Die Kunst des Tötens - Hélène Gullberg - E-Book

Die Kunst des Tötens E-Book

Hélène Gullberg

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  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Ein mysteriöser Mord erschüttert Schwedens Kunstszene Sten Hammer, Baron und Kunstsammler, wird auf seinem Herrensitz nördlich von Stockholm mit einem antiken Gewehr aus seiner eigenen Sammlung erschlagen. Die aus Stockholm in die Provinz versetzte Ermittlerin Karin Klinga (50) wird mit dem Fall betraut. Sie ist intelligent, aber steif und formell, eckt deshalb immer wieder an. Auf dem Herrensitz trifft sie auf Majja Skog, Anfang 30, die im Auftrag ihres Arbeitsgeber, eines bekannten Auktionshauses in Stockholm, eine Schätzung und Bestandsaufnahme der Hammerschen Sammlung vornehmen soll. Doch Majja ist nicht nur der Kunst wegen vor Ort. Sie hatte eine sehr enge Beziehung zu dem ermordeten Hausherrn, der die junge Frau bereits vor vielen Jahren unter seine Fittiche nahm und ihr alles beibrachte, was er über Kunst wusste. Karin und Majja beginnen die Umstände des mysteriösen Mordfalls zu ergründen und geraten immer tiefer in ein Geflecht aus Lügen und Geheimnissen …

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Seitenzahl: 484

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Über das Buch

Sten Hammar, Baron und Kunstsammler, ist auf seinem Herrensitz nördlich von Stockholm erschlagen worden, vermutlich mit einem Gewehr aus seiner eigenen Sammlung. Die aus Stockholm in die Provinz versetzte Ermittlerin Karin Klinga nimmt sich des Falls an. Auf dem Herrensitz trifft sie auf Majja Skog, die im Auftrag eines bekannten Auktionshauses in Stockholm eine Schätzung der Hammarschen Sammlung vornehmen soll. Doch Majja ist nicht nur der Kunst wegen vor Ort. Die beiden Frauen beginnen die Umstände des mysteriösen Mordfalls zu ergründen und geraten immer tiefer in ein Geflecht aus Lügen und Geheimnissen …

Hélène Gullberg

Die Kunst des Tötens

Roman

Aus dem Schwedischen von Franziska Hüther

1

Juni 1993

Region Roslagen, Uppland, Schweden

Sten Hammar hielt vor der Scheune, blieb aber im Wagen sitzen. Er musste erst seine Gedanken sortieren. Das fiel ihm allerdings schwer. Mit den Jahren war er immer zerstreuter geworden, außerdem scheuerte der gestärkte Hemdkragen in der frühsommerlichen Hitze am Hals. Mit abgeschaltetem Motor wurde es im Wagen umgehend stickig. Sten Hammar, der fast schon sein Leben lang Krawatte trug, hatte das Gefühl, dass ihm der Schlips die Luft abschnürte. Am liebsten hätte er den Knoten gelockert, was er aber selbstverständlich nicht tat.

Stattdessen öffnete er trotz der Insekten, die vermutlich von den vielen Bullen auf dem Hof angezogen wurden und das Auto umschwirrten, das Fenster einen Spalt. Sofort flog eine Bremse herein und ließ sich auf dem Jaguar-Logo in der Mitte des Lenkrads nieder. Das Insekt war daumennagelgroß und konnte bestimmt ganze Stücke aus den Schlachtrindern reißen. Die schillernden Facettenaugen starrten ihn an. Sten Hammar starrte zurück. Er war durch das Tier wie hypnotisiert, und die Zeit schien stillzustehen. Das Insekt rieb die Vorderbeine aneinander und neigte sich vor, als wolle es sagen: »Bist du dir deiner Sache auch wirklich sicher?«

Er schüttelte den Kopf, kehrte ins Hier und Jetzt zurück und richtete den Blick auf den Grund seines Kommens.

Die Scheune.

Von außen betrachtet war sie eines dieser typischen Wirtschaftsgebäude, irgendwann einmal voller Eifer und Zukunftsglauben errichtet, um dann wie ein alternder Verwandter dem Verfall und der Vergessenheit überlassen zu werden. Umgeben von Kuhstall, Traktorhalle, Wohnhaus und einer Handvoll weiterer Nebengebäude, hätte es sich um jede x-beliebige Scheune handeln können. Rechteckig und nichtssagend. Die falunrote Farbe war verblichen, und das graue Holz schimmerte durch. Mannshohes trockenes Gras wuchs bis zu den Fensterrahmen. Die Wandbohlen waren von Feuchtigkeit angegriffen und am unteren Rand ausgefasert. Eine wahre Bruchbude.

Doch für Sten Hammar hätte es ebenso gut das Taj Mahal sein können. Ein Heiligtum. Wenn man bedachte, was sich im Inneren der Scheune befand, hätte sie statt der fehlenden Dachziegel und der blauen Plane über dem First von Zinnen und Türmen gekrönt sein müssen.

An die Längsseite war ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift Trödelmarkt genagelt. Er schmunzelte. Trödel. Beim Gedanken daran, wie ihm das Schicksal an jenem Tag vor einem knappen Jahr in die Hände gespielt hatte, spürte er ein Ziehen im Bauch. Ausgerechnet in jener Woche hatte sein Gutsverwalter Gunnar Urlaub gehabt. Als Stens Wagen auf einmal herummuckte, war er daher gezwungen gewesen, ausgerechnet bei diesem Hof anzuhalten und um Hilfe zu bitten. Und ausgerechnet da hatte sich seine Blase gemeldet, und er war auf der Suche nach einer Toilette in ausgerechnet diese Scheune gegangen.

Er erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen.

Das Bimmeln von Kuhglocken, als er die Tür öffnete. Und die Überraschung beim Anblick der unzähligen Gegenstände, weil er draußen das Trödel-Schild nicht bemerkt hatte. Geflochtene Körbe, Kaffeemühlen, vergilbte Tisch- und Bettwäsche, Melkschemel, stapelweise Geschirr, plissierte Lampenschirme, Puppenwagen, Kupferpfannen, Handfeuerspritzen, grüne Likörgläser, Flickenteppiche und Stickbilder standen wild durcheinander, und alles war Schrott. Zwischen Holzregalen voller Krempel schmale Gänge. Der Geruch von Nikotin, Rattenpisse, Staub und Leder nahm einem den Atem. Sten Hammar vergaß komplett, weshalb er die Scheune betreten hatte, und blickte stattdessen umher. Das Licht war schummrig, er kniff die Augen zusammen.

»Hallo?«, sagte er.

Keine Antwort.

Erst dachte Sten, er wäre allein in der Scheune, aber ein Schrappen verriet ihm, dass dem nicht so war. Er wurde zweifellos beobachtet, doch woher kam das Geräusch? Unter einem Klapptisch funkelte ihm etwas entgegen. Ja, jetzt sah er es deutlich: ein Paar wachsamer und gleichzeitig neugieriger Augen. Augen, die zu einem Kind gehörten, einem Mädchen.

Als die Kleine begriff, dass er sie entdeckt hatte, spähte sie lächelnd unter dem Tisch hervor:

»Hallo.«

Sie kroch heraus, hüpfte am Tisch hoch und ließ sich daraufplumpsen. Dort baumelte sie sofort mit den Beinen, wobei sie ihn weiterhin eingehend musterte. Unbewusst drückte er den Rücken durch.

Trollkind war das erste Wort, das ihm in den Kopf kam. Das Gesicht des Mädchens war sommersprossig und breit mit hohen Wangenknochen. Ihr Lächeln entblößte eine auffallend breite Lücke zwischen den Vorderzähnen. Wie alt mochte sie sein? Acht, neun?

Ihr Blick war unschuldig und leicht verschmitzt, als spiele sie mit dem Gedanken, hochzuhopsen und ihm den Hut vom Kopf zu stibitzen, sobald er wegschaute. Gleichzeitig lag etwas Düsteres darin, das ihn an einen Waldgeist erinnerte.

Sie war gedrungen und eher pummelig, vermutlich von der Sahne des Hofs oder zu viel Naschkram. Womöglich auch von fehlender Disziplin. Ihre Haare waren beinahe schwarz und standen wie Stahlwolle vom Kopf ab, als hätte keiner Lust – oder den Mut –, die Knoten herauszukämmen, da das Risiko zu groß war, entweder von dem Mädchen oder aber dem möglicherweise in den Haaren lebenden Ungeziefer gebissen zu werden. Am Hinterkopf steckte ein Grashalm, vielleicht war sie durchs Heu gerollt, was bei Kindern auf dem Land vermutlich normal war. Bei näherer Betrachtung glich das Mädchen einem Raubtierjungen – goldig, aber nichtsdestotrotz gefährlich –, und mit der Zeit würde es zu einem ausgewachsenen Raubtier werden, dem mit Vorsicht zu begegnen war. Im Augenblick jedoch: goldig.

»Hallo«, grüßte er zurück.

»Ich heiße Majja. Mit zwei J.«

»Aha«, sagte er. »Ich heiße Sten … mit einem N.«

Sofort verengten sich die Augen zu Schlitzen und wurden schwarz wie ein Tümpel; der Scherz war nicht gut angekommen.

»Ich suche das Herren-WC. Ein junger Mann draußen meinte, hier …«

»Was ist das?«

War sie ein wenig zurückgeblieben? Inzucht kam auf den Höfen womöglich noch immer vor.

»Die Toilette. Ich suche die Toilette.«

»Ach so!« Sie brach in Gelächter aus, als hätte er einen fahren lassen. Dann murmelte sie leise zu sich selbst: »Herren-WC. Herren-WC. Merk dir das.«

Er räusperte sich leicht, um sie an sein Anliegen zu erinnern.

Ihre Miene hellte sich auf.

»Weißt du, was das da ist?«, fragte sie und zeigte auf einen Gegenstand neben sich auf dem Tisch. »Mein Pa weiß es nicht, und ich muss es aber wissen. Das hat meiner Mutter gehört, aber ich weiß nicht, wofür sie es benutzt hat. Weißt du’s? Mein Bruder sagt, das ist ein Folterwerkzeug für nervige Mistkinder, aber ich glaube, man tut es zum Backen benutzen.«

Leicht belustigt ließ Sten ihr das Du durchgehen.

»Das ist eine Plissierschere. Damit hat man früher die Bänder von Kissenbezügen plissiert, das heißt gefältelt.«

Sie schwieg nachdenklich, als müsse sie die Information verarbeiten.

Sten ging zu einem offenen Wäscheschrank, suchte einen Kissenbezug heraus und zeigte ihn ihr:

»Siehst du, man hat Falten in die Bänder gepresst, mit denen die Kissenbezüge zugeknotet wurden.«

»Warum?«

»Damit es hübsch aussah.«

»Ah …« Sie lachte wieder. »Plissieren … plissieren … Meine Mama fand es vielleicht auch hübsch, aber das können wir nicht wissen.«

»Nein.«

»Ist die Schere alt?«

»Aus dem neunzehnten Jahrhundert, denke ich.«

»Oh. Du weißt ja viel. ’tschuldigung«, fügte sie rasch hinzu und senkte den Blick. »Mein Pa sagt, ich frage zu viel, er kriegt Kopfweh von dem verdammten Geplapper. Kriegst du Kopfweh?«

»Nein … Es ist gut, Fragen zu stellen, sonst lernt man nichts. Aber ich wäre dankbar, wenn du mir jetzt die Toi…«

»Gut, ist der Stuhl da auch aus dem neunzehnten Jahrhundert?« Sie deutete auf das Möbel neben sich. Der Sitz war aus Rattan und voller großer Löcher, die sicher von Nagetieren stammten. »Wie alt ist der?«

»Etwa hundert Jahre.«

»Mein Pa findet den hübsch, aber ich finde den da viel schöner«, sagte sie, sprang vom Tisch und hüpfte durch den Gang. »Komm!«

Sten folgte ihr und hoffte, dass dies auch der Weg zur Toilette war.

Im hinteren Winkel der Scheune angekommen, schwenkte sie wie ein Zirkusdirektor den Arm.

»Tadaaa!«

Er stierte. Der Raum drehte sich, und Sten griff Halt suchend nach dem nächstbesten überquellenden Regal. Der Stuhl vor ihm war unglaublich. Etwas kitzelte in seinem Gesicht. Tränen? Reglos blinzelte er mehrfach, ehe er sich behutsam auf das Objekt zubewegte.

Aber nur die Füße. Nicht berühren. Noch nicht.

Hier wehte ihm der Atem der Geschichte entgegen, und vor seinem inneren Auge lief alles wie in einem Film ab, wie in einem aufwendigen Kostümfilm, bei dem die Kamera zunächst über Sankt Petersburg schwenkte, um dann in die Salons mit russischen Herren in Uniform und Damen in Chemisenkleidern zu führen. Was hatte dieser Stuhl wohl schon alles erlebt? Und wer mochte ihn gefertigt haben? Er war von ausgesuchter Machart und mit einer überraschend intakten Vergoldung. Diese Art Delfine an der Lehne hatte er noch nie gesehen. War das Polster original? Die bordeauxrote Seide mit den goldenen Bienen sah etwas abgenutzt aus …

»Majja! Geh Peter mit dem Auto helfen. Nimm ’nen Wagenheber und ’nen Kreuzschlüssel mit.«

»Aber ich wollte den Mann noch fragen …«

»Kein Aber! Los jetzt.«

Sten erwachte wie aus einer Trance. Dümmlich sah er dem Mädchen hinterher, das mit hängenden Schultern davontrottete.

Der Mann, von dem Sten vermutete, dass es sich um den Vater handelte, war ebenso stämmig und schwarzhaarig wie das Mädchen. Als er auf Sten zutrat, schlug diesem der Geruch von Alkohol entgegen, vielleicht Selbstgebranntem.

»Tut mir leid wegen dem Mädchen, sie ist ziemlich neugierig.« Der Mann klatschte in die Hände. »So. Mein Sohn hat gesagt, Ihr Wagen macht Faxen? Kriegen wir hin, die Kinder schauen danach. Sie können gern so lang hier warten.«

»Das ist sehr freundlich, aber ich kann ein Taxi rufen.«

»An so einem Wagen rumbasteln macht denen nichts aus, die Gelegenheit hat man nicht jeden Tag.«

Sten wurde bewusst, dass er sein Gegenüber nicht mehr ansah, der Stuhl zog ihn abermals in den Bann. Er riss sich zusammen, um seine Aufregung zu verbergen.

»Schöner Stuhl.«

Der Mann nickte, als wolle er sagen: Wenn Sie meinen. Sten fragte sich, ob er ihm etwas vormachte, war sich jedoch ziemlich sicher, dass der Mann tatsächlich nicht wusste, was sich da in seinem Besitz befand.

»Gibt noch mehr«, sagte der Mann.

Sten Hammar schluckte.

»Mehr?«

Der Mann leckte sich den Snus-Tabak von den Zähnen und zuckte mit den Achseln.

»Die stehen nur im Weg, deshalb hab ich sie dahinten gestapelt.«

Stens Herz setzte einen Schlag aus, und er erbleichte. Mehr? Gestapelt? Mit schwirrendem Kopf folgte er dem Mann zu einem Vorhang.

Und als der Stoff zur Seite gezogen wurde, öffnete sich das Paradies.

 

Natürlich hatte er sämtliche Stühle vom Fleck weg gekauft, und natürlich hatte er gefragt, woher sie stammten. Dem Blick des Mannes nach zu urteilen waren derlei Fragen unerwünscht. Er war nicht direkt aggressiv geworden, was Sten in Hinblick auf die Körperausdünstungen, die geballten Fäuste und die hochroten Wangen zunächst befürchtet hatte, sondern eher schroff und kurz angebunden. Bis hierher und nicht weiter. Haben wir einen Handel oder nicht? Am meisten hatte Sten jedoch seine Reaktion überrascht, als er schließlich nach dem Preis fragte. Da hatte der Mann zunächst unschlüssig dreingesehen. Er hatte sich die Bartstoppeln gezupft und zur Decke geblickt, als stünde die Antwort in den Sternen.

Wahnsinn, der Mensch hat wirklich keine Ahnung, auf welcher Goldgrube er sitzt, hatte Sten gedacht.

Erst auf dem Heimweg, nachdem die Kinder, insbesondere das Mädchen, ihn mit ihren Mechanikkenntnissen verblüfft hatten, erinnerte er sich wieder an seine drückende Blase. Angesichts des unglaublichen Fundes hatte er alles andere verdrängt. Eigentlich war es unter seiner Würde, gegen einen Baum Wasser zu lassen, und etwas, das er seit seiner Jugend nicht mehr getan hatte, doch der Glückskauf in Kombination mit dem Umstand, sich dort in dem stillen Wald endlich zu erleichtern, war ein unvergleichliches Gefühl. Es grenzte an Seligkeit.

Auf den ersten Besuch in der Scheune folgten weitere; die Ausbeute war nicht immer befriedigend, aber meistens. Mit der Zeit erkannte Sten Hammar ein Muster. Der Krempel in der Scheune stammte in der Regel aus Schweden und barg keine Geheimnisse, die wertvolleren Objekte dagegen waren oftmals baltischer Provenienz, und Fragen danach wurden nicht toleriert. Diesbezüglich war der Bauer auf der Hut. Ihr ominöser Hintergrund war ihm offensichtlich bekannt, jedoch ahnte er nicht im Leisesten ihren Wert, und das wusste Sten zu seinem Vorteil zu nutzen.

Der Mann sprach in der Regel nicht viel, manchmal aber löste der Alkohol seine Zunge. Auf diese Weise erfuhr Sten von ihm, dass er keineswegs Landwirt hatte werden wollen, sondern sich das mit dem Tod seiner Frau so ergab. Ursprünglich hatte er auf einem Tanker gearbeitet. Sten ließ unerwähnt, dass er eine Reederei besaß, er wollte die Ungleichheit zwischen ihnen nicht betonen. Doch durch die Vergangenheit des Mannes in der Seefahrt, die Herkunft der Objekte und den Umstand, dass sie sich hier in Küstennähe und nur eine kurze Reise vom Baltikum entfernt befanden, konnte er eins und eins zusammenzählen. Und das war auch der Grund, weshalb er nun mit schwitzigen Händen in seinem Auto saß.

Es waren gefährliche Vermutungen, die Straftaten, Schmuggel und Diebesgut beinhalteten, und der Vorschlag, den er unterbreiten wollte, konnte so oder so aufgenommen werden. Der Mann war unverkennbar Alkoholiker und der Hof heruntergewirtschaftet, daher würde er hoffentlich mit ihm zusammenarbeiten. Weil er Geld brauchte. Aber war er verlässlich? Oder gefährlich?

Sten Hammar fühlte sich trotz der Risiken seltsam beschwingt. Oder vielleicht gerade deshalb. Seit seiner Pensionierung war der Alltag immer eintöniger geworden. Vorhersehbar. Es fehlte ihm mitnichten an Beschäftigung – Vorstandssitzungen, Auktionen und Clubtreffen füllten seinen Kalender, doch ihm erschien nichts mehr spannend. Seine Triebfeder war stets gewesen, sich sämtliches Wissen über Kunst anzueignen, sie zu sammeln und zu besitzen. Mehr, besser, das Beste! Doch mit zunehmendem Alter fragte er sich: Und was dann? Er hatte keine Kinder, an die er sein Wissen und seine Sammlung weitergeben konnte. Und seine Freunde, pah, denen wollte er schon lange nicht mehr imponieren. Die meisten waren zu dumm, um zwischen Silber und Versilberung zu unterscheiden. Hauptsache, es glänzte.

Sein Leben hatte zum Großteil daraus bestanden, Vorbesichtigungen von Auktionen zu besuchen, zu kaufen und dann sein Umfeld zu beeindrucken. Begutachten, kaufen, beeindrucken, begutachten, kaufen, beeindrucken – jahrein, jahraus. Darin lag keine Herausforderung mehr. Keine Dramatik. Doch hier, in dieser Scheune, hatte er dasselbe Kribbeln gespürt wie in seiner Jugend.

Allerdings war es nur eine Frage der Zeit, bis andere die Schatzkammer entdeckten. Allein während er hier saß, war eine unerwünscht große Anzahl Autos vorbeigefahren. Die Scheune lag an der Fernstraße Riksväg 76, zwischen Forsmark und Lövstabruk, und damit für einen Trödelmarkt strategisch günstig. Neben den Touristen, die wegen der umliegenden Eisenhütten und der Wanderwege kamen, würde die Straße auch bald verstärkt von Urlaubern genutzt werden. Solange es bloß Familien mit Kindern auf der Suche nach Eiscreme waren, schön und gut, aber …

Wie zur Bestätigung seiner Befürchtungen hielt ein Auto auf Höhe der Scheune am Straßenrand. Gott sei Dank schien es vollbepackt mit Koffern und Leuten. Eine Frau stieg aus, öffnete die hinteren Türen und beugte sich in den Wagen. Sten merkte, wie er den Atem anhielt. Nach einer Ewigkeit richtete die Frau sich auf, schloss die Tür und stieg wieder auf der Beifahrerseite ein. Das Auto fuhr weiter.

Die potenzielle Bedrohung hatte sich zwar entfernt, Sten schritt aber dennoch zur Tat. Es wurde Zeit.

Wie die Physiotherapeutin ihm gezeigt hatte, drehte er sich und stellte beide Füße außerhalb des Autos auf den Boden, achtete darauf, dass sich die Knie in der richtigen Position befanden, und griff nach dem Handgriff an der Decke. Er schaukelte sacht, und auf drei stemmte er sich hoch.

»Hau … ruck«, murmelte er und stand einen Moment still, damit die Gelenke einrasteten. Warum er sich kein höheres Auto so wie seine bedauernswerten Kameraden aus dem Jagdverein kaufte, die voller Altersangst ihre Jeeps und SUVs verglichen? Weil man ist, was man fährt. Und er war sein Jaguar. Den würde er behalten, bis sie ihn mit einem Kran herausholen mussten. Oder bis Gunnar ernsthaft Einwände erhob, schließlich war er es, der den Wagen pflegte.

Sten ging bedächtig über den Hof, streckte sich und füllte die Lunge mit Luft. Er versuchte Mut zu schöpfen. Vorne am Straßenrand standen ein rostiger Volvo 240 und die Überreste einer alten Mangel, beide wurden vom trockenen Gras des Vorjahres überwuchert. Schwere Traktoren hatten tiefe Fahrspuren gegraben, die dann getrocknet waren, er musste vorsichtig gehen. Als er fast da war, hörte er laute, junge Stimmen, die von Türenknallen begleitet wurden. Er blieb stehen.

»Du kommst mit!«

»Vergiss es! Ich helfe Pa mit …«

»Mit was? Willst du ihm die Flasche halten? Oder was zum Teufel er sonst da drin macht. Er hat keinen Bock, dass du ihm dauernd an der Backe klebst, kapierst du das nicht? Du kommst jetzt mit ausmisten, sonst knall ich dir eine.«

»Na und, du blöder Idiot, dann knall ich dir eine zurück.«

Die Stimme des jungen Mannes wurde finster.

»Wenn du jetzt nicht kommst, darfst du heute Abend nicht mit mir und Tobbe zum See.«

Auf ein kurzes Schweigen folgte eine empörte Antwort.

»Du bist so was von gemein! Dann geh ich halt die Scheiße wegschippen. Aber dafür lässt du mich nachher im Auto das Lenkrad halten. Versprich es, sonst …«

Die Stimmen und das Gezänk entfernten sich. Sten wagte sich weiter. Bei der Scheune angelangt, nahm er seinen Mut zusammen und öffnete die Tür.

Die Kuhglocken läuteten, und zu seiner Erleichterung war der Bauer hinter dem provisorischen Verkaufstresen, der aus einem Tisch und einigen Schubladen bestand, allein in der Scheune. Er stellte rasch etwas unter den Tisch und nickte wiedererkennend.

Sten trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

»Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt. Sten Hammar.«

Der Mann zögerte, ehe er die Hand ergriff.

»Hammar? Von Hammarnäs? Ah.« Er nickte. »Feine Kundschaft. Da ist klar, dass Sie Platz haben für so was.«

Sten schien es ratsam, direkt zur Sache zu kommen:

»Na jaa«, sagte er gedehnt. »›So was‹ trifft es nicht ganz. Nur für … frische Ware.«

Er musterte den Bauern und fragte sich, ob die Botschaft angekommen war.

»Frische Ware?«

»Genau. Ihnen ist sicher aufgefallen, dass ich nur eine bestimmte Sorte Ware kaufe. Nicht so was hier«, er schwenkte die Hand durch den Raum. »Und Sie haben sicher auch gemerkt, dass ich gut zahle, direkt und ohne zu feilschen. Ohne Sperenzchen.«

»Ja, das weiß ich natürlich zu …«

Sten unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten, nämlich dass wir eine … nennen wir es Abmachung treffen, und Sie Ihre Objekte ausschließlich mir zeigen. Wenn niemand vor mir die ›frische Ware‹ zu Gesicht bekommt, garantiere ich Ihnen, dass ich mehr als großzügig zahlen werde.«

Der Mann hatte zweifellos begriffen, was er meinte, wand sich jedoch.

»Ich weiß nicht, ich …«

»Und«, ergänzte Sten Hammar und durchbohrte den Bauern mit seinem Blick, »ich werde niemals nach der Herkunft der Gegenstände fragen.«

Beim letzten Satz verfinsterte sich die Miene des Mannes. Sein Ausdruck wechselte von Verwunderung zu Wut. Und dann Resignation. Einer äußerst offenkundigen Resignation. Er warf einen Blick zur Tür und schüttelte den Kopf, als seufzte er über die Kinder, die eben draußen gestritten hatten. Er nagte an der Innenseite seiner Wange und wandte sich dann wieder seinem Kunden zu. Sein Blick war auf einmal fokussiert und scharf.

»Schön. Sollte machbar sein. Unter einer Bedingung …«

Er schien zu zögern, und Sten hatte nicht vor, es ihm aus der Nase zu ziehen. Der Mann holte Luft und setzte an, stockte und atmete wieder aus. Sten wartete. Schließlich brachte der Bauer sein Anliegen heraus, hastig, in einem Schwung.

»Dass Sie meine Tochter in die Lehre nehmen.«

Das kam unerwartet. Gänzlich unvorhergesehen. Das Mädchen in die Lehre nehmen? Doch, Sten hatte recht gehört, kein Zweifel. Der Mann hatte lauter und deutlicher gesprochen als sonst. Als habe er sich entschieden. Das war die Bedingung, sonst wurde nichts aus dem Geschäft.

Sten lachte auf, fasste sich jedoch umgehend.

»Und was soll ich ihr beibringen?«

»Das hier!« Der Bauer beschrieb einen Kreis mit dem Arm. »Sie verstehen ja anscheinend was von Kunst und so Kram hier, und jetzt sagen Sie, Sie wohnen auf Hammarnäs, da dachte ich, so ein Ort als Lehrplatz …«

Er verstummte mit einem Mal, und seine Augen schimmerten. Lieber Himmel, dachte Sten, der wird doch wohl nicht zu flennen anfangen, manche Leute wurden ja rührselig, wenn sie getrunken hatten. Stattdessen jedoch seufzte der Mann tief, faltete die Hände im Schoß und begann zu erzählen. Die Worte strömten aus ihm heraus, als wäre ein Damm gebrochen, und Sten stand einfach nur daneben.

»Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll. Die hört nicht auf zu fragen, das haben Sie bestimmt auch schon gemerkt. Und dabei weiß sie über die Sachen hier drin schon viel mehr als ich! Alles, was sie aufschnappt, merkt sie sich, das sieht man auch in der Schule, aber ich reiche nicht. Und sie hat keine Freunde, mit denen sie es teilen kann und …«

»Was teilen?«, unterbrach ihn Sten, der nicht wusste, wie er auf den Gefühlsausbruch seines Gegenübers reagieren sollte.

»Das hier!« Der Bauer wies mit der Hand um sich herum. »So Sachen! Geschichte. Kunst. Kultur, was auch immer. Hier auf dem Land findet man nur Freunde, wenn man sich für Sport, Kirche, Tanzen oder Jagen interessiert. Mit so ausgefallenen Interessen macht man sich nicht beliebt. Das finden die anderen komisch. Ihr scheint es nicht mal was auszumachen. Man könnte denken, die Sachen hier drin wären ihre Freunde. Anfangs wollte sie vor allem deshalb von dem Zeug umgeben sein, weil es ihrer Mutter gehört hat, und nach der hat sie andauernd gefragt. Aber mit der Zeit ist sie richtig besessen geworden von den ganzen alten Gegenständen. Und was man alles darüber lernen kann.«

»Aber Sie als Besitzer …«

»Ich kenne mich aus mit Schiffen, sonst nichts! Gut, an Motoren rumbasteln, das habe ich meinen Sprösslingen vielleicht beigebracht. Aber der Hof, der ganze Plunder und die verdammten Tiere, das war das Erbe von der Alten, nicht meins!«, sagte er laut, als habe man ihm etwas vorgeworfen.

»Aber warum haben Sie dann alles behalten?«

»Das meiste war schon hier auf dem Hof, hat meiner Frau gehört. Dann manche Sachen, die … haben andere dagelassen, Freunde, ehemalige Kollegen, und ich hab gemerkt, dass die was einbringen. Nicht viel, paar Kröten halt, aber vor allem Ruhe. Ich find’s schön, hier so friedlich zu sitzen. Aber das Mädel, sie …«

Jetzt bekam der Mann eindeutig feuchte Augen, und Sten wurde die Situation ernsthaft unangenehm, trotzdem hörte er weiter zu.

»Sie soll nicht so enden wie ich. Wie wir. Ich weiß nicht viel, hab mich immer schwergetan mit dem Lernen, aber dass die Majja anders ist wie als andere, das weiß ich. Sie ist sozusagen unersättlich. Alles, was sie sieht oder hört oder liest, bleibt hängen, aber sie will immer noch mehr. Und wenn sie das nicht kriegt, ich glaube, die würde verrückt werden! Oder jedenfalls unglücklich. Und Unglück, Unglück haben wir genug gehabt hier auf dem Hof. Majja erinnert sich nicht an ihre Mutter, aber ich tu’s, bei Gott.« Seine Unterlippe zitterte, und er verstummte einen Moment, um sich zu fassen. »Was ich sagen will, die Alte ist bestimmt nicht zufrieden, falls sie uns von da oben so sieht. Aber ich krieg es nicht auf die Reihe, ich komm nicht hinterher, ein ganzer Hof, das ist zu viel. Peter, der packt das, der ist wie dafür geschaffen, einen Hof zu führen. Das hat er von seiner Mutter. Aber Majja, die …«

Während der Mann sprach, hatte Sten sich in seinen eigenen Gedanken verloren. Er empfand durchaus Mitleid mit dem Bauern, verstorbene Frau und all das, doch während seiner Besuche hatte er gemerkt, dass sich der Vater auf dem Hof nicht gerade zu Tode schuftete. Auch für die Kinder tat es Sten leid, womöglich schlug ihr Vater sie gar, wenn es an den Saufabenden hitzig zuging, so was kam schließlich vor. Wobei das Mädchen aussah, als könnte es sich wehren. Doch tief in Sten Hammar wurde eine andere Saite angeschlagen, als die Frage, eine Schülerin anzunehmen, Wurzeln schlug. Ein Lehrmädchen. Jemand, den er unterweisen konnte. Den er beeindrucken konnte. Auf diese Weise wären all seine Objekte und all das von ihm gesammelte Wissen vielleicht zu etwas nütze. Und dann war da natürlich das Mädchen selbst. Majja. Mit zwei J. Sie war unbestreitbar besonders. Die Frage war bloß: Ließ sie sich zähmen, oder war ihre Raubtiernatur zu stark? Ein Trollkind als Schülerin. Der Gedanke war gleichermaßen erschreckend wie verlockend.

Sie besiegelten ihre Vereinbarung per Handschlag, kleine schmutzige Gläser wurden hervorgeholt und ein unbekanntes Getränk eingeschenkt, und Sten Hammar war sich immer noch nicht richtig sicher, worauf er sich da eingelassen hatte. Er war gelinde gesagt überrumpelt.

Doch als das scheußliche Gebräu seine Kehle hinunterrann, überkam ihn ein Gefühl, das ihn an den Moment im Wald erinnerte, als er am Baum stand und zum Rauschen der Blätter, dem Plätschern des Baches und dem Vogelgezwitscher seine Blase entleert hatte.

2

2018

Vasastan, Stockholm

Wir sind hier ja nicht beim Nachrichtendienst.

Der Satz hallte in Karin Klingas Ohren wider, während sie die Torsgatan entlangging. Seit dem Jahresgespräch am Morgen lief er in ihrem Kopf auf Repeat. Wir sind hier ja nicht beim Nachrichtendienst.

Sie hatte den Blick auf die Norra Tornen gerichtet, die beiden Wohntürme im Stockholmer Stadtteil Vasastan. In diesem Moment übten sie eine Anziehungskraft auf sie aus wie Kirchtürme für einen Gläubigen in Not. Nach Hause. Sie wollte nur noch nach Hause. Dort oben, hoch über der Stadt, konnte sie entspannen. Die intensive Julihitze zwang sie jedoch zu einem gemäßigten Tempo. Das dunkle Kostüm war angesichts der Temperatur nicht die richtige Wahl gewesen, und so hielt sie sich möglichst im Schatten.

Als sie an einer Hundewiese mit kläffenden Vierbeinern vorbeikam, verspürte sie den Drang, ebenfalls zu bellen. Sich gegen etwas zu verteidigen. Sie konnte nicht gut mit Kritik umgehen, das war ihr bewusst, aber im Grunde war das auch nie nötig gewesen. Dass ein Vorgesetzter – so wie heute – etwas anzumerken hatte, kam äußerst selten vor.

Im Grunde mussten die Worte nicht notwendigerweise negativ aufgefasst werden. Da sie aber aus Kugel-Bengts Mund stammten, wusste sie, dass sie durchaus als Kritik gemeint waren. Und dass er recht hatte. Trotzdem war es absurd, wie dieser Mann sie, eine zweiundfünfzigjährige, erfahrene Polizistin, noch immer dazu brachte, dass sie sich wie eine Bestätigung heischende Anwärterin fühlte. Formal war der Erste Kriminalhauptkommissar ihr Chef, doch seit sie die Karriereleiter bis zur Kriminaloberkommissarin hinaufgeklettert war und über zunehmend Erfahrung verfügte, waren sie nahezu gleichgestellt. Hatte er frei, vertrat sie ihn, suchte er Rat, wandte er sich an sie. Und trotz ihrer Unterschiede gab es niemanden, mit dem sie besser zusammenarbeitete. Und keinen Kollegen, den sie mehr respektierte.

Einleitend hatte er sich dafür entschuldigt, dass sich erst jetzt, kurz vor dem Urlaub, Zeit für das Gespräch fand, und dabei den Mund verzogen, weil sie der Ordnung halber mal wieder so förmlich tun mussten. Dann hatte er die Lesebrille vom Kopf genommen und die Unterlagen durchgesehen. Bengt Kuhla war der Inbegriff eines Hauptkommissars: ein Arbeitstier, geschieden, intelligent, schlechte Essens- und Schlafgewohnheiten. Harte Schale, weicher Kern. Den Spitznamen Kugel-Bengt hatte er nicht nur aufgrund der Ähnlichkeit seines Nachnamens mit dem Wort kula – »Kugel« verpasst bekommen, er spiegelte auch sein Können im Umgang mit Schusswaffen wider. Neue Mitarbeiter dachten allerdings meist, der Name spiele auf seinen Kugelbauch an. Die Hände über selbigem gefaltet hatte er zu Beginn des Jahresgesprächs wie üblich Karins positive Eigenschaften hervorgehoben – ihr Organisationstalent, ihre Sorgfalt, ihre Disziplin und ihren Blick für Details. Sie sei wie geschaffen für den Beruf. Schmeichelhaft natürlich, allerdings hörte Karin Klinga das jedes Mal.

Doch dann hatte Kugel-Bengt die Lesebrille abgenommen und auf den Schreibtisch geworfen, sich auf dem Stuhl zurückgelehnt und die Augen geschlossen, während er tief Luft holte.

»Mensch, Karin«, seufzte er. »Wir werden langsam alt. Bei dir dauert es vielleicht noch ein bisschen länger bis zur Pensionierung als bei mir, aber die Zeit steht nicht still, und ehe du dich versiehst, sind unsere Tage unter Gangstern, Gaunern und Ganoven vorbei.« Er beugte sich vor und schien die Worte genüsslich in die Länge zu ziehen. »Wenn du deine Grenzen ausloten, deinen Horizont erweitern willst, dann ist jetzt der Moment.«

»Meinen Horizont erweitern?«

»Ja! Soll heißen, das Feld Entwicklungspotenzial in diesem Formular musst du ausfüllen, nicht ich.« Er wedelte mit den Papieren. »Du musst selbst herausfinden, was in dir steckt. Und dazu musst du lockerer werden. Entspann dich mal … Gieß dir einen hinter die Binde und dann lass es krachen, Herrgott.«

»Äh, okay …«

Er sah sie an.

»Du musst deine ausgetretenen Pfade verlassen, das meine ich. Sei nicht ständig so schrecklich fleißig. Wir sind hier ja nicht beim Nachrichtendienst.«

Wahrscheinlich war ihr das Blut aus dem Gesicht gewichen, denn sein Ton wurde sanfter.

»Versteh mich nicht falsch, Karin. Wir zwei arbeiten schon lange genug zusammen, du weißt, ich meine es nur gut. Du bist meine kompetenteste Kollegin, gar keine Frage, aber es täte dir sehr gut, wenn du etwas lockerer wärst, den Schutzpanzer ablegst und dich öffnest – vor allem den Kollegen gegenüber.«

Das war nichts wirklich Neues. Sie war vielleicht ein bisschen steif und korrekt, ja, insbesondere im Vergleich mit ihren männlichen Kollegen, doch das war eine notwendige Fassade, eben weil sie eine Frau war.

Trotzdem hatte der Kommentar sie zum Grübeln gebracht. Womöglich hatten sich die Regeln geändert, ohne dass es ihr aufgefallen war. Was früher gezählt hatte, als sie jung und unerfahren war – ihre weiche, warme, weibliche Seite verbergen, um überhaupt ernst genommen zu werden –, musste heutzutage nicht zwingend gelten. Sie hatte sich schließlich ebenso verändert wie die Gesellschaft, oder nicht? Vielleicht konnte sie sich inzwischen wirklich erlauben, »den Schutzpanzer abzulegen«, wie Kugel-Bengt es nannte.

Er wusste genau, wie sie tickte. Sobald die Kritik überbracht und gesackt war, dürstete sie danach, Buße zu tun. Deshalb hatte Kugel-Bengts nächster Schachzug genau den gewünschten Effekt. Seine Fähigkeit, dass seine Verhöropfer sich in Widersprüche verstrickten, sich verplapperten, gestanden und zusammenarbeiteten, setzte er offenbar auch in einem Jahresgespräch ein. Erst ließ er die Bombe platzen, um sein Gegenüber mürbe zu machen, dann präsentierte er seinen Vorschlag. Und statt den Vorschlag, so wie sie es normalerweise tat, ein, zwei Tage zu überdenken, hatte sie das Angebot kurzerhand angenommen. Binnen Minuten waren die Unterlagen ausgefüllt und abgeschickt. Benommen dachte sie danach, dass es sich in etwa so auf der anderen Seite des Vernehmungstisches anfühlen musste.

Ein Austauschprogramm. Mit der Gemeinde Östhammar. Natürlich hatte sie die Anschläge am schwarzen Brett und in den Aufzügen gesehen. Und sie hatte von den positiven Erfahrungen der Kollegen mit ähnlichen Programmen gehört, doch sie hatte dergleichen nie in Betracht gezogen. Ihr Zuhause war bei der Stockholmer Citypolizei.

Während Karin Klinga allerdings von der Kungsholmsgatan heimspazierte, war ihr klar geworden, dass nicht allein die Art ihres Chefs und sein Feedback zu dem schnellen Entschluss geführt hatten. Er reihte sich zu allen anderen wichtigen Entscheidungen, die sie seit der Scheidung im vergangenen Jahr getroffen hatte. Das Gefühl, ein neues Kapitel aufgeschlagen zu haben, war noch immer sehr präsent. Jetzt war sie die Protagonistin, jetzt war sie am Zug. Nora und Filip fragten nicht länger nach ihr. Sie waren voll und ganz mit ihrem Studentenleben beschäftigt. Karin wusste, dass die Kinder sich im Bedarfsfall melden würden, dann würde sie wieder in ihre Rolle als Mutter schlüpfen, doch bis dahin konnte sie sich ganz auf sich konzentrieren.

Wenn sie so darüber nachdachte, wurde ein Großteil ihres derzeitigen Handelns deutlich von dem geprägt, was ihr wichtig war. Die neue Wohnung in dem neu erbauten Turm, die sich im perfekten Abstand zum Polizeirevier befand, wodurch sie endlich ihren geliebten Job priorisieren konnte und dennoch einen ausreichend langen Spazierweg für einen Moment der Muße vor und nach der Arbeit hatte. Keine unnötige Pendelei mehr aus der Vorstadt. Die Nähe zu den Laufstrecken im Hagaparken und den vielen Take-aways in Vasastan passten gut zu ihren Passionen – Gesundheit, Sport, Mindfulness und gesunde Ernährung.

Trotz wahrscheinlich erhöhter Feinstaubbelastung empfand sie ihr neues Leben in der Stadt als durchweg gesund. Abgesehen von ihrem Knie und den durch die Wechseljahre bedingten Hitzewallungen fühlte sie sich wie verjüngt. Karin Klinga dankte dem Himmel, dass sie den Schritt letztlich getan hatte. Sonst säße sie jetzt immer noch in ihrem Einfamilienhaus in Täby und wäre von Wänden umgeben, die mit Enttäuschungen, falschen Prioritäten und angestautem Ärger tapeziert waren. Ihr schauderte trotz der Hitze. Magnus lebte nach wie vor in dem Haus, als hege er die Hoffnung, eines Morgens wundersamerweise wieder neben ihr aufzuwachen. Beim Gedanken an ihn spürte sie eine Spur von Mitleid. Zwar liebte sie ihn nicht mehr und war seines Anblicks mehr als überdrüssig, trotzdem wünschte sie, er würde sich bald wieder fangen.

Ein Jogger in Neonfarben überquerte die Straße, und Karin kam sich wie eine Schnecke vor. Sie sehnte sich nach ihren Joggingschuhen, um durch den Hagaparken zu laufen, dabei konnte sie am besten nachdenken. Und die übereilte Zusage für Östhammar musste sie auch noch verdauen. Früher war das Joggen ihr Weg gewesen, vor der Familie zu fliehen, Zeit für sich allein zu haben oder während des Stretchens noch schnell ein Arbeitstelefonat zu führen. Ihre Gewissensbisse danach waren so sicher wie das Amen in der Kirche. Ständig quälende Schuldgefühle, weil sie die Laufschuhe ihrer Familie vorzog und sich lieber dem Job widmete, auch wenn nichts Dringendes anlag, die Arbeit aber einfach so verdammt erfüllend war. Sie begriff nicht, wie sie das so lange ausgehalten hatte.

Ein nur zu gut bekanntes Stechen im Knie riss sie aus ihren Gedanken. Der Schmerz war nicht stark, dennoch fluchte sie. Na schön, vielleicht war es besser, mit dem Laufen noch eine Weile zu warten. Dass man sich beim simplen Übersteigen eines Baumstumpfs so verletzen konnte – willkommen im Leben der Fünfzig-plus-Jährigen. Sie durfte nicht vergessen, heute Abend die Physioübungen zu machen. Vielleicht auch ein bisschen Yoga oder Meditation.

Sie wich einem Metallstuhl aus, der schrappend vor ihr unter einem Bistrotisch hervorgezogen wurde. Die Straßencafés füllten sich. In den letzten beiden Wochen waren sämtliche Hitzerekorde gebrochen worden, und erst jetzt, gegen Spätnachmittag, konnte man es draußen aushalten. Vielleicht sollte sie sich mit einer Freundin auf ein Glas Wein in der Abendsonne treffen. Doch die meisten hatten Urlaub und waren verreist, daher kaufte Karin sich zwölf Stück Sushi mit Edamame. Das hatte sie sich verdient, nachdem sie jahrelang am Herd gestanden hatte. Außerdem wollte sie nach Hause. In ihren Turm.

Als Karin die Wohnung betrat, war sie wieder einmal überrascht, wie neu sie immer noch duftete. Auf dem Flurläufer unter dem Briefschlitz lag ein weiterer Flyer, der zum Protest gegen die Norra Tornen aufrief. Sie fragte sich, wann der Gegenseite wohl der Atem ausging, und knüllte den Zettel zusammen. Der Bau der Doppeltürme war aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten, Verzögerungen und Eigentümerwechsel gelinde gesagt turbulent gewesen. Zudem hatten Wasserrohrbrüche und fehlende Bauaufzüge, vor allem aber das Äußere der Norra Tornen heftige Kritik ausgelöst. Wie üblich galt die Regel: Je hässlicher die Allgemeinheit ein Gebäude fand, desto mehr Architekturpreise gewann es. Und wie üblich verstand Karin nichts davon. Vielleicht waren die beiden Hochhäuser tatsächlich »schubladenförmige Betonklötze«, aber das war ihr egal. Die Wohnung war neu und gehörte ihr ganz allein.

Von ihrem Umfeld war der Kauf mit Verwunderung aufgenommen worden. Auch wenn es sich bei ihrer Einheit nicht um das zweihundert Quadratmeter große Penthouse für fünfundfünfzig Millionen Kronen handelte, galt ihre Entscheidung dennoch als extravagant. Immerhin verfügte dieser Wolkenkratzer über Kino, Spa-Bereich und Festsaal. Und natürlich hatte sich der Kauf im Portemonnaie bemerkbar gemacht, doch da sie sich weder ein Wochenendhaus noch teure Hobbys leistete, konnte sie alles in ihr neues Zuhause investieren. Außerdem war die Zweizimmerwohnung nicht übermäßig groß. Mit fünfundsechzig Quadratmetern gehörte die in der zwölften Etage gelegene Einheit zu den kleineren im dreißigstöckigen, Helix genannten linken Turm. Dass für Nora und Filip kein Zimmer vorgesehen war, erstaunte ebenfalls alle – außer die Kinder selbst. Als Karin ihnen das Schlafsofa zeigte, das sie für sie gekauft hatte, kommentierten sie es bloß achselzuckend mit einem »Nice«. Damit war das geklärt. Offenbar war der Zugang zu Spa-Bereich, Kino- und Festsaal für zwei Studenten verlockender als ein Schlafzimmer bei Mutti. Und das Sahnehäubchen war natürlich die Aussicht. »Krass, Mama, komplett surreal«, sagten die beiden jedes Mal, wenn sie zu Besuch kamen und am Fenster standen. Unter ihnen erstreckte sich die ganze Stadt, was für Leute mit Höhenangst allerdings nichts war. Wie Pilze ragten der DN-Wolkenkratzer, die Globen-Arena, das Rathaus und der Kaknästurm auf und formten die Stockholmer Skyline. Unweit der Norra Tornen breitete sich die medizinische Universität Karolinska-Institutet aus, auf deren riesigem Gelände auch das Karin so wohlvertraute Gebäude der Rechtsmedizin lag.

Dass die Wohnung nur ein Drittel der Fläche bot, auf der sie früher gelebt hatte, machte nichts. Vor allem nicht, nachdem sie radikal ausgemistet und sich sämtlicher Habe entledigt hatte, die sie auch nur irgendwie entbehren konnte.

Ihre Wohnung war als Musterwohnung genutzt worden, und die Maklerin hatte Karin erstaunt angesehen, als die fragte, was die Wohnung mitsamt Möbeln kostete. Bett, Esstisch und vier Stühle konnte sie übernehmen, außerdem zwei größere Bilder mit einem neutralen japanischen Motiv. Darüber hinaus verzichtete sie weitgehend auf Deko, außer einigen wenigen Gegenständen, die ihr wirklich etwas bedeuteten: Fotos von den Kindern, eine Schale, die Nora im Kindergarten gemacht hatte, und die Lieblingswolldecke ihrer Großmutter. Keine Bücher. Keine Blumen. Kein Nippes. Stattdessen hatte sie sich sündhaft teure Bettwäsche aus ägyptischer Baumwolle, edle Duftkerzen und einen seidenen Morgenmantel gegönnt. Und exklusive Unterwäsche. Rein für ihr persönliches Wohlbefinden, nicht, um irgendwem darin zu gefallen. Im Moment jedenfalls.

Oder für immer? Würde sie je ein Mann in dieser Unterwäsche sehen? Oder nackt? Wollte sie überhaupt, dass irgendwer anders als Frank Sinatras Stimme sie liebkoste? Und vor allem, war sie attraktiv genug? Fühlte sie sich attraktiv? Zweiundfünfzig Jahre. Blutjung war sie nicht mehr, aber auch noch keine alte Schachtel. Oder waren die Wechseljahre gleichbedeutend mit alter Schachtel? Egal, dachte sie schließlich. Hier im Turm spielten solche Dinge keine Rolle, hier war sie alterslos.

Wie immer blieb Karin einen Moment im Flur stehen und nahm die Atmosphäre, die Stille und den Duft des Unberührten in sich auf. Absolute Reinheit. Sämtlicher eventuell in der Wohnung zu findender Schmutz stammte ausschließlich von ihr. Karin konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als in einem Haus wie dem der Familie Ekdahl in Ingmar Bergmans Fanny und Alexander zu wohnen, vollgestopft mit alten Staubfängern, die nie jemand saubermachte, und übersät mit Generationen fettiger Fingerabdrücke.

Außer einer leichten Klaustrophobie war ihre größte Schwäche der starke Ekel vor anderer Leute Schmutz und Dreck. Bei der Arbeit kam sie um die Begegnung mit Körperflüssigkeiten, Betrunkenen und tagealten Leichen nicht herum, daher hatte sie wohl oder übel gelernt, sich ihre tiefe Abscheu nicht anmerken zu lassen. Bisher war es ihr gut gelungen; keiner von ihren Kollegen wusste davon, nicht einmal Kugel-Bengt. Umso stärker war allerdings ihr Bedürfnis, am Ende eines Arbeitstags in ein nahezu steriles Zuhause zu kommen und die Rolle der untadeligen Kommissarin abzulegen.

Nachdem sie sich ihres Kostüms entledigt hatte, zog sie den Haargummi raus und ließ ihre blonden Haare über die Schultern fallen. Ihre Kopfhaut juckte ein bisschen. Sie schlüpfte in ihren seidenen Morgenmantel, der sich herrlich kühl um ihre Haut schmiegte, und begab sich mit ehrfurchtsvollen Schritten in ihren Tempel – das Badezimmer. Der Vergleich mit einem Heiligtum war vielleicht ein wenig übertrieben, doch die Wände aus hellem Naturstein und die Badewanne, die wie ein Altar in der Mitte des Raums vor dem Panoramafenster stand, verliehen ihm tatsächlich eine sakrale Atmosphäre. Dieses makellose Badezimmer hatte höchstwahrscheinlich den Ausschlag für ihre Kaufentscheidung gegeben. Ein Ort der Erholung und des Wohlbefindens und das komplette Gegenteil von der praktischen Duschkabine in Täby, auf der Magnus bestanden hatte und die stets hinter einem Vorhang aus zum Trocknen aufgehängten Sportklamotten verborgen blieb.

Als die Wanne vollgelaufen war, zündete Karin die Duftkerzen an und ließ Frankie durch die Lautsprecher strömen. Sie sank in den Schaum und streckte einen Fuß aus dem Wasser. Es würde ihr nie in den Sinn kommen, mit lackierten Fingernägeln oder auch nur farbenfroher Kleidung am Arbeitsplatz aufzutauchen, daher lachte sie beim Anblick ihrer dunkelrosa lackierten Fußzehen auf. Wenn ihre Kollegen, die sie für eine Langweilerin hielten, sie jetzt sehen könnten! Sie in einem Badezimmer, das eines Filmstars würdig war, mit Duftkerzen, Nagellack und verstreut auf dem Boden liegender Spitzenunterwäsche.

Als Karins Gedanken zu dem morgendlichen Gespräch zurückkehrten, erlosch ihr Lächeln allerdings. Sie seufzte und richtete sich auf. Wem versuchte sie hier eigentlich etwas vorzumachen? Sie würde sich nicht entspannen, ehe sie sich damit auseinandergesetzt hatte, was heute geschehen war. Sie überlegte, ob sie Magnus und die Kinder anrufen und ihnen davon erzählen sollte, aber das war unnötig, schließlich hatte ihr temporärer Arbeitsplatzwechsel keinerlei Auswirkung auf sie. Jetzt nicht mehr. Allerdings konnte sie die Sache auch nicht mit ihnen durchsprechen. Und mit ihren Freundinnen genauso wenig. Beziehungsfragen ließen sich hervorragend mit ihnen auseinanderklamüsern, aber von der Polizeiarbeit hatten sie keine Ahnung.

Sie nahm ihr Handy und wählte einen Kontakt. Nach dem zweiten Klingeln wurde abgehoben.

»Null-acht-sieben-sechs-fünf-drei-zwei-neun-sechs, mit wem spreche ich?«

»Hallo, Mama. Ich bin’s. Wie geht’s dir?«

»Ohhh! Prächtig. Heute ist so ein wundervoller Tag, nicht wahr, mein Liebes? Hast du auch einen schönen Tag?«

»Heute war schönes Wetter, Mama. Stimmt. Und inzwischen ist es Abend.«

»Natürlich, jetzt sehe ich es. Heute gibt es bestimmt eine sternenklare Nacht. Und ein laues Lüftchen. Herrlich, wenn ein laues Lüftchen weht, nicht? Wie geht es dir, mein Liebes? Und auf der Arbeit? Wie immer alles gut?«

»Also, ich habe heute eine neue Stelle angenommen. Nur vorübergehend, aber … in Östhammar.«

»Ohhh! Auf dem Land, im Herzen von Roslagen. Da wird es dir gefallen. Frische Luft, Sonne, das Meer. Und so schöner Wacholder.«

»Wacholder? Du, ist Papa da?«

»Ja, na klar, er ist gerade aus der Dusche gekommen. Das war bestimmt schön für ihn. Er riecht so gut, wenn er frisch geduscht und frisch rasiert ist und …«

»Meinst du, er mag kurz ans Telefon kommen?«

»Aber ja! Da kommt er schon. Und vergiss nicht, vom Roslagener Gold zu essen, Sanddorn ist so vitaminreich, du glaubst gar nicht, wie gesund der ist!«

Einen Moment später erklang ein leichtes Räuspern:

»Warte kurz, Karin, ich mache eben die Tür zu.«

Seine ruhige Stimme stand in starkem Kontrast zu der ihrer Mutter, und Karin spürte, wie ihre Schultern nach unten sanken.

»So. Jetzt kann ich sprechen.«

»Wie geht es ihr, Papa?«

»Ach, mal so, mal so. Heute ist ein guter Tag.«

»Aber kommst du klar mit allem?«

»Jaja, mach dir keinen Kopf. Wir bekommen alle nötige Hilfe. Und an das Geschnatter habe ich mich gewöhnt. Immerhin bringt sie einen dazu, das Leben positiv zu betrachten«, sagte er mit einem Lachen.

Normalerweise hätte Karin mitgelacht, doch gerade war ihr nicht danach, was ihrem Vater natürlich nicht entging.

»Wie geht’s dir, mein Schatz?«

Mehr war nicht nötig. Wenn sie sich mit ihm unterhielt, konnte sie ihren Gedanken stets freien Lauf lassen. Sie konnte über die Arbeit und ihre Kollegen sprechen und sogar Überlegungen anstellen, welchen Weg sie in einer Ermittlung am besten einschlagen sollte. Ohne dass sie dabei Scham oder Leistungsdruck empfand. Meistens äußerte er sich kaum. Ein Brummen oder ein erstauntes »Ach so?« reichten in der Regel, um ihre Gedanken in neue Bahnen zu lenken. Es ähnelte ein bisschen der Paartherapie, die sie während der Scheidung mit Magnus gemacht hatte, allerdings mit dem großen Unterschied, dass dabei weder Schuldgefühle noch Unbehagen aufkamen. Und ihr Vater wusste als pensionierter Kriminaltechniker bestens über den Polizeiberuf Bescheid.

An Kugel-Bengt konnte sie sich bei Bedarf natürlich auch immer wenden. Er war genauso intelligent wie ihr Vater und gab ebenfalls kluge Ratschläge, doch er war immer noch ihr Chef. Und so ganz und gar anders als ihr ruhiger, sorgfältig rasierter und weiser Vater. Kugel-Bengt steuerte Gedanken und Ideen bei, doch ihr Vater besaß die Fähigkeit, sie selbst darauf kommen zu lassen. Vielleicht lag es daran, dass er keinerlei Ansprüche an sie stellte. Er hatte nie etwas von ihr gefordert, doch seine Haltung, dass es wichtig war, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen, hatte sie sich zu eigen gemacht. Ihre Familie war weder religiös noch philosophisch veranlagt, für alle drei aber war es selbstverständlich, dass man seinen Beitrag zur Gemeinschaft leistete.

Zu Beginn ihrer Laufbahn hatte Karin befürchtet, die Position ihres Vaters könne für sie hinderlich sein, da andere womöglich dachten, sie werde bevorzugt behandelt, doch diese Sorge erwies sich als unbegründet. Bestimmt half es, dass sie in unterschiedlichen Bereichen arbeiteten. Außerdem war es, wie sie rasch merkte, durchaus nicht ungewöhnlich, dass der Polizeiberuf weitervererbt wurde, obwohl die Kinder von Polizisten mit häufig abwesenden Eltern aufwuchsen.

Ihr Vater hatte nie darauf gedrängt, dass sie in seine Fußstapfen trat. Als sie ihm irgendwann ihre Entscheidung mitteilte, reagierte er weder verwundert noch begeistert, sondern nahm sie eher als selbstverständlich hin – schließlich war sie wie geschaffen für diesen Beruf. Einmal fragte sie ihren Vater, ob er immer schon gewusst habe, dass sie Kriminalpolizistin werden würde. Da hatte er den Blick von der Zeitung gehoben und wortlos genickt. Er kannte seine Tochter gut.

Als Karin nun von dem Austauschprogramm erzählte, das sie vorher noch nie in Betracht gezogen hatte, meinte er bloß ruhig:

»Tja, warum sollte dich das auch interessieren?«

Sie seufzte.

»Weil Kugel-Bengt es vorgeschlagen hat.«

»Aha.«

»Er meinte … also, ich hatte mein Jahresgespräch. Und er meinte, es täte mir gut, meinen Horizont zu erweitern, lockerer zu werden und … es mal ›krachen zu lassen‹.«

Ihr Vater lachte auf.

»Das klingt nach Bengt. Und seine Ratschläge sind ja meistens gut. Aber deshalb befolgst du sie doch noch lange nicht immer, oder?«

Sie überlegte eine Weile, wusste, dass er warten und sie in Ruhe zu Ende denken lassen würde, ohne das Schweigen zu unterbrechen.

»Papa, bin ich steif?«, fragte sie schließlich.

Jetzt schwieg er eine Weile.

»Falls du steif bist, was glaubst du, woran liegt es?«

»Ich denke, weil ich Professionalität ausstrahlen will. Und Kompetenz.«

»Kompetenz«, sagte er. »Hm, Kompetenz. Also dass du was taugst.«

»Ja … dass ich was tauge.«

Im selben Moment wurde ihr bewusst, dass der Gedanke albern war. Warum sollte sie anderen beweisen, dass sie etwas taugte? Das hatte sie doch schon längst getan.

»Denkt Bengt, dass du durch die Zeit in Östhammar lockerer wirst?«

»Ja.«

»Glaubst du das auch?«

»Vielleicht. Entspannter bestimmt. Wilderei, Trunkenheit am Steuer und Viehdiebstahl, das dürfte so ungefähr das Dramatischste sein, womit ich es da oben zu tun bekomme. So gesehen, was kann schon groß passieren?«

 

Karin gähnte ausgiebig und schüttelte den Kopf, als sie auf die Autobahn auffuhr und beschleunigte. Sie wusste immer noch nicht recht, wie ihr geschah. Vor weniger als einer Stunde hatte sie noch nichts ahnend im Bett gelegen. Jetzt war sie unterwegs zu ihrem Austauschdienst und einem neuen Tatort. Wie um Himmels willen war es dazu gekommen?

Um drei Uhr sechzehn war sie durch einen Anruf von einem Lennart Hansson von der Polizeidirektion Norduppland geweckt worden. Es hatte einen Moment gebraucht, bis der Groschen fiel: das Austauschprogramm, der Mann am anderen Ende der Leitung war ihr neuer Chef. Seine Stimme klang freundlich und sanft, als er ihr erklärte, dass es einen Todesfall gegeben habe, vermutlich durch Fremdeinwirkung, weshalb er sich bereits früher als geplant mit ihr in Verbindung setze. Sie benötigten ihre Expertise und Erfahrung, und ob sie den Austausch jetzt gleich beginnen könne? Schlaftrunken hörte sie sich zustimmen, dann hatte sie aufgelegt und war blinzelnd in der Dunkelheit sitzen geblieben.

Ihre einzige Anweisung lautete, nach Gimo zu fahren, dort bei der Tankstelle zu parken und auf einen Kollegen namens Berggren zu warten, der sie mit zum Tatort nehmen würde.

Auf der Autobahn entspannte sie sich ein wenig. Es herrschte kein Verkehr, und nachdem sie eine Weile unterwegs war, genoss sie die Fahrt sogar. Die Klimaanlage, die sie aus Gewohnheit eingeschaltet hatte, stellte sie rasch wieder ab. Das war der Vorteil nächtlicher Autofahrten: die heiß ersehnte Kühle. Und um diese Jahreszeit war es trotz der frühen Stunde auch nicht stockfinster. Die Gegend wurde ländlicher, und Felder erstreckten sich zwischen den zunehmend weiter auseinanderliegenden Ortschaften.

Östhammar also. Ein mögliches Tötungsdelikt. Es gab Schöneres, als mitten in der Nacht aus dem Bett gerissen zu werden, um zu einem unbekannten Ort aufzubrechen. Doch ein neuer Auftrag beflügelte sie jedes Mal. Half ihr, ihre Gedanken zu fokussieren. Freudige Erwartung stieg in ihr auf.

 

Bis Gimo brauchte sie eine gute Stunde. Die Tankstelle war nicht schwer zu finden, vermutlich gab es nur eine im Ort. Karin parkte und stieg aus, um auf diesen Berggren zu warten. Sie musste sich dringend ein bisschen strecken.

Die Tankstelle war geschlossen und nicht beleuchtet. Kein Mensch zu sehen, daher machte sie eine ausholende Yogabewegung mit den Armen, dehnte den Brustkorb und sog die Nachtluft ein. Sie war kühl und duftete nach feuchtem Gras, frischem Asphalt und einem Hauch von Benzin. Karin fühlte sich relativ erholt, die wenigen Stunden Schlaf hatten ihr gereicht. Jobtechnisch war es ein klarer Vorteil, mit wenig Schlaf auszukommen; insbesondere unmittelbar nach einem Tötungsdelikt oder gar Mord war an mehr oft nicht zu denken.

Sie überlegte, um welche Art Tötung es sich wohl handeln mochte – war jemand mit dem Traktor überfahren worden oder durch einen Jagdunfall ums Leben gekommen? Oder infolge von häuslicher Gewalt? Sie betrachtete die asbestverseuchten Häuser um sich herum, und ihr rieselte es kalt über den Rücken bei der Vorstellung, hier in der Einöde festzusitzen, und das zusammen mit einem gewalttät…

»Howdy!«

Als sie sich umdrehte, stand ihr unerwartet nah ein Mann gegenüber. Wo kam der denn plötzlich her? Ein durchdringender Geruch nach Aftershave schlug ihr entgegen. Sie blinzelte. Goldkette, enges Polohemd und ein anzüglicher Blick, der ungeniert an ihr hinabwanderte. Unangenehmer Kerl, dachte sie und rief sich in Erinnerung, dass ihr Polizeiausweis und ihre Dienstwaffe nur einen Handgriff entfernt waren.

Dann entdeckte sie den ein Stück entfernt parkenden Streifenwagen. Der Mann streckte ihr einen behaarten Arm mit einer Uhr von der Größe eines Hockey-Pucks entgegen.

»Berggren. Ricky Berggren.«

Der Name passt, dachte sie.

»Sie dürfen mich Ricky nennen. Aber nur Sie«, sagte er und ließ die Zähne blitzen.

»Klinga. Karin Klinga. Sie dürfen mich Klinga nennen.«

Die Spitze schmälerte sein Lächeln nicht, und sie fragte sich, ob man sich hier auf dem Land bei der Polizei nicht mit Nachnamen ansprach, so wie sie es aus Stockholm gewohnt war.

»Karin ist schöner«, führte Berggren seine Charmeoffensive fort.

Sie wollte ihn gerade in die Schranken weisen, als er auf einmal lachte und mit dem Hintern wackelte.

»Denken Sie einfach an Ricky Martin, falls Sie meinen Namen vergessen. Aber ich lasse lieber im Bett die Hüften kreisen statt auf der Tanzfläche.«

Er trug das Holster mit der Dienstwaffe ganz offen auf besagter Hüfte. Ungeniert und ungeschützt.

Sie fixierte ihn kühl. »Sie werden mich Klinga nennen, sonst nichts«, erwiderte sie dann. »Und ich interessiere mich weder für die Tanzfläche noch fürs Bett, sondern werde mich einzig und allein auf die dringliche Aufklärung dieses Verbrechens konzentrieren. Verstanden?«

Sein Hüftkreisen ließ er augenblicklich sein.

»Okay, okay, verstanden«, sagte er und hielt die Hände hoch. »Wobei, dringlich weiß ich nicht. Ich war ja noch nicht da, aber ich nehme mal an, der Gute läuft uns nicht weg, mausetot wie der ist. Aber schön, dann mal auf zum Auto. Ladies first.«

Als Karin Klinga vor Ricky herging, brauchte sie sich nicht umzudrehen, um zu wissen, worauf sein Blick ruhte. Sein aufgeblasenes Ego legte nahe, dass er zu Schulzeiten vermutlich von Mädchen umschwärmt worden war und sich nun im fortgeschrittenen Alter hier auf dem Land mit der ein oder anderen Witwe begnügen musste. Als sie ins Auto stiegen, sah sie auf seine Hände am Lenkrad. Ehering, demnach war er verheiratet.

Ricky fuhr ebenso gelassen, wie er sich gerade bei ihrem Kennenlernen gegeben hatte. Warum hielt er sich an die Verkehrsregeln, wenn sie sich auf dem Weg durch eine schlafende Landschaft zu einem Tatort befanden?

Anfangs hatte sie in dem aftershavegetränkten Auto möglichst durch den Mund geatmet, doch nach einer Weile gewöhnte sie sich sowohl an den Geruch als auch an Rickys wiederholtes Schielen auf ihre Knie.

»So, Citypolizei Stockholm also. Da in der Innenstadt gibt’s wohl ziemlich Action, was?«

Was soll ich darauf erwidern, fragte sie sich, doch er schien gar keine Antwort zu erwarten.

»Hier kommt mein Schätzchen leider selten zum Zug.«

Sagt der allen Ernstes »leider«, dachte Karin. Was für ein Idiot.

Ricky nahm eine Hand vom Lenkrad und tätschelte rasch das Holster, damit kein Zweifel aufkam, worauf er anspielte.

»Nee, Action gibt’s hier keine. Aber kein Grund, deshalb auf der faulen Haut zu liegen. Ich will ja nicht angeben, aber am Schießstand können sich nur wenige mit Ricky Berggren messen. Glück für die Bösewichte in Stockholm, dass ich nicht da bin!«

»Oder auch nicht.«

Er schaute sie fragend an, doch sie erinnerte sich an Kugel-Bengts Ratschlag, sie solle lockerer werden, und beließ es dabei. Die kurze Erwiderung schien dennoch Wirkung zu zeigen, Ricky stellte das Gequatsche ein und schien sich aufs Fahren zu konzentrieren.

Die Landstraße war kurvenreich und wollte kein Ende nehmen. Karin schaute aufs Navi und las die Ortsnamen. Offenbar befanden sie sich irgendwo zwischen Lövstabruk und Österbybruk auf Höhe eines Sees namens Finnsjön. Mitten im Nirgendwo also.

»Wohin fahren wir?«, fragte sie.

»Hammarnäs, irgendeine Art Gutshof oder Herrenhaus oder wie man das nennt.«

 

Sowie Ricky durchs Tor fuhr, erschien Karin alles um ein Vielfaches größer. Und sie selbst kam sich ziemlich klein vor. Auf hohen, weiß verputzten Torpfosten thronten gusseiserne Amphoren mit kaktusartigen Gewächsen aus Blech, die drohend ihre gezackten Blätter spreizten. Alles schien zu dem Zweck geschaffen, dass der Besucher sich verneigte und unterwürfigst um Einlass bat. Vor ihnen erstreckte sich eine Allee aus mächtigen Laubbäumen, sie mussten über Generationen herangewachsen sein und wurden sicher von Eulen und Fledermäusen bewohnt. Die Baumkronen überschatteten die Straße und hüllten sie trotz der hellen Sommernacht in Dunkelheit. Links und rechts der Straße lagen bodennebelverhangene Felder. Zwischen dampfender Erde und dem klaren Nachthimmel meinte Karin die Silhouetten von Hirschen auszumachen. Das Motorengeräusch scheuchte die Tiere auf, und sie verschwanden im Grau.

»Schön«, sagte Karin und merkte, dass sie flüsterte, was man in dieser Umgebung wohl automatisch tat. Es sei denn, man hieß Ricky.

»Aber hallo! So ein schönes Arbeitsumfeld habt ihr in Stockholm nicht, was? Außer U-Bahnen, Beton und Asphalt gibt’s da nicht viel, denk ich mir. Aber wir, wir haben’s hier schön.«

Sie verkniff sich einen Kommentar und genoss das letzte Stück lieber schweigend.

Karin waren schöne Umgebungen durchaus nicht fremd, schließlich war sie in Lidingö aufgewachsen, einem der wohlhabendsten Vororte Stockholms. In ihre Klasse gingen Schüler aus völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten; sie, die in einem der einfachen Reihenhäuser wohnte, gehörte zu den unteren.

Einige Male war sie auf Kindergeburtstage in die Luxusvillen in Elfvik und Hersby eingeladen, doch diese Häuser konnten sich nicht mit dem Anwesen messen, auf das sie gerade zufuhren. Wurde die Bezeichnung Gutshof oder Herrenhaus ihm überhaupt gerecht? War es nicht vielmehr ein Schloss? Trotz zweier Streifenpolizisten und dem Fernlicht eines nachlässig geparkten Einsatzfahrzeuges wirkte der Ort ehrwürdig. Ricky fuhr auf den Kiesplatz, umrundete einen akkurat gestutzten Rasen mit Sonnenuhr in der Mitte und hielt an. Karin stieg aus dem Wagen und trat vor das weiß verputzte Haus. Sie sah sich um. Aus einem schwarzen Dach ragte ein Turm mit einem Wimpel auf, ein Glockenstapel. Von jeder Seite des Hauptgebäudes gingen zwei kleinere Flügel ab. Schräg dahinter erblickte sie ein Wirtschaftsgebäude, vermutlich eine Remise oder ein Stall. Hinter akkurat in Form geschnittenen Büschen war ein See mit Badesteg und Umkleidekabine zu erkennen.

Standesgemäß, mindestens. Doch statt eines Butlers mit Silbertablett wurde sie am Eingang von einem Polizeianwärter und einem Schwall Erbrochenem empfangen. Karin wich zurück und hielt dem Jungen mit abgewandtem Gesicht und angehaltenem Atem mechanisch ein Papiertaschentuch hin.

»Danke«, keuchte er.

»Kein schöner Anblick da drin?«

»Scheiße, nein.«

Das glaubte sie ihm aufs Wort, dennoch fiel es ihr leichter, an einem Tatort eine Leiche in Augenschein zu nehmen, als eine Junkiebude zu betreten oder auf der öffentlichen Toilette am Sergels torg, dem Drogenumschlagplatz der Stockholmer Innenstadt, über menschliche Exkremente zu steigen. Oder den Mageninhalt eines Kollegen zu riechen. Es entbehrte jeglicher Logik, doch Blut, Fleisch und Knochen erschienen ihr rein, beinahe wie ein ungeborenes Kind, noch nie zuvor entblößt. Überhaupt nicht schmutzig, verglichen mit Erbrochenem, Fäkalien und den dreckstarrenden Händen von Obdachlosen. Sie war nicht stolz darauf, hatte sich aber damit abgefunden.

Dementsprechend betrat sie unerschrocken das Haus. Sie brauchte nicht weit zu gehen. Die Leiche lag direkt hinter der großen Doppelflügeltür auf dem schachbrettgemusterten Boden. Karin wich zurück, das Gesicht des Opfers war nicht mehr als solches erkennbar, sondern erinnerte eher an Schlachtabfall.

Sobald sich aber der Schock angesichts von zerschmettertem Stirnbein, Blut, Knochensplittern und Hirnmasse gelegt hatte, betrachtete sie den Toten mit echtem Interesse und Neugier. Das Wort, das ihn am besten beschrieb, war gepflegt. Durch und durch gepflegt. Von dem zertrümmerten Kopf einmal abgesehen war das Opfer wie aus dem Ei gepellt. Als handle es sich um eine sorgsam zurechtgemachte Schaufensterpuppe in einem Herrenbekleidungsgeschäft. Der Paisley-Schlafrock saß an Ort und Stelle, der Gürtel war um die Taille zu einer halben Schleife gebunden. Ein blauer Pyjamakragen schaute darunter hervor. Selbst das seidene Halstuch hatte kaum Flecken abbekommen. Alles geschniegelt und gebügelt. Lediglich eine der Pantoffeln war verrutscht und entblößte einen schmalen, blaugeäderten Männerfuß mit gepflegten Zehennägeln.

Karin machte einen Schritt zur Seite und gab den Assoziationen Raum. Ein aussterbendes Geschlecht. Ein Gentleman, der eines Agatha-Christie-Romans würdig und gleichzeitig eine Parodie auf seine Klasse und seine Generation war.

Sahen tote Körper in dieser Welt so aus?

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