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Die Schönheit des Scheiterns: Zwei Maler, zwei Schicksale – und das große Vergessen Eigentlich wollte Fredrik Sjöberg das Schreiben aufgeben: Er hatte keine Schulden mehr und genügend Brennholz hinter dem Haus, das war alles, was er sich je versprochen hatte. Doch da gab es diese Geschichte, die erzählt werden wollte. Sie dreht sich um zwei Künstler, die heute so gut wie vergessen sind und deshalb wohl als "gescheitert" betrachtet werden können. Und es geht um die Frage, was das überhaupt heißt, scheitern – und ob es nicht vielleicht sogar etwas Gutes ist? Womöglich sogar eine echte Kunst? Olof Ågren, geboren 1874, war ein Eremit, der viele Jahre einsam auf der Felseninsel Krokholmen lebte, wo er nachts mit dem Bart am Kissen festfror. Als eine Ausstellung in Stockholm doch noch den späten Ruhm brachte, bat Ågren alle, sich zum Teufel zu scheren, gab das Malen auf, kaufte sich einen Bauernhof auf steinigem Grund und verbrachte den Rest seines sehr langen Lebens als ein nach allen weltlichen Maßstäben gescheiterter Bauer. Lotte Laserstein, geboren 1898, floh vor den Nazis 1937 nach Stockholm, wo sie in derselben Galerie ausstellte wie Ågren. Auch ihre Ausstellung war ein Erfolg, die Gemälde grandios. Doch nach der Ermordung ihrer Mutter im KZ gelang es ihr nicht mehr, ihr künstlerisches Niveau zu halten. Mit Auftragsarbeiten hielt sie sich über Wasser, während ihr gewaltiges Hauptwerk Abend über Potsdam in ihrem Wohnzimmer hing. Beinahe zufällig wurde auch ihr in hohem Alter noch später Ruhm zuteil. Begegnet sind die beiden sich nie, doch Sjöberg gelingt es, die Biografien dieser sonderbaren Außenseiter miteinander zu verknüpfen und ihr ganz unterschiedliches "Scheitern" so zu beleuchten, dass dabei viel Bewegendes, Skurriles und Schönes ans Licht kommt – immer auch auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage: Wofür mache ich das hier eigentlich alles? "Inzwischen sind Sjöbergs Titel nicht nur ein Markenzeichen, sondern auch zum Suchtmittel für die Sjöberg-Fangemeinde geworden." Deutschlandradio über Die Kunst zu fliehen
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Seitenzahl: 186
Veröffentlichungsjahr: 2018
Fredrik Sjöberg
Über die Flüchtigkeit des Ruhms und den Umgang mit dem Scheitern
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Über Fredrik Sjöberg
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
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Fredrik Sjöberg ist schwedischer Schriftsteller, Journalist, Übersetzer und Schwebfliegensammler. Seine Bücher sind in mehrere Sprachen übersetzt, seine Schwebfliegensammlung war in Venedig auf der Biennale im schwedischen Pavillon als Kunstobjekt über das Sammeln ausgestellt. Bei Galiani erschienen von ihm Der Rosinenkönig. Von der bedingungslosen Hingabe an seltsame Passionen (2011) und Die Kunst zu fliehen. Vom Glück, sich in kleine Dinge zu versenken und große Kontinente zu entdecken (2012).
Paul Berf lebt als freier Übersetzer in Köln. Er übersetzt aus dem Schwedischen, Norwegischen und Dänischen ins Deutsche u.a. Werke von Selma Lagerlöf, Henning Mankell und Kjell Westö sowie den sechsbändigen Romanzyklus Min Kamp von Karl Ove Knausgård.
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Eigentlich wollte Fredrik Sjöberg das Schreiben aufgeben: Er hatte keine Schulden mehr und genügend Brennholz hinter dem Haus, das war alles, was er sich je versprochen hatte. Doch da gab es diese Geschichte, die erzählt werden wollte. Sie dreht sich um zwei Künstler, die heute so gut wie vergessen sind und deshalb wohl als »gescheitert« betrachtet werden können. Und es geht um die Frage, was das überhaupt heißt, scheitern – und ob es nicht vielleicht sogar etwas Gutes ist? Womöglich sogar eine echte Kunst?
Olof Ågren, geboren 1874, war ein Eremit, der viele Jahre einsam auf der Felseninsel Krokholmen lebte, wo er nachts mit dem Bart am Kissen festfror. Als eine Ausstellung in Stockholm doch noch den späten Ruhm brachte, bat Ågren alle, sich zum Teufel zu scheren, gab das Malen auf, kaufte sich einen Bauernhof auf steinigem Grund und verbrachte den Rest seines sehr langen Lebens als ein nach allen weltlichen Maßstäben gescheiterter Bauer.
Lotte Laserstein, geboren 1898, floh vor den Nazis 1937 nach Stockholm, wo sie in derselben Galerie ausstellte wie Ågren. Auch ihre Ausstellung war ein Erfolg, die Gemälde grandios. Doch nach der Ermordung ihrer Mutter im KZ gelang es ihr nicht mehr, ihr künstlerisches Niveau zu halten. Mit Auftragsarbeiten hielt sie sich über Wasser, während ihr gewaltiges Hauptwerk Abend über Potsdam in ihrem Wohnzimmer hing. Beinahe zufällig wurde auch ihr in hohem Alter noch später Ruhm zuteil.
Begegnet sind die beiden sich nie, doch Sjöberg gelingt es, die Biografien dieser sonderbaren Außenseiter miteinander zu verknüpfen und ihr ganz unterschiedliches »Scheitern« so zu beleuchten, dass dabei viel Bewegendes, Skurriles und Schönes ans Licht kommt – immer auch auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage: Wofür mache ich das hier eigentlich alles?
Motto
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
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43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
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63. Kapitel
64. Kapitel
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67. Kapitel
68. Kapitel
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70. Kapitel
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80. Kapitel
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154. Kapitel
155. Kapitel
Dank
Zitierte Literatur
Hinweis zum Bildteil
Bildteil
Es gab etwas, das ich verstehen und erzählen wollte, wenngleich nicht zwingend in dieser Reihenfolge.
Ich begehrte nur eins, frei zu sein. Finanziell unabhängig, um frei zu sein, dorthin zu gehen, wohin es mich zog, und zu tun, wonach mir der Sinn stand. Und so kam es am Ende auch. Verflucht harte Arbeit und sagenhaftes Glück waren dazu erforderlich, aber es gelang, nach vielen Jahren. Und so stand ich schließlich auf der Bühne, im zielsicheren Lichtkegel aus Anerkennung des Beleuchters. Und das Leben gestaltete sich leichter da oben, dies zu leugnen, wäre einfach nur dumm. Trotzdem drängte sich mir immer stärker der Gedanke auf, zur rechten Zeit beiseitezutreten und aufzuhören. Keine Schulden mehr und genügend Brennholz im Wald. Ich würde schon zurechtkommen. Doch aufzuhören ist eine Kunst, merkte ich. Es blieb noch eine Erzählung zu schreiben. Aus der Ferne betrachtet schien mir die Geschichte von zwei, heute vergessenen, Malern zu handeln. Zwei Spiegel, fürchte ich. Das zu leugnen wäre ebenfalls einfach nur dumm.
Mit Olof Ågren verhielt es sich wie folgt. Eine Legende. Schon lange vor seiner ersten Einzelausstellung im Oktober 1933 in der Galerie Moderne am Nybroplan in Stockholm war er der Verschwundene, der Mann, von dem andere erzählten, eine lebende Legende, bereits in jungen Jahren. Und nun wollten die Lobeshymnen überhaupt kein Ende mehr nehmen. Die Vernissage wurde zu einem Triumph. Die Kritiken waren glänzend, die Gemälde verkauften sich und Ågren stand im Rampenlicht. Ein sechzigjähriger Misanthrop. Selbst die Schwedisch-Französische Kunstgalerie versuchte, ihn in ihren Kreis zu locken, was damals der Königsweg zu anhaltendem Erfolg beim hasenfüßigen Kunstpublikum war. Die Wanderjahre waren vorbei und die Früchte reif, geerntet zu werden.
Und dann passierte es. Olof Ågren hieß alle, sich gefälligst zum Teufel zu scheren, hörte auf zu malen und ging seines Weges. Fort. Er erwarb einen unrentablen Kleinbauernhof auf steinigem Grund in Flivik, Misterhult, Småland, und verbrachte dort den Rest seines sehr langen Lebens als ein nach allen weltlichen Maßstäben gescheiterter Bauer. Er gab sich wirklich größte Mühe, in Vergessenheit zu geraten. Sicher, er hatte immer schon sehr zurückgezogen gehaust, jahrelang hatte er buchstäblich isoliert in einem primitiven Holzhäuschen auf dem Felseneiland Krokholmen, oben bei Arholma in den Schären nördlich von Stockholm, gelebt, aber damals malte er wenigstens, genau wie später, in den zwanziger Jahren, als er sich durch Südeuropa treiben ließ. Doch damit war nun Schluss. Der Rest sind Kartoffeln. Und Kühe. Er heiratete sogar; das hätte nun wirklich niemand für möglich gehalten. Und die Legenden bekamen Flügel, während die Sammler sich um jene Kunstwerke balgten, die nicht verloren gegangen waren. Danach – nichts mehr. Als Ågren in den sechziger Jahren zu seinen Ahnen ging, zeitgleich zu Andy Warhols erstem Porträt von Elvis Presley, schien man sich vor allem zu wundern, dass er bis eben noch gelebt hatte. Eine Retrospektive zu seinem Andenken, 1974 in Prinz Eugens Waldemarsudde, hundert Jahre nach der Geburt des Künstlers, blieb weitestgehend unbeachtet. Jahrzehnte später kreuzte er meine Spur.
Man nennt sie meist Solitäre und Einzelgänger; Eigenbrötler und Sonderlinge. Maler, die ihren eigenen Weg gehen, so frei wie die Vögel, gefeiert, ohne darauf etwas zu geben, aber so ist es in Wahrheit, wenn überhaupt, nur selten. Nur ein Ehrentitel, ausgesprochen, wenn die Worte fehlen, und wohl in erster Linie geeignet, etwas Dumpferes, Schwereres zu übertünchen: Zwang, Zweifel und Einsamkeit. Niemand geht seinen eigenen Weg. Niemand. Und gerade deshalb verlieren Legenden wie die von Kaspar Hauser niemals ihre Faszination, genau wie die Geschichten von wiedergefundenen Dschungelkindern, die glühende Augen haben, aber nicht sprechen können. Sie erzählen von einer Freiheit, die im Grunde ein Gefängnis ist. Der Solitär war ein Vogel ohne Flügel, und die Stilrichtungen der Malerei sind Sprachen wie alle anderen auch. Unfreiheit und Konventionen, von Anfang bis Ende. Begrenzungen. Gott sei Dank.
Ich weiß so gut wie nichts. Am Anfang wusste ich einiges, aber das ist lange her. Das Einzige, was heute noch wächst, ist das Unwissen, und es hilft mir nicht, dass ich versuche, mich im Spiel zu halten, indem ich unbedeutende Menschen und andere Einzelheiten genauestens unter die Lupe nehme. Im Grunde macht das alles nur noch schlimmer. Sehr wenig über etwas Großes zu wissen, ist immerhin noch erträglich. Am schlimmsten ist der Verdacht, dass ich inzwischen nicht einmal sonderlich viel über mich selbst weiß: wonach ich suche, oder warum. An manchen Tagen, in kurzen Momenten, kenne ich den Grund, aber das führt lediglich dazu, dass ich nachts schlecht schlafe. Mich bloß wegwünsche.
Wir wollen uns hier nicht in die komplizierten Verwicklungen der französischen Religionskriege im 16. Jahrhundert vertiefen, nur erwähnen, dass die Kämpfe Ende des 17. Jahrhunderts erneut aufflammten, woraufhin zahlreiche Hugenotten Frankreich für immer verließen und eine Gruppe dieser Flüchtlinge beschloss, die damals unbewohnte Insel Rodrigues mitten im Indischen Ozean zu besiedeln; aber aus irgendeinem Grund war man bei der Rekrutierung vor dem Kolonisationsversuch wenig erfolgreich; die Siedler waren nur zu zehnt, alles Männer. Ich stelle mir vor, dass man sehr religiös sein muss, um eine solche Aufgabe zu meistern. Wie nicht anders zu erwarten, wurden sie die Sache schnell leid, bauten sich schon zwei Jahre später ein Floß und paddelten davon. Man darf wohl annehmen, auf der Suche nach Frauen. Auch darein wollen wir uns nicht weiter vertiefen, nur festhalten, dass diese vom Winde verwehten Hugenotten in der Zwischenzeit zumindest eine interessante Entdeckung gemacht hatten: einen Vogel. Auf Rodrigues fanden sie einen Vogel, dem sie den Namen Solitär gaben. Groß und schwer und mit verkümmerten Flügeln, ähnlich wie der Dodo auf Mauritius, und genau wie dieser sollte auch der Solitär bedauerlicherweise aussterben. Es gibt ihn nicht mehr. Auf einmal fällt mir Björn von Rosens Gedicht über den Tod des letzten Solitärs ein, in seinem Buch Bestiarium, das er zusammen mit Harry Martinson schrieb, einfach so zum Spaß. Vor allem die letzte Strophe tauchte aus den Tiefen meines Gedächtnisses auf. »Spatzen gibts in jeder Hemisphäre. Krähen gibts, doch keine Solitäre.«
Olof Casimir Ågren wurde 1874 in Alsen im nordschwedischen Jämtland geboren. Er wuchs unweit seines Geburtsorts in einem kargen Elternhaus in Häste auf der Insel Rödön auf, wo der Vater, der ein Soldat der Reserve war, nach bestem Wissen und Gewissen ein Stück Land bestellte. Über Ågrens Kindheit und Jugend ist kaum etwas bekannt, außer dass es einen ersten Freundeskreis gab – den Diskussionsclub Still, eine Gruppe radikaler Bauernsöhne auf Rödön, vier Jungen Anfang der 1890er Jahre. Wie eine Garage-Rock-Band. Sie trafen sich an den Wochenenden und sprachen über Literatur, Kunst und Politik. Außer Ågren bestand die Gruppe aus Olof Alström, Lars Larsson und Anders Kilian. Heute sind sie alle vergessen. Ich erwähne sie trotzdem, weil sie Ågrens Nährboden waren. Alström wurde Journalist und war später ein streitbarer Gegner der Nazis, jahrzehntelang Chefredakteur der Sundsvall Tidning; Larsson wurde Bauer und Dichter, berühmt in seiner Gegend, während Kilian später landwirtschaftspolitische Erweckungsschriften veröffentlichte, so dick wie Heuballen.
Anders Kilian war ein Befürworter des Georgismus, einer von dem amerikanischen Ökonomen Henry George (1839–1897) erdachten politischen Philosophie, deren Grundgedanke darin besteht, dass das private Eigentumsrecht alles umfassen sollte, was ein Mensch erzeugt, jedoch nicht das Land und andere natürliche Ressourcen. Die Ideen des Georgismus, dass der Staat den Grund besitzen muss – die Wälder, die Gruben, die Flüsse, einfach alles –, alternativ solche Ressourcen und nichts anderes besteuern sollte, konnten sich nie wirklich durchsetzen, obwohl zumindest die Deutschen versuchten, sie in vollem Umfang zu verwirklichen, allerdings in gebührendem Abstand, in einer der kurzlebigen Kolonien des Deutschen Reichs, im chinesischen Kiautschou, vor dem Ersten Weltkrieg. Erst heute sind Gedanken dieser Art wieder auf dem Vormarsch, als Teil der grünen Ideologien unserer Zeit. Die Jahre um die vorige Jahrhundertwende waren ein politischer Flohmarkt. Man findet praktisch alles. Und schon bald schwärmte auch die Malerei in alle Richtungen aus, wie Flugameisen.
Warum Olof Ågren beschloss, Künstler zu werden, weiß keiner. Die Voraussetzungen dafür waren offenbar vorhanden, eine bessere Erklärung gibt es nicht. Ein eigensinniges Kind, das lieber zeichnete als redete. Vielleicht existierte in der Familie auch eine gewisse Neigung, zu neuen Ufern aufzubrechen; ein Bruder mit Geschäftssinn sollte später ein Herrenbekleidungsgeschäft in Östersund eröffnen und eine seiner Schwestern war lange als Krankengymnastin in Amerika tätig, was den Blick dafür schärft, dass die schwedischen Kleinbauernhöfe gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als der Hunger der Notjahre noch in frischer Erinnerung war, manchmal kaum mehr hervorbrachten als Flüchtlinge. Umtriebige, aber bitterarme junge Leute, die andernorts alles zu gewinnen hatten, und sei es auf der anderen Seite des Erdballs. Außerdem hatte Ågren alle Zeit der Welt, sich für etwas Großes zu entscheiden, als er unter Diphterie litt, einer fürchterlichen Krankheit, die heute praktisch nicht mehr existiert, in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts jedoch noch in einem von zehn Fällen tödlich endete, nämlich durch Ersticken. Er erzählte nicht viel darüber, erwähnte lediglich, er habe in seiner Jugend lange unter Diphterie gelitten. Die Erinnerung war verblasst.
Für mich lag jede solche Verheißung etwas näher, und deshalb möchte ich gern glauben, dass auch er sich so entschied. Möchte, wohlgemerkt. Wissen tue ich es nicht. Wenn ich nur wieder gesund werde! Ich stand kurz davor, zu Hause auszuziehen, und obwohl meine Krankheit nicht tödlich war, gab es keinen anderen Weg zur Heilung, als in Ruhe zu warten, im Haus, monatelang. Totale Tristesse. Nie bin ich in meiner Fantasie so lange durch Wälder gewandert wie in jenem Herbst, nie kochte ich so viel Kaffee über offenem Feuer in unwegsamem Gelände. Einsam und frei, aber vor allem gesund. Und obwohl der Rucksack, den ich mir damals als eine Beschwörung zulegte, die meiste Zeit unbenutzt blieb, lebte die Erinnerung an die Verheißung zu gehen und sich allein darüber schon zu freuen, noch lange intensiv weiter in mir. Bis heute beginne ich jeden Morgen damit, gesund zu sein, sonst nichts, und damit, dass es mir freisteht zu gehen, außerdem interessierte ich mich so gut wie gar nicht für den Wahnsinn, seinen Wert als Erklärung, sobald das Thema Kunst angeschnitten wurde. Nietzsche, Hill, van Gogh. Wie die Geschichte endet, ist bloß das, woran man sich am ehesten erinnert. Der Einfluss der Krankheit für den Anfang, den eigentlichen Entschluss, eine bestimmte Bahn einzuschlagen, wird häufig unterschätzt.
Mich wundert zudem, dass jemand seinen Sohn Casimir taufen lässt. Vielleicht kursierte der Name in der Familie. Der einzige Kandidat, der mir als ein würdiges Vorbild einfällt, ist der unglückselige Johan Casimir Vasa (1609–1672), vor dessen imposantem Grab ich einmal in Saint-Germain-des-Prés in Paris stand. Mit einem gewissen Erstaunen las ich die Inschrift im Stein, das Wenige, was ich von ihr begriff, und erfuhr, dass hier die edleren Teile von Casimir, König von Polen und Schweden, dem letzten aus dem Geschlecht Vasa, ruhen. Das konnte ja wohl nicht stimmen, oder? Aber es stimmte. Er war der Sohn Sigismunds, der nachweislich König von Schweden gewesen war. Nach zahllosen Abenteuern in seiner Jugend, darunter eine Gefangenschaft in Frankreich und diverse Intrigen, die damit endeten, dass der Papst ihn zum Kardinal ernannte, wurde Casimir in seinem Heimatland Polen schließlich König. Es lief nicht besonders gut. Nach Karl Gustav X. sinnlosem Krieg gegen die Polen in den fünfziger Jahren des 17. Jahrhunderts zwang man ihn, jeglichen Ansprüchen auf die schwedische Krone zu entsagen. Den Titel durfte er allerdings behalten. Casimir, König von Schweden. Immerhin ist Gustav Vasa sein Urgroßvater gewesen. Später verlor er dann auch noch die polnische Krone und ließ sich am Ende als Abt in Paris nieder, wo er, so heißt es, eine formidable Balance zwischen Andachtsübungen und weltlicheren Vergnügungen fand. Nur ein paar Tage vor seinem Tod heiratete er eine Frau namens Marie Mignot, die in den Annalen als Abenteuerin tituliert wird und deren Vorliebe für ältere, sehr vermögende Männer ein glänzendes Geschäft für sie war. Die edleren Teile; was damit gemeint war, erschloss sich mir nicht, aber ein Spezialist für die sterblichen Überreste Casimirs hat mir später erzählt, dass der Sarkophag in Saint Germain nur sein Herz enthält. Der Rest soll in Nevers in der Bourgogne liegen, wo er starb.
Ich mietete ein Auto in Östersund und fuhr einmal um den See Storsjön herum. Keiner begriff warum. Es dauerte einen ganzen Tag. Wenn man um unbekannte Seen und Inseln herumfahren oder -gehen kann, dann tue ich es, oder versuche es zumindest, wie ein Kaufinteressent. Im Übrigen wusste ich auch nicht recht, wonach ich suchen sollte, außer nach Ågrens Elternhaus und dem Hof auf Rödön, wo er aufwuchs. Es war der schönste Tag in jenem Herbst, einer der ersten Septembertage. Sommerlich warm und still unter einem wolkenlosen Himmel, der von prasselnden Libellen nur so wimmelte. Ich sah die Häuser entlang der Straße, Landstraße 666, genau wie den See aus allen Himmelsrichtungen. Der Glückstreffer war eine Erhebung, ziemlich hoch, deren Kuppe ich über einen steil ansteigenden Wanderweg durch den Wald erreichte, der hinter dem Haus in Alsen begann, in dem Ågren geboren wurde. Honingsberget. Man kann ja nicht den ganzen Tag immer nur im Auto sitzen. Nicht bei diesem Wetter. Den gleichen Pfad ging er als Kind, dachte ich, und betrachtete die krakeligen Felszeichnungen am Glösabäcken, Elche darstellend, 4000 Jahre alt, die seit ihrer Entdeckung im 17. Jahrhundert Gegenstand eines langwierigen Wettratens über den Aberglauben der Steinzeitmenschen gewesen sind.
Vom Scheitelpunkt der Anhöhe aus sieht man sieben Kirchtürme. Auch die Berge des Oviksfjäll, violett in weiter Ferne, gerade so wie in einem seiner frühesten Gemälde. Das Ganze war wirklich sagenhaft schön, und es gab dort noch mehr Libellen, die mich an das Phänomen der Gipfelbalz erinnerten, denn ich wusste wirklich nicht, was ich dort zu suchen hatte. Das etwas lustlose Wort Gipfelbalz bezeichnet ein Verhalten, unter Entomologen wohlbekannt, das darin besteht, dass Schmetterlinge und andere Insekten Erhebungen und Hügel in flachem Terrain aufsuchen, an denen sich die Männchen einen Kampf um das beste Revier liefern, und zwar auf dem Gipfel, ähnlich wie kleine Jungen auf einer Schneehalde, woraufhin die Weibchen eintreffen und sich vom Besten befruchten lassen. Die Natur taugt als Vorbild nicht besonders, aber auf dem Weg nach unten leistete mir immerhin ein Unglückshäher Gesellschaft, der netteste Vogel der schwedischen Fauna. Neugierig, furchtlos und von Mythen umweht.
Der erste Zwischenhalt auf seinem Weg in die Welt hinaus führte ihn als Lehrling zu einer Malerfirma in Östersund; Künstler in spe, die von unten kamen, fingen damals oft so an, als Anstreicher. Anschließend ging es nach Stockholm. Ågren studierte zwei Jahre an der Technischen Schule, die heute Hochschule für Kunst und Design heißt. Möglicherweise hatte er den Ehrgeiz, Architekt zu werden, wurde dann aber 1898 an der Königlichen Kunstakademie angenommen, wo er bis 1903 eingeschrieben war. Ein erhalten gebliebener Brief an Gustaf Cederström, einen seiner Lehrer, deutet allerdings an, dass er länger hätte bleiben sollen. Er ist auf Februar 1904 datiert, und zu diesem Zeitpunkt hielt Ågren sich offenbar wieder in Jämtland auf. »Ich darf hiermit ehrerbietig mitteilen, dass ich wohl nicht die Möglichkeit bekommen werde, anzureisen, um in diesem Semester in den Genuss von Unterricht an der Akademie zu kommen, stattdessen muss ich aus finanziellen Gründen leider bis auf weiteres hierbleiben und arbeiten, so gut ich kann, ohne Anleitung.« Der Brief ist eine Bittschrift an Cederström (der seit seinem Durchbruch mit Heimfahrt der Leiche KarlXII. (1878) der meistgefeierte Historienmaler des Landes war), dem Elementarlehrwerk in Östersund zu schreiben und Ågren für eine Ausstellung dort zu empfehlen. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung dafür, die kostbare Zeit des Herrn Baron in Anspruch zu nehmen, aber ich weiß wirklich niemanden, an den ich mich sonst wenden könnte, da der Herr Baron der Einzige an der Akademie ist, der mir mit etwas Wohlwollen begegnet ist.«
Die anderen Lehrer hatten dafür gestimmt, ihn der Hochschule zu verweisen. Der Grund dafür soll seine allzu häufige Abwesenheit vom Unterricht gewesen sein. Man erzählt sich jedoch, dass seine Klassenkameraden, angeführt von Karl Isakson, damals geschlossen mit einem Streik drohten, woraufhin er bleiben durfte. Isakson wurde leider nicht sehr alt, nur vierundvierzig; einige von Ågrens engsten Freunden und Verbündeten an der Akademie starben noch früher. Als John Bauer im Vättern ertrank, war er sechsunddreißig; Ivar Arosenius war erst dreißig, als ihn seine Bluterkrankheit das Leben kostete. Und ich glaube, diese Dinge hatten durchaus eine gewisse Bedeutung: Solche Zufälle trugen zu Olof Ågrens Einsamkeit und dazu bei, dass sein Werk in Vergessenheit geriet. Das und seine Selbstkritik: Aus dieser ersten Zeit sind so gut wie keine Bilder erhalten geblieben. Nur eine Handvoll. Den Rest zerstörte oder übermalte er.