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Freiheit beginnt, wenn man einen Schritt zur Seite tritt.Letzter Band der Trilogie nach Die Fliegenfalle und Der Rosinenkönig. Was haben der Puzzlerausch zur Weltwirtschaftskrise, der Kaugummi-Magnat Wrigley und die Idee der Kameltruppen gemeinsam? Im Grunde gar nichts. Außer dass sie in die Kategorie des bezaubernd Abseitigen fallen, von dem der neugierige Forscher und Sammler Fredrik Sjöberg magisch angezogen wird. In diesem Fall findet er solche und andere kuriose Geschichten am Wegesrand einer Reise auf den Spuren des 1934 verstorbenen schwedischen Aquarellmalers Gunnar Widforss. Dessen spannendes und turbulentes Leben setzt er in Die Kunst zu fliehen wie ein Puzzle zusammen: seine Herkunft aus einer Familie, als hätte Ingmar Bergman sie in Fanny und Alexander nachgeahmt; seine zur Perfektion getriebene Unfähigkeit, mit Geld umzugehen; sein Scheitern in der europäischen Kunstwelt, die gerade de Chirico und andere Modernisten feierte. Und: sein dramatisches Geheimnis, das Widforss in die USA f liehen ließ, wo er am Ende doch zu Ruhm gelangte. Sjöberg selbst übt sich dabei schreibend in der Kunst der Eskapade und entführt seine Leser immer wieder auf Nebenwege, in fremde Länder und ferne Zeiten. Man folgt ihm staunend und glücklich nur zu gern – wohin auch immer.
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Seitenzahl: 210
Veröffentlichungsjahr: 2012
Inhalt
CoverTitelVorwortZitat1 WALDLEBEN NAHE NAMMAVAREJAURATJAH2 LIEBSTE KLEINE MAMA3 DIE KUNST, NICHT ZU REISEN4 ZU HELL UND ZU VIEL5 DER UNFREIWILLIGE KOKAINIST6 MIT KURS AUF DEN SALON IN PARIS7 REISEN OHNE ZIEL8 DER MANN AUF SAINT MARTINS ISLAND9 INS LAND DER KAUGUMMIMAGNATEN10 DIE MÜHEN DER KAMELBRANCHE11 PAINTER OF THE NATIONAL PARKS12 DIE ERSTE INNENTASCHE13 WARUM NATURPARKS?14 DAS MÄDCHEN IN SÖDERTÄLJE15 DER GROßE PUZZLERAUSCH16 EIN SCHICKSAL SCHLIMMER ALS DER TOD17 DER WEG ZUM WIDFORSS POINT BENUTZTE LITERATURBuchAutor und ÜbersetzerImpressumDiesmal werde ich von einem Maler erzählen. Sein Name war Gunnar Mauritz Widforss. Ein braver Aquarellist, dessen Spezialität schöne Landschaften waren. Steile Berge und große Bäume.
Widforss wurde 1879 in Stockholm geboren und starb im Alter von 55 Jahren am 30.November 1934 im Grand Canyon, Arizona. Buchstäblich am Abgrund, allein. Er ist in Vergessenheit geraten. Und ich bin sein bester Freund.
Darüber hinaus habe ich panische Angst. Manchmal vor praktisch allem, in diesem besonderen Moment jedoch davor, ein Vertrauen zu enttäuschen, das man mir nicht einmal geschenkt hat, sondern das ich mir erschlichen und eigenmächtig beim Schopf gepackt habe.
Ich habe Angst, zu viel zu erzählen, vielleicht aber auch zu wenig. Fast alles, was ich über Gunnar weiß, habe ich in Briefen und anderen verborgenen Quellen gefunden, von denen manche ausgesprochen privat waren. Geheimnisse. Zweifel.
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Geschichten fangen einfach an. Man weiß nur selten, wo, und fast nie, warum. Es spielt keine Rolle. Nichts ist mehr gegeben. Ich möchte bloß die Augen schließen, blindlings zeigen und gleichsam versuchsweise sagen – dass ich einmal, als Sechzehnjähriger, eine ganze Nacht im Wipfel einer Kiefer saß und romantische Weisen sang. Dort könnte es begonnen haben.
Der Baum war alt und stand auf einem Hügel in der Nähe eines winzig kleinen Sees namens Nammavarejauratjah, nach mehrtägiger Wanderung durch unwegsames Gelände, im Muddus-Nationalpark, mitten in der Wildnis zwischen Jokkmokk und Gällivare. So weit das Auge reichte Wälder und Hochmoore; und es war Sommer, die Nächte in Lappland sind dann heller als alle Tage des Mittwinters zusammen. Im Winter hält man sich generell nicht im Muddus auf, und hält man sich aus irgendeinem Grund trotzdem dort auf, sitzt man nicht in Bäumen und singt von Kränzen aus Gemeinem Schneeball in den Haaren junger Mädchen. Jedenfalls nicht stundenlang.
Diese Erinnerung, die mir gänzlich unerwartet eines Nachmittags vor dem La Posada Hotel in Winslow, Arizona, in den Sinn kam, ist aus mehreren Gründen bedeutsam, aber fürs Erste wollen wir uns auf den Baum konzentrieren. Die Kiefer.
Wenn es etwas gibt auf dieser Welt, wovon ich wirklich etwas verstehe, dann sind es Kiefern. Gewöhnliche Kiefern mit Zapfen und Nadeln und dem ganzen Paket an Nuancen: Farben, Düfte, das Säuseln im Wind bei Wetter aller Art und die Rufe der ziehenden Wintergoldhähnchen, im Wald, im Herbst. Kiefern. Ich weiß alles darüber, wie sich das Sonnenlicht in einer Kiefer verhält, und in den Schatten darunter, unabhängig vom Alter und davon, wo sie wächst und wie. Tau und Nebel, Schnee, Regen, was auch immer, Hauptsache der Niederschlag fällt im Verhältnis zu einer Kiefer.
Wohlgemerkt, wir sprechen hier nicht von Wissen. Die rein prosaischen Abschnitte in der Naturgeschichte der Kiefer beherrsche ich ganz und gar nicht, sie interessieren mich nicht einmal. Ein Wissenschaftler bin ich nie gewesen. Nein, lassen Sie uns lieber von der ganzen Erscheinung der Kiefer sprechen, ihrer Persönlichkeit, so dunkel dieses Wissen sich auch anhören mag. Das ist mein Thema, und zwar mit einem gewissen Schwerpunkt darauf, wie Kiefern in der akademischen Malerei des frühen 20.Jahrhunderts aussehen. Jahrelang hatte ich mich an dieses Thema angepirscht, späterhin in der Absicht, eine Geschichte über den heute so verachteten Maler Gottfrid Kallstenius (1861–1943) zu erzählen, den unumstrittenen Meister der schwedischen Kiefernmalerei. Wir wuchsen in derselben Stadt auf, Gottfrid und ich, und wurden für alle Zeit von der gleichen Landschaft geprägt. In meiner Schulzeit hing in unserer Aula eines seiner großartigsten Gemälde, signiert 1934, das eine einsame Kiefer am Meer zeigte – im Sonnenuntergang. Das war Kunst!
Erst viel später begriff ich, dass Kallstenius im Allgemeinen und seine lohenden Sonnenuntergänge aus der Zwischenkriegszeit im Besonderen das mit Abstand Dämlichste waren, wozu man sich auf dem Terrain der Kunst bekennen konnte. Wen die Furcht umtrieb, als Außenseiter abgestempelt zu werden, der war gut beraten, seinen Namen nicht in den Mund zu nehmen, außer vielleicht als Beispiel für all die stickige Schalheit, die der modernistische Durchzug ein für alle Mal auslüften sollte. Also hielt ich mich fortan, wie alle anderen, an dekorative Matisserien.
Der arme Gottfrid, ich glaube, er lebte ein bisschen zu lange. Hätte er sich um die Jahrhundertwende zu Tode gesoffen oder die zweite Hälfte seines Lebens wenigstens im Irrenhaus verbracht und dort die Befreiung seiner Seele hingekrakelt, wie ein Kind, auf Papier von schlechtester Qualität, hätte man ihn in späteren Zeiten als einen der ganz Großen gefeiert. Aber es kam anders. Als er den Zenit erreicht hatte, auf Augenhöhe mit Anders Zorn und Bruno Liljefors, und in die Akademie der Künste gewählt worden war, kaufte er sich in Källvik ein Haus am Meer und begann, Kiefern im Abendlicht zu malen. Vierzig Jahre widmete er sich dieser Aufgabe. Das meiste ist schlecht, aber manches ist gut. Einzelne Bilder sind magisch.
Deshalb beschloss ich schließlich, eine Expedition zu wagen. Geplant war eine Studie zur Morphologie des Scheiterns und ich beabsichtigte, nach all den Jahren auf dieser Insel im Meer, die ich so selten verlasse, wieder zu reisen – nach Helsinki, München, Budapest, Boston, Indianapolis, Buenos Aires und zu all den anderen Orten unserer Welt, an denen die großen Museen in ihren finstersten Kellerverschlägen Gemälde von Gottfrid Kallstenius verwahren.
Auf geht’s, dachte ich.
Der Gedanke machte natürlich nicht viel her, aber egal, was zählt, ist das Gefühl. Es ging um Gottfrid und mich, und tausend Kiefern.
Meine Niederlage wog umso schwerer. Verdutzt und enttäuscht zog ich mich zurück. Schweden ist ein kleines Land und so dauerte es nicht lange, bis ich erkennen musste, dass das Revier bereits sorgsam von einem Kunstkenner abgesteckt worden war, dessen Kenntnisse weitaus weiter reichten als meine und der über gute Kontakte zu den Nachfahren des Malers verfügte, mit allem, was an Tagebüchern, Briefen und anderen Schätzen, über denen man so gerne in Abgeschiedenheit brütet, dazugehört. Der Verlust des Reisegefährten, den ich gesucht hatte, traf mich schwer, und ich möchte nur ungern den einen oder anderen dahingeworfenen, beiläufig fallen gelassenen Kommentar leugnen – über die alten, sterilen Seeadlerweibchen, die in den Achtzigerjahren, rettungslos geschädigt von DDT, in unseren Schären in den besten Revieren hockten und somit die Nistmöglichkeiten für die jüngeren blockierten, die mit weniger Gift im Körper aufgewachsen waren.
Die stattlichsten Nistbäume wurden als Alterssitz zweckentfremdet, während die Jungvögel, so gut es eben ging, in klapperdürren Jungkiefern auf windgepeitschten Kahlschlägen brüteten. Wenn wir Ende Mai dorthin kamen, um die frisch geschlüpften Vögel zu beringen, lag das Nest nicht selten auf der Erde, ein Haufen Reisig ohne die geringste Spur von Leben. Anfangs bauen sie schlecht, die jungen Adler, und die besten Ergebnisse erzielen sie in geerbten Horsten.
So etwas kommt zuweilen vor. Man beschafft sich einen Maler. Übernimmt die Kontrolle über das Terrain, schließt die einzigartigen Dokumente ein – und wartet den richtigen Augenblick ab. Der Ehrlichkeit halber muss jedoch gesagt werden, dass ich im Fall Kallstenius selbst schuld war. Ich traute mich nicht. Als ich noch freie Bahn hatte, als der Mann keinen anderen interessierte, redete ich jahrelang nur herum und beließ es bei unausgegorenen Gedanken. Und als ich mich schließlich entschied, war es bereits zu spät. Glück für Gottfrid, vielleicht. Wie auch immer; ich erwähne dies alles lediglich als Erklärung für die Anfangsgeschwindigkeit im Fall Widforss und meinen überstürzten Entschluss, vor dem ich mich nach eingehenderem Nachdenken womöglich gehütet hätte.
So spielte es sich ab:
Am Samstag, dem 29.Januar 2005, befand sich unsere ganze Familie auf dem Festland. Wir hatten einen Fenstertisch im Restaurant des Moderna Museet reserviert. Malewitsch lockte uns, sein berühmtes Gemälde »Suprematistische Komposition – schwarz mit weißem Rechteck« aus dem Jahre 1915. Es hatte sich damals schon seit fast einem Jahr im Besitz des Museums befunden, da sich die Restaurierung des lange zusammengerollten und arg mitgenommenen Bildes jedoch hingezogen hatte, hing es erst jetzt, im Januar, in der Dauerausstellung. Ein Mysterium. Eine infizierte Wunde. Nicht das Gemälde an sich – das russische Avantgarde ist, aber auch nicht mehr –, sondern seine Geschichte, die Legenden, die gemunkelten Gerüchte und der Streit unter den Kunsthistorikern. Das bisschen, was ich wusste, klang wie die Handlung eines Romans. War es wirklich Diebesgut? Insgeheim hoffte ich das.
Wir hatten uns mit den Kindern im Museum verabredet; am späten Nachmittag würden wir uns treffen, uns das Bild anschauen und anschließend essen gehen. Wir hatten deshalb reichlich Zeit, Johanna und ich, und beschlossen, auf dem Weg nach Skeppsholmen beim Auktionshaus Bukowskis am Berzelii Park vorbeizugehen, wo wir uns ein frühes Gemälde ansehen und eventuell ersteigern wollten, das Mollie Faustman (1883–1966) gemalt hatte, die abgesehen davon, dass sie im hohen Alter die Patin meiner Ehefrau war, zu den ersten schwedischen Schülern von Matisse in Paris gehörte. Schon 1909 begab sie sich dorthin, nach einer bizarren Kindheit mit einem unglücklichen Vater, der die Leibesfrucht einer außerehelichen Romanze des Zeitungsverlegers Lars Johan Hierta und der Autorin Vendela Hebbe war, auch das eine Geschichte, die viele fiktive Tragödien übertrifft.
Hierta, heute vor allem als Gründer der Tageszeitung Aftonbladet bekannt, war ein prächtiger Mann mit Frau und Kind und Haus in der Stockholmer Altstadt. Als dann seine Geliebte Hebbe, die erste schwedische Journalistin, ein Kind erwartete, wurde sie mit einem unklaren Auftrag nach Berlin geschickt, wo das Kind geboren und sofort von einer Familie mit dem Namen Faustman adoptiert wurde. So machte man das damals. Man vertuschte. Unglücklicherweise zeigte sich jedoch, dass Hebbe, die, kaum zu glauben, aber wahr, als Untermieterin bei Familie Hierta wohnte, es sich nach ein paar Jahren anders überlegte und ihren Sohn zurückhaben wollte. Das kann man ja durchaus verstehen. Seltsam ist allerdings, was danach passierte – Hierta adoptierte seinen eigenen Sohn, den Buben Faustman, ohne ihm zu erzählen, wer sein leiblicher Vater war, oder wenigstens, dass die freundliche Dame in der oberen Etage seine Mutter war. Dass dieser Junge, der später Mollies Vater wurde, ein unruhiger Geist war, erscheint deshalb wenig rätselhaft.
Das große Gemälde – »Liegendes Modell mit blauem Buch« – hatte etwas Zügelloses, aber wir mochten es jedenfalls, möglicherweise war es auch nur Mollie Faustman, die wir mochten, ich weiß es nicht. Etwas in der Art. Und da wir schon einmal zur Vorbesichtigung gekommen waren, nutzten wir die Gelegenheit, uns in aller Ruhe anzusehen, was sonst noch versteigert werden sollte. Lange und aufmerksam blieb ich vor einem riesigen Sonnenuntergang oder eher Mondaufgang stehen, von Kallstenius, datiert 1930, den ich mit der wohligen Wärme der Schadenfreude in meiner Brust völlig missraten fand. Unsere Beziehung war damals erst kürzlich in die Brüche gegangen, und es war alles noch ein wenig emotional.
So war jedenfalls meine Gemütsverfassung, als ich plötzlich eine Kiefer erblickte. Eine uralte, krumm und schief gewachsene Krüppelkiefer am Meer, gemalt von einem mir unbekannten Künstler, mitten am Tag in der Hochsommersonne, einfach so, ohne Streiflicht oder Symbolismus. Und was ich sah, das sah ich augenblicklich, im Bruchteil einer Sekunde. Eine Entdeckung! Der Text im Katalog lautete: »Gunnar Widforss Schweden/USA 1879–1934 ›Schärenkiefer‹. Signiert Widforss und datiert 1917. Aquarell 45×63cm«. Schätzwert dreitausend Kronen. Dreitausend!
Kunsterlebnisse können einen wirklich mitreißen, fast so, als wäre man verliebt, allerdings auch in dem traurigen und normalerweise ungebetenen Sinn, dass zur Schattenseite der Freude die Gier gehört, etwas zu besitzen. Bedauerlich natürlich, aber wenn man sich in Auktionshäusern herumtreibt, ist man selbst schuld. Obwohl mir Gedanken dieser Art damals überhaupt nicht kamen. Im Grunde dachte ich wohl gar nichts; sah nur kurz das Bild und blieb nicht stehen, sondern lief eine Weile auf der Suche nach Johanna umher, die bei einem in meinen Augen sinnlosen Modernisten hängen geblieben war. Ihr missfallen zwar grundsätzlich alle Kunstwerke, die Nadelbäume abbilden, aber manche Dinge will man doch unheimlich gern mit anderen teilen, sodass ich das Risiko einging.
»Das da willst du kaufen?«, lauteten ihre ersten Worte.
Wir, die wir in den hellen Sommernächten am Nammavarejauratjah im Muddus-Nationalpark zelteten, waren zwar nicht direkt eine Pavianhorde, aber doch fast; eine Clique von Vogelbeobachtern im Teenageralter auf einer mehrwöchigen Wanderung durch die Wälder, über die endlosen Hochmoore. In dem unwegsamen Land wurde vieles gesagt und gesungen; vielleicht war es vor allem dieses Miteinander-Wandern, die Wärme der Gruppe, aus der heraus die Landschaft erst richtig sichtbar und lebendig wurde. Ohne diese Geborgenheit wäre ich jedenfalls niemals auf den Gedanken gekommen, mich gelegentlich alleine abzusetzen und eines Abends in eine Kiefer zu klettern. Ich werde es nie vergessen. Die Wildnis. Die Düfte. Die Gesänge! Auch die der Rotdrossel und der Waldammer. Dort könnte es begonnen haben.
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Den neuen Malewitsch des Moderna Museet mäßig interessierten Jugendlichen vorzuführen, ist eine Herausforderung vom eindeutig gleichen Kaliber wie die Kunst, zu erklären, was Jackson Pollock dachte, was er an und für sich möglicherweise gar nicht tat, während er die Leinwand bespritzte, die heute im Nebensaal hängt. Leicht ist es nicht, aber mit etwas Geduld geht es. Provokationen und Grenzüberschreitungen aller Art gehören zu den Dingen, für die Jugendliche ein Gespür zu haben scheinen; dass Rauschenbergs Ziege in einem Autoreifen stecken geblieben war, wussten meine Kinder bereits im Vorschulalter und seither sind sie solche Freidenker, dass sie witzige Einfälle, erschaffen unter dem weiten Himmel des Rauschs, zu schätzen wissen.
Die Retrospektive mit paranoiden Installationen von Ann-SofiSidén, die zeitgleich ein Stockwerk tiefer stattfand, war dagegen vielleicht nicht ganz so leicht zu verdauen wie Salvador Dalí, Tinguely und die anderen Faxenmacher auf dem Parkett, aber sie trug immerhin dazu bei, meinen Nachmittag abzurunden – der in den unzeitgemäßen Außenbezirken der Kunst begonnen und sich langsam, aber sicher deren Mitte angenähert hatte. Keiner ist wie Sidén eins mit der Gegenwart, kein Werk scheint mir so wie ihres der Akademiemalerei der vorherigen Jahrhundertwende zu entsprechen. Der Stil ist anders, die Rolle in der Öffentlichkeit jedoch gleichartig. Ihre ausgesprochen sehenswerte Installation, aus einer Türöffnung bestehend, die bis zum letzten Millimeter mit psychiatrischer Fachliteratur zugestopft ist (1995), scheint mir förmlich in direkter Linie abzustammen von Gottfrid Kallstenius’ ebenso genialem, wenn auch dumpf nationalromantischem, aber nicht weniger symbolträchtigem Gemälde »Gotländische Sommernacht« (1900), auf dem der Firnis kaum getrocknet war, als das Nationalmuseum es auch schon ankaufte.
Für Gunnar Widforss war der Weg länger und staubiger, wie ich schon bald entdecken sollte, aber er trieb eben auch nicht wie ein Champagnerkorken in der Hauptfahrrinne der zeitgenössischen Kunst. Es gab Leute, die fanden, dass er überhaupt kein Künstler war.
Ich selbst war dagegen schon nach wenigen Tagen hilflos gefangen in einem Labyrinth aus Loyalitäten, benebelt von Schatzsucherfreuden und Goldfieber, wie immer zu Anfang einer vielversprechenden Spur, von der niemand weiß, wohin sie führen wird. Die Auktion bei Bukowskis fand erst am 8.Februar statt, sodass ich zehn Tage hatte, einen Ozean aus Zeit, mich in die Sache hineinzusteigern und vorbereitenden Studien zu widmen. Gierig saugte ich das wenige auf, was in einigermaßen zugänglichen Quellen über Widforss geschrieben worden war. Das reichte – und mehr als das.
Als der Auktionator endlich vorn stand und sich räusperte, wusste ich entsprechend, das Gunnar Mauritz Widforss nicht an der Kunstakademie, sondern an der Technischen Schule studiert hatte, der Vorgängerin der heutigen Hochschule für Kunst und Design, wo er sich im Alter von 20 Jahren, im Jahre 1900, seinen Gesellenbrief als Dekorationsmaler abholen konnte – wie gesagt, kein richtiger Künstler –, wonach er sein restliches Leben als unruhiger Geist auf Reisen verbrachte. Er bereiste Russland, die Schweiz, Österreich, Frankreich, Italien, Deutschland, die USA, Tunesien, England, Holland, Ungarn, Dänemark, Norwegen und erneut die USA, wo er schließlich, Anfang der Zwanzigerjahre, blieb und später starb, genauer gesagt in seinem Auto. Die einzige halbwegs zusammenhängende Phase, in der er sich als Erwachsener in Schweden aufhielt, fiel in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Das erklärte meine Kiefer, oder was in Kürze meine Kiefer sein würde.
Des Weiteren konnte ich mich, während sich die übliche Klientel im Auktionssaal versammelte, auf das Wissen stützen, dass Gunnar, der ledig und kinderlos blieb, beim Pariser Salon 1912 mit zwei Aquarellen Erfolge feiern konnte, dass er offenbar gewisse Kontakte zum schwedischen König Gustav V. unterhielt sowie dass er in den USA mit der Zeit große Erfolge als Maler der Wildnis feierte. Den abschließenden Satz der kurzen Notiz im Schwedischen Künstlerlexikon konnte ich mittlerweile auswendig: »Um den ›Maler der Nationalparks‹, wie er genannt wurde, zu ehren, beschloss das United States Board of Geographical Names im Herbst 1938, dass ein 7800Fuß hoher Berggipfel im Grand Canyon National Park in Arizona fortan den Namen ›Widforss Point‹ tragen solle«. Wie gesagt, mehr brauchte ich nicht zu wissen. Der Entschluss war gefasst, ich war schon unterwegs.
Damit konnte die Vorstellung beginnen.
Ich habe mich oft gefragt, wie lange Auktionshäuser wohl die Videobänder der Kamera aufbewahren, die im Hintergrund steht und die Gebote registriert, um Streitigkeiten und Missverständnisse zu vermeiden; ich stelle mir vor, dass diese Filme möglicherweise archiviert und zusammengeschnitten werden, die besten Szenen, um auf dem alljährlich stattfindenden Firmenfest gezeigt zu werden. Wenn es so ist, können wir sicher sein, dass die Katalog-Nr.526 am 8.Februar 2005 bereits ein Klassiker ist, über den sich das schwer geprüfte Personal kaputtgelacht hat. Eventuell könnten auch Historiker für Konfektionsware dieses Schauspiel mit Gewinn verfolgen, denn die Mehrzahl aller Kunstsammler trägt aus irgendeinem Grund so unfassbar schlecht sitzende Kleider, dass man als Außenstehender nicht umhin kommt, sich zu überlegen, dass jemand in einer zentralen Position in diesen Kreisen billig an einen Restposten von Anzügen aus der DDR gekommen sein muss, hergestellt aus irgendeinem synthetischen Industrieabfall, oder eventuell auch aus Zellulose, die in veredelter Form so steif wird, dass die Anzüge am Abend in den billigen Hotelzimmern, in denen Männer dieses Kalibers in meiner Vorstellung laufend absteigen, an die Wand gelehnt werden können. Vielleicht, dachte ich nervös, sind Kunsthändler aber auch nur ungewöhnlich sparsam.
Wie auch immer, das erste Gebot lag bei siebentausend, also gut doppelt so hoch wie der Schätzwert, und binnen weniger Sekunden lagen die Gebote bei zwanzigtausend. Jemand signalisierte einundzwanzig, woraufhin ein Mann zur Linken im Raum mit einer Stimme, die so durchdringend und resolut war, als käme sie von einem Hafenkapitän an der nordschwedischen Bottenwiek, dreißig rief. Ein Augenblick des Zögerns am Telefontisch und dann: dreiunddreißig. Ich war verloren. Nicht jedoch der Nordschwede, der unverzüglich gleichsam bellte – vierzig! Selbst der Auktionator verlor die Fassung. Die jungen Frauen an den Telefonen zögerten, aber nein. Der Hammer fiel. Der Mann stand auf und ging. Das Ganze war in weniger als einer Minute vorbei. Ich kam nicht einmal zum Zug.
Mein Leben war verpfuscht. Sicher, ich erkenne durchaus, wie pathetisch die Situation war, das können Sie mir glauben, aber es wollte mir einfach nicht gelingen, meiner Verzweiflung Herr zu werden. Ich war am Boden zerstört. Am Ende. Dieses Aquarell gehörte mir doch schon! Und die Geschichte. Ich blieb eine Weile sitzen, einige Minuten, von denen ich annehme, dass sie sich auf Film besonders gut machen. Dann ging auch ich.
Der Mann stand vor dem Tresen, an dem die Waren ausgegeben wurden, war dabei, sein Bild in Wellpappe einzuschlagen, und sah wahrlich nicht aus wie die anderen. Groß und kräftig, vielleicht gut fünfzig Jahre alt, mit grau melierten Haaren, Jeans, Lederweste, Boots und Nietengürtel. Nietengürtel! Ich warf einen letzten, neidvollen Blick auf die Kiefer, ehe sie für immer in ihrer Verpackung verschwand. Fort. Allerdings fasste ich mir in letzter Sekunde ein Herz, stellte mich dem Mann vor, gratulierte ihm zu seinem Kauf und erklärte, dass ich an einer Biografie über Gunnar Widforss arbeiten würde. Das stimmte zwar nicht, aber was sollte ich sonst sagen. Der Gedanke war mir gekommen, zweifellos, und nun erkundigte ich mich folglich, ob die Möglichkeit bestehe, sein Bild zu fotografieren, um es irgendwann einmal in einem Buch wiederzugeben.
»Wäre das möglich?«
»Das kann ich leider nicht entscheiden«, sagte er. »Das Bild geht in die USA. Ich habe es schon verkauft. Für dreißigtausend Dollar. Ich fliege nächste Woche nach Phoenix.«
Er trat auf die Arsenalsgatan hinaus.
Erst da gestand ich mir ein, was ich im Grunde längst gewusst, aber nach Kräften verdrängt hatte – dass die Amerikaner für Gunnars Gemälde heute fantastische Summen zahlen. Ein gutes Aquarell kann Hunderttausende schwedische Kronen kosten; der Rekord liegt bei über einer Million, eine Summe, in deren Nähe, ausgenommen Anders Zorn und Carl Larsson, kein anderer schwedischer Aquarellmaler jemals gekommen ist. Was hatte ich mir eigentlich erhofft? Nur ein Vogelbeobachter, der zu spät gekommen ist, kann sich so in Selbstmitleid suhlen, wie ich es damals tat.
Der Alarm erreichte uns kurz nach Sonnenuntergang in Beijershamn. Ein Vogel der Art Einsamer Wasserläufer – nördlich von Gårdby, an der Ostseite der Insel. Der erste Fund überhaupt in Schweden. Würden wir es rechtzeitig dorthin schaffen? Es waren fünfzehn Kilometer über die Kalksteinebene.
Wir waren wie üblich Ende Mai auf Gotland. Es war 1987, vor den Handys, aber damals gab es bereits Anrufbeantworter, die man anwählen konnte, um die letzten Neuigkeiten über die bedeutendsten Raritäten zu hören. Wo und wann. Wir liefen zum Auto – und schafften es, nach einer Irrsinnsfahrt bei schwächer werdendem Dämmerungslicht, mit heiler Haut den Ort des Geschehens zu erreichen. Die Landstraße sah aus wie nach einer Massenkarambolage auf der Autobahn. Dutzende Autos, nachlässig geparkt, Türen und Kofferräume weit offen stehend. Der Vogel hielt sich, hatte es geheißen, in einem Sumpf einige hundert Meter in den Wald hinein auf. Es war fast dunkel. Wir liefen mit unseren Ferngläsern im Arm, als ginge es um Leben und Tod.
Und schafften es. Wir sahen ihn. Unmittelbar bevor der Vogel in der Dunkelheit der Mainacht verschwand, erblickten wir ihn. Einen Einsamen Wasserläufer. Den ersten und bis zum heutigen Tag einzigen. Etwa fünfzig Vogelbeobachter strahlten gleichsam in der Finsternis.
Der Punkt ist, dass manche zu spät kamen. Einige der besten, die richtigen Ornithologen, die sich an jenem Abend draußen auf den Uferwiesen aufhielten oder auf Vogeltürmen standen und aufs Meer hinausspähten, solange das Licht für die Spektive ausreichte, während Leute wie wir bei laufendem Motor in Telefonzellen standen. Ich erinnere mich an ihre Betrübnis. Trauer vermischt mit Scham, denn man kann ja nicht ernsthaft um einen verpassten Vogel trauern.
In der Nacht gab es noch Hoffnung, aber im Morgengrauen war alles, wie nicht anders zu erwarten, vorbei. Trotzdem gab es dort erwachsene Männer, die den ganzen nächsten Morgen, den ganzen Tag, den ganzen Abend am Rande dieses vogellosen Sumpfs in den Wäldern nördlich von Gårdby standen. Schweigend, verbissen.
Nein, Trauer möchte ich es ungern nennen, aber eine Leere existierte schon, in die das Grundwasser der Scham einsickern konnte. Dennoch dauerte es kaum länger als eine halbe Stunde, nach einem ziellosen Spaziergang durch die Häuserblocks rund um den Nybroplan, bis meine Selbstachtung allmählich zurückkehrte und das Gefühl, das mich trug, mehr und mehr von der Angst dominiert wurde, nun auch noch die Geschichte zu verlieren. Im Laufschritt eilte ich zur Königlichen Bibliothek im Park Humlegården. In der Handschriftenabteilung war das Personal wie immer ausgesprochen hilfsbereit.
»Widforss?«
»Widforss.«
»Wird das geschrieben wie in Mauritz Widforss AB, dem Jagdgeschäft?«
»Ja, genau, Mauritz Widforss war Gunnars Vater.«
»Dann wollen wir mal sehen, einen Augenblick, bitte.«
Der freundliche Archivar verschwand in den inneren Archiven und blieb eine Weile fort. »Die Firma«, kritzelte ich auf einen Zettel und fuhr mit »Die Familie« fort. Im Telefonbuch, das hatte ich bereits überprüft, gab es eine ganze Reihe von Personen mit demselben Familiennamen, die eigentlich etwas über Gunnars Leben und Schicksal wissen müssten. Und was würde sich nicht alles auf der anderen Seite des Atlantiks auftreiben lassen? Bücher aus Antiquariaten in Kalifornien und New Mexico waren bereits unterwegs. Blieb die Frage, ob mir irgendwer eine Nasenlänge voraus war.
Der Archivtaucher ließ auf sich warten. Ich konnte nichts anderes tun, als dort zu sitzen und auf das gleiche Glück zu hoffen wie damals, als ich im selben Lesesaal einen Stapel von Briefen und Postkarten von einem unbekannten Mann in Rio de Janeiro an seinen ungefähr ebenso unbekannten Vater in Stockholm durchsah, und es mir auf die Art gelang, die Geschichte einer rätselhaften Widmung auf einem unverständlichen Gemälde des Künstlers J.A.G.Acke aufzurollen. Glück ist übrigens vielleicht nicht das richtige Wort. In Wahrheit hatte ich monatelang einigermaßen zielstrebig gesucht. Und das Glück funktioniert vermutlich ähnlich wie Pech, zumindest insofern, dass man sich ihm selbst aussetzen kann. Tagen, an denen man vom Pech verfolgt wurde, ebnete man nicht selten selbst den Weg, dachte ich, als der Bibliothekar schließlich wieder auftauchte und mir mitteilte, dass er alle verfügbaren Datenbanken
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