ihn und dachte dabei voller Vorfreude an ihr wohliges kleines Zuhause und an ein gutes, warmes Abendessen. Sie wandte sich um und blickte über den Anger auf das Dorf, dabei zog und zerrte der Wind an ihr. Wenigstens hatte es zu schneien aufgehört.

Eine Familie winkte ihr im Vorbeigehen freundlich zu. Nancy kannte jede und jeden im Dorf, und jeder kannte sie. Sie liebte Dedley End, mit seinen Kopfsteinpflastergassen, den Natursteinmauern, eingebettet in sanftes grünes Hügelland. Sie konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben – auch wenn sie manchmal wünschte, es wäre ein bisschen mehr los. Deshalb besaß sie einen geradezu federnden Gang, seit sie die Einladung zur Roth-Party erhalten hatte. Und es freute sie auch für Oma. Eine kleine Aufheiterung tat ihnen gut, speziell um diese Jahreszeit, wenn sie ihre Lieben am meisten vermissten. Sie hatten ja nicht nur Nancys Vater George verloren, sondern auch noch Nancys Mutter, die schon vor Jahren fortgegangen war. Janes Mann war ebenfalls lange tot, also gab es nur noch sie beide.

George Hunter war gestorben, als Nancy erst zehn Jahre alt gewesen war, und ihre Erinnerungen an ihn waren ein wenig verschwommen. Als passionierter Krimifan hatte er sie sinnigerweise nach Nancy Drew benannt, der jugendlichen Heldin aus zahlreichen Detektivgeschichten für Kinder. Und mit der Liebe zu Büchern hatte sie sich ebenfalls bereits früh vom Vater anstecken lassen. Oma betonte oft, wie sehr sie ihm ähnelte, und das freute Nancy sehr. Und auch die Buchhandlung, Vaters ganzer Stolz und ganze Freude, führte Nancy aus Passion weiter.

Samantha, ihre Mutter, hatte die Familie verlassen, als Nancy sechs Jahre alt gewesen war. Sie hatte einen Zettel hinterlassen, auf dem stand, sie käme mit dem Familienalltag einfach nicht mehr klar. Nancy erinnerte sich kaum noch an sie. Aus den wenigen Fotos, die Jane von ihr besaß, wusste sie, wie die Mutter ausgesehen hatte. Aber wenn sie ehrlich war, interessierte sie sich kaum für sie. Der Gedanke an diese Frau, die es übers Herz gebracht hatte, ihre kleine Tochter einfach im Stich zu lassen, schmerzte zu sehr.

Nancys Nase war inzwischen vollkommen taub geworden. »Na komm, Charlie, ab nach Hause, Abendessen!«, rief sie dem Beagle zu. Charlie kam folgsam an, und sie machten sich auf den Weg zu ihrem kleinen Cottage, das sie sich mit Jane teilten. Es befand sich am Dorfrand, der Kirche gegenüber und mit Blick auf den Anger. Es stammte aus dem achtzehnten Jahrhundert, und Nancy liebte es heiß und innig – auch wenn es im Winter zugig sein konnte und gelegentlich auch mal das Dach undicht wurde. Sie wohnte hier, seit sie zehn war, mit einer Unterbrechung von drei Jahren, als sie an der Uni in Bath Englische Literatur studierte und Richard, ihren Ex-Freund, kennengelernt hatte. Richard hatte unbedingt gewollt, dass sie nach dem Studium mit ihm nach London zog – aber wie hätte sie Oma, und natürlich auch Vaters Buchladen, im Stich lassen können? Am Ende war Richard ohne sie abgezogen, und sie war nach Dedley End zurückgekehrt und dort geblieben.

»Da sind wir!«, rief Nancy, als sie die Diele betrat. Charlie lief sogleich tiefer ins Haus hinein, und Nancy nahm schmunzelnd die Wärme in sich auf sowie den köstlichen Essensduft.

»Ich bin hier!«, kam es aus der Küche.

Nancy hängte ihren Mantel an einen Garderobenhaken, streifte ihre Kurzstiefel ab und setzte ihre Tasche auf einer Treppenstufe ab, dann ging sie nach hinten in die Küche. Oma stand am Herd und rührte in einem großen Topf, Charlie schlabberte geräuschvoll seine Wasserschale leer. »Mensch, bin ich vielleicht durchgefroren.«

»Setz dich, das Essen ist schon fertig, das wird dich wieder aufwärmen.«

Oma konnte ausgezeichnet kochen. Nancy nahm mit erwartungsvoll knurrendem Magen an dem kleinen Holztisch Platz, an dem sie stets die Mahlzeiten einnahmen. Jane gab auch Charlie Futter und stellte dann einen deftigen Eintopf mit Wurzelgemüse und dazu Kartoffelpüree auf den Tisch. Nancy wiederum mixte zwei Gin Tonic für sich und Oma, ihr bevorzugtes Getränk zum Abendessen. Hungrig machten sie sich über ihre Portionen her.

»Jonathan hat mich heute gefragt, wieso sich die Roths so vom Dorf abgeschottet haben? An die genauen Umstände konnte ich mich aber nicht mehr erinnern«, bemerkte Nancy, sobald ihr warm genug zum Reden war. Charlie hatte sein Futter bereits verschlungen und verschwand nun im Wohnzimmer, wo ein warmes Feuer im Kamin brannte. Er wusste ja, dass sie nachkommen würden, sobald auch sie fertig waren.

»Das letzte Mal, als ich dort war, das war vor ungefähr dreißig Jahren, also noch bevor sich deine Eltern kennengelernt haben …« Jane brach ab und räusperte sich. Kein leichtes Thema. Von Jane wusste Nancy, dass ihr Vater seine Frau von ganzem Herzen geliebt hatte und vollkommen niedergeschmettert gewesen war, als sie auf Nimmerwiedersehen verschwand. Nancy konnte nicht begreifen, wie jemand einfach Mann und Tochter verlassen konnte. Jane nahm einen Schluck Gin Tonic und fuhr fort: »Dein Großvater und ich waren wie jeden Sommer zur Gartenparty der Roths eingeladen, so auch in jenem Jahr. Das ganze Dorf war eingeladen. Dein Vater kam auch mit. Es war Marcus, der jedes Jahr, zusammen mit seiner Frau Louisa, diese Partys gab. Er ist auch heute noch das Oberhaupt der Familie, ein paar Jahre älter als ich. Alles war prächtig wie immer, doch dann schlug die Stimmung plötzlich um. Der Butler erschien und teilte allen mit, dass die Party zu Ende sei und wir sofort gehen müssten. Das kam total aus heiterem Himmel. Wir wussten gar nicht, was los war. Hinterher machte das Gerücht die Runde, die Haushälterin der Roths hätte eine Menge Geld gestohlen und sei deshalb fristlos entlassen worden. Sie tauchte ab, ist nie wieder im Dorf gesehen worden, also nahm ich an, dass es wahr sein musste. Danach gab es nie mehr eine Gartenparty.« Jane beugte sich vertraulich vor und sagte mit gedämpfter Stimme: »Niemand ist je wieder eingeladen worden. Wahrscheinlich dachten die Roths, man kann den Leuten aus dem Dorf nicht trauen, was kein Wunder wäre, nach allem, was passiert war. Die Haushälterin war wie ein Familienmitglied behandelt worden, und sie stammte ja von hier. Aber das soll nicht der einzige Grund gewesen sein, so heißt es jedenfalls im Dorf. Angeblich hatte Louisa Roth gesundheitliche Probleme, und Marcus war offenbar der Meinung, sie brauche viel Ruhe. Und das stimmt vielleicht auch, denn sie starb nur wenige Jahre später. Das muss jetzt zwanzig Jahre her sein – gar nicht lange nach dem Tod deines Vaters, glaube ich. Sie war noch gar nicht so alt. Unser damaliger Hausarzt – wenn er was intus hatte, konnte er eine ganz schöne Klatschbase sein – hat mal im Pub durchsickern lassen, sie sei an Krebs gestorben. Die Beerdigung fand natürlich nur im engsten Familienkreis statt.« Oma zuckte mit den Schultern. »Marcus’ Sohn hat mit der Zeit selbst zwei Söhne bekommen, dazu Maria, aber die kamen alle aufs Internat und leben jetzt, soweit ich weiß, in London oder irgendwo anders in ihren eigenen Häusern. Warum auch immer, seitdem verkehren sie nur noch in ihren eigenen Kreisen, zu denen keiner von uns gehört. Sie haben sich vollkommen aus dem Dorfleben zurückgezogen, kaufen nicht einmal mehr in den Geschäften hier ein. Hier, in unserem Buchladen, habe ich sie jedenfalls noch nie gesehen.«

»Hm, seltsam. Irgendwie übertrieben, finde ich«, überlegte Nancy und nahm sich noch einen Schlag von dem besonders fluffigen Püree.

»Und ob. Aber wer kann schon wissen, was da oben vorgeht? Trotzdem würde ich das Haus liebend gerne mal wiedersehen. Es wird dir gefallen, es ist wirklich prächtig. Wie aus einem historischen Roman.« Omas Augen funkelten unternehmungslustig.

»Genau so was hab ich mir erhofft«, antwortete Nancy. »Wie kommt man überhaupt zu so einem großen Kasten?«

»Nun ja, das Haus befindet sich schon lange im Familienbesitz, ich glaube, es gehörte schon Marcus’ Großvater. Die Familie hat altes Geld, besitzt darüber hinaus aber auch Aktienkapital und eine Investmentfirma – sie kaufen Unternehmen auf, glaube ich. Multimillionäre, definitiv. Geld vermehrt sich gern, ist eine alte Lebensweisheit.«

»Hm, nicht dass wir darüber ein Lied singen könnten.« Aber die beiden Frauen lächelten sich an. Mit dem Buchhandel konnte man zwar nicht reich werden, aber sie liebten ihren Laden viel zu sehr, als dass sie das sonderlich bekümmerte. »Aber jetzt mal im Ernst, was soll ich zu der Feier anziehen? Extra was kaufen, nur für diesen einen Anlass, das möchte ich nicht. Aber es heißt Abendgarderobe erwünscht.« Nancy konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann sie sich das letzte Mal so richtig in Schale geworfen hatte. Vielleicht bei Penelopes Hochzeit, vor drei Jahren.

»Ach, da wird sich schon was finden, ganz bestimmt. Ich werde nachher mal oben nachsehen. Aber erst gibt’s Nachspeise. Apfelkuchen. Warte, ich mache uns rasch noch eine Vanillesoße dazu.«

Nancy lächelte. Bei Omas Kochkünsten konnte man froh sein, wenn man einen leistungsfähigen Stoffwechsel hatte, so wie sie, Nancy. »Ich kann’s kaum abwarten, das Haus mal zu sehen, aber auch die Roths endlich einmal kennenzulernen. Maria ist also Marcus Roths Enkelin, ja?«

»Genau.« Jane servierte den ofenwarmen Apfelkuchen. »Gloria meint, ich soll mal einen Blick auf die Verlobungsanzeige in der Zeitung werfen. Aber ich muss sagen, viel macht das Mädchen nicht her. Trotzdem. Eine steinreiche Familie wie die Roths – da wird selbst ein Mauerblümchen begehrenswert.«

Nancy lachte verblüfft auf. »Aber Oma! Bestimmt ist sie ein hübsches Mädchen und hat jemanden gefunden, der sie aufrichtig liebt.«

Janes Miene blieb skeptisch. »Vielleicht hast du recht. Aber ich glaube nicht, dass es sonderlich schwer ist, etwas darüber zu erfahren, wo ihr Verlobter herkommt. Na gut, immerhin kriegen wir jetzt endlich mal Lucy Roth zu sehen.«

»Wer ist das?«, erkundigte sich Nancy neugierig und machte sich dann über ihre Nachspeise her. Sie war nicht so vertraut mit dem Dorfklatsch wie Oma.

»Sie ist mit Harry Roth, dem älteren der beiden Söhne, verheiratet. Anscheinend haben sie sich in Paris kennengelernt, als er dort zu tun hatte. Es war eine Wirbelwindromanze, und als er sie der Familie vorstellte, waren sie bereits verheiratet. Laut Gloria sind seine Leute nicht gerade begeistert. Aber sie soll ziemlich glamourös sein. Ich habe sie mal durchs Dorf fahren sehen; sie sah aus wie ein Fotomodell. Ich wette, sie wird was absolut Umwerfendes tragen. Wir müssen dafür sorgen, dass du mithalten kannst.«

Das bezweifelte Nancy. Sie war zwar groß und schlank, aber von glamourös konnte keine Rede sein. Kläglich blickte sie an sich hinab, auf ihren wollenen Rock und ihren Wollpulli, und wurde ganz nervös. Sie würde nicht dorthin passen. Wieso hatte sie nur zugesagt?

Jane bemerkte, wie still Nancy geworden war. »Keine Angst, wenn ich erst mit dir fertig bin, wirst du die Ballkönigin sein.«

*

Nach dem Essen gingen sie nach oben in Janes Zimmer, das zum Vorgarten wies. Von Nancys Zimmer aus, das eine Dachschräge und Gauben besaß, hatte man einen Blick nach hinten, auf den kleinen quadratischen Garten. Sie ließ sich auf der Kante von Omas Bett nieder und sah zu, wie diese ihre beiden riesigen Schränke durchstöberte. Oma hatte schon immer etwas für Mode übriggehabt und seit ihrer Jugend kaum etwas weggeworfen. Die alte Dame seufzte. »Wenn du bloß nicht so viel größer wärst als ich. Ich glaube kaum, dass dir irgendwas hiervon passen wird. Ah, Moment, da kommt mir ein Gedanke.« Sie drehte sich um und blickte Nancy sinnend an. »Aber vielleicht willst du’s ja nicht anziehen wollen. Obwohl du darin fantastisch aussehen würdest.«

»Du wüsstest ein Kleid für mich?«

Jane deutete auf einen der offenen Schränke, genauer gesagt, auf das oberste Regal. »Siehst du die Schachtel da oben? Könntest du sie mal runterholen? Kommst du ran?«

Nancy nahm sie herunter und legte sie aufs Bett. Sie zog den Deckel auf, wobei eine Staubwolke aufwirbelte, und sie musste husten. Beide beugten sich vor und spähten in die Schachtel. Dort lag, säuberlich zusammengefaltet, ein goldenes Kleid.

»Es gehörte deiner Mutter«, gestand Jane mit leiser, fast ehrfürchtiger Stimme. »Sie hat es zurückgelassen, als sie …« Sie sprach nicht weiter, räusperte sich. »Ich hab’s für dich aufgehoben.«

Nancy starrte das Kleid an. Es bestand aus schwerem, mit vielen kleinen Perlen besticktem Goldlamé und war knielang. Und einfach wunderschön. »Es gehörte meiner Mutter«, wiederholte sie perplex. Sie wusste selbst nicht, was sie davon halten sollte. Sie besaß nur noch sehr wenig von Samantha Hunter. Das Hochzeitskleid, zum Beispiel, oben auf dem Speicher. Das hatte die Mutter natürlich nicht mitgenommen, als sie die sechsjährige Nancy und ihren Vater einfach verließ. Aber dieses Kleid hier sah Nancy jetzt zum ersten Mal. Nun gut, sie und Oma redeten ja praktisch nie von Nancys Mutter. Als der Vater nur vier Jahre nach Samanthas Verschwinden umgekommen war, hatte Nancy gehofft, die Mutter würde vielleicht zur Beerdigung kommen. Und erklären, warum sie sich aus dem Staub gemacht und ihr einziges Kind im Stich gelassen hatte. Aber sie war nicht erschienen.

Nancy wusste, dass der Vater noch versucht hatte, seine Frau ausfindig zu machen. Jane hatte es ihr erzählt, als sie sie danach gefragt hatte. Aber alles, was er herausfinden konnte, war, dass sie den Zug nach London genommen hatte. Danach verlor sich ihre Spur. Er war zur Polizei gegangen und hatte um Hilfe gebeten, doch der waren aufgrund des Abschiedsbriefs die Hände gebunden. Und so war Samantha Hunter nie mehr nach Dedley End zurückgekehrt.

Als Jugendliche hatte Nancy dann den Entschluss gefasst, nicht mehr an diese Frau zu denken, der sie offensichtlich vollkommen gleichgültig gewesen war, ja sich nicht einmal mehr zu fragen, wo ihre Mutter wohl stecken mochte, oder gar nach ihr zu suchen. Einmal hatte sie sie gegoogelt, aber nicht einmal einen Facebook-Account gefunden, danach beschloss sie, das Ganze zu vergessen. Es war zwecklos, sich über die Gründe ihres Verschwindens den Kopf zu zerbrechen, und dabei blieb es.

Der Tod des Vaters machte Nancy weit mehr zu schaffen. Weil sie wusste, wie sehr er sie geliebt hatte, und sie ihn, und weil sie beide Bücher liebten und den Buchladen, das verband sie. Und weil sein Unfall so ein Schock gewesen war. Und rätselhaft blieb. Es gab so viele Fragen, aber kaum Antworten.

Nancy war, genau genommen, zwar keine Waise, fühlte sich aber so. »Aber würde mir das denn überhaupt stehen?«, überlegte sie und wies auf das wundervolle Kleid.

»Mit deinem Bubikopf würdest du darin aussehen wie ein echter Flapper.«

Nancy war geschockt. »Wie bitte?!«

»Ein Flapper«, wiederholte Jane etwas lauter. »Diese modernen jungen Frauen aus den Goldenen Zwanzigerjahren. Was dachtest du denn?«

Darauf antwortete Nancy lieber nicht.

»Du musst selbst entscheiden, ob du’s tragen willst, Liebes.«

Nancy strich mit den Fingerspitzen über den Stoff. »Hast du sie mal darin gesehen?«

»Nur einmal, auf einer Silvesterparty, die deine Eltern in eurem alten Haus gaben.«

Nancy war oft an dem Haus vorbeigegangen, das nur eine Straße weit entfernt lag. Seltsam, dass sie früher einmal mit ihren Eltern dort gewohnt hatte. Dass sie eine dreiköpfige kleine Familie gewesen waren. Das kam ihr jetzt beinahe wie ein Traum vor.

»Sie war groß und schlank und dunkelhaarig, so wie du. Sie sah einfach umwerfend aus, in diesem Kleid, richtig glamourös. Ich weiß noch, wie dein Vater sie angesehen hat. Als ob er noch nie etwas so Schönes gesehen hätte.« Omas Stimme brach ein klein wenig.

»Wenn es dich so traurig macht, dann kann ich’s nicht anziehen!«

»Ach, das wird es nicht, versprochen. Ich bin bloß ein wenig sentimental geworden, ist schon wieder vorbei. Du könntest deine schwarzen Stöckelschuhe dazu anziehen, und ich habe doch noch diese goldene Clutch, die würde fabelhaft dazu passen.«

Nancy betrachtete das Kleid. Es war wirklich umwerfend. »Ich hätte einfach nie damit gerechnet, dass ich mal etwas von ihr tragen würde, weißt du?«

»Ich weiß. Und manchmal ist Sentimentalität etwas Gutes, aber in diesem Fall sollten wir besser sachlich bleiben. Es ist nur ein Kleid, das jahrelang nicht mehr getragen wurde und das für diese Party einfach ideal wäre. Was Neues kaufen, dafür haben wir weder Zeit noch Geld. Wir müssen praktisch denken.«

Nancy lächelte. Ja, das sollten sie, das gefiel ihr. »Du hast recht, Oma. Ich danke dir.«

Jane streichelte Nancys Arm. »Es gibt so viele Menschen, die dich lieben, vergiss das nicht.«

Nancy nickte. »Ja, du hast recht.«

»Gut, und jetzt los, oder wir versäumen noch unsere Lieblingsserie.« Jane erhob sich, um nach unten zu gehen. Nancy zögerte noch, nahm dann aber die Schachtel an sich und brachte sie hinüber in ihr Zimmer, dann folgte sie ihrer Großmutter nach unten ins Wohnzimmer. Dabei fragte sie sich, ob sie die Gespenster der Vergangenheit wohl je loswerden würde.

4. Kapitel

An diesem Wochenende machten sich Nancy und Jane wie jeden Sonntag auf den Weg ins Dorfpub, das gleichzeitig ein Speiselokal war. Es war der einzige Tag in der Woche, an dem sich die beiden Frauen erlaubten, ihren Buchladen zu schließen, und das feierten sie gewöhnlich mit einem Mittagessen im White Swan, einer malerischen weiß gekalkten Gastwirtschaft mit Reetdach, am oberen Ende der High Street. Warum es »Zum weißen Schwan« hieß, wusste niemand mehr, denn einen Fluss gab es hier nicht, jedenfalls nicht in der Nähe. Sie betraten das warme Pub, in dem ein Kaminfeuer prasselte, und steuerten einen der Fenstertische an, der stets für sie reserviert war und an dem bereits Jonathan und Penelope saßen und sie erwarteten.

Nancy ging jedoch erst zur Bar, um zwei Gin Tonic für sich und Jane zu besorgen, dann trat sie zu den anderen an den Tisch. Sie reichte Oma ein Glas, nickte Jonathan zu, der sich bereits an einem Bier festhielt, und gab Penelope einen Kuss auf die Wange, ehe auch sie sich setzte. Sie schlüpfte aus ihrem Tweedmantel und nippte an ihrem Drink. Ihre Wangen wurden sogleich rosig warm.

»Mann, den hab ich bitter nötig!« Penelope deutete auf ihr Glas Wein, und dabei wippte ihr blonder Pferdeschwanz. »Ich bin vollkommen fertig, Kitty hat die ganze Woche lang schlecht geschlafen. Bin echt froh, dass ich heute mal Kinderpause habe – auch wenn man das eigentlich nicht sagen sollte.« Penelope Gordon war mit Nancy und Jonathan auf der Schule gewesen und arbeitete als Teilzeitkraft im Buchladen, aber überwiegend kümmerte sie sich um ihr Töchterchen. Die Sonntage jedoch verbrachte die kleine Kitty bei den Großeltern, zumindest solange ihr Vater nicht hier sein konnte. Er war Soldat und derzeit im Ausland stationiert, deshalb halfen seine Eltern einmal pro Woche aus und nahmen Penelope das Kind ab. Was bedeutete, dass diese oft zum Sonntagsessen dazustoßen konnte. Jonathan, der ohnehin keinen Vorwand brauchte, um ins Pub zu gehen, war ebenfalls so ziemlich jeden Sonntag im White Swan dabei.

»Unsinn, natürlich darfst du das sagen«, versicherte Nancy. Sie konnte nur bewundern, wie stoisch Pen die Abwesenheit ihres Mannes ertrug. Sie war noch dasselbe zierliche kleine Persönchen wie auf der Schule, mit ihren blonden Haaren, den strahlend blauen Augen und ihrer munteren Geschwätzigkeit. Nancy beneidete sie um ihre kleine Statur. Sie hatten sich angefreundet, nachdem Nancy beim Eintritt in die Grundschule von ein paar Kindern wegen ihrer Größe gehänselt worden war.

»Könntest du mir helfen?«, hatte Penelope gerufen. Nancy hatte aufgeblickt und gesehen, dass ein Turnschuh auf der Schulmauer lag. »Mein Schuh liegt da oben und du bist die Einzige, die rankommen könnte. Von den Buben ist ja keiner groß genug.« Und als Nancy den Schuh dann heruntergefischt hatte, war den Jungen das Scherzen vergangen und sie hatten nichts mehr gesagt. »Ich wünschte, ich wäre auch so groß wie du«, hatte Penelope noch hinzugefügt. »Du hast ja so ein Glück.«

Nancy sah das anders, aber so war Pen nun mal – stets positiv und optimistisch, selbst jetzt noch, nach all den Jahren. Sie waren danach sofort beste Freundinnen geworden, und Nancy hatte Penelope dann auch Jonathan vorgestellt, der damals im Haus gegenüber gewohnt hatte, als sie noch mit ihren Eltern in dem anderen Haus lebte. Aus den dreien war eine eingeschworene Gemeinschaft geworden, obwohl Jonathan zwei Jahre älter war, was in dem Alter einen Riesenunterschied ausmachte, aber das hatte ihrer Freundschaft keinen Abbruch getan.

»Danke, Nancy. Und sobald ich dieses Glas erst mal ausgetrunken und eine große Portion Sonntagsbraten in mich reingestopft habe, werde ich auch wieder bereit sein für die kommende Woche.« Sie strahlte. »Aber genug von mir, ihr müsst mir alles über diese Party bei den Roths erzählen, von der alle reden. Ungelogen, ich bin total neidisch! Ihr dürft euch in Schale werfen und euch unter die Reichen und Schönen mischen.«

»Na ja, aber Jonathan wird auch dort sein.« Nancy konnte sich diesen kleinen Seitenhieb wirklich nicht verkneifen.

»He, ihr habt ja keine Ahnung, was ich aus mir machen kann, wenn ich mir mal Mühe gebe!«, protestierte er.

»Ich bin schon ganz gespannt darauf, endlich mal wieder dieses Haus zu betreten. Wer weiß, was sich dort inzwischen alles verändert hat«, bemerkte Jane, die das Geplänkel der beiden wie immer ignorierte, da es für sie ja nichts Neues war.

»Aber ein bisschen nervös bin ich schon. Ich war noch nie bei so feinen Leuten eingeladen«, gestand Nancy.

»Ach was, ganz locker! Denk nur, wie interessant das wird! Du kannst beobachten, was all diese feinen Pinkel so anstellen«, meinte Penelope neidisch.

»Und in diesem Kleid wirst du einfach umwerfend aussehen«, fügte Oma hinzu. »Mir macht mehr Sorgen, dass Jonathan uns blamieren könnte.«

»Wieso hackt ihr alle auf mir rum?!«, rief Jonathan empört aus. Die anderen lachten. »Wartet’s bloß ab! Ich im Smoking! Da kann mir nicht einmal ein James Bond das Wasser reichen!«

»Ich hätte nie gedacht, dass ich das noch mal erleben würde – du und ein Smoking«, meinte Nancy. Eine absurde Vorstellung. Sie hatte sich jetzt doch für das Kleid ihrer Mutter entschieden. Erstens hatte sie einfach nichts anderes, und zweitens war es am Ende doch nur ein Kleidungsstück; dass es mal ihrer Mutter gehört hatte, sollte dabei keine Rolle spielen. Trotzdem. Leicht würde das nicht werden.

Die Bedienung erschien und nahm ihre Bestellung auf. Im Pub war’s inzwischen voll geworden, sie waren nicht die Einzigen, die wegen der guten Sonntagskost einen Besuch machten. Nancy kannte die meisten Leute – ohne die Touristen waren die Einheimischen unter sich, es herrschte eine gemütliche, lockere Stimmung, vor allem jetzt, im Dezember, wo Weihnachten näher rückte.

Die Tür ging auf, und Nancy sah einen Mann und eine Frau eintreten, die eilig zu einem reservierten Tisch in einer Ecke gingen. Er war im Anzug und sie in einem feinen Kleid, im White Swan ein seltener Anblick. »Kennt ihr die?«, erkundigte sich Nancy mit gedämpfter Stimme bei den anderen, denn sie selbst sah die beiden zum ersten Mal.

Penelope warf einen Blick hinüber. »Ist das nicht einer von den Roth-Söhnen? Ich glaube, ich habe ihn mal in der Bank in Woodley gesehen.«

Jane nickte. »Ja, das ist Will, der jüngere der beiden Enkelsöhne von Marcus Roth.«

Nancy schaute noch mal hin. Sie wusste, dass Will in Jonathans Alter sein musste, denn seine Schwester Maria war in ihrem und Pens Alter. Sie fand ihn recht attraktiv, mit seinem zerzausten dunklen Haar und dem smarten Anzug. »Ist das da seine Frau?« Nancy war gegen ihren Willen beeindruckt. Die junge Frau sah umwerfend aus, mit langen, welligen dunklen Haaren, die sich über ihre Schultern ergossen, und knallrotem Lippenstift. Die beiden bestellten etwas zu trinken und steckten dann die Köpfe zusammen.

»Ich glaube nicht, dass er verheiratet ist«, entgegnete Oma und riskierte noch einen Blick. »Wisst ihr was? Ich glaube, das ist Lucy Roth. Habt ihr nicht ihr Hochzeitsfoto in der Zeitung abgedruckt, Jonathan?«

Jonathan überzeugte sich mit einem Blick und bestätigte: »Ja, du hast recht. Harry hat sie in Frankreich geheiratet, es muss sehr schnell gegangen sein, eine echte Wirbelwindromanze. Wir haben die Heiratsanzeige per E-Mail bekommen, zusammen mit dem Foto, deshalb konnten wir auch keine Stellungnahme der Familie abdrucken, denn die gab es nicht. Null.«

»Wie hübsch sie ist«, schwärmte Nancy. Lucy passte nach Paris, fand sie. »Sie scheinen ja ein ziemlich ernstes Gespräch zu führen«, fügte sie hinzu. Die beiden sprachen leise, hatten die Köpfe zusammengesteckt.

Penelope schnappte nach Luft. »Mensch, vielleicht haben sie was miteinander! Das könnt ihr am Freitag auf der Party rausfinden. Achtet mal darauf, ob sie vielleicht besonders vertraulich miteinander tun.«

Jonathan verdrehte die Augen. »Darauf kannst auch nur du kommen: Ein Bier im Pub, und gleich haben sie eine heiße Affäre!«

Dann ertönten plötzlich laute Stimmen. Sie blickten zu dem Tisch hin und sahen, dass Lucy jetzt lebhaft gestikulierte, sich offenbar über etwas aufregte. Will Roth legte beschwichtigend eine Hand auf ihren Arm, aber sie schüttelte sie erzürnt ab und sprang auf.

»Das höre ich mir nicht länger an!«, rief sie erregt aus, mit ihrem gepflegten Upper-Class-Akzent. »Ich will vergessen, dass das hier je passiert ist«, fügte sie noch hinzu, machte dann auf dem Absatz kehrt und stakste hocherhobenen Hauptes aus der Wirtschaft.

Nancys Tisch war mittlerweile nicht mehr der einzige, der auf die beiden aufmerksam geworden war. Und auch Will Roth schien zu merken, dass sie Aufmerksamkeit erregt hatten, denn er wurde rot, erhob sich, warf ein paar Geldscheine auf den Tisch und eilte der Frau hinterher.

»Na, was sagst du dazu?«, meinte Penelope vielsagend zu Jonathan.

»Weiß nicht«, entgegnete der. »Aber was für ein Auftritt, nicht schlecht.«

»Nicht das, was man von so einer Familie erwarten sollte«, meinte Jane missbilligend. »Ich habe noch nie erlebt, dass sich einer von ihnen in der Öffentlichkeit derart aufgeführt hätte!«

»Ich glaube, ich hab die noch nie hier im Pub gesehen«, überlegte Nancy. »Hm, interessant … Vielleicht hast du recht, Pen, vielleicht sollten wir auf der Feier wirklich ein Auge auf die beiden haben.«

»Seht ihr? Wusste ich’s doch, dass wir irgendeinen Skandal zutage fördern würden«, meinte Jonathan. Er holte sein Handy hervor, um sich ein paar Notizen zu machen. »Dahinter steckt ’ne Story, das könnt ihr mir glauben.«

In diesem Moment wurde ihr Essen gebracht und setzte den Spekulationen ein Ende. Sie langten zu, aber Nancy gingen Jonathans Worte noch durch den Kopf. Sie neigte zu der Ansicht, dass er recht hatte.

Die Party konnte gar nicht früh genug kommen.

5. Kapitel

Der Tag der Party dämmerte frostig und klar herauf, sehr zu Nancys Erleichterung. Ihr Haar neigte dazu, sich bei feuchtem Wetter oder bei Regen zu kräuseln. Da sie lange keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, sich fein zu machen, ließ sie sich reichlich Zeit, nahm zunächst ein ausgiebiges Bad. Jetzt hatte sie endlich mal die Gelegenheit, den roten Lippenstift zu benutzen, den sie von Oma zum letzten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, dazu trug sie Lidstrich auf. Sie glättete ihren Bob und steckte das Haar auf einer Seite mit einer Goldspange zurück, dann betupfte sie sich mit Parfüm. Sie schlüpfte in Mutters altes Kleid und dann in die einzigen Schuhe mit hohen Absätzen, die sie besaß. Sie trat vor den hohen Spiegel und begutachtete sich.

Nancy musste zugeben, dass sie sich in diesem Kleid wirklich hübsch fühlte, und da sie es nie an ihrer Mutter gesehen hatte, erinnerte es sie auch nicht an sie. Jetzt war sie froh, dass Oma gedrängt hatte, es anzuziehen; ihre Beine sahen darin fabelhaft aus, besser denn je, und es passte auch gut zu ihrer natürlich schlanken Figur. Einen Moment lang fragte sie sich, wie Samantha Hunter wohl darin ausgesehen haben mochte, auf dieser Silvesterparty, von der Oma erzählt hatte, aber es gelang ihr nicht, sich das vorzustellen. Sie besaß nur alte Fotos von ihrer Mutter, die sie lange nicht mehr angesehen hatte. Außerdem sah sie ohnehin mehr ihrem Vater ähnlich.

Fest entschlossen, sich zu amüsieren und das meiste aus dieser Party zu machen, wandte sie sich vom Spiegel ab. Sie nahm die Clutch an sich, setzte ein Lächeln auf und ging nach unten. Sie würde sich nicht von trüben Gedanken an die Vergangenheit davon abhalten lassen, die Gegenwart zu genießen.

Oma wartete bereits unten in der kleinen Diele auf Nancy. Sie trug einen glitzernden schwarzen Plisseerock mit einer dazu passenden schwarzen Bluse, ihr lockiges graues Haar war hinter die Ohren gekämmt, und sie hatte sich einen schwarzen Fake-Fur-Mantel um die Schultern gelegt. Jane strahlte beim Anblick der Enkelin auf. »Ach, Liebes, du siehst wundervoll aus! Einfach perfekt.«

»Du siehst auch toll aus, Oma«, antwortete Nancy. Zufrieden schlüpfte sie ebenfalls in ihren Mantel. Sie warf noch einen Blick ins Wohnzimmer, um nach Charlie zu sehen – er schlief nach ihrem ausgiebigen Spaziergang und der noch üppigeren Abendmahlzeit tief und fest in seinem Körbchen vor dem Kamin.

Es schellte an der Haustür. »Das muss Jonathan sein. Komm, wir gehen.« Jane öffnete die Tür, und vor ihnen stand Jonathan in einem feinen Abendanzug. Nancy fiel sofort auf, dass er sich sogar ausnahmsweise ordentlich gekämmt hatte. Selbst seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert.

Jonathan stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Wow! Nancy und Mrs. H., ihr seht umwerfend aus! Dieses Kleid ist der Wahnsinn, Nancy!« Grinsend trat er zurück, um ihnen Platz zu machen.

»Kein Grund, so überrascht zu sein«, bemerkte Nancy spitz, aber es freute sie, dass er ihre Bemühungen zu schätzen wusste. Sie schloss das Cottage hinter sich ab.

»Und was ist mit mir?« Er wies mit einer Geste auf sich selbst, von der Fliege bis zu den glänzenden Schuhen.

»Kann man lassen. Doch, kann man durchaus lassen«, entgegnete Nancy gespielt lakonisch.

»Na, das nenne ich mal ein widerwilliges Kompliment, aber ich nehm’s trotzdem gerne an. Kommt, oder wir werden uns noch verspäten.« Er forderte sie mit einem Wink auf, ihm zu folgen. Sie stiegen in ein wartendes Taxi und machten sich auf den Weg zum Haus auf dem Hügel.

Das Dorf glitt an den Seitenfenstern vorbei, und am frostklaren, mitternachtsblauen Himmel kamen die ersten Sterne hervor. Je näher das Taxi seinem Ziel kam, desto mehr belebte sich die Straße; viele Leute gingen zu Fuß zum Anwesen hinauf, andere hatten, wie sie, ein Taxi bestellt, aber es gab auch Limousinen und Luxuskarossen aller Größen und Marken. Selbst der Taxifahrer stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Sie fuhren zwischen den großen gusseisernen Torflügeln hindurch, die normalerweise stets verschlossen waren, und hinauf zur Roth Lodge, die hoch über dem Dorf thronte, ein weitläufiges, elegantes Natursteingebäude, dessen Vorderfassade zum Großteil mit Efeu überwachsen war. Heute Abend standen die Flügel der weißen Eingangstüre weit offen, und Menschen in Abendgarderobe betraten die hell erleuchtete Eingangshalle.

»So, da wären wir«, sagte Jonathan, als das Taxi anhielt. Er half Jane beim Aussteigen, bezahlte und ging dann um den Wagen herum, um auch Nancy zu helfen. Aber die stand bereits neben dem Auto und lachte ihn aus. »Ich versuch doch nur, ein Kavalier zu sein«, verteidigte er sich und bot Jane und Nancy je einen Arm.

»Eher friert die Hölle zu«, bemerkte Nancy fröhlich, aber seinen Arm nahm sie dennoch, denn sie fühlte sich ein wenig unsicher, auf den ungewohnt hohen Absätzen. Und dann schritten sie untergehakt auf das Haus zu. Nancy blickte an der viktorianischen Fassade hinauf, die, malerisch angeleuchtet, vor ihnen aufragte. Aus dem Innern drang Musik, und Nancy wurde unwillkürlich von einem erregenden Schauder ergriffen. Oma hatte recht – es fühlte sich wirklich an wie in einem Roman.

Sie stiegen die Stufen zur großen Eingangstür hinauf, wo sich ein Mann in Dienstbotenuniform die Einladungen vorzeigen ließ. Sie zeigten ihm die ihren und wurden mit einem würdevollen Nicken eingelassen. Sie betraten eine große, mit schwarz-weißen Fliesen im Schachbrettmuster ausgelegte Eingangshalle. Nancy schnappte unwillkürlich nach Luft. In einer Ecke stand ein Konzertflügel, an dem ein Mann im Smoking saß und für die musikalische Untermalung sorgte. Nancy hob den Kopf und erblickte eine aufwendig verzierte gusseiserne Balustrade, die die Halle im ersten Stock halbkreisförmig umlief. Genau in der Mitte über ihnen hing ein prächtiger Kronleuchter und tauchte den Raum in funkelndes Licht. Nancy staunte.

Ein Dienstmädchen in einer schwarzen Tracht mit weißer Schürze und weißem Häubchen trat sogleich hinzu und half Nancy aus dem Mantel, dann wies sie auf die offen stehende Tür zum Empfangssaal, der bereits mit Partygästen gefüllt war.

Sie durchquerten die Halle, und sobald sie den Saal betraten, näherte sich ihnen ein weiterer befrackter Bediensteter mit einem Tablett voll Sektgläser, von dem sie sich jeder eins nahmen.

Der Salon war ein langer Raum mit einer hohen, aufwendig verzierten Decke und denselben Schachbrettfliesen wie in der Diele. Auch hier funkelte über ihnen ein Kronleuchter. Am anderen Ende des Raums stand eine Tür offen, und man konnte sehen, dass dort eine Treppe in den ersten Stock hinaufführte. Nancy sog alles gierig in sich auf – die Menschen, das Gelächter, die ausgelassene Stimmung, die feine Garderobe, Cocktailkleider und Smokings, wo man auch hinsah. Champagnerkorken knallten, Drinks und Kanapees wurden serviert. Nancy kam es vor wie ein Traum.

»Hallo, ihr Lieben!«, rief ihnen jemand von hinten zu. Sie drehten sich um, und vor ihnen standen der Pastor von Dedley End, Reverend Williams, und seine Frau Gloria. »Klasse Party, was?« Er lebte zwar schon seit fast vierzig Jahren in den Cotswolds, hatte aber seinen jamaikanischen Akzent nie ganz abgelegt, sehr zur Freude seiner Gemeinde, die gerne seiner melodischen Stimme lauschte, wenn er seine Sonntagspredigt hielt. Er hatte zur Feier des Tages seinen Priesterkragen angelegt, und Gloria trug ein blaues Satinkleid. Sie beugte sich vor und begrüßte Jane mit einem Küsschen. Nichts geschah in Dedley End, ohne dass entweder Jane oder Gloria darüber Bescheid wussten.

»Ja, so was hab ich auch noch nicht erlebt«, musste Jonathan zugeben. Er holte sein iPhone hervor und machte verstohlen ein paar Fotos.

Nancy bemerkte es dennoch. Sie konnte nur hoffen, dass man sie nicht rauswarf. Plötzlich fiel ihr ein rotes Kleid ins Auge. Sie stupste Jonathan an und zog ihn ein wenig von den anderen weg. »Schau, da ist Lucy Roth.«

Jonathan folgte ihrem Blick. Lucy stand bei zwei Frauen, und sie sah einfach atemberaubend aus, in einem roten Seidenkleid und mit ihrem langen, welligen schwarzen Haar, das ihr üppig über den Rücken fiel. Ihre Lippen hatten denselben Farbton wie das Kleid, und sie lächelte über etwas, das eine der Frauen sagte. »Sie ist wirklich attraktiv. Und da ist Harry, ihr Mann. Also, wegen seines Aussehens kann sie ihn wohl nicht geheiratet haben«, bemerkte Jonathan.

Nancy fasste Harry ins Auge. Nein, was das Aussehen betraf, konnte er nicht mit seiner Frau mithalten, aber Nancy war sich sicher, dass etwas an ihm sein musste, weswegen sich Lucy in ihn verliebt hatte. Nancy war insgeheim romantisch veranlagt, hätte das aber vor Jonathan nie zugegeben. »Ich frage mich, worüber sie und Will wohl geredet haben. Hast du ihn schon gesehen?«

»Noch nicht.« Jonathan blickte sich um. »Komm, wir machen ein Selfie«, schlug er vor. »Solange wir noch so gut aussehen«, fügte er grinsend hinzu.

»Wir können hier doch kein Selfie machen!«, zischte Nancy entsetzt. Sie war sicher, dass das zu jenen Dingen gehörte, mit denen man hier unangenehm auffiel.

»Wenn ich das Foto mache, ist’s ja kein Selfie«, bemerkte eine kühle, kultivierte Stimme in ihrem Rücken. Sie fuhren herum und sahen Will Roth vor sich stehen. Er streckte auffordernd die Hand aus. Jonathan überließ ihm verdattert sein Handy, und Will machte das Foto: Nancy und Jonathan, mit Sektgläsern in den Händen und einem hastigen Lächeln auf den überraschten Gesichtern, im Hintergrund der große Kamin. »Ich bin übrigens Will Roth«, erklärte er, gab Jonathan das Handy zurück und drückte ihm dann die Hand. Will hatte ein charmantes Lächeln, und sein etwas längeres Haar mit der Stirnlocke erinnerte Nancy ein wenig an Hugh Grant in den Neunzigerjahren. Sein Smoking sah aus, als wäre er maßgeschneidert. Was vermutlich auch stimmte, so reich wie die Roths waren. »Und mit wem habe ich das Vergnügen …?«, erkundigte er sich mit einer ebenso gepflegten und präzisen Aussprache wie seine Schwägerin.

»Nancy Hunter«, antwortete sie und gab ihm die Hand. »Und das ist mein guter Freund Jonathan Murphy.«

»Ich habe Sie hier noch nie gesehen, gehören Sie zu den Gästen aus dem Dorf?«

»Ja. Ich werde normalerweise nicht zu solchen Anlässen eingeladen«, entgegnete Nancy lächelnd und nippte verlegen an ihrem Sekt.

»Was machen Sie denn beruflich, Miss Hunter?«

»Mir gehört der Buchladen im Dorf, ich leite ihn zusammen mit meiner Großmutter.« Sie deutete auf Jane, die sich immer noch angeregt mit dem Pastor und seiner Frau unterhielt.

»Bestellt denn heutzutage nicht jeder bei Amazon?«

Das konnte und wollte Nancy nicht auf sich sitzen lassen, selbst wenn sie sich hier in seinem Haus befand. »Unsinn! Natürlich nicht. Kann einem Amazon persönliche Empfehlungen geben? Oder einem helfen, das perfekte Geschenk für einen lieben Menschen zu finden? Außerdem verkaufen wir in unserem Laden ausschließlich Krimis, Mystery Thriller und Detektivgeschichten, und bei uns gibt es nicht nur alle gängigen Titel, sondern auch bereits vergriffene, vergessene Klassiker, Kleinode und Geheimtipps – alles, was man sich nur wünschen kann«, entgegnete sie hitzig.