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Ausgehend von der Überlegung, dass die wichtigsten Vertreter der Kritischen Theorie (W. Benjamin, Th. W. Adorno, M. Horkheimer, H. Marcuse und J. Habermas) der sog. Frankfurter Schule im Bildungsbürgertum der liberalen Ära aufgewachsen sind, wird gezeigt, dass ihre Gesellschaftskritik von den Prämissen und Wertungen des liberalen Individualismus ausgeht. In diesem Kontext ist die Ambivalenz ihrer Kritik sowie Adornos und Horkheimers Satz aus der Dialektik der Aufklärung zu verstehen: "Nicht um der Konservierung der Vergangenheit, sondern um der Einlösung der vergangenen Hoffnungen ist es zu tun." Der nostalgische Ton, der in diesem Satz anklingt, durchzieht nahezu alle Werke der Frankfurter Philosophen. Obwohl postmoderne Autoren wie Z. Bauman, J.-F. Lyotard, M. Maffesoli und J. Baudrillard in mancher Hinsicht an die Kritische Theorie anknüpfen, verabschieden sie die aus dem liberalen Individualismus stammenden Wertsetzungen.
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Seitenzahl: 756
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Peter V. Zima
Die Kritische Theorie zwischen Spätmoderne und Postmoderne: Nostalgie als Kritik
DOI: https://doi.org/10.24053/9783381127023
© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISBN 978-3-381-12701-6 (Print)
ISBN 978-3-381-12702-3 (ePub)
Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnungen ist es zu tun.
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung
Zum Leitmotiv dieses Buches wurde im Laufe des Schreibens Adornos Satz „Maß des neuen Schlechten ist einzig das Frühere.“ Er stammt aus seinem Essay über die „Halbbildung“, die dem Autor nicht als Fortschritt, sondern als Rückfall hinter das in der bürgerlichen Kultur schon Erreichte erscheint. Der Satz legt Zeugnis ab von der widersprüchlichen sozialen Position einer Gruppe von bildungsbürgerlichen Intellektuellen der liberalen Ära, die an vielen Wertsetzungen des liberalen Individualismus zwar festhalten, zugleich aber beobachten, wie diese an sich universalistischen Wertsetzungen vom Bürgertum als ideologische Fassade zur Tarnung partikularer Interessen eingesetzt werden. Marcuse spricht in diesem Zusammenhang vom „affirmativen Charakter der Kultur“, die das Bestehende bestätigt, statt es in Übereinstimmung mit den bildungsbürgerlichen Idealen in Frage zu stellen.
Obwohl die Frankfurter Philosophen – von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno bis Max Horkheimer und Herbert Marcuse – durchaus am „Früheren“ des liberalen 19. Jahrhunderts festhalten (wie die Soziologen Georg Simmel, Alfred Weber und Max Weber: vgl. Kap. I), liegt ihnen viel daran, es nicht dem Zerfall preiszugeben, sondern es mit neuem Leben zu erfüllen. Vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten und dem Ausbruch des Zweiten Krieges versprechen sie sich eine Wiederbelebung der liberalen, individualistischen Kultur durch das revolutionäre Proletariat. Zugleich hoffen sie, die im Marxismus geschulte Klasse würde den Nationalsozialisten mit aller Macht entgegentreten. Nicht nur der im Pariser Exil lebende Walter Benjamin (vgl. Kap. II), auch Adorno, Horkheimer und Marcuse hoffen Anfang der 1930er Jahre auf eine Revolution der Arbeiterklasse (vgl. Kap. III und IV).
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, der mit den Niederlagen des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus endet und zugleich das wahre Gesicht des sowjetischen Kommunismus erkennen lässt, wenden sich die Frankfurter Intellektuellen – vor allem Adorno und Horkheimer – vom Marxismus ab und besinnen sich wieder auf das, was es ursprünglich zu retten galt: das individualistische Erbe des Liberalismus. Es bildet den Ausgangspunkt ihrer Gesellschaftskritik, die von nun an häufig nostalgische Züge annimmt – sogar bei Marcuse, der streckenweise marxistisch argumentiert und auch in Der eindimensionale Mensch revolutionäre Hoffnungen nie ganz aufgibt.
Von ihm stammt das zweite Leitmotiv dieses Buches: „Die kritische Theorie hat es in bisher nicht gekanntem Maße mit der Vergangenheit zu tun, gerade sofern es um die Zukunft geht.“ Sein Schwanken zwischen diesen Hoffnungen und einer globalen Ablehnung des Bestehenden ist für die Stellung der Kritischen Theorie nach dem Zweiten Weltkrieg prägend (vgl. Kap. V).
Während die Frankfurter Philosophen – trotz Adornos und Horkheimers Abkehr vom Marxismus – weiterhin eine mögliche Überwindung des Kapitalismus (Marcuses „zweite Dimension“) im Auge behalten und an Begriffen aus der liberal-individualistischen Zeit wie individuelle Autonomie, Kritikfähigkeit des Einzelsubjekts, Wahrheitsgehalt der Kunst festhalten, geben postmoderne Denker wie Zygmunt Bauman, Jean-François Lyotard, Michel Maffesoli und Jean Baudrillard diese Begriffe preis.
Von Kapitel zu Kapitel wird gezeigt, was zwischen der Spätmoderne als Selbstkritik der Moderne, aus der die Kritische Theorie hervorgeht, und der Postmoderne verloren geht: die Hoffnung auf eine Überwindung des Kapitalismus, das Vertrauen auf individuelle Autonomie und Kritikfähigkeit und der Wahrheitsgehalt der Kunst, aus dem sich Gesellschaftskritik speist.
Im zweiten Kapitel wird deutlich, dass Walter Benjamins revolutionäre Hoffnungen in einer kulturindustriell organisierten Gesellschaft zunichte werden, in der – wie Bauman nachweist – der „Ausstellungswert“ (Benjamin) der Kunst dem Kommerz zum Opfer fällt. Statt als ästhetischer Katalysator den Kontakt zu den revolutionären Massen herzustellen, bedient er kulturindustrielle Interessen. Der Begriff der Masse selbst hört auf, den revolutionären Prozess zu konnotieren und wird in der Medienkultur zu einem Marktbegriff.
Verloren geht im Übergang von Adorno zu Foucault und Lyotard (vgl. Kap. III) Subjektivität als kritischer Begriff. Während Foucault Subjektivität und Wahrheit als Produkte von Machtkonstellationen auffasst, lässt Lyotard das Einzelsubjekt, das aus Adornos Ästhetik des Negativ-Schönen gestärkt hervorgeht, vor dem Erhabenen zerfallen. Lyotard knüpft zwar an Adornos spätmoderne Ästhetik an, unterwirft aber Adornos Negativität, die subjektive Kritik fördert, den destruktiven Kräften des Erhabenen, die das Subjekt überwältigen.
Eine andere Variante dieses Verlusts von liberaler Subjektivität und Autonomie wird im Übergang von Max Horkheimer zu Gilles Lipovetsky und Michel Maffesoli erkennbar (vgl. Kap. IV). Während bei Lipovetsky Subjektivität durch eine marktvermittelte Instrumentalisierung des Körpers drastisch reduziert und in eine Karikatur verwandelt wird, beobachtet Maffesoli mit postmoderner Zustimmung, wie der Einzelne im Kollektivbewusstsein der „neuen Stämme“ (Techno-Gruppen, Rocker, Hippies) aufgeht. Auch in diesem Fall kommt es zu einem Verlust individueller Autonomie im Übergang von der Spätmoderne zur Postmoderne.
Ein weiterer entscheidender Verlust zeichnet sich ab, wenn Marcuses Werk parallel zu Baudrillards Soziologie gelesen wird (vgl. Kap. V). Verloren geht die „zweite Dimension“, die Marcuse – etwa in Der eindimensionale Mensch – mit dem „Wahrheitswert“ als Gebrauchswert verknüpft. Indem Baudrillard diesen Wert, der auch bei Marx die Grundlage der Kritik am Kapitalismus bildet, im Tauschwert auflöst, der bei ihm zum „Wert“ schlechthin wird, lässt er die „zweite Dimension“ verschwinden. Der Kapitalismus als „Tauschgesellschaft“ kann nicht mehr kritisiert werden, wenn es kein Jenseits oder Außerhalb des Tausches mehr gibt.
Eine besondere Position nimmt das sechste Kapitel ein, weil es zeigt, wie sehr auch Habermas als jüngerer Vertreter der Kritischen Theorie den liberal-individualistischen Verhältnissen verpflichtet ist. Die „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“, die in seinen beiden Arbeiten zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ die Grundlage der Kommunikation als „deliberativer Politik“ bildet, ist eine liberale Erscheinung und ein Modell konsensorientierter Kommunikation. Sie gründet auf der Vorstellung einer relativ homogenen liberalen Lebenswelt, in der Verständigung in einer gemeinsamen Sprache vorstellbar ist. Diese Vorstellung von Homogenität und Gemeinsamkeit wird durch Lyotards Darstellungen einer postmodernen kulturellen und sprachlichen Vielfalt radikal in Frage gestellt. Denn Lyotard ersetzt Habermas’ homogene Lebenswelt durch den „Widerstreit“ („différend“) zwischen Sprachspielen oder Satz-Regelsystemen, die seiner Meinung nach inkommensurabel sind.
In diesem Falle setzt sich der Autor jenseits des Antagonismus von Konsens und Widerstreit für eine dialogische Wende der Kritischen Theorie ein. Statt zu versuchen, die verlorene Homogenität der liberalen Ära wiederherzustellen, sollte Theorie gerade die Heterogenität der Sprachen, die sowohl die Postmoderne als auch das sich vereinigende Europa prägt, nutzen, um einen genuinen Dialog in der Vielfalt zu ermöglichen. Ein solcher Dialog – vor allem zwischen Theorien – ist produktiver als ein Streben nach Homogenität und Konsens, weil sich in diesem Dialog Konsens und Dissens, Ähnliches und Verschiedenes die Waage halten. Dabei ermöglichen sie Reflexivität und (Selbst-)Kritik.
Diese Aufnahme postmoderner Verhältnisse und Argumente in die Kritische Theorie schließt jedoch eine Verteidigung des individualistischen Erbes dieser Theorie nicht aus. Im Schlusskapitel wird deutlich, dass „Das kritische Individuum als Erbe des Liberalismus“ (Abschn. 3) aus der Sicht des Autors in der dialogisch erneuerten Kritischen Theorie weiterhin zentral ist.
Wie IanusIanus, der römische Gott mit den zwei voneinander abgewandten Gesichtern, hat philosophische und soziologische Gesellschaftskritik bisweilen zwei Gesichter, von denen das eine in die Vergangenheit, das andere in die Zukunft blickt. Dabei wird die Gegenwart als Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft erlebt: bald als Erinnerung, bald als Hoffnung. Im vorliegenden Buch soll die Kritische Theorie der Frankfurter Schule in diesem Spannungsfeld dargestellt werden, dessen Dynamik einerseits von einem kritisch betrachteten und vom Spätkapitalismus bedrohten liberalen Individualismus geprägt ist, andererseits von der Hoffnung auf eine humanere Gesellschaft, in der die Wertsetzungen des Liberalismus – in geläuterter Gestalt – aufgehoben, gerettet sein würden.
Die Spannung zwischen den beiden Polen – der Kritik des liberalen Individualismus und seiner späten Rettung in einer vom Kapitalismus befreiten Welt – beschreibt Martin JayJay, M. in seinem Buch Dialektische Phantasie, in dem es von dem im Jahre 1923 gegründeten Frankfurter Institut für Sozialforschung heißt: „Das Institut war ganz sicher nicht darauf aus, das alte bürgerliche Individuum mit seinem dominierenden Ich neu zu beleben, dennoch empfand es seine Verdrängung durch den manipulierten Massenmenschen in gewisser Weise als einen Verlust von Freiheit.“1
Tatsächlich bewegen sich die Kritiken Adornos, HorkheimerHorkheimer, Maxs und Marcuses zwischen dem Gedenken an das, was verloren ging, und der Skepsis einem wissenschaftlich-technologischen Fortschritt gegenüber, der zwar eine stets vollkommenere Naturbeherrschung ermöglicht, zugleich aber auf eine militärische und ökologische Katastrophe zuzusteuern scheint. Der „Verlust von Freiheit“ hängt insofern mit dieser Entwicklung zusammen, als diese in zunehmendem Maße von Wirtschaft und Technik und immer seltener von autonom handelnden Individuen oder Gruppen bestimmt wird.
Dazu bemerkt der für Adornos Ästhetik so wichtige Franz KafkaKafka, F. in einem Gespräch mit Gustav JanouchJanouch, G.: „Das geschichtliche Geschehen wird nicht mehr vom Einzelnen, sondern nur noch von den Massen getragen. Wir werden gestoßen, gedrängt, hinweggefegt. Wir erleiden die Geschichte.“2 AdornoAdorno, Th. W. und HorkheimerHorkheimer, MaxHorkheimer, Max würden hinzufügen, dass nicht nur das Individuum in der Masse als Bewegung, Gewerkschaft oder Organisation untergeht, sondern auch deshalb seiner Autonomie und Initiative beraubt wird, weil es einerseits gezwungen ist, die globale Komplexität der wirtschaftlichen, finanziellen, politischen und technologischen Zusammenhänge zu steigern, andererseits diese sich steigernde Komplexität nicht mehr überblickt (wie Georg SimmelSimmel, G. wusste: Kap. I). Auf diesen Verlust von Autonomie inmitten von blinder, stets komplexer werdender Naturbeherrschung richtet sich die Kritik der Frankfurter Philosophen. – Doch was ist Kritik?
Der Frage, was Kritik sei, wurden in letzter Zeit Monographien und Sammelbände gewidmet. Dabei umkreisten Diskussionen immer wieder das Problem der Nachvollziehbarkeit von Kritik: Welche Kritik ist subjektiv oder gar willkürlich – und welche ist nachvollziehbar, so dass sie von Personen unterschiedlicher Herkunft bestätigt werden kann? Im Folgenden geht es nicht darum, alle Arten von Kritik aufzulisten. Es soll in aller Knappheit erklärt werden, warum nicht alle kritischen Argumente gleichwertig sind und warum bestimmte Argumentationstypen für die Kritische Theorie charakteristisch sind.
„Kritik“ im umgangssprachlichen Sinne meint häufig ein persönliches Werturteil oder eine Ansicht, die von anderen nicht geteilt wird. Ein Kleid, dessen Farbe dem einen zu grell ist, wird von der anderen als lustig oder lebensfroh empfunden. Dies mag auch für Romane gelten: Er empfiehlt ihr einen faszinierenden Roman – etwa Musils Der Mann ohneEigenschaften –, den sie langweilig findet, weil er nicht spannend ist. Die Kontroversen um Patrick Süskinds Roman Das Parfum zeigen, dass sich auch in der Literaturkritik die Geister scheiden, sobald sie auf etwas Neues, Ungewöhnliches stoßen.1 Ihre Werturteile stehen einander unversöhnlich gegenüber, und das Gegeneinander von Kritik und Gegenkritik ist argumentativ nicht aufzulösen. Jede Kritikersubjektivität verharrt auf ihrem ästhetischen Standort, und ein Konsens ist nicht in Sicht.
Für die Kritische Theorie vor allem Adornos sind solche Kontroversen von Bedeutung, weil AdornoAdorno, Th. W. sporadisch kommerzialisierte Kultur als „Kulturindustrie“ vom Standpunkt moderner Kunst aus (ValéryValéry, P., KafkaKafka, F., BeckettBeckett, S.) abwertet und dafür von Autoren wie Dieter ProkopProkop, D.2 gerügt wird, die gesellschaftskritische Aspekte in der Massenkultur beobachten. Auch in diesem Fall ist es nicht einfach, Kritik argumentativ zu begründen, so dass sie Skeptikern plausibel erscheint.
Die Begründung mag einfacher im gastronomischen Bereich sein, wo nachgewiesen werden kann, dass junk food ungesund ist und aufgrund von Salz-, Zucker- und Fettgehalt Krankheiten verursachen kann. Freilich könnte man analog zur Kritik der Medizin an dieser Art von Nahrung die schädlichen Aspekte kommerzialisierter Kultur unter die Lupe nehmen: nach Schema F für den Markt produzierte Heftchenromane, Computer-Spiele, TV-Serien. Die Behauptung, dass sie geisttötend seien, bleibt Hypothese, solange empirische Anhaltspunkte fehlen, mit deren Hilfe es gelänge, eine Verbindung zwischen kommerzialisiertem Kulturgenuss und Krankheiten oder gar Klinikaufenthalten der arglosen Nutzer nachzuweisen.
Stringenter und empirisch überzeugender ist immanente Kritik, die Widersprüche in einer Gesellschaft nachweist: etwa Widersprüche zwischen der ideologischen Selbstdarstellung (etwa durch Regierungen) und der beobachtbaren Wirklichkeit. Luc BoltanskiBoltanski, L. spricht in diesem Zusammenhang von der „Aufdeckung immanenter Widersprüche, seien sie nun für eine bestimmte Gesellschaftsordnung spezifisch oder in verschiedenen Gesellschaften anzutreffen“.3
Diese Art von Kritik, die der Gesellschaft innewohnende Widersprüche zwischenrechtfertigender (beschönigender) Ideologie und sozialer Realität aufs Korn nimmt, wird von den Frankfurter Philosophen immer wieder geübt: etwa von MarcuseMarcuse, H., der in Kultur undGesellschaft zeigt, wie die Versprechen der bildungsbürgerlichen Kultur und die bürgerliche Wirklichkeit auseinanderklaffen.4 In dieser Situation wird die Kultur zum ideologischen Alibi.
Freilich ist es einfacher, die Bahn immanent zu kritisieren, indem man zeigt, dass ihre Züge nicht die im Fahrplan angegebenen Ankunfts- und Abfahrtszeiten einhalten, als nachzuwiesen, dass die „soziale Marktwirtschaft“ nicht sozial ist, weil sie Arbeitslose, Obdachlose und von Armut Betroffene zumindest tendenziell aus dem sozialen Bereich ausschließt. Während man im Reisezentrum am Bahnhof den Fahrplan auf den Tisch legen kann, um der Kritik Nachdruck zu verleihen, kann die Kritik an der „sozialen Marktwirtschaft“ mit dem Pseudoargument relativiert werden, dass es benachteiligte Minderheiten zwar gibt, dass aber die Marktwirtschaft „im Großen und Ganzen durchaus sozial“ sei. Die Marktwirtschaft kann man nicht auf den Tisch legen, um den Gegenbeweis anzutreten. Dennoch ist immanente Kritik wesentlich überzeugender als Kritik, die Geschmacksurteile zur Grundlage hat. Insofern ist Luc BoltanskiBoltanski, L. und Axel HonnethHonneth, A. Recht zu geben, wenn sie als Fazit ihrer Abhandlung über Kritik festhalten: „Das Kerngeschäft der Kritik bleibt aber die Sichtbarmachung der von der herrschenden Ordnung verdeckten immanenten Widersprüche.“5
Dennoch ist wohl die warnende oder prognostische Kritik der Frankfurter Theoretiker, die sie in weniger informierten Kreisen dem pauschalen Vorwurf des „Pessimismus“ ausgesetzt hat, gegenwärtig am überzeugendsten. Es ist die Kritik am Herrschaftsprinzip und vor allem an der Naturbeherrschung, die in der Feststellung gipfelt, dass die unreflektierte Herrschaft des Menschen über Natur und Mitmenschen, die sich ideologisch als Fortschritt tarnt, in eine Katastrophe münden könnte. In der Kritischen Theorie fällt der Gedanke an einen genuinen gesellschaftlichen Fortschritt mit der Hoffnung zusammen, die „allgegenwärtige Drohung der totalen Katastrophe“6 doch noch abwenden zu können.
Diese Hoffnung, die mit Angst alterniert, ist angesichts des rasch fortschreitenden Klimawandels und des Krieges in der Ukraine noch weiter verbreitet als die Erwartungen der 1960er und 70er Jahre, die von Diskussionen über Kapitalismus und Revolution beherrscht wurden. In diesen Diskussionen wurde der Kritischen Theorie von marxistischer Seite ihre Negativität vorgeworfen: ihre Weigerung, sich historisch-immanent mit einer der rebellierenden sozialen Gruppierungen zu identifizieren.7 Der Nexus von Naturbeherrschung und Klimawandel kam damals nicht zur Sprache, weil der sich ankündigende Klimawandel noch kaum wahrgenommen wurde.
In dieser Hinsicht hat ein radikaler Gesinnungswandel in der Gesellschaft stattgefunden, der die Kritische Theorie – vor allem die Adornos und HorkheimerHorkheimer, Maxs – hochaktuell werden lässt. Ihre Kritik an der Naturbeherrschung und an der „instrumentellen Vernunft“ (HorkheimerHorkheimer, Max), die eine der Grundlagen des Herrschaftsprinzips bildet, wird von den Naturwissenschaften – nicht nur von der Klimaforschung – konkretisiert und ist recht weit von Kritiken entfernt, die in den Bereich subjektiver Wert- oder Geschmacksurteile relegiert werden könnten.
Die Kritik am Rationalismus und an seiner Verstrickung in Herrschaft in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1947) („Natur soll nicht mehr durch Angleichung beeinflußt, sondern durch Arbeit beherrscht werden.“)8 erscheint in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation in einem neuen Licht und gewinnt an Bedeutung.
Sie nötigt auch zu einer Neueinschätzung des zumeist positiv konnotierten Fortschrittsbegriffs, auf dessen Ambivalenz AdornoAdorno, Th. W. in seinen Schriften immer wieder hinweist. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, dessen Segen (etwa in der Medizin) nicht zu leugnen sind, bringt keinen echten, gesamtgesellschaftlichen Fortschritt mit sich, einen Fortschritt ohne Herrschaftsverhältnisse, Naturzerstörung und Krieg. Adorno erklärt, was echter Fortschritt wäre: „Fortschritt heißt demnach: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Fortschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit inne wird und der Herrschaft Einhalt gebietet, die sie über Natur ausübt und durch welche die der Natur sich fortsetzt. Insofern ließe sich sagen, der Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet.“9
Im Folgenden soll der philosophisch-soziologische Kontext rekonstruiert werden, in dem deutlich wird, dass die Vertreter der Kritischen Theorie im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert mit ihrer Kritik am Fortschritt und ihrer Betonung dessen, was im Laufe gesellschaftlicher Entwicklung verloren geht, nicht isoliert sind. Auch in den Werken von Sozialphilosophen und Soziologen wie Ferdinand TönniesTönnies, F., Georg SimmelSimmel, G. und Max WeberWeber, M. ist ein nostalgischer Ton angesichts der Verluste, die der Fortschritt mit sich bringt, nicht zu überhören.
Die Wechselbeziehung zwischen nostalgischer Aufwertung der Vergangenheit und revolutionärer Gesinnung ist nicht nur ein Merkmal der Kritischen Theorie und einiger spätmoderner Soziologien (TönniesTönnies, F., SimmelSimmel, G., A. Weber, M.Weber, M. Weber). Sie kann bei RousseauRousseau, J.-J. und sogar bei Karl MarxMarx, K. beobachtet werden. Sie ist eine Reaktion auf das, was HegelHegel, G. W. F. als „die Furie des Verschwindens“1 bezeichnet, die als rächende Göttin (im alten Griechenland auch Erynnie genannt) das Gute mit dem Schlechten, das Wertvolle mit dem Wertlosen und das Humane mit dem Inhumanen verschwinden lässt. Sie scheint den Fortschritt zu bewegen, lässt sich dabei aber weder von der Güte noch vom Bösen leiten, sondern beseitigt wahllos Gutes und Schlechtes, um es durch etwas Neues zu ersetzen, das ebenso ambivalent ist wie das Alte. Sie folgt dem abstrakten Prinzip der Innovation, das sowohl Gutes als auch Schlechtes hervorbringt.
Zu den bekanntesten Fortschrittsskeptikern gehört wohl Jean-Jacques RousseauRousseau, J.-J., der sich an einem längst vergangenen und – wie er selbst einräumt – mythischen Naturzustand orientierte, der ihm als Hauptkriterium für die Beurteilung frühmoderner Verhältnisse im 18. Jahrhundert diente. Er gibt zu, dass dieser Zustand „vielleicht nie existierte und wahrscheinlich auch nie existieren wird“: „un Etat qui n’existe plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais […].“2
Die Syntax verrät jedoch, dass es sich um einen hypothetischen Zustand handelt, welcher der Vergangenheit angehört. An ihm wird eine Gegenwart gemessen, die RousseauRousseau, J.-J. eindeutig als Verschlechterung erscheint. Während der Mensch im Naturzustand seine Einsamkeit genoss und von einer naiven Selbstliebe (amour de soi) erfüllt war, wird er in der urbanen, auf dem Privateigentum, der sozialen Ungleichheit und der Arbeitsteilung gründenden Zivilisation von einem (narzisstischen) amour propre beherrscht, der die Bewunderung aller Mitmenschen erheischt.
Im Rahmen dieser Argumentation wird die Vergangenheit als einfaches Leben aufgewertet, und das Augenmerk wird auf all das gerichtet, was im Laufe der sozialen Evolution verloren ging, denn „die meisten Übel sind unser eigenes Verschulden, und wir hätten sie größtenteils vermeiden können, wenn wir uns das einfache, gleichmäßige und einsame Leben erhalten hätten, das die Natur vorschreibt“.3 Das Verb „erhalten“ („conserver“) ist Symptom eines Diskurses, der auf das verlorene Wohl ausgereichtet ist und schon aus diesem Grunde die aufgeklärte Moderne des 18. Jahrhunderts, die die Enzyklopädisten gegen RousseauRousseau, J.-J. verteidigten, abwerten muss.
Für die Moderne als Modernisierung steht metonymisch die Stadt: vor allem die Großstadt Paris, deren blühende Geldwirtschaft als Konkurrenzwirtschaft RousseauRousseau, J.-J. ein Dorn im Auge ist. Das Landleben, vor allem das früherer Zeiten, erscheint ihm als Alternative. Dazu bemerkt Yves VargasVargas, Y.: „Der Wald evozierte die Vorstellung unschuldiger Wildheit, am anderen Ende der Skala stand die Stadt für korrumpierte Barbarei.“ Und er zitiert aus einer Antwort Rousseaus an de Bordes: „Mir wäre es lieber, die Menschen würden in den Feldern grasen, als sich in den Städten gegenseitig zu verschlingen.“4
Die Aufwertung des Landlebens ist nicht neu. Sie findet sich schon in VergilsVergilGeorgica; sie wurde im Anschluss an RousseauRousseau, J.-J. in der Romantik gesteigert und fand schließlich Eingang in Heftchenromane und Heimatfilme. Nicht auf sie kommt es hier an, sondern auf die Erkenntnis, dass sich Rousseaus Gesellschaftskritik an dem orientiert, was dem Fortschritt als „Furie des Verschwindens“ zum Opfer fiel.
Sie hat auch der HegelHegel, G. W. F.-Leser und Hegelianer Karl MarxMarx, K. vor Augen, wenn er die Fortschritte des Kapitalismus als von der Geldwirtschaft verursachte Verwüstungen sozialer Einrichtungen beschreibt. Freilich ist Marx nicht als Natur-Nostalgiker zu verstehen. Von RousseauRousseau, J.-J. unterscheidet er sich grundsätzlich dadurch, dass er den Kapitalismus mit seiner Industrialisierung, Urbanisierung und Proletarisierung der arbeitenden Bevölkerung für ein notwendiges Zwischenstadium zwischen Feudalismus und Sozialismus sieht. Der Kapitalismus als Herrschaft eines die Gesellschaft säkularisierenden Bürgertums ist ihm Teil eines teleologisch (hegelianisch) konzipierten Emanzipationsprozesses, der in eine klassenlose Gesellschaft mündet oder münden soll.
Und dennoch hat auch MarxMarx, K. ein Auge für das, was auf dem Weg in eine bessere Welt verloren geht, vom Fortschritt zerstört wird. So beschreibt er etwa die brutale Freisetzung von Bauern und Kirchenangehörigen für den kapitalistischen Arbeitsmarkt während der englischen Reformation mit folgenden Worten: „Einen neuen furchtbaren Anstoß erhielt der gewaltsame Expropriationsprozeß der Volksmasse im 16. Jahrhundert durch die Reformation und, in ihrem Gefolge, den kolossalen Diebstahl der Kirchengüter. Die katholische Kirche war zur Zeit der Reformation Feudaleigentümerin eines großen Teils des englischen Grund und Bodens. Die Unterdrückung der Klöster usw. schleuderte deren Einwohner ins Proletariat. Die Kirchengüter selbst wurden großenteils an raubsüchtige königliche Günstlinge verschenkt oder zu einem Spottpreis an spekulierende Pächter und Stadtbürger verkauft, welche die alten erblichen Untersassen massenhaft verjagten und ihre Wirtschaften zusammenwarfen.“5
Selbst wenn man berücksichtigt, dass diese Passage Bestandteil eines Diskurses ist, der auf Revolution und Emanzipation zielt und den Kapitalismus als Phase des revolutionären Prozesses darstellt, wird man die negativen Konnotationen in MarxMarx, K.’ Darstellung nicht übersehen. Ausdrücke wie „gewaltsame[r] Expropriationsprozess“, „kolossale[r] Diebstahl“, „schleuderte […] ins Proletariat“, „raubsüchtige königliche Günstlinge“, „spekulierende Pächter“ zeugen eher von einem antikapitalistischen (moralischen) Affekt als von revolutionärer Euphorie, welche die Befreiung der Menschen aus feudalen Fesseln und die mit ihr einhergehende Stärkung des Proletariats feiern könnte.
An MarxMarx, K.’ antifeudaler und antikapitalistischer Gesinnung ist nicht zu zweifeln. In der zitierten Passage ist jedoch bemerkenswert, dass sie sich nicht auf die Überwindung feudaler und kapitalistischer Verhältnisse konzentriert, sondern auf die verheerenden Zerstörungen, die der Kapitalismus in der Gesellschaft anrichtet – auf das, was verloren geht: auf die verlorene Sicherheit in der feudalen (Kloster-) Gemeinschaft. Sollte sie nicht im sozialistischen Kollektiv aufgehoben und wiederbelebt werden?
Eine Wiederbelebung der Gemeinschaft und gemeinschaftlicher Beziehungen fasst jedenfalls der MarxMarx, K.-Leser und Marx-Kritiker Ferdinand TönniesTönnies, F. ins Auge, der in seinem Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft Arbeit und Arbeiterinteressen mit der Gemeinschaft, Kapital und Handel hingegen mit der negativ konnotierten Gesellschaft assoziiert.
Anders als moderne Denker wie MarxMarx, K., Herbert SpencerSpencer, H. und Auguste ComteComte, A. steht er als spätmoderner Soziologe und Zeitgenosse von Georg SimmelSimmel, G., Emile DurkheimDurkheim, E., Alfred WeberWeber, A. und Max WeberWeber, M. (vgl. Kap. I) dem modernen Fortschrittsdenken („ordre et progrès“, Comte) skeptisch gegenüber. Im ersten Kapitel wird sich zeigen, dass die gesamte Spätmoderne, zu der auch die Kritische Theorie gehört, die Zuversicht der Moderne und vor allem deren Glauben an ein Fortschreiten der Gesellschaft zu stets höheren Stadien (vom theologischen zum metaphysischen und von diesem zum wissenschaftlichen Stadium im Sinne von Comte) nicht mehr teilt.
Die Krisen des 19. Jahrhunderts schärfen den Blick ihrer Vertreter für den ambivalenten Charakter wissenschaftlich-technischer oder wirtschaftlicher Fortschritte und für das, was im Laufe der sozialen Evolution auf der Strecke bleibt. Dafür sind die folgenden Bemerkungen aus TönniesTönnies, F.’ Buch über MarxMarx, K. charakteristisch: „Die Klassenkämpfe, die Revolutionen, sind, wie Marx sie deutet, subjektive Ausdrücke solcher objektiven Widersprüche. Was Marx aber nicht sieht, ist die Erscheinung, daß solche Widersprüche zugleich den Tod einer Kultur, eines in Gemeinschaften vergeistigten Volkslebens bedeuten, daß sie im letzten Grunde unlösbar und unheilbar sind.“6
Diese Bemerkungen sind für die Spätmoderne als selbstkritische Reflexion derModerne charakteristisch. Zugleich umreißen sie die gesellschaftliche und sprachliche Situation, in der die Kritische Theorie ihr Augenmerk nicht nur auf Prozesse der Emanzipation richtet, sondern auch auf den Verlust bestimmter Einstellungen, Wertungen und Fähigkeiten, die mit dem Niedergang individueller Autonomie in einer massenmedial verwalteten Gesellschaft einhergehen.
Die Kritische Theorie gehört insofern zur spätmodernen Problematik, die man mit dem Fortschrittsskeptiker BaudelaireBaudelaire, Ch. um etwa 1850 beginnen lassen könnte („die Welt bewegt sich nur aus Missverständnis“)1, als sie wie TönniesTönnies, F., SimmelSimmel, G. und Max WeberWeber, M. (vgl. Kap. I) eher die Verwerfungen und Gefahren der sozialen Evolution registriert als deren von Aufklärern und Rationalisten gepriesene Errungenschaften und Erfolge. Janushaft ist ihre Kritik, weil ihre Vertreter – anders als MarxMarx, K. und die Marxisten – nicht vorwiegend in die Zukunft blicken, sondern immer häufiger auf die Katastrophen und Leiden der Vergangenheit, die für die Zukunft nicht viel Gutes verheißen.
Denkern der Moderne wie HegelHegel, G. W. F. und ComteComte, A., die voller Zuversicht den Geschichtsprozess und seine Stadien kommentieren, hält AdornoAdorno, Th. W. entgegen: „‚Ich habe den Weltgeist gesehen‘, nicht zu Pferde, aber auf Flügeln und ohne Kopf, und das widerlegt zugleich Hegels Geschichtsphilosophie.“2 Ergänzend heißt es etwas später: „Solange es Zug um Zug weitergeht, ist die Katastrophe perpetuiert.“3 Der historische Prozess erscheint den Spätmodernen als kopflos, blind oder von Missverständnissen und Zufällen beherrscht, die Hegel aus seinem System verbannt. Seine Vorsehung tritt aber zusammen mit Comtes historischem Gesetz ab, und Marxens Synthese von Theorie und Praxis zerfällt.
Dazu heißt es gleich am Anfang von Adornos Negativer Dialektik: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“4 Anders gesagt: Das Proletariat, nach MarxMarx, K. „das Herz der Philosophie“5, konnte die dialektische Theorie nicht in revolutionäre Praxis umsetzen, weil es in die kapitalistische Gesellschaft integriert wurde.
So blieb auch die individuelle Freiheit, die der deutsche Idealismus in den Werken Kants, Fichtes und Hegels ankündigte und beschwor, unverwirklicht. Denn der von kommerzialisierten Medien „manipulierte Massenmensch“ (JayJay, M.) ist eher das Gegenteil des autonomen Individuums, dessen Vorstellung AdornoAdorno, Th. W., HorkheimerHorkheimer, Max und MarcuseMarcuse, H. vom Idealismus übernahmen.
Diese Vorstellung ist keine reine Abstraktion, sondern durch das soziale Milieu vermittelt, in dem die Frankfurter Denker aufgewachsen sind, in dem sie als Philosophen und Soziologen am 1923 gegründeten Institut für Sozialforschung tätig waren. Dessen zumeist jüdische Mitglieder gehörten dem liberalen Großbürgertum, dem Bildungsbürgertum, an. Bei der Durchsicht ihrer Biografien fällt die Ähnlichkeit ihrer Lebensläufe auf.
Ihre Väter waren Unternehmer oder übten liberale Berufe aus. Walter Benjamins Vater war Kunsthändler, und über Max HorkheimerHorkheimer, Max schreibt Helmut GumniorGumnior, H.: „Der königlich-bayrische Kommerzienrat Moriz HorkheimerHorkheimer, Max, Herr über eine Textilfabrik und eine feudale Villa in Stuttgart-Zuffenhausen, war der Typ eines Unternehmers, wie ihn nur der Liberalismus des 19. Jahrhunderts hervorbringen konnte, jene ‚bürgerliche Epoche‘, in der die Entfaltung des Einzelnen möglich war.“6 Der Vater Friedrich Pollocks, eines von Horkheimers Freunden, der zu den wichtigsten Mitgliedern des Instituts gehörte, war ebenfalls Unternehmer. Die Eltern des in Krakau geborenen Henryk GrossmanGrossman, H. besaßen Bergwerke. Theodor Wiesengrund Adornos Vater war ein Frankfurter Weinhändler, und Leo Löwenthals Vater war Arzt.
Über Herbert Marcuses Familie schreibt Rolf WiggershausWiggershaus, R.: „Sein Vater, ein Jude aus der Pommerschen Provinz, war einst mit seinen Brüdern nach Berlin gekommen, hatte sich zum Teilhaber einer Textilfabrik hochgearbeitet und schließlich zusammen mit einem Architekten die Baugesellschaft ‚Friedenthal und MarcuseMarcuse, H.‘ gegründet. Seiner Frau und den drei Kindern vermochte er die Annehmlichkeiten und Privilegien einer großbürgerlichen Existenz zu bieten.“7
Die Tatsache, dass die Gründung des Instituts nur durch eine Schenkung des reichen Getreidehändlers Hermann WeilWeil, H. ermöglicht wurde, dessen Sohn Felix WeilWeil, F. zu den Gründungsmitgliedern des Instituts gehörte, ist in dem hier skizzierten Kontext ebenfalls von Bedeutung. Sie zeigt, wie sehr die materielle und intellektuelle Unabhängigkeit des (später in die Frankfurter Universität integrierten) Instituts mit dem liberalen Unternehmertum und dem Liberalismus verflochten war.8
Obwohl die Einstellung der Institutsangehörigen zu Liberalismus und Individualismus ambivalent war, wie Marcuses Kritik der liberal-bürgerlichen Kultur und Ideologie erkennen lässt9, ist ihre Einschätzung liberal-individualistischer Werte vergleichbar mit der von TönniesTönnies, F., SimmelSimmel, G., Alfred WeberWeber, A. und Max WeberWeber, M.. Alle diese Denker hätten mit Robert MusilMusil, R. feststellen können: „Der Individualismus geht zu Ende. Ulrich liegt nichts daran. Aber das Richtige wäre hinüberzuretten.“10 Was ist nun das Richtige? Die wesentlichen Merkmale des Individualismus: individuelle Autonomie, die Fähigkeit des Einzelnen zu Kritik und Widerstand, die Aversion dem ideologischen und kommerzialisierten Konformismus gegenüber, das Festhalten an der Autonomie der Kunst und an der Würde eines jeden Menschen.
Im Zusammenhang mit Kants Vorstellung von einem „autonome[n], unabhängige[n] Subjekt“ bemerkt HorkheimerHorkheimer, Max: „Aber es ist kein Zufall, daß KantKant, I. diesen Gedanken in einer Situation äußerte, in der sich das Bürgertum, das heißt die Selbständigkeit des Unternehmers entfaltete.“11 Komplementär zu HorkheimerHorkheimer, Max, der hier von den Anfängen individueller Autonomie spricht, bezieht sich AdornoAdorno, Th. W. in den Minima Moralia auf deren Zerfall: „Was immer am Bürgerlichen einmal gut und anständig war, Unabhängigkeit, Beharrlichkeit, Vorausdenken, Umsicht, ist verdorben bis ins Innerste.“12
Der nostalgische, resignierende Ton ist nicht zu überhören; und dennoch versucht AdornoAdorno, Th. W., der auch von der „Auflösung des Liberalismus“ spricht, immer wieder, „das Richtige hinüberzuretten“. Wie MusilMusil, R. stellt er das individuelle Subjekt als die letzte Bastion der Kritik dar: „Das individuelle Bewußtsein, welches das Ganze erkennt, worin die Individuen eingespannt sind, ist auch heute noch nicht bloß individuell, sondern hält in der Konsequenz des Gedankens das Allgemeine fest.“13 Zugleich spricht er aber vom „Zustand, in dem das Individuum verschwindet“.14
Ergänzend bemerkt MarcuseMarcuse, H., „daß die Reichweite der gesellschaftlichen Herrschaft über das Individuum unermeßlich größer ist als je zuvor“15, und HorkheimerHorkheimer, Max stellt in Vernunft und Selbsterhaltung komplementär zu AdornoAdorno, Th. W. fest: „Der Zerfall der Vernunft und des Individuums sind eines.“16 Solche Aussagen zeugen einerseits von der ambivalenten Haltung der kritischen Theoretiker der individuellen Subjektivität gegenüber, an der sie trotz ihrer negativen Einschätzungen festhalten; sie erklären andererseits ihre skeptische Einschätzung der gesellschaftlichen Entwicklung im Spätkapitalismus.
Ihre Ambivalenz kann als Paradoxon in wenigen Worten zusammengefasst werden: Sie setzen ihre Hoffnungen auf das individuelle Subjekt der liberalen Ära, das zum Untergang verurteilt ist. Ausführlich analysiert diese Ambivalenz Daniel KipferKipfer, D. in Individualität nachAdornoAdorno, Th. W.: „Das differierende Individuum ist ‚Subjekt‘ von Widerstand, Instanz von Kritik an (falscher) Allgemeinheit, Träger der Hoffnung auf eine ‚Heilung‘ des beschädigten Lebens.“17 Später deckt er im Zusammenhang mit Adorno das Paradoxon auf: „Das liquidierte Individuum ist in diesem Theorieansatz die einzige Instanz, welche der Liquidation des Individuellen widerstehen kann.“18
Dieses paradoxe, ja tragische Festhalten Adornos, Horkheimers und Marcuses am liberal-individualistischen Wertsystem, das im Monopolkapitalismus ideologisch propagiert, zugleich aber ausgehöhlt wird, lässt eine nostalgische Auffassung der Geschichte entstehen. Nach dem Scheitern der proletarischen Revolution, mit dem AdornoAdorno, Th. W. seine Negative Dialektik beginnen lässt und das MarcuseMarcuse, H. in Der eindimensionale Mensch sporadisch evoziert, ist Horkheimers Hoffnung aus den 1930er Jahren, dass das revolutionäre Proletariat die individualistischen Wertsetzungen auf höherer Ebene verwirklicht, nicht mehr zu rechtfertigen.
An diese Erkenntnis knüpfen Vertreter der Postmoderne an: Zygmunt BaumanBauman, Z. (1926), Jean-François LyotardLyotard, J.-F. (1924), Jean BaudrillardBaudrillard, J. (1929), MichelMichel, K. M. MaffesoliMaffesoli, M. (1944) und Gianni VattimoVattimo, G. (1936). Wie die Autoren der Kritischen Theorie verabschieden sie sich von marxistischen und sozialistischen Hoffnungen (vor allem nach den gescheiterten Revolten des Jahres 1968), ohne jedoch am individuellen Subjekt der liberalen Ära festzuhalten. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass sie einer späteren Generation angehören (der Generation der 1920er und 30er Jahre), andererseits mit ihren Erfahrungen im (französischen, italienischen, polnischen) Marxismus verwurzelt sind, der individuelle Autonomie nie wirklich favorisiert hat.
Das Verhältnis zwischen Kritischer Theorie und dem postmodernen Denken ist ambivalent. Wie AdornoAdorno, Th. W. und HorkheiHorkheimer, MaxmerHorkheimer, Max verteidigen Autoren wie BaumanBauman, Z., LyotardLyotard, J.-F. und VattimoVattimo, G. das Partikulare, Besondere gegen idealistische, vor allem Hegelsche und hegelianische Abstraktionen: gegen die Herrschaft des Begriffs und des begrifflichen Systems. Insofern haben Steven BestBest, S. und Douglas KellnerKellner, D. Recht, wenn sie von „Adorno’s proto-postmodern theory“19 sprechen und zeigen, „wie Adorno vieles von der postmodernen Kritik an moderner Theorie antizipierte […]“.20
Denn AdornoAdorno, Th. W. antizipiert auch die postmoderne (Lyotards) Kritik an den großen historischen „Metaerzählungen“, wenn er in der Negativen Dialektik den Marxisten eine „Vergottung der Geschichte“21 vorwirft und erklärt: „Die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden und zusammenfassenden Weltplans zum Besseren wäre nach den Katastrophen und im Angesicht der künftigen zynisch.“22 Mit der Kritischen Theorie sind sich postmoderne Denker einig, wenn sie in ihren Kritiken des Kapitalismus und des realen Sozialismus die herrschaftlichen, repressiven Züge philosophischer und soziologischer Diskurse als Erzählungen aufzeigen.
Die Ambivalenz des Verhältnisses zwischen spätmoderner Kritischer Theorie und postmodernen Ansätzen besteht darin, dass die postmodernen Autoren Kerngedanken der Frankfurter Philosophen aufgreifen, um sie zu radikalisieren und zugleich ad absurdum zu führen.
In den Kapiteln dieses Buches soll gezeigt werden, wie LyotardLyotard, J.-F. durch seine Radikalisierung von Adornos ästhetischer Theorie, die das individuelle Subjekt stärken und retten sollte, dieses Subjekt zerstört und wie er in seiner Kritik an HabermasHabermas, J.’ Erzählung der Emanzipation den Emanzipationsprozess als Hauptanliegen der Kritischen Theorie desavouiert. Im Anschluss daran wird Emanzipation als Schlüsselbegriff der Kritischen Theorie, der die Überwindung kapitalistischer Verhältnisse meint, bei VattimoVattimo, G. durch Heideggers Begriff der Verwindung ersetzt, der Kritik entschärft. Parallel zu Lyotard knüpft BaudrillardBaudrillard, J. an Adornos und Marcuses Tauschwertproblematik an, aber nur um den für die Kritische Theorie wesentlichen Gegensatz Tauschwert / Gebrauchswert zu tilgen und die Allgegenwart des Tauschwerts zu verkünden, der ihm zum Wert (valeur) tout court wird.
Dadurch wird die von MarcuseMarcuse, H. kritisierte und bekämpfte Eindimensionalität der spätkapitalistischen Gesellschaft festgeschrieben. Trotz der sie trennenden Unterschiede sind sich BaudrillardBaudrillard, J. und BaumanBauman, Z. in der Ansicht einig, dass zeitgenössische Kunst zu reiner Ware verkommt, so dass ihre von AdornoAdorno, Th. W., HorkheimerHorkheimer, Max und Marcuse ausführlich kommentierte kritische Negativität als „zweite Dimension“ im Kommerz untergeht. In ihm geht auch Walter Benjamins ästhetischer „Ausstellungswert“ unter, der den auratischen „Kultwert“ ablösen und zur Revolutionierung der Massen beitragen sollte. Zugleich mit Marcuses „zweiter Dimension“ löst sich Horkheimers „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ in der Indifferenz des Immergleichen auf, die der postmoderne Gilles LipovetskyLipovetsky, G. beschreibt.
Es soll von Kapitel zu Kapitel deutlich werden, dass die postmodernen Denker zwar an die Gedankengänge der kritischen Theoretiker anknüpfen, sie aber so konsequent weiterführen und radikalisieren, dass ihnen die kritische Spitze abgebrochen wird. Diese Weiterführung der Kritik, die in deren Entmachtung umschlägt, mag ein Zeichen der Zeit sein: ein Zeichen dafür, dass wir in einer Zeit der „Sinnlosigkeit“ (insignifiance, CastoriadisCastoriadis, C.)23, der „Leere“ (ère du vide, LipovetskyLipovetsky, G.)24 leben, in der sich die kritischen Intellektuellen verabschieden oder – von LyotardLyotard, J.-F. – verabschiedet werden.
Für den Autor ist dies kein Grund, sich von der Kritischen Theorie abzuwenden. Es mag weiterhin lohnend sein, unzeitgemäß gegen den Zeitgeist zu denken.
Die Bezeichnung „Spätmoderne“ („late modernity“, GiddensGiddens, A.)1 für die gegenwärtige Zeit ist insofern irreführend, als schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Philosophen wie NietzscheNietzsche, F., die Junghegelianer oder KierkegaardKierkegaard, S. die evolutionäre Zuversicht moderner Denker wie HegelHegel, G. W. F., MarxMarx, K. und ComteComte, A. in Frage stellen. Ihnen schließen sich Soziologen wie Ferdinand TönniesTönnies, F., Georg SimmelSimmel, G., Alfred WeberWeber, A. und Max WeberWeber, M. an, weil sie in einer Zeit der Kriege, Revolutionen und Wirtschaftskrisen den seit der Aufklärung herrschenden Fortschrittsglauben der Moderne nicht mehr nachvollziehen können. Ihre Werke gehören – zusammen mit der später entstandenen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule – der Spätmoderne an, die hier als eine kritische Selbstreflexion der Moderne (ca. 1850–1950) aufgefasst wird.2
In dieser Selbstreflexion keimt ein postmodernes Denken, das einerseits an die Kritik spätmoderner Autoren (etwa Nietzsches oder Adornos) anknüpft, indem es die „großen Metaerzählungen“ (LyotardLyotard, J.-F.) der Moderne verabschiedet, andererseits aber die spätmodernen Hoffnungen auf eine Überwindung der Dekadenz oder des Kapitalismus aufgibt. Gianni VattimoVattimo, G. ersetzt die modern-spätmoderne Überwindung durch Nietzsches und Heideggers Verwindung – als Rücknahme vergeblicher Hoffnungen und Wünsche.
Im Folgenden gilt es, die Anliegen der Kritischen Theorie in den soziologischen Kontext des ausgehenden 19. und des anbrechenden 20. Jahrhunderts zu projizieren, um zu zeigen, (a) dass Autoren wie TönniesTönnies, F., SimmelSimmel, G., Alfred und Max WeberWeber, M. ähnliche Argumente gegen den Fortschrittsoptimismus der Moderne (Hegels, Comtes) ins Feld führen wie später die Frankfurter Philosophen, (b) dass sie sich in ihrer Kritik immer wieder – wie die Vertreter der Kritischen Theorie – auf Vergangenes beziehen, das Hegels „Furie des Verschwindens“ weichen musste, und (c) dass im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen das für AdornoAdorno, Th. W. und HorkheimerHorkheimer, Max so wichtige Schicksal des (liberalen) Individualismus und des individuellen Subjekts steht, das in einer von Großkonzernen beherrschten, von Massenorganisationen getragenen und bürokratisierten Gesellschaft unterzugehen droht.
Die gesellschaftliche Situation, in der Soziologen wie DurkheimDurkheim, E., SimmelSimmel, G., TönniesTönnies, F. oder Max WeberWeber, M. beginnen, den modernen Fortschrittsgedanken für eine Naivität zu halten, umreißen Hans-Jürgen DahmeDahme, H.-J. und Otthein RammstedtRammstedt, O.: „Der Fortschrittsoptimismus, der integraler Bestandteil des Verständnisses von Gesellschaft war, wich einer Krisensensibilität, als ökonomischer Fortschritt durch die ‚Große Depression‘ zwischen 1873 und 1895, die sich in den drei großen Wirtschaftskrisen dieser Zeit abzeichnete, fraglich wurde.“3 Das Krisenbewusstsein wurde freilich auch durch die Kriege des 19. Jahrhunderts wachgehalten: durch den Krimkrieg (1853–1856), die Balkankriege, die Carlistenkriege in Spanien und den französisch-preußischen Krieg (1870–1871), der zur Gründung des Deutschen Reiches unter Bismarck führte.
Im Zusammenhang mit SimmelSimmel, G., TönniesTönnies, F. und Max WeberWeber, M. zeigt DahmeDahme, H.-J., „wie der Fortschrittsbegriff der ‚älteren‘ Soziologie bei den modernen Klassikern in Mißkredit gekommen ist und wie man den neuzeitlichen Geschichtsprozeß soziologisch neu zu deuten versuchte“.4 Er erklärt: „Mit der neu-soziologischen Sichtweise der gesellschaftlichen Realität wurde auch endgültig der Fortschrittsbegriff von der Soziologie abgekoppelt.“5 Der Ausdruck „neu-soziologische Sichtweise“ weist auf den Bruch der spätmodernen Denker mit den Denkmustern ihrer modernen Vorgänger: mit den Diskursen Hegels, MarxMarx, K.’, Comtes und Spencers. Es mag hilfreich sein, sie zur Veranschaulichung ins Gedächtnis zu rufen.
Sein Idealismus hat HegelHegel, G. W. F. entscheidend geholfen, sich über irrationale Tendenzen im historischen Prozess (etwa über den revolutionären Terror des Jahres 1793 oder Napoleons gescheiterten Russland-Feldzug im Jahre 1812) hinwegzusetzen. Um den „Gang des Weltgeistes“ zu deuten, reichen beeindruckende Metaphern aus, die eine empirische Verankerung des Diskurses durchaus ersetzen können: „Es hat sich also erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen, des Geistes, dessen Natur zwar immer eine und dieselbe ist, der aber in dem Weltdasein diese seine Natur expliziert.“6
Nicht erst die auf empirische Analyse bedachten Begründer der Soziologie, schon der Junghegelianer Friedrich Theodor VischerVischer, F. Th. hat in seinem Roman Auch Einer (1879) Hegels Vertrauen in die historische Notwendigkeit ironisch in Zweifel gezogen – und mit ihm die Gültigkeit des Systems: „Überdies das Unglück: die Diskreditierung der Philosophie durch die Systeme. System ist immer Ausbau eines Gedankens, der als Gedanke eines Kopfs, wenn auch auf und über vielen Schultern und Köpfen, doch immer nur dieses einen Menschen Gedanke ist.“7 Diese Überlegungen decken die Partikularität und Kontingenz aller Systeme und insbesondere des Hegelschen auf, das behauptet, mit der historischen Wirklichkeit übereinzustimmen, selbst allgemein gültig zu sein.
Wenn AdornoAdorno, Th. W. in der Negativen Dialektik MarxMarx, K. und EngelsEngels, F. eine „Vergottung der Geschichte“ (vgl. Einleitung) vorwirft und „die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden und zusammenfassenden Weltplans zum Besseren“ (vgl. Einleitung) in Zweifel zieht, so knüpft er an Vischers Gedankengänge an. Denn VischerVischer, F. Th. hätte auch die marxistischen Prätentionen ironisch kommentiert und darauf hingewiesen, dass die geplante „Diktatur des Proletariats“ zur Diktatur einer Partei (ihres Politbüros) verkam, die den Weg zum Sozialismus und zur „klassenlosen Gesellschaft“ verlegte. So scheiterte auch der marxistische „Weltplan zum Besseren“.
Auch Auguste Comtes Zuversicht verliert im spätmodernen Kontext, dem sowohl Vischers als auch Adornos kritische Stimmen angehören, ihre Überzeugungskraft: „Denn das übergeordnete Gesetz der Fortschritte des menschlichen Geistes reißt alles mit sich fort und beherrscht alles; die Menschen sind für dieses Gesetz nur Instrumente.“8 Comtes Vertrauen in das gesetzmäßige Agieren des „menschlichen Geistes“ erinnert an Hegels Apotheose des Weltgeistes, und es erklärt seine instrumentelle Auffassung der Wissenschaft, die nach der Devise „savoir pour prévoir“ verfahren soll. Sie soll versuchen, das Fortschreiten des Geistes zu verstehen, um ein entsprechendes Handeln in die Wege leiten zu können: „Sehen um vorherzusehen: das ist das dauernde Unterscheidungsmerkmal der wahren Wissenschaft […].“9
Die Krisen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die ComteComte, A. nicht mehr erlebt hat, weil er 1857 starb, haben die um 1850 geborenen Soziologen – etwa DurkheimDurkheim, E. (1858–1917) oder SimmelSimmel, G. (1858–1918) – bewogen, eher die Unwägbarkeiten und Risiken des Fortschritts zu beobachten als seine Höhenflüge. Zugleich kam ihnen der Gedanke, dass angesichts der Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen vieles weder sichtbar noch vorhersehbar ist. Sie verabschiedeten sich sowohl von Hegels göttlichem Weltgeist, der die Vernunft verwirklichen sollte, als auch von Comtes „Gesetz der Fortschritte“, das die soziale Evolution auf ein positivistisches oder wissenschaftliches Stadium zusteuern ließ.
In ihren Augen büßte auch Herbert Spencers (1820–1903) soziologische Erzählung, die den Übergang von der „kriegerischen“ zur „industriellen Gesellschaft“ und die mit diesem Übergang einhergehende Stärkung des Individuums verkündet, an Glaubwürdigkeit ein: „[…] Der industrielle Typus ist deshalb der höher stehende, weil er, in jenem Zustande desdauernden Friedens, welchem die Civilisation entgegenstrebt, dem individuellen Wohlergehen besser dient als der kriegerische Typus.“10 Nach dem Krimkrieg und dem französisch-preußischen Krieg mag vor allem der Erste Weltkrieg, den DurkheimDurkheim, E., TönniesTönnies, F., SimmelSimmel, G. und Max WeberWeber, M. noch erlebt haben, endgültig den kriegerischen Charakter des „industriellen Typus“ nachgewiesen haben.
Es kommt hinzu – und dies ist das zweite Hauptthema dieses Buches –, dass dieser Typus, den in der Spätmoderne der Hochkapitalismus mit seinen Wirtschaftskonzentrationen prägt, dem „individuellen Wohlergehen“ keineswegs „besser dient“ als die älteren Typen oder Entwicklungsstadien. Schon SpencerSpencer, H. selbst hatte Gelegenheit, die sich abzeichnende Krise des Liberalismus in einer Zeit zunehmender Staatsinterventionen zu beobachten. Die spätmodernen Soziologen (vor allem SimmelSimmel, G. und Max WeberWeber, M.) und alle Vertreter der Kritischen Theorie setzten sich intensiv nicht nur mit dem Niedergang des Liberalismus, sondern auch mit dem komplementären Niedergang des individuellen Subjekts auseinander. Beide Entwicklungen schärften ihren Blick für das, was im Laufe der sich beschleunigenden sozialen Evolution verloren geht.
Wenn TönniesTönnies, F. (1855–1936) den Verlust menschlicher Gemeinschaft beklagt, die er der kapitalistisch organisierten Gesellschaft gegenüberstellt, so ist das kein Grund, ihn als Konservativen oder Traditionalisten in Vergessenheit geraten zu lassen. Im Folgenden wird sich zeigen, dass er MarxMarx, K. und den Marxisten nicht ablehnend gegenüberstand, sondern versuchte, Marxsche Gedanken in seine Soziologie der Gemeinschaft aufzunehmen.
Anders als die Begründer der Kritischen Theorie, die den Niedergang des liberalen Individualismus erlebten und versuchten, „das Richtige hinüberzuretten“, wie MusilMusil, R. sagt, beobachtete TönniesTönnies, F. den Zerfall der menschlichen Gemeinschaft und fasste Möglichkeiten ins Auge, sie in der kapitalistisch organisierten Gesellschaft neu zu beleben, um über den Kapitalismus hinausgehen zu können. In den von ihm entworfenen Szenarien spielte auch die Arbeiterschaft als antikapitalistische Kraft eine wesentliche Rolle.
TönniesTönnies, F.’ Festhalten an der Gemeinschaft ist zumindest teilweise aus seinen frühen Erfahrungen ableitbar. Seine Erziehung in einer Großfamilie mit sieben Kindern, seine Kindheit in einer schleswig-holsteinischen Dorfgemeinde (Riep bei Oldenswort) und seine Schulzeit in der Kleinstadt Husum mögen wesentlich zur Entfaltung des für ihn so eigentümlichen Gemeinschaftsgeistes beigetragen haben.
Vor diesem Hintergrund ist seine Auffassung der Gemeinschaft zu betrachten: als Familiengemeinschaft oder „Gemeinschaft des Blutes“, als „Gemeinschaft des Ortes“ (etwa Dorfgemeinschaft) und als „Gemeinschaft des Geistes“, die auch in größeren Städten Freunde oder gute Bekannte miteinander verbindet. Zur Begriffsbestimmung der Gemeinschaft bemerkt TönniesTönnies, F. selbst in Gemeinschaft und Gesellschaft: „Denn die Gemeinschaft des Blutes als Einheit des Wesens, entwickelt und besondert sich zur Gemeinschaft des Ortes, die im Zusammenwohnen ihren unmittelbaren Ausdruck hat, und diese wiederum zur Gemeinschaft des Geistes als dem bloßen Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen Richtung, im gleichen Sinne.“1 Die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft gründen auf Tradition, Sitte und Gewohnheit.
Im Gegensatz zur Gemeinschaft steht bei TönniesTönnies, F. die Gesellschaft, die er durchgehend als Marktgesellschaft auffasst: als ein antagonistisches Zusammenleben egoistischer, miteinander konkurrierender Individuen, deren Beziehungen eher anonym und vertragsrechtlich geregelt sind. Als vom Tauschwert durchwirkte Welt wird die Gesellschaft vom Utilitarismus und vom Prinzip des do ut des beherrscht, so dass persönliche Beziehungen, die Gemeinschaften prägen, dem marktvermittelten Kalkül weichen.
Tönnies̕ Erzählung der sozialen Evolution ließe sich mit der Kurzformel „von der Gemeinschaft zur Gesellschaft“ zusammenfassen. Hier ist TönniesTönnies, F.’ eigenes Resümee: „Dies ist der große in jeder einzelnen Kulturentwicklung fortwährend, wenn auch gegen starke Widerstände und nicht ohne rückläufige Bewegungen sich steigernde Vorgang ‚von Gemeinschaft zu Gesellschaft‘, der am nächsten in der Entwicklung der Individuen und des Individualismus als einer Gesamterscheinung sich darstellt.“2
Parallel zu dieser Darstellung erzählt Emile DurkheimDurkheim, E. die gesellschaftliche Evolution als eine Entwicklung von der mechanischen zur organischen Solidarität. Seine Erzählung ist insofern mit der Tönniesschen vergleichbar, als für die mechanische Solidarität gemeinschaftliche Beziehungen (Ähnlichkeit der Beteiligten, face-to-face relations) kennzeichnend sind, während organische Solidarität ein funktionales Ganzes bezeichnet, das durch Arbeitsteilung und Zweckmäßigkeit zusammengehalten wird und gemeinschaftliche Bindungen nahezu ausschließt.
Interessant ist nicht nur die Ähnlichkeit der beiden soziologischen Diskurse („vom Persönlichen zum Unpersönlichen, Anonymen“), sondern auch die Tatsache, dass jeder der beiden Soziologen – trotz aller Übereinstimmungen – die soziale Wirklichkeit anders konstruiert. Sie kann anscheinend stets von neuem und stets anders wiedergegeben werden.3 Den beiden Denkern ist jedoch gemeinsam, dass sie in ihren Darstellungen nicht nur den Fortschritt als Modernisierung beschreiben, sondern auch die Verluste, die er mit sich bringt.
Während DurkheimDurkheim, E. die sozialen Pathologien (Anomie, Selbstmord) analysiert, die die Schwächung der mechanischen Solidarität und des Kollektivbewusstseins mit sich bringt, setzt sich TönniesTönnies, F. mit den Folgen auseinander, die der allmähliche Zerfall der Gemeinschaft zeitigt. Die „Zunahme der gesellschaftlichen gegenüber den gemeinschaftlichen Gestalten der sozialen Verhältnisse“ kommentiert Tönnies wie folgt: „Dies bedeutet zunehmende Entfremdung zwischen den aufeinander angewiesenen, insbesondere den zusammenarbeitenden Schichten des Volkes, also den Klassen und Ständen, sofern solche noch vorhanden sein mögen.“4 Dies erinnert an Durkheims Beschreibungen der Anomie, die zwar kein Synonym für „Entfremdung“ ist, sehr wohl aber zur Entfremdung führen kann, weil sie Unsicherheiten und Konflikte innerhalb eines sich schnell ändernden Werte- und Normensystems bezeichnet – nicht „Normlosigkeit“, eher Koexistenz unvereinbarer Normen.
Um anomische Zustände zu überwinden und das Kollektivbewusstsein zu stärken, schlägt DurkheimDurkheim, E. die Schaffung neuer Berufsgruppen (Korporationen) vor, und TönniesTönnies, F. plädiert analog dazu für eine Stärkung der Arbeiterbewegung und eine Erneuerung der Genossenschaften. Für beide soll der Staat sorgen, dem Tönnies eine Lösung der sozialen Frage zutraut: „Diese Betrachtung führt uns zunächst auf das andere große Gebiet der Staatstätigkeit und ihrer Aufgaben: die Lösung der sozialen Frage.“5
Im Gegensatz zu SpencerSpencer, H., der vor allem in seiner Schrift The Man versus the State (1884) in Übereinstimmung mit seiner liberalen Gesinnung individuelle Handlungsfreiheit gegen staatliche Interventionen in Schutz nimmt, steht TönniesTönnies, F. dem Sozialismus näher und beruft sich immer wieder auf MarxMarx, K., dessen Denken er in seinem Buch Marx. Leben und Lehre kommentiert. Dort wird einerseits deutlich, dass Tönnies mit Marx sympathisiert, andererseits aber seine „utopistische Zuversicht“ nicht mehr teilen kann: „Auch wer diese Zuversicht in die Zukunft nicht teilt und den Glauben an eine klassenlose ebenso wie den an eine wettbewerb- und kampflose Gesellschaft für eine Illusion halten muß, wird sich dem sympathischen Eindruck solcher Hinweisungen nicht entziehen.“6
In dieser Textpassage sind die spätmodernen Affinitäten zur Kritischen Theorie kaum zu übersehen: Sowohl TönniesTönnies, F. als auch die Frankfurter Denker distanzieren sich von MarxMarx, K.’ modernem Vertrauen in eine geschichtsimmanente Überwindung der kapitalistischenVerhältnisse, halten aber an der Durchsetzung von Marx’ gesellschaftskritischen Hauptanliegen fest. Bei Tönnies geht es um die Erhaltung oder Wiederbelebung der Gemeinschaft mit Hilfe des Staates, der Körperschaften und der Arbeiter; in der Kritischen Theorie soll das autonome Individuum als Kernelement des ansonsten scharf kritisierten Liberalismus verteidigt werden. In beiden Fällen gilt es, das zu bewahren, was von den Denkern der Spätmoderne als wertvoll und richtig erfahren wurde – und was im Spätkapitalismus verloren zu gehen droht.
Anders als RousseauRousseau, J.-J., der den Naturzustand idealisiert und gegen HobbesHobbes, Th. mit der natürlichen Güte des Menschen argumentiert, meint TönniesTönnies, F., der ein umfangreiches Buch über Hobbes verfasst hat7, dass Hobbes’ von Egoismus und Habsucht geprägter Naturzustand eine mythische Darstellung der frühen (städtischen) Marktgesellschaft ist: „Keine Spur findet sich bei Hobbes des Gedankens, der uns heute näher liegt als seine Ansicht vom Ur- oder von dem in aller Kultur verborgenen Naturzustande: des Gedankens nämlich, dass gerade die moderne grossstädtische, gesellschaftliche Zivilisation, von der er freilich nur die Anfänge kannte, einen verhüllten Krieg aller gegen alle darstellt.“8 Was Hobbes in Wirklichkeit analysiert, ohne es zu wissen und zu sagen, ist „das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise“.9 In Gemeinschaft und Gesellschaft stellt der Autor fest, dass die von ihm beschriebene Marktgesellschaft aus den von Hobbes dargestellten frühkapitalistischen Verhältnissen hervorgegangen ist.10
Trotz ihrer gegensätzlichen Auffassungen des Naturzustandes (Naturzustand als humanes Dasein vs. Naturzustand als mythische Darstellung des Frühkapitalismus) erzählen RousseauRousseau, J.-J. und TönniesTönnies, F. die soziale Evolution übereinstimmend als Verfall. Tönnies’ soziologische Erzählung „von der Gemeinschaft zur Gesellschaft“ ist als Geschichte dieses Verfalls zu lesen, obwohl Tönnies dem Individualismus keineswegs ablehnend gegenübersteht.11 Rein strukturell betrachtet, kann diese Erzählung als Analogon der kritisch-theoretischen Erzählungen aufgefasst werden, deren Autoren nach dem Scheitern der proletarischen Revolutionen nach Wegen suchen, die aus den kapitalistischen Verhältnissen hinausführen. Dabei halten sie an der Autonomie und Kritikfähigkeit des Individuums fest, die es in ihren Augen unter allen Umständen zu bewahren gilt.
Analog dazu erhofft sich TönniesTönnies, F. eine „Wiederherstellung“ der Gemeinschaft durch die Arbeiterschaft und erklärt, „daß die Idee der Arbeiterbewegung auf eine Wiederherstellung der Gemeinschaft abzielt, nämlich die Schaffung einer neuen sozialen Grundlage, eines neuen Geistes, neuen Willens, neuer Sittlichkeit […].“12 Den Arbeitern und der Arbeiterbewegung spricht Tönnies einen Gemeinschaftsgeist zu, den er beim Bürgertum, das Wirtschaft und Gesellschaft zweckrational organisiert, vermisst.
Die „Idee der Arbeiterbewegung“ ergänzt bei ihm der Gedanke an eine Stärkung der Genossenschaften, die eine ähnlich solidarisierende Funktion erfüllen sollen wie Durkheims Korporationen oder Berufsverbände. Dazu bemerkt Peter-Ulrich Merz-BenzMerz-Benz, P.-U.: „Nicht der Vernunft entstammend, sondern dem Instinkt, dem Gefühl und dem Gewissen, bestimmen [die] genossenschaftlichen Rechtsverhältnisse das Zusammenleben im gemeinschaftlichen Haushalt des Dorfes, der Gemeinde und der Stadt […].“13 Kurzum, die gemeinschaftlichen Kräfte sollten nach TönniesTönnies, F. die „Transformation der liberalen in eine soziale Demokratie“14, wie Arno BamméBammé, A. sagt, ermöglichen.
Dies ist TönniesTönnies, F.’ Alternative zu Marx̕ Erzählschema „vom Kapitalismus zur Diktatur des Proletariats, zur klassenlosen Gesellschaft“. An diesem Schema stört den spätmodernen Soziologen „eine utopistische Zuversicht, die mehr den Charakter eines religiösen Glaubens als eines wissenschaftlichen Gedankens hat“.15 Ihn stört auch der Umstand, dass MarxMarx, K. bei der Entwicklung seines Schemas nicht berücksichtigt, was im historischen Prozess verloren geht, zerstört wird: „daß die Neuzeit die mittelalterliche Entwicklung des sozialen Lebens nicht nur fortsetzt, sondern auch zerstört“.16 Auch in dieser Kritik an Marx stimmt er mit den Frankfurter Denkern überein, die nach dem Zweiten Weltkrieg den „wissenschaftlichen Sozialismus“ der Marxisten mitsamt ihren revolutionären Hoffnungen verabschieden.17
Letztlich münden sowohl die Gedankengänge des Soziologen als auch die der Frankfurter Philosophen angesichts der Widerstandsfähigkeit des Kapitalismus in eine Ratlosigkeit, die an Verzweiflung grenzt. TönniesTönnies, F. erscheint der Staat, den er für fähig hält, eine soziale, nichtkapitalistische Demokratie zu errichten, als rettende Instanz: „Der Staat, als die Vernunft der Gesellschaft, müßte sich entschließen, die Gesellschaft zu vernichten, oder doch umgestaltend zu erneuern. Das Gelingen solcher Versuche ist außerordentlich unwahrscheinlich.“18 Man könnte hinzufügen, dass solche Versuche auch sehr riskant sind.
In eine ähnliche argumentative Situation manövriert sich AdornoAdorno, Th. W. in seinem Aufsatz „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“, der wie Tönnies̕ Überlegungen von Ausweglosigkeit zeugt. „Kein Standort außerhalb des Getriebes“19 lasse sich bezeichnen, von dem aus der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang kritisch erfasst werden könnte. Nur an „seiner eigenen Unstimmigkeit [sei] der Hebel anzusetzen“.20
Das Wort „Unstimmigkeit“ evoziert die immanente Kritik, von der hier in der Einleitung die Rede war. Für sie ist das isolierte Individuum verantwortlich, dessen Autonomie es in allen Varianten der Kritischen Theorie zu retten gilt. Auf den ersten Blick mag es zwar als Antipode des Staates erscheinen, der bei TönniesTönnies, F. die Vernunft verkörpert; es tritt aber in der Kritischen Theorie – zusammen mit dem Kunstwerk – als letzter Träger der Vernunft auf. Dieses autonome, kritikfähige Individuum steht auch im Mittelpunkt von Georg Simmels Werk, das unter allen spätmodernen Werken die stärksten und sichtbarsten Affinitäten zur Kritischen Theorie aufweist.
Wie TönniesTönnies, F. fasst auch SimmelSimmel, G. die gesellschaftliche Entwicklung als einen ambivalenten Prozess auf, der einerseits zwar technische Errungenschaften und neue Freiheiten mit sich bringt, andererseits aber das individuelle Subjekt, das die wachsende Komplexität des Sozialsystems nicht mehr überblickt, akut bedroht. Wie die Vertreter der Kritischen Theorie richtet Simmel sein Augenmerk auf die Entwicklung des liberalen Individualismus, dem die sich rasch entwickelnde Konzernwirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wirtschaftlichen Grundlagen entzieht.
Die Affinität zwischen Simmels Denken und dem der Frankfurter Theoretiker ist wohl auf seinen bildungsbürgerlichen Hintergrund zurückzuführen. Anders als TönniesTönnies, F., der in einer holsteinischen Dorfgemeinde aufwuchs, wurde SimmelSimmel, G. „1858 im Herzen der pulsierenden Großstadtmetropole Berlin geboren“1, wie Uwe KrähnkeKrähnke, U. schreibt. Er war kritischer Intellektueller und Bildungsbürger zugleich, der sich mit nahezu allen philosophischen, künstlerischen und literarischen Strömungen seiner Zeit auseinandersetzte. Lange Zeit war er Privatdozent an der Berliner Universität und wurde erst 1914, vier Jahre vor seinem Tod, zum ordentlichen Professor in Straßburg ernannt.
Als kritischer Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen sah er in der bürgerlichen Bildung der liberalen Ära nicht einfach ein Gut, das von Generation zu Generation weitergereicht wird, sondern einen sich wandelnden Bereich, der in die gesamtgesellschaftliche Entwicklung eingebettet ist und nicht unabhängig von Wirtschaft, Politik und Technik untersucht werden kann. Zugleich sah er, dass eine Aneignung der expandierenden „objektiven Kultur“ durch das sich spezialisierende individuelle Subjekt immer problematischer wird, so dass Bildung im bildungsbürgerlichen Sinne zur Atrophie verurteilt ist. Dieser Verlust ist eines der Hauptthemen seiner Soziologie.
Als kritischer Intellektueller kann er den eine Generation später wirkenden Autoren der Kritischen Theorie angenähert werden. Was Ralph M. LeckLeck, R. M. über ihn schreibt, gilt bis zu einem gewissen Grad auch für AdornoAdorno, Th. W., HorkheimerHorkheimer, Max und MarcuseMarcuse, H.: „But he was a member of an iconoclastic, often bohemian, and reform-minded German intelligentsia.“2 Als „Nietzschean anti-capitalist“ (Leck) ist er nicht so weit von Adorno und HorkheimerHorkheimer, Max entfernt, die sich nicht nur auf MarxMarx, K., sondern auch auf NietzscheNietzsche, F.3 und SchopenhauerSchopenhauer, A. berufen (vgl. Kap. IV. 3). Mit SimmelSimmel, G. teilen sie auch einen gewissen Kantianismus, der nicht nur ihr Festhalten am autonomen Individuum fundiert, sondern auch ihre Skepsis allen hegelianischen Versuchen gegenüber erklärt, Wahrheit mit der Teleologie der systemisch eingefassten historischen Metaerzählung zu identifizieren.
Gegen HegelHegel, G. W. F.