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Über einen unbekannten Künstler und die Unvorhersehbarkeit von Ruhm und Scheitern. Fredrik Sjöbergs „wunderbarer Versuch, den Zufall zu kontrollieren.“ (Aftonbladet) 1921 malte ein dänischer Künstler in Südfrankreich die Kusinen Hanna und Lillan Adler. Auf der Spur des Gemäldes und seines Schöpfers Anton Dich, „einzigartig abwesend in allem, was Kunstgeschichte heißt“, findet Sjöberg einen ganzen Schatz an nie erzählten, miteinander verwobenen Geschichten, die fröhlich oder nachdenklich, aber immer klüger machen. Über die unabhängigen Frauen der Familie Adler, Anton Dichs Freundschaft mit Modigliani, die Würgefeigen in Bordighera, einen Karton voller Briefe und den Kater Kanabriel, der eines Tages verschwand. Aber, so schreibt Sjöberg, „ich wundere mich schon lange nicht mehr. Der Zufall, dieser zerstreute Hallodri, ist des Sammlers bester Freund“.
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Seitenzahl: 219
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Über einen unbekannten Künstler und die Unvorhersehbarkeit von Ruhm und Scheitern. Fredrik Sjöbergs »wunderbarer Versuch, den Zufall zu kontrollieren.« (Aftonbladet)1921 malte ein dänischer Künstler in Südfrankreich die Kusinen Hanna und Lillan Adler. Auf der Spur des Gemäldes und seines Schöpfers Anton Dich, »einzigartig abwesend in allem, was Kunstgeschichte heißt«, findet Sjöberg einen ganzen Schatz an nie erzählten, miteinander verwobenen Geschichten, die fröhlich oder nachdenklich, aber immer klüger machen. Über die unabhängigen Frauen der Familie Adler, Anton Dichs Freundschaft mit Modigliani, die Würgefeigen in Bordighera, einen Karton voller Briefe und den Kater Kanabriel, der eines Tages verschwand. Aber, so schreibt Sjöberg, »ich wundere mich schon lange nicht mehr. Der Zufall, dieser zerstreute Hallodri, ist des Sammlers bester Freund«.
Fredrik Sjöberg
Mama ist verrückt und Papa ist betrunken
Ein Essay über den Zufall
Aus dem Schwedischen von Paul Berf
Hanser
Im Grunde leben die Künstler abseits,
am äußersten Rand des Lebens und der Menschheit,
und deshalb sind sie entweder sehr groß
oder sehr klein.
Blaise Cendrars
In meiner Kindheit gab es einen Mann namens Adolf. Er war der einzige Adolf, den ich jemals gekannt oder auch nur getroffen habe. Der Name war ja etwas außer Mode gekommen. Wie er mit Nachnamen hieß, weiß ich nicht; er wurde immer nur bei seinem Vornamen gerufen, und das Besondere an ihm war, dass er einen weißen Volvo 142 besaß, aber das war nur das eine.
Das andere war, dass er in den lauesten windstillen Nächten im August Aale fischte, mit einem Aalstecher, im seichten Wasser der Grantorpsbucht; unterhalb der Gärtnerei, der Gewächshäuser und der Koppel mit Brennnesseln, wo man später Einfamilienhäuser gebaut hat.
Diese Art zu fischen war auch damals schon streng verboten, aber das ging ihn ja nichts an, sodass er jeden Sommer im August an seinem flachbodigen Kahn achtern eine Karbidlampe mit hellem, weißem Licht festzurrte und anschließend dort stand, mucksmäuschenstill, und, die Hände fest um den langen Schaft des Fischspeers geschlossen, ins Wasser starrte. Einmal saß ich im Dunkeln auf dem Steg und betrachtete die Lampe draußen in der Bucht und das Boot und den Aalstecher und Adolf, der nichts fing, obwohl ich dort allein, unsichtbar mehrere Stunden im Duft von Teer und Schlick saß.
Zu jener Zeit sehnte ich mich nirgendwohin.
Erst viel später begann ich, das Sinnbild dieser satten, mystischen Aaldunkelheit in der romantischen Landschaftsmalerei Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu suchen, als solche Genremotive aus dem Leben des Landvolks sich größter Beliebtheit erfreuten. Nächtliches Fischen mit Fackel. Alfred Wahlberg, Marcus Larson, Kilian Zoll. Glauben Sie mir, Maler gab es in Hülle und Fülle. Jedes Jahr finde ich mindestens ein halbes Dutzend Gemälde, alle mit dem gleichen Vollmond, dem gleichen Feuer. Keines taugt etwas.
Und einem Adolf werde ich wohl nie mehr begegnen. Der Name ist ja immer noch ziemlich unglücklich. Haustiere mögen so heißen können, vor allem Kater, glaube ich, was mich an unseren eigenen Kater erinnert, von dem es während meiner gesamten Kindheit zwischen Meer und Wald hieß, er sei verschwunden, am Tag meiner Geburt entlaufen. Er hieß Kanabriel. Und so kam es, dass ich bereits in jungen Jahren ein Gespür für Namen entwickelte. Andere Kinder hießen Peter und Andrea, oder so ähnlich, und wenn ich mich recht erinnere, standen sie ihnen auch ganz gut, aber es gab immer jemanden, der, sozusagen allen Ernstes, wie er selbst hieß.
Ich möchte nur zu gern glauben, dass mir deshalb schließlich das ebenso dünne wie seltene Buch Über die Einwirkung des Namens auf die Persönlichkeit des Malers und Dichters Torsten Wasastjerna, gedruckt in Helsinki 1899, ins Auge fiel. Eine Bagatelle nur, lächerlich albern, aber ich stieß zufällig darauf und schätze es deshalb, gewissermaßen aus Loyalität, unklar zu wem oder was. Zum Zufall selbst vielleicht, der mir häufig genug, wenn auch nicht immer, gute Dienste geleistet hat.
Das Schöne an dem Buch ist, dass mir nicht ganz klar ist, ob der Autor es tatsächlich ernst meint, wenn er schreibt, der Name sei die halbe Erziehung. Will er mich auf den Arm nehmen?
Die Wasastjernas sind ein adliges Geschlecht aus der Zeit Gustav IV. Adolfs und Edelmänner wie Torsten Wasastjerna neigen dazu, aufgrund ihrer gesellschaftlichen Isolierung ein wenig eingeengt und deshalb engstirnig auf die Welt zu blicken, aber Torsten war letzten Endes ein wirklich guter Maler, der in seiner Jugend an der Akademie in Düsseldorf studiert hatte und später nach Paris ging. Beschränkt war er also nicht.
Vielleicht konnte er nur nicht erkennen, oder sich nicht dazu aufraffen herauszufiltern, was in aller Koketterie Wahrheit war.
Also ließ ich ihn fallen und kehrte zu dem Tohuwabohu aus Büchern zurück, das meine Bibliothek ist, und in der ich einmal mehr auf die noch schmalere Schrift Aale und Turbinen stieß, herausgegeben vom Schwedischen Wasserkraftverein im tristen Jahr 1941. Ein junger Dozent, der später Professor werden sollte, hatte es auf sich genommen zu untersuchen, wie viele Aale die Passage des Untra-Kraftwerks im Fluss Dalälven überlebten.
Die Aale ziehen am Ende ihres langen Lebens in die Sargassosee, um dort zu laichen, aber da Aale gern an unerwarteten Orten tief im Landesinneren leben, stoßen sie während dieser Wanderung auf zahlreiche Hindernisse, nicht zuletzt auf die Dämme der Wasserkraftwerke.
Die Untersuchung war simpel. Man fing so viele Aale, wie man nur konnte, schickte die ganze Bande in eine Turbine mit einer Leistung von zehntausend Pferdestärken und studierte anschließend, was auf der anderen Seite herauskam. Erstaunlich viele Tiere überlebten. Sie hatten bestimmt einen Drehwurm, aber sie lebten. Schweden war ein zivilisiertes Land. Und es sollte noch besser werden.
Trotzdem ging alles den Bach hinunter, aus Gründen, die keiner so genau kennt. Dass heute noch jemand in der Grantorpsbucht Aale fischt, erscheint jedenfalls wenig wahrscheinlich. Das Wasser ist nach wie vor glatt und seicht und die Sommernächte sind schwarz, aber das ist alles. Seit jener Zeit, als ich das Wort Karbidlampe auszusprechen lernte, hat selbst die Dunkelheit neue Namen erhalten. Und Aale gibt es kaum noch.
Die beiden Brüder des Autors wurden übrigens ebenfalls Professoren; gelehrte Männer, die viele Bücher schrieben und sich Namen machten, von denen noch lange die Rede sein wird. Ruhm. Ehre. Obwohl das ja nichts mehr zu bedeuten hat. Nichts währt ewig. Ich muss jetzt aufbrechen. Das von vorhin, dass ich mich als Kind nirgendwohin sehnte, war übrigens gelogen. Aber wahr ist, dass der Kater verschwand, und Kanabriel hieß.
Es begann alles mit der Milch.
Die Großmutter der Mädchen hatte als junge Frau in den Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts in der Einöde südlich von Trollhättan eine Meierei und einen Milchladen erworben, was sich als Volltreffer herausstellen sollte. Schon dort wurde das Matriarchat begründet; der Mann, den sie heiratete, war ein begabter Lustmolch, mehr nicht. Deshalb war sie sehr darauf bedacht, selbst die Fäden in der Hand zu behalten, als der Meiereibetrieb wuchs und, in Göteborg, alle Dämme brachen.
Als sie nun an einem Sommertag 1921 in den Hügeln oberhalb von Menton an der französischen Riviera sitzen, zwei depressive, fünfzehnjährige Mädchen, ist deshalb zumindest reichlich Geld vorhanden.
Sie sind Kusinen. Hanna und Lillan. Ihre Mütter sind Schwestern. Es gab noch eine weitere Schwester, und zwei Brüder, alle zwischen 1878 und 1885 geboren, bevor die Mutter, Milchmogulin Johanna Bondesdotter, ihren untreuen Mann Jöns Adler abservierte, der seine Aktivitäten ohne größere Bedenken anderweitig, mit neuen Frauen und neuen Kindern, fortsetzte.
Wer sich in der Sphäre rund um Familie Adler orientieren möchte, muss daher auf ein Gewimmel von Halbgeschwistern und auch ansonsten komplizierten Beziehungen gefasst sein. Man ließ sich scheiden und fing von vorn an, das taten sie alle, ausnahmslos und über mehrere Generationen hinweg. Trotzdem ist bis heute Geld übrig geblieben. Wir werden aus gegebenem Anlass schon bald darauf zurückkommen, aber vorher muss etwas darüber gesagt werden, wie und wann von irgendwoher dieses bemerkenswerte Gemälde von den Kusinen auftauchte. Das ist auch ein Anfang.
Es war im Herbst 2014, Ende November. Um diese Jahreszeit ist Stockholm nicht der beste denkbare Ort zum Leben, aber an dem Tag konnten nicht einmal die Dunkelheit und der Regen meiner guten Laune etwas anhaben. So ist das bei Jägern. Die unterschwellig intensive Spannung beim Warten auf Beute ist irgendwie narkotisierend. Das Wohlbefinden des Jägers rührt daher, dass er auf der Lauer liegt, an einer Lichtung im Wald oder des Nachts vor seinem Computer, versunken in das unerschöpfliche Kunstangebot unzähliger Internetauktionen.
Die meiste Zeit tut sich nichts, aber man kann ja nie wissen.
Anton Dich? Da klingelt docht was!
Von einer Sekunde auf die andere wird ein aussortiertes Erinnerungsfragment aktiviert.
Es ging um eine andere, ältere Geschichte. Einige Jahre war ich wie ein Spürhund dem jämtländischen Maler Olof Ågren hinterhergelaufen, allerdings ohne besonders viel zu finden, denn er war wirklich in jeder Hinsicht vergessen und unter einem Steinhaufen aus lauter Anekdoten begraben worden. Dann aber gelang es mir schließlich, die Briefe aufzustöbern, die er in Siena und Venedig und in Menton schrieb, wo er Anfang der Zwanzigerjahre lebte und arbeitete.
Und in einem dieser Briefe an einen Freund in Schweden schrieb Ågren, ganz beiläufig nur: »Dick ist hier, der Mann, der die Witwe geheiratet hat.« Und aus Gründen, an die ich mich heute nicht mehr erinnere, beschloss ich, auch dieser Spur ein Stück weit zu folgen. Dass die erwähnte Witwe Eva Arosenius war, begriff ich, denn Ågren und der Maler Ivar Arosenius waren bis zum Tod des Letztgenannten an Neujahr 1909 enge Freunde gewesen, aber dass ihr zweiter Ehemann der dänische Künstler Anton Dich war, der Dick ausgesprochen wird, erkannte ich erst später.
Stattdessen ging ich davon aus, dass Ågren Dick Beer meinte, einen anderen Maler, der sich in den gleichen Kreisen bewegte. Sie waren wie Zebrabärblinge in einem Jugendzimmeraquarium.
Tja, und so besorgte ich mir also die Adresse eines seiner Enkelkinder, einer hilfsbereiten Dame im Stockholmer Stadtteil Kungsholmen, mit der ich mich daraufhin einige Male traf. Dass ihr Großvater Dick Beer mit Eva Arosenius verheiratet gewesen sein sollte, wollte sie mir nicht glauben, aber ganz sicher konnte sie sich nicht sein, denn auch wenn sein Leben relativ kurz blieb, verlief es doch abwechslungsreich und dramatisch. Eine Zeit lang war er mit einer Zahnärztin verheiratet.
Dick Beer machte es wie alle in den Jahren nach 1910, er führte ein Lotterleben in Montparnasse. Die Kunstakademie in Stockholm war, vor und nach dem Krieg, wie eine überfüllte Bahnhofshalle für Zugreisen nach Paris, und weil Beer, der als Kind schwedischer Eltern in London zur Welt gekommen war, ein Faible für avantgardistische Veranstaltungen hatte, je größer, desto besser, wollte er bei Kriegsausbruch unverzüglich an die Front. Er schloss sich unter falschem Namen der Fremdenlegion an, hatte aber kurz darauf das Pech, in die Nähe einer explodierenden Granate zu geraten, woraufhin er im selben Krankensaal wie Fernand Léger lag und Kubist wurde. Übrigens auch Morphinist, mit schwachen Nerven sowie schwerhörig.
Er muss gemeint sein, dachte ich. Eva Arosenius hatte ein Auge für seltsame Männer. Exzentriker, Bohemiens. Aber, wie gesagt, nur ein paar Tage später erkannte ich, wie die Dinge wirklich lagen, und da nicht einmal meine Freunde in Dänemark diesen Anton Dich kannten, geschweige denn jemals eines seiner Bilder gesehen hatten, war ich das Ganze leid und setzte meinen Weg im Labyrinth in eine andere Richtung fort. Die Erinnerung an den Dänen sedimentierte.
Nun war er also zurück, als Signatur auf einem großen, arg mitgenommenen Gemälde, das zwei Jugendliche darstellte, von denen sich die eine, das Mädchen mit den Zöpfen, als das am häufigsten abgebildete Kind der schwedischen Kunstgeschichte herausstellen sollte — Lillan Arosenius, geboren 1906. Ich erkenne eine gute Geschichte, wenn ich sie sehe, und so machte ich mich gleich am nächsten Tag auf den Weg zu den Räumlichkeiten des Auktionshauses im Freihafen. Ich fror, als ich den LKW-Parkplatz vor den Lagerhallen der Bananenkompanie überquerte.
Begegnungen mit Kunstwerken sind eine sensible Angelegenheit. Reproduktionen werden einem Gemälde eigentlich nie gerecht, schon gar nicht auf einem Computerbildschirm; ist das Gemälde außerdem groß, verschwindet in der Übertragung etwas Wesentliches.
Das Bild stand auf dem Fußboden, hinter einem mit Sicherheit völlig unverkäuflichen Diwan, wurde aber nur teilweise verdeckt, denn es war wirklich groß — 116 x 88 cm — und ehe ich auch nur die Rückseite betrachten konnte, drängte sich mir der Eindruck auf, dass es niemals an einer Wand gehangen hatte. Ein Wasserschaden am ganzen unteren Rand erzählte stattdessen die Geschichte von einem schlecht isolierten Keller. Und einen Rahmen hatte es auch nie gehabt. So etwas sieht man. Dann die Rückseite; noch eine Signatur, ein paar Zahlencodes, ein fünfzackiger Stern und ein kleiner, vergilbter, mit Schreibmaschine beschrifteter Zettel mit einer Adresse am Rande von Paris. 3 Sentier des Jardies, Bellevue.
Das Bild gehörte mir, bald auch im formalen Sinn. Glücklicherweise bekam ich es zu einem erschwinglichen Preis, wenngleich er zehn Mal höher lag als das auffallend niedrig angesetzte Anfangsgebot. Jemand hatte dagegengehalten. Erst zwei Jahre später erfuhr ich rein zufällig, wer es gewesen war. Ein Sammler, vage mysteriös auch er, und vermögend.
Ich traf ihn an einem strahlend schönen Frühlingstag im 29. Stockwerk eines der höchsten Wohnhäuser in Monaco. Wir saßen im Sonnenschein auf seinem Balkon und sprachen über Anton Dich. Das Mittagessen war verspeist und die Weinflasche fast geleert. Unter uns die Stadt — die Luxusyachten, der Reichtum — und der Küstenstreifen in Richtung Italien.
Nun, es dauerte nicht lange, bis ich die Töchter der porträtierten Mädchen kennenlernte, zwei bezaubernde ältere Damen in Göteborg.
Hannas Tochter traf ich als Erste, in einer großen und kastenförmigen, gelben Villa in einem der vornehmeren Viertel der Stadt — der Architekt hatte den Auftrag erhalten, ein Gebäude zu entwerfen, das einem Päckchen Butter ähnelte. Aber sie wusste kaum etwas über den Dänen, nur, dass er früh nach Paris gegangen und mit Amedeo Modigliani befreundet gewesen war, und sich später, in den Dreißigerjahren, in der italienischen Stadt Bordighera, einen Katzensprung von der französischen Grenze entfernt, totgesoffen hatte.
Umso mehr hatte sie, selbstverständlich, über ihre Mutter, ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter zu erzählen, und schon da und dort, am ersten Tag meiner langen Suche nach dem in jeder Hinsicht verschwundenen Künstler Anton Dich, notierte ich mir am Rande meines Blatts, dass ich es möglicherweise mit einem Matriarchat zu tun hatte. Fantasievolle, verwöhnte, aber tatkräftige Frauen, spezialisiert auf widerspenstige Männer, die auf Dauer zu hohe Kosten verursachten, und deshalb auf unterschiedliche Art ausgemustert werden mussten.
Ich blieb bei dieser ersten Begegnung nicht länger als zwei Stunden, und als ich gehen wollte, um weiter die Geschichte des Malers zu jagen, und nur sie, blieb ich vor einer großen Bleistiftzeichnung im oberen Flur des Hauses stehen. Eine typische Akademiestudie, die Darstellung einer nackten, sitzenden Frau. Sie war gut. Richtig gut. Und meine Gastgeberin, die inzwischen allein in diesem riesigen Butterpäckchen lebte, sah, dass ich das sah, und meinte, diese Zeichnung hat meine Großmutter gemacht, Lisa Adler, sie nahm Anfang des letzten Jahrhunderts Unterricht an einer Kunstschule in Wien, oder auch in München.
»Es gibt noch eine«, fuhr sie fort, »eine ähnliche und fast genauso gute von einem Klassenkameraden, der an dem Tag mit seiner Staffelei neben Großmutter saß.« Nach diesen Worten verstummte sie und obwohl wir uns eben erst kennengelernt hatten, begriff ich, dass sie sich einen Spaß daraus machte, eine kleine, winzig kleine Pause einzulegen, um mich eine Frage einwerfen zu lassen.
»Und wer war das?«
»Adolf Hitler.«
An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass sie unmittelbar zuvor in aller Kürze von ihrem Großvater, Hannas Vater, erzählt hatte, einem mehr als üblich exzentrischen Juden aus der Stadt Lwiw in der Ukraine, die damals Lemberg hieß und in Galizien lag, was wiederum zu Österreich-Ungarn gehörte. Ein Regisseur und Schauspieler, der Isidor Gesang hieß, aber den Künstlernamen John Gottowt annahm und offenbar bis heute einen gewissen Ruhm für seine Rolle als Professor Bulwer in dem unter Cineasten als Klassiker gehandelten Stummfilm Nosferatu, gedreht 1922, genießt.
Von ihm hatte sie mir also gerade erzählt, unter anderem, dass er 1942 spurlos verschwunden war, während der nationalsozialistischen Säuberungen in der Nähe eines legendären Salzbergwerks irgendwo im südlichen Polen.
Es fällt mir normalerweise nicht schwer, mich an Namen zu erinnern, oder die verschiedenen Mitglieder einer Familie auseinanderzuhalten, aber bereits an diesem Punkt erfasste mich ein gewisses Schwindelgefühl. So war es beispielsweise unmöglich, eindeutig zu verstehen, wer gemeint war, wenn in Familie Adler jemand von Eva sprach. Es gab nämlich mehrere. Ich selbst werde den Namen bis auf wenige Ausnahmen für Eva Arosenius-Dich, geborene Adler, reservieren, obwohl sie eigentlich Ida hieß.
Ihre Tochter, die wirklich Eva hieß, wird in meiner Erzählung dennoch den Namen Lillan tragen. Ein widerwilliges Zugeständnis, muss ich gestehen, denn Kosenamen aus dem Kinderzimmer können wirklich eine Bürde sein; vielleicht nicht direkt charakterbildend, aber schmälernd. Mir bleibt jedoch keine Wahl. Das Puzzle fügt sich sonst nicht zu einem Ganzen. Das tut es vielleicht ohnehin nicht. Wir werden sehen.
Ich werde alles erzählen, was über Anton Dich bekannt ist, der 1889 in Kopenhagen geboren wurde und dessen Leben fünfundvierzig Jahre später in Bordighera endete, aber da er in Menton gewissermaßen hinter seiner Staffelei verborgen steht, vor Hanna und Lillan, muss ich einen Umweg über die Mütter der beiden Mädchen nehmen.
Nein, Moment, ich muss gar nichts. Ich habe alle Freiheiten. Aber es macht mir einfach Spaß. Außerdem denke ich, dass es von Vorteil sein kann, die Suche nach etwas schemenhaft Unbekannten im Licht zu beginnen. Abgesehen von Johanna und Jöns und ihrem anfänglichen Beitrag in Gestalt von rechtschaffener Strebsamkeit und schwer zu zügelndem Sexualtrieb, mag es deshalb gut sein, schon jetzt etwas über jedes ihrer fünf Kinder zu sagen, die später den Kern im Adlerschen Imperium bilden sollten.
Axel war der älteste und hatte eine Nase für Geschäfte, danach kamen die Schwestern, Eva, Elvi und Lisa, die alle Künstlerinnen werden wollten, und zuletzt, aber nicht weniger wichtig, wurde ihr kleiner Bruder Nils Bonde Adler geboren, Militär, Playboy, Mäzen, eingefleischter Junggeselle und konvertierter Katholik mit einem speziellen Interesse an Jugendarbeit. Alle wurden uralt.
Der Ausgangspunkt ist also das Jahr 1921, in dem das Bild gemalt wird, und von dem aus man gute Sicht in beide Himmelsrichtungen der Zeit hat. Die Luft ist rein und klar. Johanna war damals alt — sie starb zwei Jahre später — und hatte die Firma längst an Axel übergeben. Dennoch war sie in jenem Sommer in Menton, in den Hügeln, dabei. Eva und Anton wohnten dort damals. In einem Brief an ihren Bruder Nils schreibt Eva:
»Mutter saß Tag für Tag an einem kleinen Tisch im Garten und las und sah aus wie ein alter deutscher Holzschnitt.«
Im selben Brief schrieb sie im Übrigen auch etwas über Lillan und ihre frühreife Kusine: »Es war so nett, Hanna kennenzulernen. Sie erwies sich als ein vernünftiges, fröhliches und süßes junges Mädel. Hanna kam einem zwei Jahre älter vor als meine Eva, aber die beiden waren sehr gute Freundinnen und hatten viel Spaß zusammen und es ist schade, dass sie so weit voneinander getrennt sind, denn ich glaube, sie könnten sich gegenseitig nutzen und Freude bereiten.«
Hanna wohnte damals mit ihren Eltern in Berlin, und Lillan hatte man in einem Mädcheninternat irgendwo nahe Paris deponiert. Wie fröhlich sie waren, darüber lässt sich wahrlich streiten. Aber wir wollen den Ereignissen nicht vorausgreifen.
Die Schwestern Adler sind ein Kapitel für sich. Und vielleicht sollte ich deshalb mit ihrem großen Bruder Axel anfangen, der als einer der gerissensten oder zumindest erfolgsverwöhntesten Geschäftsmänner der Zeit zwischen den Kriegen in die Annalen einging. Aber die Schwestern — Eva (geboren 1879), Elvi (1880) und Lisa (1883) — liefern ein bunteres Bild, und die Geschichte möchte, dass ich mit Lisa beginne, Hannas Mutter. Der Rebellin in der Familie. Jüngere Geschwister neigen ja bekanntermaßen dazu auszubrechen und, so gut es ihnen gelingt, ihren eigenen Weg zu gehen.
Über ihre Kindheit ist außer formalen Dingen nur wenig bekannt. Sie lebte zwar bis 1981 und hätte somit reichlich Zeit gehabt zu erzählen, sagte im Grunde aber nur, ihre Kindheit sei uninteressant gewesen. In erster Linie Milchgeschäfte, darf man vermuten, und in Etappen Umzüge zu immer besseren Adressen. Schon 1901, mit achtzehn Jahren, ging sie jedoch nach Wien, um Kunst zu studieren. Das war ganz sicher kein Zufall.
Schließlich war ihr Vater, der fleißige Zuchtbulle Jöns, ein fröhlicher Luftikus, der es liebte, sich auf den Gutshöfen, die er mit großer Beharrlichkeit erwarb, mit Künstlern zu umgeben. Zumindest in dieser Hinsicht war das Milieu, in dem die Kinder aufwuchsen, förderlich. Außerdem waren Schulen für Kunst und Handwerk ein akzeptabler Weg für Mädchen aus den besser gestellten Klassen, als ein vorübergehender Zwischenhalt, während sie auf einen standesgemäßen Heiratsantrag warteten. Dass die Kunst zu ihrem Beruf werden könnte, war nur selten Teil des Plans. Sie gehörte bloß zur bürgerlichen Bildung, genau wie Klavier spielen und Schondeckchen häkeln zu lernen.
Es war die Zeit, in der dort Gustav Klimt und seine Kameraden von der Jugendstilbewegung den Ton angaben; Wien und München zogen als annähernd parisische Magneten junge Ausreißer aus ganz Europa an, und eines schönen Tages, als Lisa Adler sich gerade in einer Kunstausstellung befand, tauchte einer von ihnen auf. Ein eleganter junger Mann, Architekturstudent aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in Lemberg: Isidor Gesang. Er geht aufs Ganze und sagt mit der nonchalanten Leichtigkeit eines Mannes von Welt, Lisas Hände seien die schönsten, die er jemals gesehen habe.
Damit hatte sie einen Mann.
Die Architektur sagte ihm nicht zu und so wechselte er auf eine Schauspielschule, was daheim in Lemberg sehr schlecht ankam, wo man sich außerdem so über die Frau seiner Wahl grämte, dass man beschloss, ihm den Geldhahn abzudrehen. Lisa begegnete ihren Schwiegereltern nur ein einziges Mal, was ihr aber nichts ausmachte, denn sie besaß eigenes Geld, und wie man die Sache daheim in Göteborg sah, scheint sie auch nicht sonderlich bekümmert zu haben. Es ist fraglich, ob sie überhaupt besonders viel erzählte.
Dennoch verbreitete sich das Gerücht, die kleine Schwester Lisa säße in der Patsche. 1904 startete deshalb eine Rettungsexpedition, die aus ihren Geschwistern Elvi und Axel bestand.
Der Plan führte die beiden nach Wien, wo sie ihre Schwester irgendwie zur Vernunft bringen sollten, aber als sie dann wohlbehalten am Einsatzort angekommen waren, dachten sie ganz offensichtlich, dass die Patsche dort in Wien bedeutend mehr Spaß machte als die Milch daheim. Konsequenterweise endete die Expedition daraufhin damit, dass Elvi und Isidors Freund Heinrich Wiesenberg ein Paar wurden und sie dortblieb, während Axel zurück im heimischen Göteborg die Neuigkeit überbringen musste, dass Lisa und Isidor, alias John Gottowt, in wilder Ehe lebten und zu allem Überfluss ein gemeinsames Kind hatten. Schon im Jahr darauf war auch Axel wieder in Wien.
Heinrich Wiesenbergs Herkunft ist ein wenig unklar, aber dass auch er ein aus Lemberg stammender Jude war, scheint festzustehen. Später nahm er den Künstlernamen Henrik Galeen an. Ich werde auf ihn und Hannas Vater John Gottowt zurückkommen. Beide machten Karriere beim Film.
Zunächst aber zu Axel Adler. Er ist zwar nur eine Nebenfigur, aber wer ist das nicht? Dass er die Milchgeschäfte übernehmen würde, soll ganz selbstverständlich gewesen sein, und das nicht nur, weil er der älteste war. Er war nicht auf den Kopf gefallen, handelte schon als Kind mit Bonbons und wurde als Jugendlicher im Unternehmen seiner Mutter angestellt, das bereits vor der Jahrhundertwende rasant expandierte.
Als die Firma 1903 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, war er, mit vierundzwanzig Jahren, im Prinzip ihr Vorstandsvorsitzender. Man besaß zwei Dutzend Meiereien und doppelt so viele Milchläden.
Kurz nach seinem Besuch in Wien war er die Milch auf einmal leid, gab seine Arbeit auf und reiste mit einer Stange Geld in der Tasche erneut in die Metropole, um eines der ersten Kinos der Stadt zu eröffnen. Milchgeschäfte und Kinosäle waren einander letztlich ziemlich ähnlich, dachte er, und beschloss, in einem ersten Schritt, zehn Kinos in Wien zu bauen, anschließend weitere im Rest der Doppelmonarchie und danach, tja, in Europa.
Aber er verlor auch daran das Interesse, verkaufte seinen Betrieb mit gutem Gewinn und kehrte nach Schweden zurück, genauer gesagt nach Alnarp im südschwedischen Schonen, wo er eine Ausbildung zum Agraringenieur absolvierte, nach der er schon bald wieder im Milchgeschäft tätig war.
Das Familienunternehmen, das den Namen Arla Meierei bekommen sollte, wuchs und wuchs, und als es eines schönen Tages veräußert wurde, hatte Axel seinen Schwestern längst deren Anteile abgekauft. Das war in den Dreißigerjahren. Er verkaufte genau im richtigen Moment. Und investierte das Geld in die berühmte Reederei Atlantic sowie in die Göteborger Handelsbank, auch das genau im richtigen Moment.
Nun könnte man meinen, dass Axel Adlers Bravourstücke meinem Bild einer von Frauen dominierten Familie widersprechen, aber man darf nicht vergessen, dass seine Frau die streitbare, 1888 geborene Feministin Rut Hallenborg war. Sie war es, die den Hof, auf dem die beiden lebten, in eine Art informelle Volkshochschule und einen politischen Diskussionssalon mit Gästen vom Kaliber einer Elin Wägner umbaute. Anfangs war sie freigeistig liberal, später Sozialdemokratin, und ich nehme an, dass ihre Radikalität dazu beitrug, dass das Vermögen — heute etwa zwei Milliarden Kronen — in Fonds für gemeinnützige Zwecke festliegt.
Nur die Nobelstiftung und vielleicht noch eine oder zwei andere sind größer in Schweden.
In den Dreißigerjahren radikalisierte Rut sich weiter; der Zweite Weltkrieg hatte gerade begonnen, da wurde sie wegen kommunistischer Tendenzen aus der sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen. Und als der Krieg vorbei war, saß sie für die Schwedische Kommunistische Partei im Stadtrat. Aber das war noch nicht das Ende.
Als die Kommunisten sich 1967 spalteten, hatte Rut Adler kein Problem, sich für eine Seite zu entscheiden, bei ihrem Tod 1969 war sie Mitglied der Marxistisch-Leninistischen Partei Schwedens. Was für eine Frau. In ihren letzten Lebensjahren terrorisierte sie Lyndon B. Johnson mit halsstarrigen Briefen, in denen sie ihn ermahnte, endlich zur Vernunft zu kommen und den idiotischen Krieg in Vietnam zu beenden.
Ich muss, fürchte ich, doch noch etwas über die Namen einflechten. Auf diesem Gebiet herrscht wirklich totale Verwirrung. Wenn sie sich wenigstens auf Adler beschränkt hätten. Aber von wegen.
Rut und Axel vermehrten sich, ehe sie sich wie alle anderen Familienmitglieder scheiden ließen, und weil ihr ältester Sohn in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte, zog er Anfang der Dreißigerjahre nach New York, um an der Cornell University Landwirtschaft zu studieren. Wie nicht anders zu erwarten, gründete er im Anschluss ein eigenes Milchimperium in den USA, aber Adler wollte er um nichts in der Welt heißen, denn das war in Amerika ein jüdischer Name, und er selbst sah sich als Nachfahre arischer Wikinger. Deshalb nannte er sich Adlerberth.
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