Die Küstenkommissarin Band 1+2 - Jonas Brandt - E-Book

Die Küstenkommissarin Band 1+2 E-Book

Jonas Brandt

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Beschreibung

Der Sammelband zu Jonas Brandts Erfolgsserie Die Küstenkommissarin zum exklusiven Sonderpreis Die Ostsee ist eine mörderisch schöne Urlaubsregion Band 1: Der Tote am Leuchtturm Am Ostseestrand zwischen Dünen und Kiefernwäldern lauert der Tod  Im Schatten des Leuchtturms Dahmeshöved wird unter einer Segeljacht die Leiche eines Jugendlichen gefunden. Kommissarin Frida Beck und ihr Partner Deniz Yilmaz von der Kripo Lübeck übernehmen den Fall. Rasch finden sie heraus, dass der Vater des Opfers sich an der Küste durch den Kauf von Immobilien Feinde gemacht hat. Vor allem ein Nachbar, der seit Jahren Leuchtturmführungen für Touristen anbietet, ist nicht gut auf ihn zu sprechen. Als ein weiterer Toter in Dahmeshöved entdeckt wird, erkennt die Kommissarin, dass die Mordserie noch nicht zu Ende ist ...  Band 2: Tod in der Bucht In den Tiefen der Ostsee ruhen tödliche Geheimnisse In der Hohwachter Bucht liegt ein lebloser Mann in voller Taucherausrüstung. War es ein Unfall oder Mord? Frida Beck und Deniz Yilmaz nehmen die Ermittlung im mondänen Niendorfer Tauchclub auf. Wie sich herausstellt, bietet der Club illegale Touren zu historischen Wracks an. Die Kommissarin vermutet, dass der Tote Kunstschätze geschmuggelt hat und mit einem Konkurrenten aneinandergeraten ist. Doch als kurz darauf eine weitere Tote gefunden wird, muss Frida erkennen, dass sie einer falschen Spur gefolgt ist …

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Die Küstenkommissarin Band 1+2

Der Autor

Jonas Brandt ist im Norden Deutschlands aufgewachsen. Er arbeitet als Lehrer und reist gern, wobei ihn das Schreiben stets begleitet. Immer wieder zieht es ihn an Deutschlands Küsten, wo er seine klugen Kommissare mit Vorliebe ermitteln lässt.

Das Buch

Der Sammelband zu Jonas Brandts Erfolgsserie Die Küstenkommissarin zum exklusiven SonderpreisDie Ostsee ist eine mörderisch schöne UrlaubsregionBand 1: Der Tote am LeuchtturmAm Ostseestrand zwischen Dünen und Kiefernwäldern lauert der Tod 

Im Schatten des Leuchtturms Dahmeshöved wird unter einer Segeljacht die Leiche eines Jugendlichen gefunden. Kommissarin Frida Beck und ihr Partner Deniz Yilmaz von der Kripo Lübeck übernehmen den Fall. Rasch finden sie heraus, dass der Vater des Opfers sich an der Küste durch den Kauf von Immobilien Feinde gemacht hat. Vor allem ein Nachbar, der seit Jahren Leuchtturmführungen für Touristen anbietet, ist nicht gut auf ihn zu sprechen. Als ein weiterer Toter in Dahmeshöved entdeckt wird, erkennt die Kommissarin, dass die Mordserie noch nicht zu Ende ist ... 

Band 2: Tod in der BuchtIn den Tiefen der Ostsee ruhen tödliche Geheimnisse

In der Hohwachter Bucht liegt ein lebloser Mann in voller Taucherausrüstung. War es ein Unfall oder Mord? Frida Beck und Deniz Yilmaz nehmen die Ermittlung im mondänen Niendorfer Tauchclub auf. Wie sich herausstellt, bietet der Club illegale Touren zu historischen Wracks an. Die Kommissarin vermutet, dass der Tote Kunstschätze geschmuggelt hat und mit einem Konkurrenten aneinandergeraten ist. Doch als kurz darauf eine weitere Tote gefunden wird, muss Frida erkennen, dass sie einer falschen Spur gefolgt ist …

Jonas Brandt

Die Küstenkommissarin Band 1+2

Zwei Ostsee-Krimis in einem Bundle

Ullstein

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Sonderausgabe im Ullstein TaschenbuchFebruar 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023E-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2871-3Die Küstenkommissarin - Der Tote am LeuchtturmOriginalausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage März 2021 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: ©FinePic®, München (Wasser); padrady photos/getty images (Dünen); ©Reinhard Schmidt/mato images (Wasser, Möwen, Steg) Autorenfoto: © Privat E-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2500-1Die Küstenkommissarin - Tod in der BuchtOriginalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage März 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München (Himmel); © Mark Gerum / getty images (fliegende Möwe); © fhm / getty images (sitzende Möwe); © Joe Regan / getty images (Küste, Steg, Meer)Autorenfoto: © Privat E-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2682-5

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Die Küstenkommissarin – Der Tote am Leuchtturm

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

Die Küstenkommissarin – Tod in der Bucht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

Epilog

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Cover

Titelseite

Inhalt

Die Küstenkommissarin – Der Tote am Leuchtturm

Die Küstenkommissarin – Der Tote am Leuchtturm

Prolog

Mecklenburger Bucht, August 1977

Der Junge blickte aus dem Fenster. Kleine Dörfer mit reetgedeckten Häusern, Sträucher, die sich in der Meeresbrise bogen. In der Ferne die weißen Schaumkronen der Ostsee. In seiner Brust zog sich etwas zusammen. Er wusste noch nicht, dass es der Abschied war, der sich so anfühlte.

Plötzlich kam das Auto am Straßenrand zum Stehen.

»Alle aussteigen!«, befahl der Volkspolizist und beugte sich herunter, um den Rücksitz besser sehen zu können. »Auch das Kind.«

Lars wartete, bis seine Mutter das Auto verlassen hatte, dann kletterte er aus dem zitronengelben Trabant und griff sofort nach ihrer Hand. Sie fühlte sich anders an als sonst. Nass und kalt.

»Sie haben kein Boot dabei, oder?«, fragte der Polizist.

»Nein«, antwortete sein Vater. Doch das war gelogen. Das schwarz angepinselte Schlauchboot war in den hinteren Autositz eingenäht, auf dem er gerade noch gesessen hatte. Lars wusste, dass sie damit zu dritt über die Ostsee fahren würden. Nächtelang hatte Papa auf Mama eingeredet. Bis sie am Ende nachgegeben hatte. Na gut, wir kommen mit, hatte sie gesagt. Wir, das waren Lars und seine Mutter.

»Die sehen wir hier in Grenznähe nicht so gern«, sagte der Polizist und steckte seinen Kopf ins Auto, um sich darin umzusehen.

»Ach so.« Papas Stimme klang anders als sonst. Weich und nicht so streng.

»Sie sollten schon etwas besser Bescheid wissen. Ist ja schließlich auch Ihre DDR«, erwiderte der Polizist vorwurfsvoll, nachdem er im Kofferraum nachgesehen hatte. »Trotzdem noch eine gute Fahrt!«

»Ihnen auch einen schönen Tag.«

Rasch schob Lars sich wieder auf die harte Rückbank, die ganz warm von der Sonne war. Dann ließ Papa den Motor an.

»Das hast du toll gemacht«, sagte seine Mutter zu ihm und streichelte ihm zur Belohnung das Haar. Er griff nach ihrer Hand. Sie sollte nicht aufhören.

»Nicht schlecht«, lobte ihn sein Vater in das Knattern des Motors hinein, als sie wieder auf der Landstraße waren.

»Was denn?«, erkundigte sich Lars.

»Die Klappe halten und keine Angst zeigen.« Kurz darauf bremste sein Vater scharf und schaute nervös in alle Richtungen. Dann bog er in einen schmalen Waldweg ein, der direkt von der Landstraße abging. »Hat uns jemand gesehen?«

»Nein«, antwortete Lars. Ganz sicher war er sich aber nicht.

Nach einer kurzen Holperfahrt kamen sie an die Düne. Es roch nach Meer und Sommerferien. Lars hörte das Rauschen der Wellen. Eine Möwe schrie eine Begrüßung zu ihnen herunter. Endlich da!

Seine Eltern brauchten eine Weile, um die Nähte der Rückbank aufzutrennen und das Schlauchboot herauszuholen. Es folgten der Blasebalg, drei Taucheranzüge aus dem Stoff mit dem schwierigen Namen, drei kleine Schwimmringe, zwei Schläuche mit Wasser und ein paar Haferkekse, die Mama selbst gebacken hatte. Sie versteckten alles im hohen Gras der Düne und Papa nähte die Sitze wieder halbwegs zusammen. Dann stiegen sie in den Trabi.

»Den müssen wir woanders abstellen«, sagte sein Vater.

Sie fuhren ein Stück in den Wald hinein. Hinter ihnen staubte der Sandweg. Mama nahm seine Hand und streichelte sie. Dann entdeckte Papa offenbar eine Stelle, an der er das Auto verschwinden lassen konnte. Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr ins Gebüsch hinein, bis es nicht mehr weiterging. Als Lars ausstieg, passte er nicht auf, und eine Brennnessel streifte seine nackten Beine. Es brannte ein bisschen. Aber er biss die Zähne zusammen und sagte nichts, während sie sich gemeinsam auf den Rückweg zur Düne machten.

Als sie ankamen, war es spät geworden. Im roten Licht der tief stehenden Sonne sah Lars seinen Eltern dabei zu, wie sie das Schlauchboot abwechselnd aufpumpten. Ihr Schweigen machte ihm Angst, und er fragte sie, ob er mithelfen solle. Sein Vater erlaubte es ihm nicht, aber er sagte, er könne aufpassen, dass niemand kam und sie entdeckte. Lars fand, dass das eine schwierige Aufgabe war. Wenn die Polizei kam und er sie nicht früh genug bemerkte, wäre er allein schuld.

Als es dunkel wurde, trugen sie das Boot einen kleinen Pfad über die Düne entlang zum Wasser. Lars packte auch mit an.

»Die Ostsee ist ruhig hier«, sagte sein Vater. »Erst recht im Sommer.«

Lars tauchte die Hand ins dunkle Meer ein und griff in den weichen Sand am Grund. Vielleicht konnte er ein bisschen davon auf die Reise mitnehmen. Plötzlich verspürte er einen brennenden Schmerz. Ruckartig zog er den Arm aus dem Wasser. Ihm wurde schwindelig und heiß zugleich. Aber er riss sich zusammen und schrie nicht, sondern sagte nur leise: »Aua!«

»Was ist denn, Lars?«, fragte ihn seine Mutter.

»Ich glaube, mich hat was gestochen.«

»Eine Feuerqualle?«

»Was spielt er auch da rum?«, schimpfte sein Vater. »Halt sie ins Wasser, wenn wir fahren. Das kühlt. Wir müssen los.«

»Sei tapfer!«, sagte seine Mutter und küsste ihn auf die Stirn.

Nach dem Kuss tat es noch doller weh. Tränen kullerten ihm über die Wangen. Noch einmal biss er die Zähne zusammen. So fest wie noch nie zuvor in seinem Leben.

Schließlich legten sie ab.

»Die ersten drei Seemeilen vor der Küste sind die gefährlichsten«, flüsterte sein Vater. »Von ihren Beobachtungstürmen aus sehen sie fast alles.«

»Was sind das für große Lichter?«, fragte Lars.

»Flakscheinwerfer«, antwortete sein Vater. »Da dürfen wir nicht reinfahren.«

Nach einer Weile ging ein kleiner Mond auf, der sich aber schnell wieder hinter ein paar Wolken verkroch. Es war fast ganz dunkel. Mehrmals überprüfte der Vater den Kompass mit der kleinen Taschenlampe, die Lars an einer Schnur um den Hals trug. Es war wichtig, dass sie erst einmal stramm nach Norden fuhren. Lars versuchte, nicht an seine Hand zu denken, die immer noch wehtat.

»Was ist das, Papa?«, fragte er in die Stille hinein, die keine mehr war, weil sich ein entferntes Brummen in sie gebohrt hatte. Es kam schnell näher. Ein Schiffsmotor. Lars sah die Bordlichter.

»Leise!«, ermahnte ihn sein Vater und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Das ist ein Streifenschiff. Sie nennen es Bremse. Aber nicht, weil es so langsam ist, sondern weil es brummt wie eine Pferdebremse.«

»Was ist, wenn die Leute auf der Bremse uns sehen?«

»Pst!«, machte der Vater.

Ich kann ja mal ihre Lichter zählen, dachte Lars bei sich. Doch dazu kam er nicht mehr. Die Bremse hatte plötzlich so laut den Motor aufgedreht, dass er vor Schreck fast ins Wasser gefallen wäre. Dann kam sie direkt auf ihr kleines Schlauchboot zugerast. Immer näher und näher! Mit beiden Händen klammerte Lars sich an seiner Mutter fest. Er konnte spüren, dass sie am ganzen Körper zitterte.

»Was machen die denn?«, rief Papa. Dabei hätte er es wissen müssen, dachte Lars. Das mit der blöden Flucht war schließlich seine Idee gewesen. Er hatte Mama dazu überredet. »Die halten ja volle Kanne auf uns zu!«

»Lars! Halt dich an mir fest!«, schrie seine Mutter in das Dröhnen hinein.

»Eure Schwimmringe!«, hörte er den Vater rufen.

»Hilfe! Mama!«

Das Tosen des Motors wurde immer lauter. Es klang für Lars nicht wie eine Bremse, sondern wie Tausende. Ein großer Schwall Wasser klatschte auf das schmale Schlauchboot. Lars verschluckte sich. Im nächsten Moment wurde er unter Wasser gezogen. Die Bremse war einfach über sie drüber gebrettert, schoss es ihm durch den Kopf. Panisch ruderte er mit den Armen, kam an die Oberfläche und spuckte das Meerwasser aus. Das Salz brannte ihm in der Kehle. Er blickte sich um. Das Schlauchboot war verschwunden. Er begann zu weinen. Eine Welle schlug hart in sein Gesicht, und die Ostsee vermischte sich mit seinen Tränen. Wo war Mama? Um ihn herum war es dunkel, nass und kalt. Die Bremse brummte davon und zog eine weiße Schneise in das schwarze Wasser.

»Lars!«, hörte er die Stimme seines Vaters.

»Ja?«

»Wirf mir die Leine zu, die an deinem Schwimmring dran ist!«, rief er. »Und atme ruhig.«

Er strampelte heftig mit den Beinen, während er die lange weiße Schnur suchte. Er wusste, dass sie an dem Rettungsring festgemacht sein musste, weil seine Finger eben noch mit ihr gespielt hatten.

»Mama?«, kreischte er und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit.

Sein Vater stimmte kurz darauf in seine Rufe mit ein. Sie riefen so lange, bis ihnen die Luft ausging. Aber seine Mutter antwortete nicht. Sie hatte doch einen Schwimmring gehabt! Oder war sie noch im Boot gewesen? Wo war das Boot? Konnte ein Schlauchboot untergehen? Und wo war der Kompass?

»Mama muss hier irgendwo sein«, sagte sein Vater.

»In welche Richtung müssen wir jetzt, Papa?«

»Immer nach Norden.«

»Woher weiß Mama, wo Norden ist?«, fragte Lars japsend. Woher wusste Papa, wo Norden war?

»Rede nicht so viel!«, befahl ihm sein Vater. »Spar dir deine Kräfte auf. Du lässt dich einfach treiben. Ich ziehe dich.«

Papa war ein sehr guter Schwimmer. Früher hatte er sogar Wettkämpfe gewonnen. Lars streckte Arme und Beine von seinem Körper weg. Treiben lassen, dachte er und schloss die Augen.

Er wachte erst wieder auf, als er seinen Vater rufen hörte. »Hilfe! Hier!«

Es war immer noch Nacht, und sie schwammen immer noch im Wasser. Die Kälte war ihm die Beine hochgekrochen. Träumte er? Wo war Mama? Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Hatten sie sich nicht bald wiedertreffen wollen? Hatten sie das nicht so abgemacht?

Seitlich von ihnen erblickte er eine riesige Wand mit vielen Lichtern. Das musste ein Dampfer sein.

Wieder schrie sein Vater: »Hilfe! Hierher!«

Lars wollte auch schreien, aber er brachte keinen Ton heraus. Im Wasser hämmerten die Schiffsschrauben und oben in den hell erleuchteten Fenstern bewegten sich Menschen wie kleine Käfer. Sahen die Leute sie etwa nicht? Hörten sie nichts?

Dann fielen ihm die Augen wieder zu.

Als er das nächste Mal aufwachte, war die Wand mit den Lichtern nicht mehr da. Er bewegte seine Füße und merkte, dass sie taub geworden waren.

»Sieh mal!«, rief Papa. »Da ist der Leuchtturm von Dahmeshöved.«

Lars wusste nicht, was das bedeutete. Aber sein Vater lachte.

»Nun schau doch! Das Licht der Freiheit!«, rief er noch einmal, und Lars drehte den Kopf zur Seite. Er erkannte ein winziges Leuchten, das gleich wieder verschwand. Dann war es wieder da. Dann wieder weg.

»Wie lange noch?«, fragte er.

»Halt durch! Ist nicht mehr weit«, erwiderte der Vater prustend.

Plötzlich bemerkte Lars das Brummen. Es kam schnell näher. Stumm sah er seinen Vater an.

»Eine Motorjacht«, rief der. »Das sind Dänen! Lars, wir haben es geschafft! Sie haben uns gesehen! Hilfe! Hierher! Hier sind wir!«

Lars erkannte an den Lichtern, dass es keine Dänen waren. Es war die Bremse. Sie kam immer näher und blendete ihn. Er schloss die Augen. Die Tränen drückten von innen gegen seine geschlossenen Augenlider. Wo war Mama? Sein Körper fühlte sich kalt und taub an. Die Hand tat immer noch weh. Das Brummen der Bremse war jetzt überall. Unter ihm, über ihm, vor ihm. Sein Vater schrie, aber Lars verstand kein Wort.

Dann wurde alles schwarz.

1. Kapitel

Dahmeshöved, März 2019

Als der Professor die Plane beiseiteschob, schleuderte ihm ein Windstoß zur Begrüßung eine Handvoll Nieselregen in den zerzausten Bart. Mit schläfrigen Augen blinzelte er zum Leuchtturm hoch. Wie eine riesige Schachfigur erhob sich das Licht der Freiheit in ein graues Wolkengebirge hinein. Warum hatten sie dem Turm nur sein rot-weißes Kleid ausgezogen? Diese nackten Klinkersteine sahen auch nach so vielen Jahren immer noch beschämend aus. Das konnte selbst die putzige rote Pudelmütze nicht wettmachen.

Als der Blick des alten Mannes vom Leuchtfeuer zur Straße wanderte, schnalzte er mit der Zunge. Die Verheerungen des nächtlichen Sturms konnten sich sehen lassen. Die Äste, die der Wind den Bäumen ausgerissen hatte, lagen wie Leichenteile nach einem Attentat kreuz und quer auf der schmalen Leuchtturmstraße verstreut. Ansonsten ließ sich kein größerer Schaden erkennen. Hauptsache, die Planen seines mietfreien Souterrains hatten gehalten! Der Professor hatte sie neben dem halbfertigen Rohbau zwischen zwei Sanddornsträuchern aufgespannt. Die Baustelle, in der er sich eingenistet hatte, gehörte Knut Petersen, der hier ein Spa hinpflanzen wollte. Gegenüber vom Leuchtturm und direkt neben der Eltern-Kind-Klinik.

Bis auf das Leuchtfeuer selbst hatte der Petersen hier fast alles aufgekauft: beide Nebengebäude, den kleineren Beobachtungsturm, das dazugehörige Land und die großen Grundstücke südlich und östlich des Turms. Vor einem Jahr hatte eine Hamburger Baufirma damit begonnen, das Fundament für das Hotel zu setzen und die Grundmauern hochzuziehen. Kurz darauf war die ganze Sache dann ins Stocken geraten, und niemand wusste, warum. Auch nicht die rumänischen Bauarbeiter, die ab und an vorbeikamen und dem Professor ein Mittagessen hinstellten. Gute Leute, die ihm wohlgesonnen waren und nicht gleich die Nasen rümpften, wenn er sich ihnen näherte.

Die Petersen-Brüder, die in der umgebauten Scheune direkt hinter dem Leuchtturm von Dahmeshöved verkehrten, sprangen da schon unsanfter mit ihm um. Ihnen gefiel es nicht, dass ihr Vater einen Penner auf seinem Grund und Boden campieren ließ. Der jüngste Sohn Bjarne kam fast täglich nach Dahmeshöved, um an seiner Jacht zu basteln. Eine alte Uecker Fahrensmann, die mittlerweile ganz passabel aussah, davon hatte der Professor sich bereits überzeugen können. Angeblich wollten Vater und Sohn den Umbau noch in diesem Frühjahr abschließen. Es stand ein großer Segeltörn an.

»Guck mal, wer da kommt!«, ertönte plötzlich eine schrille Stimme von der schmalen Straße her. Sie gehörte Ansgar Petersen, der gelegentlich nach Dahmeshöved kam, um sich bei seinem kleinen Bruder Bjarne mit Barem zu versorgen.

»Moin!«, grüßte ein sinistrer Bariton zurück. Wenn das mal nicht der alte Hansen war, dachte der Professor und streckte seinen Kopf unter der Plane hervor. Vorn, an der Straße, erspähte er das lange Elend Ansgar und Opa Hansen mit seinem Enkel Hendrik. Wurde ja ein richtiger Menschenauflauf. Und das bei dem Schietwetter!

»Wie geht es Hendrik?«, erkundigte sich Ansgar mit von Spott triefender Stimme. »Trägt er immer noch Windeln?«

Von seinem Unterschlupf aus sah der Professor, dass der Alte grußlos in einiger Entfernung stehen geblieben war und auf den Jungen starrte, der am Wegrand saß und unverständliche Laute von sich gab. Der Professor wusste, dass der Hendrik schon zwölf Lenze zählte, aber im Kopf gut zehn hinterherhinkte.

»Kümmere dich um deinen eigenen Kram!«, fuhr Hansen Ansgar an. Passend dazu brachte eine Böe sein weißes Haar in Abwehrstellung, während Hansens Gesicht so aussah, als wollte es der Steilküste von Heiligenhafen Konkurrenz machen.

»Guck ihn dir doch mal an!«, spottete Ansgar weiter und verschränkte die dünnen Arme vor der Brust. »Er frisst Gras.«

Hendrik hatte plötzlich damit begonnen, büschelweise Gras auszureißen und es sich in den Mund zu stopfen. Nur mit Mühe konnte Opa Hansen die Hände des Jungen aufbiegen und sie von dem Grünzeug befreien. »Lass das, Hendrik!«

»Wir haben hinter dem Haus noch eine Wiese«, rief Ansgar zu ihm hinüber und grinste.

Doch Hansen achtete nicht auf ihn, sondern zog seinen widerspenstigen Enkel vom Boden hoch und machte, dass er weiterkam.

Während sie in der Kurve verschwanden, trottete Ansgar gemächlich in Richtung Scheune. »Bjarne, du alter Sack! Komm gefälligst raus!«, rief er nach seinem Bruder. Dann schlüpfte er durch die Hecke am Ende des Grundstücks, überquerte den schmalen Weg und verschwand in der grün verkleideten Werkstatt.

Kurz darauf ertönte ein markerschütternder Schrei.

»Was ist denn nun los?«, flüsterte der Professor, der seine Behausung mittlerweile verlassen hatte und erstaunt dabei zusah, wie Ansgar mit blassem Gesicht aus der Werkstatt gestürmt kam und wie ein leckgeschlagener Einmaster bei heftigem Seegang über die Leuchtturmstraße schaukelte. Ansgars Blick wanderte nervös umher und landete schließlich auf seinen eigenen Händen, die mit roter Farbe beschmiert waren. Fahrig wischte er sich die Finger an seiner Hose ab, klaubte sein Telefon aus der Tasche und wählte eine Nummer.

»Ole! Hier ist was passiert! Du musst unbedingt kommen!«, brüllte er in sein Handy und begann plötzlich, in Richtung Dahme zu laufen.

Jetzt erkannte der Professor auch, dass das Rote an seinen Händen keine Farbe war. Sondern Blut.

2. Kapitel

Oberkommissarin Frida Beck saß im Büro der Mordkommission Lübeck und starrte auf ein ballistisches Gutachten, das mehrere Monate in der untersten Schublade ihres Schreibtischs gelegen hatte. Der Text verschwamm vor ihren Augen, und nur vereinzelt drangen die Wörter wie Projektile über die Netzhaut in ihr Gehirn: Makarow, Schussbahn, Schädelknochen. Sie schaffte es nicht, auch nur einen vollständigen Satz aus dem Bericht zu behalten. Es tat zu weh.

Jemand im Büro rief ihren Namen. Frida schob das Papier unter einen Stapel Akten und hob den Kopf. »Hi, Deniz!«

»Lasse und ich gehen was essen. Kommst du mit?«, fragte der mittelgroße, dunkelhaarige Mann und fuhr sich mit der Hand über den locker sitzenden Bauch. Deniz war einer ihrer Lieblingskollegen in der KI und Lasse war ein Studienfreund von ihm, der erst vor Kurzem nach Lübeck gekommen war. Warum glänzten Deniz’ braune Augen bloß schon wieder so verdächtig? Seit einiger Zeit hatte Frida den Eindruck, dass er sie mit seinem Studienfreund Lasse verbandeln wollte. »Nein, danke. Habe keinen Appetit.«

»Na gut. Dann bis später!«

Sie schätzte Kommissar Deniz Yilmaz aus vielen Gründen. Er besaß eine gute kriminalistische Intuition, glänzte regelmäßig mit ausgefallenen Ermittlungsideen und war humorvoll, wenn er auch mit seinen Witzchen manchmal danebenlag. Dass er den Cupido für sie spielen wollte, nahm sie ihm nicht weiter übel. War sowieso ein hoffnungsloses Unterfangen.

»Frau Beck?«, ertönte die tiefe Stimme eines Mannes.

Diesmal war es der Erste Hauptkommissar Björnsen, ihr direkter Vorgesetzter in der Mordkommission. Ein bulliger Typ mit rasiertem Schädel, der perfekt in jede US-amerikanische Detektivserie gepasst hätte und dessen Aussehen die bösen Jungs zuverlässig einschüchterte. Bei den Kollegen war er allseits beliebt, und auch Frida fand, dass sie es gut mit ihm getroffen hatte. Er war der einzige Kollege, der sich gelegentliche Machosprüche bei ihr erlauben durfte. Und das hatte was zu heißen.

»Was gibt es?«

»Staatsanwalt Thies hat mich eben angerufen«, erwiderte Björnsen, dessen Mundwinkel sich verdächtig weit nach unten neigten und Frida das Schlimmste befürchten ließen. »Mordermittlungen in Dahme.«

»Und wieso dann so ein Gesicht?«

»Der Fall wird Sie nicht vom Hocker reißen«, entgegnete Björnsen zögerlich. »Sieht mehr nach Unfall aus.«

»Aber das ist nicht alles, oder?«, bohrte Frida nach. Der Vorteil eines glatt rasierten Gesichts war, dass man es gut lesen konnte. Und das zuckende Kinn ihres Vorgesetzten ließ sie misstrauisch werden.

Der Hauptkommissar seufzte. »Das Opfer ist ein Junge, der von seinem Boot zu Tode gedrückt wurde.«

Frida sah sich um. Sämtliche Kollegen waren ausgeflogen. Eine kopflose Leiche aus dem Kanal hielt derzeit große Teile der Mordkommission auf Trab. Blieben nur Deniz, der mit Lasse beim Italiener um die Ecke saß, und sie. Björnsen hatte eigentlich keine Wahl. »Und nun?«

»Das Kind soll wirklich entsetzlich aussehen«, erklärte ihr Vorgesetzter weiter.

»Verstehe«, antwortete Frida. Obwohl Björnsen es nicht ausgesprochen hatte, war ihr klar, dass er sie schonen wollte. In der Mordkommission wurde niemand gezwungen, einen Fall zu übernehmen. »Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie so rücksichtsvoll sind, aber ich würde gern einfach meinen Job machen. Wie alt war der Junge denn?«

»Siebzehn.«

»Also eher ein junger Mann. Kommen Sie! Ich packe das. Erklären Sie mir lieber, warum es Mord sein soll. Ein schrecklicher Anblick allein macht ja noch kein Verbrechen.«

»Stimmt schon«, antwortete Björnsen nachdenklich. »Aber die Kollegen vor Ort sehen das etwas anders.«

Frida wurde erneut stutzig. »In Dahme, sagten Sie? Fällt also in die Zuständigkeit von Oldenburg. Und wenn die Verschwendung personeller Ressourcen nicht so traurig wäre, müsste ich jetzt lachen.«

Allein im letzten Monat hatte der Leiter der Außendienststelle Oldenburg in Holstein die Staatsanwaltschaft Lübeck zweimal dazu gebracht, Mordermittlungen einzuleiten. Im ersten Fall war eine Neunzigjährige in Neukirchen ohne äußere Einwirkung gestürzt und eine Woche darauf im Krankenhaus verstorben. Beim zweiten Fall war ein Fleischerlehrling mit zweieinhalb Promille vom Boot gefallen. Beide Male hatte die rechtsmedizinische Untersuchung die Ermittlungen abrupt beendet.

»Was wissen wir noch?«, erkundigte sich Frida.

»Der Staatsanwalt hat von einem manipulierten Bootslift gesprochen. Klang ziemlich technisch, wenn Sie mich fragen. Ich habe das LKA in Kenntnis gesetzt. Die schicken uns jemanden, der sich damit auskennt.«

»Bootslift?«, fragte Frida. »Wo gibt es denn in Dahme eine Marina?«

»Die Leiche wurde in einer Hobbywerkstatt in Dahmeshöved gefunden«, erklärte Björnsen. »Vater und Sohn sollen dort an der mörderischen Jacht gebastelt haben.«

»Vater und Sohn«, wiederholte Frida. »Hat der Herr Erzeuger da vielleicht ein paar Sicherheitsvorschriften verletzt? Könnte auch was für einen Versicherungsermittler sein, oder?«

»Gut möglich. Im Moment stützen wir uns jedoch auf die Einschätzung der Oldenburger Kollegen, die der Ansicht sind, dass jemand an der Anlage herumgeschraubt hat«, entgegnete Björnsen.

»Was ist mit Zeugen?«

»Sie lassen sich wirklich nicht abhalten, oder?«, erwiderte Björnsen, der langsam seine Meinung zu ändern schien.

»Sie kennen mich doch.«

Mit Mitte dreißig war Frida zwar eine der jüngsten Kommissarinnen hier, aber sie war dafür bekannt, ihre Fälle mit Scharfsinn und einem ausgesprochen harten Schädel zu lösen. Bei den Kollegen war sie mittlerweile respektiert, wenn nicht sogar gefürchtet. Das hatte vor einem Jahr, als sie bei der K1 angefangen hatte, noch ganz anders ausgesehen. Missgünstige Kollegen hatten behauptet, sie sei nur zur Mordkommission gegangen, um ihr persönliches Schicksal zu verarbeiten.

Entsprach das der Wahrheit? Frida hatte keine Ahnung. Sie wusste nur, dass sie ihre Entscheidung noch nicht einen Augenblick bereut hatte.

Eine knappe halbe Stunde später befanden sich Frida und Deniz auf der Bundesstraße Richtung Dahme. Während die triste Märzlandschaft an ihnen vorbeiflog, musste Frida an Elias denken. Er war gern Auto gefahren. Dabei hatte er stundenlang staunend aus dem Fenster sehen können. Die Welt da draußen war ein einziges großes Rätsel für ihn gewesen. Oft hatte er Dinge entdeckt, die Manuel und ihr verborgen geblieben waren. Wenn er jetzt bei ihr gewesen wäre, hätte er sie auf jeden Elefanten und jedes Krokodil aus Wolken aufmerksam gemacht. Jeden Vogel im Wind, jedes Schiff in der Ferne und jede Buhne in der Gischt hätte er sich ganz genau angesehen. Er hätte nach ihren Namen gefragt und sich gewundert, wo sie herkamen und wo sie hinwollten. Er war ein guter Beobachter gewesen. Frida dachte oft an seine Wortschöpfungen, seine Blicke, sein Lachen, wie er etwas in der Hand gehalten und wie er sie umarmt hatte. Sie hatte damit begonnen, ihre Erinnerungen in ein kleines Heft zu schreiben, auf dem »Elias« stand. Manchmal wünschte sie sich, sie wäre eine gute Zeichnerin. Dann hätte sie auch die Gedanken festhalten können, für die sie keine Worte mehr fand.

Bei einem Blick in den Rückspiegel begegneten ihr ihre eigenen rot geränderten grauen Augen, aschblondes Haar, das schlaff um blasse Wangen fiel, Furchen auf der Stirn. Elias hätte sie bestimmt gefragt, ob sie schlecht geschlafen hatte. Sie hätte ihm antworten können, dass die Polizeiarbeit nun mal keine Schönheitskur war. Bösewichte, Nachtschichten und ständige Bereitschaft hinterließen eben ihre Spuren. Was sie ihm nicht hätte sagen können, war, dass sie seinetwegen so abgeschlagen aussah, egal, wie ausgeruht sie war. Weil er nicht mehr da war.

Ein Telefon klingelte. Deniz schaltete die Freisprechanlage ein. Es war Björnsen.

»Wir haben noch ein paar Infos über das Opfer und seine Familie erhalten«, sagte ihr Vorgesetzter.

»Schießen Sie los!«, antwortete Deniz.

»Ich fange mit dem Vater des Toten an«, begann Björnsen seine Ausführungen zu erläutern. »Er heißt Knut Petersen, ist ein großer Investor in der Region, und je länger man sucht, desto mehr findet man über ihn.«

»In was investiert er denn?«, fragte Frida.

»Wohnkomplexe, Hotels, Restaurants und Privatkliniken. Vom Timmendorfer Strand bis Fehmarn«, antwortete Björnsen.

»Warum liegt diese Jacht eigentlich nicht in der Marina Grömitz?«, fragte Deniz dazwischen. »Sondern in einem Schuppen in Dahmeshöved?«

»Weil sie noch an dem Boot gebastelt haben«, entgegnete Björnsen.

»Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass sich ein Unternehmer dieses Kalibers die Hände mit Antifouling beschmiert«, wandte Frida ein. »Muss wohl so ein Vater-Sohn-Ding sein.«

»Das ist es«, pflichtete Björnsen ihr bei, der selbst zwei Söhne hatte.

»Apropos Schmutz!«, sagte Frida. »Sind irgendwelche Konflikte mit der Obrigkeit bekannt? Ein bisschen Bilanzfälschung oder Steuerhinterziehung vielleicht?«

»Sie sind aber misstrauisch, Frau Beck«, meinte Björnsen. »Trotzdem eine gute Frage. Gegen Petersen wurde vor ein paar Jahren mal wegen Steuerhinterziehung ermittelt. Verfahren eingestellt. Seitdem gab es nur noch zivilrechtliche Streitigkeiten.«

»Ach ja?«, entgegnete Frida.

»So wie es aussieht, ging es um Grundstücksgrenzen in Dahme und Heiligenhafen. Mehr habe ich noch nicht he­rausbekommen.«

»Weitere Kinder?«, fragte sie, während sie mit quietschenden Reifen die Abzweigung nach Dahme-Süd nahm.

»Er hat noch einen Sohn. Hört auf den Namen Ansgar. Außerdem gibt es eine Ehefrau namens Lilo Petersen«, antwortete Björnsen.

Dann knackte es in der Leitung. Im Hintergrund war das Meeresrauschen des Polizeifunks zu hören. Jemand gab in stakkatoartigen Sätzen eine Lagebeschreibung durch. Frida nahm vorsichtshalber den Fuß vom Gas. Ein paar Radfahrer kamen zum Stehen und starrten ungläubig auf das lütte Blaulicht auf ihrem Dach.

»Hier kommt gerade ein Funkspruch vom Kollegen Kramer rein, Kripo Oldenburg«, rief Björnsen. »Es gibt einen Verdächtigen, der offenbar vom Tatort geflüchtet ist. Sind Sie schon in Dahme?«

»Jawohl. Wir biegen gerade in die Leuchtturmstraße ein«, erwiderte Frida.

»Stimmen Sie sich über Funk mit dem Kollegen ab«, wies Björnsen sie an.

Frida und Deniz warfen sich einen Blick zu. Man verstand sich. Die Sache war plötzlich in Bewegung geraten. Frida nahm das Funkgerät aus der Halterung.

»Hallo? Ronny Kramer hier!«, meldete sich der Kollege am anderen Ende der Leitung.

»Beck und Yilmaz, Mordkommission Lübeck. Wir hören Sie und fahren gerade in Richtung Leuchtturm.«

»Halten Sie an, sobald Sie linker Hand den Stellplatz für die Wohnmobile sehen«, kommandierte Kramer.

»Schon da!«, rief Frida und stoppte auf der Höhe eines Wohnwagens, vor dem eine Mutter ihre zwei irritiert dreinschauenden Kinder umklammerte.

»Rechts das Feld! Da müssten Sie ihn sehen. Er ist uns gerade über den Zaun entwischt«, ertönte die kratzige Stimme aus dem Gerät. »Ein großer Mann um die zwanzig mit dunkelblondem Haar und grüner Jacke. Wir vermuten, dass es Ansgar Petersen ist, der Bruder des Opfers.«

»Ist er bewaffnet?«, fragte Deniz.

»Nicht bekannt!«

»Da läuft er!«, rief Frida. In ungefähr dreißig Metern Entfernung sprang jemand ungelenk über das Brachfeld. Diese außer Kontrolle geratene Gliederpuppe sollten sie doch einholen können, schoss es ihr durch den Kopf. Dann sah sie den glänzenden Gegenstand in seiner Hand. Was war das?

»Haben jetzt wieder Sichtkontakt«, hörte sie die Stimme aus dem Funkgerät sagen. »Verdächtiger hat eine Stichwaffe.«

»Sieht eher wie eine Verpackung aus«, rief Frida und sprang aus dem Auto. Sie erkannte einen Mann in Zivil auf der anderen Seite des Feldes. Wahrscheinlich einer der Oldenburger Kollegen. Auch der Flüchtige hatte seinen Verfolger erblickt und kam jetzt geradewegs auf Deniz und Frida zugelaufen. Wahrscheinlich ahnte er nicht, dass sie vom gleichen Verein waren und in weniger als zwei Sekunden ihre entsicherten Dienstwaffen auf ihn gerichtet hätten.

»Was hat er vor?«, fragte sie ihren Partner.

»Er geht auf uns los!«, rief Deniz.

»Stehen bleiben! Polizei!«, schrie Frida dem Mann entgegen, doch der ignorierte sie und stürmte weiter.

Am rechten Rand des Feldes tauchte ein Rothaariger auf. Das musste der zweite Oldenburger sein.

»Polizei! Bleiben Sie stehen!«, rief der Rothaarige, während er sich bemühte, über einen Holzzaun zu bouldern. Es war offensichtlich, dass sein letzter Fitnesstest eine Weile her war.

»Jetzt ist er eingekesselt«, stellte Deniz fest.

»Das hat er auch gemerkt«, erwiderte Frida, als sie sah, dass der Fliehende plötzlich die Richtung wechselte. Er stürmte auf das Wäldchen zu, das am südlichen Ende des Feldes lag. Dabei kam der holprige Acker seiner scheinbar beeinträchtigten Grobmotorik nicht gerade entgegen. Der Verdächtige stolperte mehr, als dass er lief.

»So wie der rennt, muss man ja Angst haben, dass er sich selbst verletzt«, sagte Deniz. »Was immer er da bei sich trägt.«

Derweil kämpfte der rothaarige Kollege immer noch mit dem Zaun. Offenbar war er hängen geblieben und zappelte wie ein gigantischer Fuchs auf seiner Lebendfalle.

Was für ein Tollpatsch, dachte Frida. Plötzlich erinnerte sie sich! Diesen Trampel kannte sie doch. Das war Emil Röder aus Kiel! Was trieb der denn hier? Er war ein sehr guter Freund ihres Mannes gewesen. Sie hatten oft gemeinsame Familienausflüge unternommen. Der Kontakt war nach Manuels Tod irgendwann abgebrochen. »Das ist ja der Röder!«

»Ahh!« Die Antwort kam in Form eines verzweifelten Schreis. Frida sah, wie Röder mit weit aufgerissenem Mund eine Art Kopfsprung vom Zaun machte. Dann fiel der Schuss.

»Hilfe!«, brüllte der Verdächtige von der anderen Seite, schleuderte den glänzenden Gegenstand von sich und warf sich flach auf den Boden.

»Das war nur Aluminiumpapier«, sagte Deniz.

»Stimmt«, pflichtete Frida ihm bei und zeigte auf Röder, der reglos vom Zaun hing. »Aber ich befürchte, wir haben gerade ein ganz anderes Problem.«

3. Kapitel

Die ersten Einsatzwagen waren direkt vom Leichenfundort in Dahmeshöved über die Leuchtturmstraße zurückgekommen. Danach waren weitere Fahrzeuge aus Oldenburg, Neustadt und schließlich auch aus Lübeck eingetroffen. Uniformierte aller Couleur steckten ihre Köpfe in den steifen Wind, der von der nahegelegenen Küste herüberwehte. Schutzpolizei, Rettungssanitäter, Spurensicherung, Rechtsmedizin und eine Kompanie Silbermöwen, alle waren da. Die schmale Straße war komplett gesperrt worden. Und mit ihr gleich der Zugang zum Strand, der direkt neben dem kleinen Stellplatz für Wohnmobile lag.

Das Geräusch der Rotorblätter des Rettungshubschraubers mischte sich in das Rauschen der Ostsee. Die Möwen machten eifrig Platz, und Frida blickte dem dicken, weiß-roten Vogel besorgt hinterher. Bei der Zaunakrobatik Röders hatte sich eine Kugel aus seiner Dienstwaffe gelöst und ihn am Oberschenkel getroffen. Niemand hatte sagen können, ob er durchkommen würde. Einen noch schlechteren Start in die Mordermittlungen hätte es nicht geben können.

»Wissen wir schon, was genau dieser Ansgar Petersen bei sich hatte?«, erkundigte sich Deniz.

»So um die zwanzig Gramm Marihuana«, schätzte Frida, die das Päckchen bei der Verhaftung kurz in Augenschein genommen hatte.

»Und deswegen liegt jetzt ein Kollege auf der Intensivstation?« Deniz schüttelte ungläubig den Kopf.

»Die entscheidenden Drogen hat er wohl nicht in seinen Taschen gehabt, sondern in der Blutbahn«, sagte Frida. Die Jahre bei der Drogenfahndung in Kiel hatten ihren Blick für Intoxikationen aller Art geschärft. Und Petersen Junior hatte eindeutig härtere Sachen als ein bisschen Gras intus. »Den können wir erst mal vergessen.«

»Glaubst du, er hat etwas mit dem Tod seines Bruders zu tun?«, fragte Deniz und zeigte auf den Mannschaftswagen, in dem der gefesselte Ansgar saß.

»Du bist gut«, entgegnete Frida. »Wir sind ja noch nicht mal an unserem Tatort angelangt. Allerdings sehe ich eher einen unzurechnungsfähigen Jugendlichen als einen Mörder. Zumindest bis jetzt. Sobald die Kriminaltechnik mit ihm fertig ist, sollen sie ihn nach Lübeck bringen. Dort kann er dann ausnüchtern, bis wir ihm in ein paar Stunden noch mal die Ehre erweisen.«

»Apropos«, bemerkte Deniz und wies auf den Kollegen der Spurensicherung, der geschäftig auf sie zukam.

»Moin«, begrüßte sie der Kommissar. »Bevor Sie zum Leuchtturm aufbrechen, wollte ich Ihnen kurz mitteilen, was wir bei Ansgar Petersen gefunden haben.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte Frida. Sie hatte gesehen, wie die Kollegen den Verdächtigen mit Luminol besprüht hatten, um unter Schwarzlicht feststellen zu können, ob es sich bei den Flecken auf seiner Kleidung um Blut handelte. Offenbar waren sie fündig geworden.

»Wir haben recht großflächige Blutspuren an Hose, Jacke und Händen festgestellt«, erklärte der Kriminaltechniker.

»Bis wann können Sie sagen, ob es das Blut seines Bruders ist?«, erkundigte sich Frida.

»Spätestens bis morgen früh«, erwiderte der Kollege. »Und jetzt wünsche ich Ihnen beiden starke Nerven. Der Tote vom Leuchtturm soll kein schöner Anblick sein.«

Kein schöner Anblick, wiederholte Frida in Gedanken. Der Mann konnte ja nicht wissen, dass sie die schrecklichsten Bilder ihres Lebens bereits hinter sich hatte. Das blutüberströmte Gesicht Manuels und den zerfetzten Schädel ihres zehnjährigen Jungen würde sie nie wieder aus dem Gedächtnis bekommen. Was sollte da schon noch kommen?

Links der Werkstatt führte ein Weg hinunter zur Küste, rechts davon lag ein Rasen, der erstaunlich gut durch den Winter gekommen war. Davor rankten sich einige Sanddornsträucher, an deren eingetrockneten Früchten sich ein paar Amseln gütlich taten. Der Wind pfiff durch das offene Werkstatttor und mischte dem Ölgeruch noch ein wenig Küstenaroma unter.

Die sieben Meter lange Segeljacht mit dem weinroten Rumpf trug den Namen Fernanda undlag auf einem Haufen zerknickter Stahlstreben, die offensichtlich mal ein Gestell gebildet hatten. Der Mast des Bootes hatte ein Loch in die Gebäudewand geschlagen, und die Bootshebeanlage war auf einer Seite eingestürzt. Am Tor standen ein paar Feuerwehrleute und sahen den Kriminaltechnikern besorgt bei der Arbeit zu.

Langsam wanderte Fridas Blick durch die kleine Halle und stieß auf eine Blutlache, in der eindeutig jemand he­rumgetrampelt war. Ansgar Petersen? Am Rand des Flecks erblickte sie etwas, das entfernt an einen menschlichen Schädel erinnerte. Sie sah eine Gelfrisur, Gehirnmasse, Gesichtsknochen und Gebissteile. Frida musste an den Wandkalender von Francis Bacon denken, den ihr ihre Schwester Thea zum Geburtstag geschenkt und den sie gleich darauf in einer Schublade vergraben hatte. Die abgedruckten Gemälde hatten sie zu sehr an Tatorte wie diesen erinnert. Francis Bacon war definitiv kein Künstler für mental gesund gebliebene Kriminalbeamte. Und zu denen zählte Frida sich trotz allem immer noch.

Der Körper des jungen Mannes war vom Hals abwärts seltsam verdreht. Er lag mit den Beinen nach oben über einer Querstrebe des Stahlgerüsts. Die weiße Jogginghose, die der Jugendliche trug, war über und über mit Blut befleckt und wies gesäßseitig einen glatten Schnitt auf. Ein Hinweis darauf, dass die Forensikerin bereits eine Temperaturmessung im Rektum vorgenommen hatte, um den Todeszeitpunkt ermitteln zu können. Den höchsten Punkt bildete die Hüfte, bei deren Betrachtung Frida etwas Merkwürdiges auffiel.

»Postmortale Erektion.« Eine weibliche Stimme drang zu ihr.

Frida drehte sich zu der Rechtsmedizinerin um, die auf einmal neben ihr auftauchte. »Guten Tag, Frau Doktor An­dreani!«

»Das ist kein Anzeichen von verschwendeter Potenz, sondern schlicht der Position des Körpers geschuldet. Sobald die Leiche bewegt wird, verschwindet die Blutstauung und damit auch diese Beule«, erklärte Andreani. »Moin, Frau Beck.«

»Haben wir schon einen Todeszeitpunkt?« Frida sah der Forensikerin direkt in die dunklen Augen. Sie waren sich bereits einige Male begegnet und sie stellte immer wieder neu fest, dass sie diese Frau außerordentlich gut leiden konnte.

»Das verrate ich Ihnen in einer knappen halben Stunde«, versprach die Forensikerin.

Frida verstand sich durchaus darauf, wie man ein Leichenthermometer verwendete. Man führte zwei Messungen im Abstand von einer Stunde durch und las dann hoffentlich korrekt von der Tabelle ab. Kein Hexenwerk.

»Mord oder Unfall?«, ertönte eine tiefe Stimme im Rücken der beiden Frauen. Frida drehte sich um. Der Mann überragte sie um einen Kopf, trug einen Dreitagebart und dunkelblondes halblanges Haar. Es war Lasse Diekmann, der neue Kriminaltechniker und Busenfreund von Deniz.

»Kannst du mir erklären, wieso wir hier von einem Mord ausgehen sollen?«, fragte Frida ihn und sah direkt in seine blauen Augen.

»Auf den ersten Blick wirkt es wie ein Unfall«, befand Lasse nachdenklich und zeigte nach oben. »Aber siehst du die Halterung dort an der Decke?«

»Ja, da muss ein Teil weggebrochen sein«, antwortete Frida.

»Wir sollten uns fragen, wieso das ausgerechnet in dem Moment passiert ist, in dem der Junge unter dem Boot stand«, erläuterte Lasse weiter. »Gleichzeitig ist das Metallgestell in die Knie gegangen und diese Holzböcke dort, die vermutlich der Sicherung dienten, standen auch nicht da, wo sie hätten stehen sollen.«

»Was ist mit dem verschmierten Blut?«, erkundigte sich Frida.

»Offensichtlich hat der Bruder nicht nur versucht, die Winsch zu bedienen, sondern er wollte wohl auch den Toten unter der Jacht hervorzerren. Ein völlig aussichtsloses Unterfangen, wie man sieht. Das Boot war aus dem Riemen gerutscht, der den Rumpf eigentlich halten sollte. Ein Glück, dass es sich mit dem Mast in der Wand verkeilt hatte. Sonst hätte hier einer mehr gelegen.«

Als Frida bemerkte, dass Deniz in den Schuppen gekommen war, drehte sie sich zu ihm um und sah, wie er mit seinem Notizbüchlein wedelte. »Wen hast du alles auf deiner Liste?«

»Also, da wäre Konrad Hansen, von dessen Telefon der Notruf eingegangen ist«, erwiderte Deniz. »Er war laut eigener Aussage ganz in der Nähe mit seinem Enkel spazieren und wurde von einem obdachlosen Mann alarmiert, den sie im Ort nur ›den Professor‹ nennen.«

»Kennen wir den Verbleib dieses Professors?«, hakte Frida nach.

»Der ist wie vom Erdboden verschluckt. Hansen zufolge hat er sich aus dem Staub gemacht, nachdem er ihn über den Toten in der Werkstatt informiert hatte. Seine Behausung auf der Baustelle habe er zurückgelassen«, entgegnete Deniz.

»Und dieser Hansen ist ein Nachbar?«, fragte Frida weiter.

»Zu Konrad Hansen kann ich vielleicht etwas beitragen.« Lasse mischte sich ein und erntete einen verwunderten Blick von Frida. »Er wohnt keine hundert Meter von hier und bietet von April bis Oktober Führungen durch den Leuchtturm an.«

»Wieso weißt du so etwas?« Frida zog die Augenbrauen hoch.

»Ich bin aufs Küstengymnasium Neustadt gegangen«, erklärte Lasse. »Die Besuche im ›Licht der Freiheit‹ waren Pflichtprogramm im Geschichtsunterricht. Konrad Hansen macht die Führungen schon ein paar Jährchen. Außerdem kennen er und mein Vater sich ganz gut. Da begegnet man sich manchmal.«

Während Frida ihren Kollegen nachdenklich musterte und sich fragte, wie viele Einwohner Ostholstein eigentlich hatte, tippte ihr eine uniformierte Kollegin von hinten auf die Schulter. »Frau Beck, ich sollte Ihnen doch Bescheid geben, wenn er da ist.«

4. Kapitel

Die Villa lag fünfzig Meter östlich vom Leuchtturm, nahezu in der Mitte der kleinen Landspitze, die zwischen der Mecklenburger und der Lübecker Bucht trotzig in die Ostsee hi­neinragte. Hier gab es Küstenwind von drei Seiten. Und das merkte man auch.

Frida richtete sich vergebens die Haare und füllte ihre Lungen noch einmal kräftig mit Seeluft, bevor sie auf den Mann zutrat. Er stand vor einem prächtigen Anwesen und blickte an ihr vorbei, als erwartete er irgendjemand anderen, nur nicht sie. Das musste Knut Petersen sein.

»Moin, Herr Petersen!«

»Wenn ich den Scheißkerl erwische.«

Knut Petersen war ein Mann um die fünfzig von auffallend gesunder Gesichtsfarbe, sportlicher Figur und einem angriffslustigen Blick, der nicht gerade nach zartfühlendem Altruisten aussah. Er hatte es geschafft. Ganz nach oben. Das strahlte jede Faser seines Körpers aus. Und seine Art zu grüßen.

»Kommissarin Beck, Mordkommission Lübeck. Es tut mir sehr leid für Sie«, erwiderte Frida, worauf Petersen ihr zunickte, als hätte sie ihm gerade die Uhrzeit mitgeteilt. »Welchen Scheißkerl meinen Sie?«

»Das fragen Sie noch?« Petersen schüttelte den Kopf und seine Mundwinkel sanken hinab. Offensichtlich war er kein großer Fan der Ermittlungsbehörden. Und dabei finanzierte er sie doch mit seinen Steuern. Hoffentlich. »Lächerlich.«

Da die Kommissarin das Gefühl nicht loswurde, dass dieser Mann irgendwie an ihr vorbeiredete, beschloss sie, ihre Strategie zu ändern. Petersen schrie ja förmlich nach einer Streicheleinheit. Wie alle Machos. Kreuzte eine Frau ihre Wege, verlangten sie nach Zärtlichkeit. Konnte er haben. »Ich verstehe Ihre Wut.«

»Allein das Stahlgerüst hätte ausreichen müssen, um das Boot zu stützen, aber es ist eingestürzt. Rein zufällig ist die Halterung der Hebeanlage aber auch weggebrochen. Nein, nein, da war jemand dran.« Es begann aus ihm herauszusprudeln.

»Ihr Sohn war wohl ein begabter Handwerker?« Gib dem Affen Zucker, dachte sie. Er würde sie noch früh genug richtig kennenlernen. Für den Moment genügte es, wenn er ihr verriet, was sein minderjähriger Sohn allein unter einem Sechs-Tonnen-Boot verloren gehabt hatte.

»Er wollte unbedingt eine eigene Segeljacht«, antwortete Petersen, dem Fridas anschmiegsame Art mehr und mehr die Zunge zu lösen schien. »Also hat er auch eine bekommen. Er musste sie sich nur selbst aufmöbeln. Die beste Art für einen Mann, sich mit der Seefahrt vertraut zu machen. Und Bjarne war ein ganzer Kerl, nicht wie sein Bruder Ansgar.«

»Zu Ansgar wollte ich zwar später erst kommen«, antwortete Frida, »aber dass er an ein paar Dingen zu knabbern hat, ist mir nicht entgangen.«

»Sehr gut erkannt«, entgegnete der aufgetaute Petersen. »Ansgar ist ein Waschlappen! Ein Schuss in den Ofen durch und durch. Allerdings hat das auch seine Ursachen. Die Jungs haben ihre Mutter vor elf Jahren bei einem Bootsunfall verloren. Bjarne hat die Zeit gut überstanden, aber Ansgar hat es aus der Bahn geworfen.« Dann war es so weit. Knut Petersens Lippen begannen zu beben, und sein linkes Auge wirkte feucht, sogar eine kleine Träne konnte Frida erkennen. Schnell wischte er sie weg und murmelte: »Scheiße!«

»Tut mir leid«, wiederholte Frida. Aber immerhin redeten heulende Männer offenherziger über ihre Sorgen. Mal hören, was dem Petersen auf der Seele brannte.

»Schon gut«, stieß Petersen hervor. »Es gibt viele Leute, die mir meinen Erfolg neiden. Wer auch immer hinter dem Anschlag steckt. Er wollte nicht meinen Sohn treffen, sondern mich.«

Damit hätte er ruhig eher herausrücken können. »Von welchen Leuten sprechen Sie?«

»Wenn Sie vermögend sind, gehen Ihnen die Feinde nie aus!«, rief Petersen aus, als würde er zu einer ganzen Fußballmannschaft sprechen. »Hören Sie sich mal in Heiligenhafen nach mir um. Da gibt es keinen, der Ihnen nicht irgendwas zu meiner Person erzählen kann. Was mich überrascht, ist, dass die ganzen Neidhammel mich schon bis nach Dahme verfolgen.«

Frida warf einen prüfenden Blick auf das Gesicht des Mannes. Er sah nicht aus wie einer, der an Verfolgungswahn litt. Aber wer konnte das schon genau sagen? Vielleicht kam die Paranoia ja automatisch mit dem dicken Bankkonto. »Was sollten die Dahmer denn gegen Sie haben?«

»Das Investment in Dahmeshöved kommt nicht so gut an«, erwiderte der Unternehmer in seinem Unternehmerdeutsch und begann damit, nervös auf und ab zu gehen. »Die Dahmer behaupten, ich würde ihre Idylle zerstören. Was natürlich Unsinn ist! Wenn die wüssten, was ich für Auflagen befolgen muss. In Wirklichkeit kotzt es sie einfach nur an, dass ich hier ein Spa baue, das über ihrer Preisklasse liegt. Das wird ein ganz edles Ding, glauben Sie mir. Billig ist out. Zweitklassig Urlaub machen kann man hier in der Gegend schon genug.«

Da gefiel sich aber jemand sehr, dachte Frida. Was sollte man auch mit Reichtümern, wenn man nicht damit protzen konnte? Zweitklassig Urlaub machen, das war also nicht so sein Ding. »Haben Sie einen konkreten Verdacht?«

»Wohnt gleich hier um die Ecke«, erwiderte Petersen und streckte seinen Finger nach Südosten. Mit der anderen Hand fischte er sein Smartphone aus der Tasche. Die Uhr tickte offenbar. Dem Chef gefiel das Frage-Antwort-Spiel wohl nicht besonders. »Hansen heißt der Mann.«

»Ach ja? Hansen, der Leuchtturmführer?«, erkundigte sich Frida. Petersen ging also tatsächlich so weit, einen Nachbarn für den Tod seines Sohnes verantwortlich zu machen. Das war einigermaßen starker Tobak. »Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass er in der Werkstatt war?«

»Das mit den Beweisen erledigen Sie mal schön selbst, Frau Becks. Und ich meine auch nicht den Alten, sondern den Sohn, Leo Hansen. Ein frustrierter Ökofaschist, dem die Frau weggelaufen ist«, entgegnete Petersen.

Frida registrierte mit einem Schmunzeln, dass er sich an ihrem Namen versucht hatte. Wenn er bei seinen Investitionen auch so innovativ war wie bei seinen Namenswitzen, dann musste er viel überflüssiges Spielgeld herumliegen haben.

»Apropos Frau!«, erwiderte Frida. »Wo ist denn Ihre Frau eigentlich?«

»Wenn ich das wüsste.« Petersen stierte stirnrunzelnd auf sein Smartphone. »Vermutlich in unserer Strandvilla auf dem Graswarder.«

»Weiß sie denn gar nicht Bescheid?«

»Ich habe sie angerufen, aber die Dame geht mal wieder nicht ans Telefon.«

Vor Lilo Petersens Augen zeichnete sich unverkennbar der Akt eines liegenden Mannes ab. Zwei begraste Hügel stellten kräftige Schultern dar. Ein Sanddornstrauch diente als Achselbehaarung. Es fand sich sogar ein Findling als leicht verschobene Brustwarze. Und schließlich eine freigelegte Platanenwurzel als zentrales Prachtstück. Die Hütte, die in der Nähe von Eutin lag und einst ihrer Großtante gehört hatte, schmiegte sich eng an einen sanft abfallenden Hang. Nur wer sich auskannte, war imstande, über ein Gewirr an Feldwegen zu dem verlassenen Häuschen zu finden.

Lilo hatte lange damit gezögert, jemanden mit hierherzunehmen. Aber nachdem der benachbarte Bauer verstorben war, hatte sie auch die letzten Bedenken abgelegt und sich hier ein unscheinbares Liebesnest erschaffen. Es wäre im Sinne ihrer Großtante gewesen, die vor über fünfzig Jahren auch aus einer grausamen Ehe in dieses Idyll geflohen war. Damals war die Holsteinische Schweiz noch viel einsamer gewesen. Das war schlecht, wenn man an die falschen Menschen gekettet war, aber gut, wenn man sich verstecken wollte. Oder musste.

»Wunderschön«, schwärmte sie mit verträumter Stimme. »Ich schaue jetzt schon viele Jahre lang hier hinaus, aber erst vor Kurzem ist mir aufgefallen, dass Mutter Natur dort ein Kunstwerk in die Landschaft gelegt hat. Einfach so.«

»Hm«, machte der Mann.

Sie lächelte, als sie sein Spiegelbild im Fensterglas ausmachte. Er war ein gutes Stück älter als sie, aber trotzdem noch gut in Form. Brust- und Bauchmuskeln zeichneten deutliche Konturen unter der bereits erschlaffenden Haut. Die Haare klebten ihm wie Adern auf der schweißnassen Stirn. Seine grauen Augen wanderten hungrig von ihrem Nacken zu den Schenkeln und wieder zurück, ohne auch nur einen Zentimeter auszulassen.

Sie schloss die Augen. Es gefiel ihr, wie er sie so von hinten betrachtete.

Ein Telefon klingelte.

»Wie immer. Wenn es am schönsten ist, will jemand was.« Sie drehte sich um, gab dem Mann auf dem Bett einen Kuss auf die Hüfte und griff nach dem Handy, das auf dem Nachttisch lag. Es war ihr Schwiegervater.

»Hallo?«, meldete sie sich, während sie dem liegenden Mann ein paar lautlose Küsse auf den Oberschenkel stempelte.

»Lilo? Ich bin es«, ertönte es aus dem Telefon. »Bin gerade angekommen.«

»Wir können uns in einer Stunde in Heiligenhafen treffen«, antwortete Lilo, die mit den stummen Küssen fortfuhr und langsam abwärtswanderte. »Bin noch mit einer Freundin unterwegs.«

»Du weißt noch nichts?«, fragte der Anrufer.

»Was soll ich wissen? Du klingst seltsam.«

»Lilo, es ist etwas Schreckliches passiert«, eröffnete er ihr.

5. Kapitel

Frida blickte durch die Gitterstäbe in den grauen Himmel, in dem gerade ein paar gigantische dunkelblaue Wolkenpilze wucherten. Gehässige Böen spuckten hin und wieder ein bisschen Regen gegen die Fensterscheibe, ein paar Krähen standen schlecht gelaunt im Wind, und irgendwo zeterte ein altes Möwenpaar. Verhörzimmer waren nicht die freundlichsten Orte, wenn das Wetter mies war.

Der neunzehnjährige Ansgar Petersen war fast einen Meter neunzig groß. Sein Kopf saß lose wie eine Boje auf einem dürren Hals, der in viel zu schmalen Schultern endete. Das lichte dunkelblonde Haar und die Ringe unter den hervortretenden Augen ließen ihn älter erscheinen, als er eigentlich war, und seine braunen Pupillen huschten rastlos wie kleine gehetzte Insekten von einem Punkt zum nächsten.

»Herr Petersen, ich ermittle zum Tod Ihres Bruders«, begann Frida zu erklären. »Das bisschen Gras interessiert mich nicht. Und die anderen Verfahren, die gegen Sie laufen, auch nicht.«

»Sehr gnädig«, stieß Ansgar hervor. Der verächtliche Ton in seiner Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht viel von der Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden hielt. In dem Punkt ähnelte er seinem Erzeuger. Mal schauen, ob sie ihn auch weichgekocht bekam.

»Aber ich muss Ihnen leider auch mitteilen, dass Sie verdächtigt werden, den Tod Ihres Bruders verschuldet zu haben. Auf die eine oder andere Weise«, erläuterte Frida. »Der Untersuchungsrichter wird demnächst entscheiden, ob Sie in Untersuchungshaft müssen. Bis dahin bleiben Sie noch hier.«

»Lächerlich!« Ansgar schüttelte ungläubig den Kopf.

»Sie könnten mir dabei helfen, den Verdacht gegen Sie auszuräumen, indem Sie mir genau beschreiben, wie Sie die Leiche Ihres Bruders vorgefunden haben«, sagte Frida. »Was halten Sie davon?«

»Das habe ich doch schon alles erzählt.«

»Und wem?«

»Kommissar Kramer«, erwiderte Ansgar. »Dem Kumpel vom Alten.«

Man kannte sich in Ostholstein, dachte Frida heute schon zum zweiten Mal. Trotzdem war sie die erste Ermittlerin, die Ansgar Petersen hätte verhören sollen, nicht Kramer. Mordermittler hatten schließlich Vorrang. Warum hatte sich Kollege Kramer nicht an die Gepflogenheiten gehalten?

»Wäre es möglich, dass Sie mir noch einmal davon berichten?«, fragte Frida. Der Konjunktiv war absichtlich gewählt. Nach den abschätzigen Bemerkungen seines Vaters über ihn wusste sie, dass in dem Jungen ein geprügelter Hund steckte. Letztendlich ein armer Kerl. Da half der Schongang manchmal.

»Wenn es sein muss«, sagte Ansgar knurrend und ließ ein genervtes Stöhnen vernehmen. »Ich habe den alten Hansen und seinen Enkel getroffen, dann bin ich in die Werkstatt gegangen, habe Bjarne unter der Jacht liegen sehen und versucht, ihn da herauszuziehen. Das ging aber nicht, weil er irgendwie eingeklemmt war. Dann bin ich in meine Wohnung zurück, um Ihre werten Kollegen anzurufen, kam aber zu spät, denn schon fuhr der erste Einsatzwagen an mir vorbei. Das war es.«

Frida wusste, dass ein paar Nachbarn den blutverschmierten Ansgar gesehen und den Notruf gewählt hatten. Kurz darauf hatten dem Jungen auch schon die Kollegen an den Fersen geklebt. »Das ist wirklich alles?«

»Was denn sonst?«, blaffte Ansgar sie an. »Hat Ihnen mein Alter was anderes erzählt, oder warum glauben Sie mir nicht?«

»Ich glaube Ihnen«, entgegnete Frida und ließ ihre Stimme nach Vertrauenslehrerin klingen. Aber der Alte war ein gutes Stichwort. »Sie haben es zu Hause nicht immer leicht, oder?«

»Kann sein.« Die Augen des jungen Mannes zogen sich zusammen. Er ging also erst einmal in die Defensive.

»Hat es mit der abgebrochenen Schule zu tun?«

»Ich fange im August eine Ausbildung an. Kein Problem.«

An Geld für Nachhilfe konnte es jedenfalls nicht gemangelt haben. Anderswo gab es Kinder, die nicht mal einen Schreibtisch zu Hause hatten und trotzdem ein Einser-Abi schafften. »Stimmt es, dass Ihr Bruder in ein paar Monaten Abi gemacht hätte? Und nicht einmal das schlechteste, habe ich gehört.«

»Jeder muss seinen eigenen Weg gehen. Ich werde mein Geld schon verdienen. Keine Sorge«, verteidigte sich Ansgar. Glaubte er ernsthaft, die beruflichen Perspektiven eines Drogendealers wären so rosig?

»Bjarne war Teilnehmer bei den Kite Masters Heiligenhafen, baute sich eine Jacht aus, war gut in der Schule«, zählte Frida auf. »Waren Sie manchmal neidisch auf ihn?«

»Es war eher andersherum.«

»Weshalb?«

Womit hatte Ansgar geglänzt? Drogenbesitz und Schulabbruch? Sie nahm ein nervöses Zucken in seinem Gesicht wahr. Dann spreizten sich seine Lippen zu einem Lächeln, bei dem die kalten Augen unbeteiligt blieben. »Da gibt es schon etwas, aber das werde ich Ihnen nicht verraten.«

»Sie sollten sich gut überlegen, ob Ihnen solche Späßchen nützen«, erwiderte Frida. »Die Staatsanwaltschaft Lübeck könnte demnächst Mordermittlungen gegen Sie beantragen.«

»Ich wollte nur mein Gras in Sicherheit bringen«, sagte Ansgar trocken. »Mit Bjarnes Tod habe ich nichts zu tun.«

»Den Richter wird es aber ebenso interessieren, dass Sie sich am Tatort aufgehalten und überall Ihre Fingerabdrücke hinterlassen haben. Obendrein klebte auch noch Blut an Ihren Klamotten.«

»Ich habe versucht, ihn zu retten«, sagte Ansgar. »Haben Sie mal einen Familienangehörigen verloren? Ich denke nicht. Denn dann wüssten Sie, dass man alles versucht, auch wenn es hoffnungslos ist.«

Frida musste schlucken bei diesen Worten. Manchmal traf es einen in den Momenten, in denen man es am wenigsten erwartete. »Kannten Sie sich denn überhaupt mit der Bootshebeanlage aus?«

»Nicht richtig. Die Jacht war eine Geschichte zwischen Bjarne und dem Alten«, entgegnete er leise und wandte das Gesicht ab.

Frida sah, dass seine Augen feucht geworden waren.

6. Kapitel

Der Abend war bereits weit fortgeschritten, als Frida ihren Wagen vor der Eltern-Kind-Klinik in Dahmeshöved parkte. Eine knappe Stunde hatte sie gebraucht, um von der JVA Lübeck an den Ort zurückzukehren, an dem heute Bjarne Petersens Leiche gefunden worden war. Sie stieg aus, pumpte sich die Lungen mit frischer Küstennachtluft voll und warf einen Blick auf das Flatterband am Ende des unbefestigten Weges. Leise raschelte es das Lied vom Tatort zu ihr he­rüber. Frida versicherte sich mit einem Rundumblick, dass sie allein war, und trat durch das Tor auf das Leuchtturmgrundstück.

Der rote Backsteinturm war nur über das gelb verklinkerte Wohn- und Maschinenhaus zu erreichen. Dort waren einst die Leuchtturmwärter und ihre Familien einquartiert gewesen. Sie nahm die kleine Treppe zur Tür mit einem Satz und griff nach der Türklinke. Doch das denkmalgeschützte Leuchtfeuer war sorgsam verschlossen. Sie hatte es nicht anders erwartet. Aber das würde sie nicht davon abhalten, es auch bei den anderen Gebäuden zu probieren. Als sie kehrtmachte, vernahm sie hinter sich plötzlich ein Geräusch an der nahen Hecke. Was war das gewesen? Ein Nachbar, eine tollpatschige Katze, Einbildung? Frida lauschte in die Nacht. Und fand sich allein mit ihrem Herzschlag wieder.

Langsam ging sie nach links am Wohnhaus vorbei. Aufmerksam suchte sie die Fenster ab. Doch das spärliche Mondlicht wollte ihr keine Lücke zeigen. Sie drückte die Klinke einer weiteren Tür. Auch hier war alles verriegelt. Deshalb ging sie weiter.

Gute zwanzig Meter entfernt stand der gedrungene Beobachtungsturm mit seinem Spitzdach, das aussah wie ein gigantischer Kegelhut. Von hier aus hatten die Leuchtturmwärter einmal die Sichtverhältnisse vor der Küste überwacht und bei Bedarf das Nebelhorn betätigt, um die Schiffe vor der Untiefe an der Dahmer Landspitze zu warnen. Auch den kleinen Nebenturm erreichte man über das angeschlossene Wärterhaus. Frida drückte die Klinke. Diesmal gab die Tür nach.

»Wow!« Sie konnte sich einen leisen Ausruf der Überraschung nicht verkneifen.

Soweit sie Björnsen verstanden hatte, war das Gebäude erst vor Kurzem in Petersens Besitz übergegangen. Womöglich fanden gerade Restaurierungsarbeiten dort drinnen statt, und ein paar nachlässige Bauarbeiter hatten vergessen, die Tür abzusperren. Frida sollte es recht sein.

Ein Schwall kalter Luft und der Geruch von abgeschlagenem Putz schlugen ihr entgegen. Sie zückte ihr Handy und leuchtete in den kleinen Raum, von dem mehrere Türen abgingen. Die rechte stand offen. Das war der Zugang zum Turm. Frida sah die Treppe, die hinaufführte. Überall standen Kisten und Eimer mit Unrat und Schutt herum. Alte Fliesen, Fensterrahmen mit zerborstenen Scheiben, Fetzen einer alten Auslegware, Staub.

»Dann wollen wir mal sehen!«

Während sie behutsam die hölzerne Treppe hinaufstieg, fragte sie sich, was Petersen wohl mit diesem Turm vorhatte. Warum ließ er ihn von Grund auf sanieren? Wollte er ihn privat nutzen? War das Türmchen nicht ein wenig zu eng für den großen Immobilienhändler?

Oben angelangt, stellte Frida fest, dass die Turmkammer nicht ganz so klein war, wie sie angenommen hatte. Auch hier schien es nichts zu geben, was für die Kommissarin von Interesse war. Das Zimmerchen war komplett leer geräumt, die Fenster blind vor Staub, Boden und Wände kahl.

Doch dann erblickte sie in einer Ecke eine kleine Kiste. Mithilfe der Leuchte ihres Handys erkannte sie eine Reihe von Buchrücken, darunter mehrere von Heinrich von Kleist. Ein schmaler giftgrüner Band stach ihr ins Auge. Er sah aus wie die Jahrbücher, die sie aus ihrer Schulzeit kannte. Selbst gebundene Bücher aus dem nächsten Copyshop. Sie zog es heraus. Der Einband wies keinerlei Aufdruck auf. Erst als Frida das Buch aufschlug, las sie den Titel: Die Flucht. Es gab weder einen Autorennamen noch sonstige Angaben. Vielleicht gehörte es dem Vorbesitzer des Turms. Die ersten Sätze machten sie neugierig.

Der Junge blickte aus dem Fenster. Kleine Dörfer mit reetgedeckten Häusern, Sträucher, die sich in der Meeresbrise bogen. In der Ferne die weißen Schaumkronen der Ostsee. In seiner Brust zog sich etwas zusammen. Er wusste noch nicht, dass es der Abschied war, der sich so anfühlte.

Frida las weiter und wollte gerade eine Seite umblättern, als sie draußen ein Geräusch vernahm. Sie schnellte hoch und versuchte, etwas durch die dreckigen Fenster zu erkennen. Was konnte das gewesen sein? Sie spuckte gegen die Scheibe und rubbelte sich ein Guckloch frei. Löste sich dort nicht gerade eine große Gestalt aus der Hecke und kam auf den Turm zu? Plötzlich zerbarst die benachbarte Scheibe und ein faustgroßer Stein polterte laut über den Dielenboden der Turmkammer. Frida ging in Deckung, atmete zwei- oder dreimal tief ein und zog ihre Dienstwaffe.

»Stehen bleiben! Polizei!«, brüllte sie durch den Stern der kaputten Scheibe in die graue Nacht hinaus. Die schwarze Gestalt verharrte regungslos.

Sie musste da runter!