Die Lady und das Findelkind - Gert Rothberg - E-Book

Die Lady und das Findelkind E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. An der Liftstation Sonneneck stand eine junge Frau. Sie hatte eine dunkelgrüne Lodenjacke umgehängt und trug über dem kastanienbraunen Haar ein dickes wollenes Kopftuch. Es war kalt um diese späte Nachmittagsstunde, zu der jetzt im Februar auch im Sonneneck schon Schatten lagen. Die junge Frau sah den aufwärtsschwebenden Gondeln etwas ungeduldig entgegen. Dann trat sie auf die Plattform der Liftstation. »Wir sind wieder zurück, Frau Vendura«, erklang eine Kinderstimme. Ein kleiner Junge in schwarzer Skihose und knallrotem Anorak mit einer Pudelmütze auf dem Kopf sprang aus der Gondel. Es war der achtjährige Henrik von Schoenecker. »Ja, das sehe ich«, sagte die junge Frau. Ihr vorher so ernstes Gesicht hellte sich auf, ihre grauen Augen leuchteten. »Und jetzt hast du natürlich einen Riesenhunger, Henrik.« Der Junge legte beide Hände auf die Magengegend. »O ja, Frau Vendura. Vati und Mutti auch. Gibt es Dampfnudeln?« Eine lachende Männerstimme erklang. »Dampf müsste man dir mal machen, Henrik, damit du deine Skier selbst trägst.« Alexander von Schoenecker wuchtete gleich drei Paar Skier aus der Gondel.

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Seitenzahl: 152

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sophienlust Extra – 119 –Die Lady und das Findelkind

Unveröffentlichter Roman

Gert Rothberg

An der Liftstation Sonneneck stand eine junge Frau. Sie hatte eine dunkelgrüne Lodenjacke umgehängt und trug über dem kastanienbraunen Haar ein dickes wollenes Kopftuch. Es war kalt um diese späte Nachmittagsstunde, zu der jetzt im Februar auch im Sonneneck schon Schatten lagen.

Die junge Frau sah den aufwärtsschwebenden Gondeln etwas ungeduldig entgegen. Dann trat sie auf die Plattform der Liftstation.

»Wir sind wieder zurück, Frau Vendura«, erklang eine Kinderstimme. Ein kleiner Junge in schwarzer Skihose und knallrotem Anorak mit einer Pudelmütze auf dem Kopf sprang aus der Gondel. Es war der achtjährige Henrik von Schoenecker.

»Ja, das sehe ich«, sagte die junge Frau. Ihr vorher so ernstes Gesicht hellte sich auf, ihre grauen Augen leuchteten. »Und jetzt hast du natürlich einen Riesenhunger, Henrik.«

Der Junge legte beide Hände auf die Magengegend. »O ja, Frau Vendura. Vati und Mutti auch. Gibt es Dampfnudeln?«

Eine lachende Männerstimme erklang. »Dampf müsste man dir mal machen, Henrik, damit du deine Skier selbst trägst.«

Alexander von Schoenecker wuchtete gleich drei Paar Skier aus der Gondel.

Jenta Ventura bückte sich und schnallte dem Jungen die Skier an. Dann schloss sie die Tür der Liftstation ab, schnallte sich selbst die Skier an und folgte dem Ehepaar und dem Jungen. Die drei waren ihre liebsten Gäste in dem schmucken kleinen Haus, auf das sie jetzt zugingen. Es hieß auch Sonneneck und wurde von ihr und ihrem Vater bewohnt. Er versorgte die Liftstation und sie das Haus. Vier kleine Zimmer waren für Gäste eingerichtet. Die meiste Zeit des Jahres waren diese Zimmer besetzt. Das gab genug Arbeit.

Denise von Schoenecker blieb etwas zurück und genoss noch einmal den schönen Ausblick. Sie fühlte sich wohl hier im Allgäu, inmitten der winterlichen Märchenwelt. Sie konnte auch verstehen, dass die Menschen in diesem Land verwurzelt waren und nicht gern in die Fremde gingen. Umso verwunderlicher fand sie es, dass Jenta einen Italiener geheiratet hatte. Jenen Luigi Vendura, von dem sie nun geschieden war. Sicher hatten die Menschen hier gelästert, dass das Mädchen aus der Einöde nach Süditalien gegangen war. Und wie schwer mochte es Jenta geworden sein, nach einer gescheiterten Ehe hierher zurückzukommen. Vielleicht war sie erst seither so herb, wie sie sich jetzt zeigte?

»Kommst du endlich, Denise?«, rief Alexander von Schoenecker. Er stand vor der Haustür des Hauses Sonneneck und hatte seine Skier schon an die Wand gelehnt. »Du scheinst nicht so hungrig zu sein wie dein Sohn.«

Jenta erlöste Henrik bald von seinem Hunger. Lachend stellte sie die Dampfnudeln auf den Tisch. »Die Vanillesauce kannst du selbst holen, Henrik. Du weißt ja, wo sie steht.« Dabei blinzelte sie ihm zu.

»Aha, er hat also schon davon ge­nascht«, stellte Alexander von Schoenecker fest.

»Das habe ich nicht gesagt«, verteidigte Jenta den Jungen.

Denise beobachtete die junge Frau und dachte, sie muss sehr kinderlieb sein. So ernst sie sonst ist, mit Kindern lacht sie immer.

Denise unterdrückte einen verstohlenen Seufzer. Er galt dem Gedanken, dass so manche kinderlose Frau eine gute Mutter wäre, wogegen so manche Mutter das Glück, Kinder zu haben, nicht zu schätzen wusste. Das hatte sie in Sophienlust schon manchmal feststellen müssen. In ihrem Kinderheim lebten ja nicht nur Waisen, sondern auch vernachlässigte und nach Liebe hungernde Kinder. Aber sie wollte jetzt wirklich nicht schon wieder an Sophienlust denken. Ihr Mann und Henrik hatten ein Recht darauf, dass sie ganz bei ihnen war. Und nach dem Abendessen musste sie einen Zeitvertreib für Henrik suchen, sonst würde er sich langweilen.

Diese Entscheidung nahm Henrik ihr schon jetzt ab. Er verkündete: »Wir spielen alle ›Mensch ärgere dich nicht‹. Du, Mutti, Vati, Frau Vendura und ich.«

»So, hast du das schon arrangiert?«, fragte der Vater.

»Ja, habe ich. Frau Vendura sagt, heute hat sie Zeit dazu, weil wir die einzigen Gäste sind. Aber das sage ich euch gleich, ich gehe erst ins Bett, wenn ich gewonnen habe.«

»O weh, da werden wir wohl heute Nachtschicht haben.« Denise stöhnte.

»Wieso?«, entrüstete sich Henrik. »Ich hab schon oft gewonnen. Ich würfle besser als ihr.« Er rieb sich vor Vergnügen die Hände. »Andrea will auch immer gewinnen. Wenn ich sie dann hinauswerfe, ärgert sie sich fürchterlich.«

»Ja, deshalb heißt es wohl auch ›Mensch ärgere dich nicht‹, Henrik.« Alexander von Schoenecker lehnte sich zurück. »Ich kann mich aber erinnern, dass sich nicht nur deine Schwester Andrea sehr ärgert, wenn sie verliert.« Er sah Henrik bedeutungsvoll an.

»Ja, Nick ärgert sich auch«, stellte Henrik fest, als könnte er selbst auf gar keinen Fall gemeint sein.

Henrik kam an diesem Abend nicht dazu, sich selbst bei der Nase zu nehmen. Er verließ als stolzer Sieger gegen zehn Uhr den kleinen gemütlichen Aufenthaltsraum. Seine Mutter brachte ihn zu Bett. Er schlief mit den Eltern in einem Zimmer.

Als Denise wieder in den Aufenthaltsraum zurückkam, saß auch Hermann Lenschau am Tisch. Sicher hatte seine Tochter ihn geholt.

Hermann Lenschau war ein urwüchsiger Typ, mittelgroß, untersetzt, mit wettergegerbtem Gesicht. Für seine sechsundsechzig Jahre schien er von robuster Gesundheit zu sein. Und er war gesprächig. Die Unterhaltung machte ihm sichtlich Freude.

Erst knapp vor Mitternacht trennte man sich.

Das Ehepaar von Schoenecker betrat auf Zehenspitzen das Schlafzimmer, um Henrik nicht zu stören. Der Junge warf sich trotzdem unruhig von einer Seite auf die andere. Seine Augen blieben geschlossen, aber er murmelte: »Ein Kind weint …«

Denise beugte sich über ihn. Es kam ihr merkwürdig vor, dass Henrik im Schlaf sprach. Das tat er doch sonst nicht.

Alexander zog seine Frau vom Bett des Jungen weg und flüsterte: »Er träumt. Lass ihn, Denise. Komm, wir gehen zu Bett.«

Die ungewohnten Strapazen des Wintersports und der lange Abend machte sich jetzt bei Denise bemerkbar. Sie schlief gleich ein. Alexander aber richtete sich noch einmal auf und sah zu Henriks Bett hinüber.

Mondschein fiel durch die Gardinen des Fensters, sodass er den Jungen genau erkennen konnte. Henrik begann nun schon wieder zu murmeln. Aber es war nicht zu verstehen, was er sagte.

Besorgt stand Alexander von Schoenecker noch einmal auf. Hatte der Junge vielleicht Fieber? Er legte ihm die Hand auf die Stirn.

Jetzt öffnete Henrik die Augen. Er sah sich schlaftrunken um, fuhr sich mit beiden Händen durch das zerstrubbelte Haar und fragte dann: »Weint das Kind noch immer, Vati?«

Alexander von Schoenecker sah seinen Jungen besorgt an. »Du hast schwer geträumt, Henrik, nicht wahr? Es weint kein Kind.«

Henrik richtete sich auf. »Doch, vorhin hat ein Kind geweint. Ich habe bestimmt nicht geträumt. Horch doch nur, Vati, jetzt hört man es wieder. Aber nun ist es ganz leise.«

Alexander seufzte und sah zu seiner Frau hin, die die Augen geöffnet hatte.

»Siehst du, Henrik, jetzt haben wir Mutti wieder aufgeweckt«, sagte er vorwurfsvoll. »Du bildest dir bestimmt nur ein …«

Er kam nicht weiter. Denise war aufgestanden. Sie ging ans Fenster und öffnete es. »Eben war mir auch, als hätte ich etwas gehört.« Ihre Stimme klang erregt.

»Pst!« Henrik legte den Finger auf den Mund. Er sprang aus dem Bett und lief zu seiner Mutter. Alexander von Schoenecker trat leise hinter die beiden. In seiner nüchternen Art sagte er: »Da klagt irgendwo eine Katze.«

Denise presste die Hände auf die Brust. »Nein, das ist Kinderweinen. Henrik hat recht. Mein Gott!« Erschrocken sah sie ihren Mann an.

»Jetzt hat Henrik dich mit seiner Angst angesteckt«, sagte Alexander ärgerlich. »Ihr werdet euch hier am offenen Fenster noch den Tod holen.« Kurz entschlossen zog er das Fenster zu.

Denise hatte sich einen Hausmantel angezogen.

»Wohin willst du?« fragte Alexander entsetzt.

»Jenta oder ihren Vater wecken. Henrik und ich irren uns bestimmt nicht, Alexander. Das war Kinderweinen.« Denise lief schon aus dem Zimmer, den kleinen Flur entlang bis zu einer Tür. Dort klopfte sie mehrere Male.

Die Tür wurde geöffnet, Jenta trat erschrocken aus dem Zimmer. »Was ist passiert, Frau von Schoenecker?«, fragte sie.

»Draußen weint ein Kind, Frau Jenta. Ganz bestimmt. Es hört sich sehr leise und entfernt an. Wir müssen sofort nachsehen.«

»Ich komme mit. Bitte, warten Sie. Nur ein paar Minuten«, rief Jenta.

»Ich gehe mit«, sagte Alexander von Schoenecker entschieden.

Denise ging zu Henrik zurück. »Bleibe zugedeckt, Henrik«, bat sie und öffnete das Fenster wieder. »Jetzt ist alles still«, sagte sie leise. Und mit einem tiefen Seufzer fügte sie hinzu: »Ach, hätten wir uns doch nur geirrt, Henrik.«

Der Mondschein erlaubte Denise, ihren Mann und Jenta mit ihren Blicken zu verfolgen. Sicher hatten beide nicht damit gerechnet, so weit gehen zu müssen, sonst hätten sie die Skier genommen. Ein Glück, dass der schmale Steig von Hermann Lenschau ausgetreten worden war. Der alte Mann legte seine Wege von und zur Liftstation meistens zu Fuß zurück.

Die Liftstation schien auch das Ziel von Alexander und Jenta zu sein, denn Denises Blicken waren die beiden jetzt entschwunden.

»Wo bleiben sie denn so lange, Mutti?«, fragte Henrik.

»Ich weiß es nicht, Henrik.« Denise zog sich einen Stuhl ans Fenster. Sie faltete die Hände im Schoß. Ihr Herz schlug dumpf und schwer.

»Sie kommen zurück«, sagte sie jetzt.

Henrik sprang aus dem Bett und kam zu ihr gelaufen. »Bringen sie ein Kind mit?«, fragte er.

Denise antwortete nicht. Noch konnte sie nur erkennen, dass Jenta vorausging und Alexander ihr folgte.

»Vati trägt etwas auf den Armen«, schrie Henrik und rannte schon zur Tür. Im letzten Augenblick besann er sich und schlüpfte in seine Hausschuhe. Dann war er verschwunden.

Als Denise ihn die Treppe hinunterpoltern hörte, ging sie langsam zur Tür. Sie hatte Angst, Henrik zu folgen. Und doch tat sie es schon Sekunden später. Auf halber Treppe blieb sie stehen. Henrik hatte die Haustür aufgerissen, sein Vater und Jenta traten eben in die Diele.

»Nein!«, stammelte Denise.

Ihr Mann trug ein Bündel auf den Armen. Aus einer Decke lugte ein Kinderkopf hervor.

Jenta hatte die Tür zum Wohnzimmer aufgerissen. Mit aschfahlem Gesicht rief sie zu Denise empor: »Bitte, kommen Sie, Frau von Schoenecker, helfen Sie uns.« Ihre Stimme zitterte.

In diesem Augenblick polterte Hermann Lenschau über die Treppe. »Was ist denn nur los?«, fragte er verwundert.

»Kommen Sie mit«, bat Denise ihn. Mit steifen Beinen ging sie die Treppe vollends hinunter.

»Rege dich nicht zu sehr auf, bitte, Denise.« Alexander richtete sich gerade auf. Er hatte das Kind auf die Couch gelegt.

Jenta schlug die Decke auseinander.

Vor ihnen lag ein zwei- bis dreijähriges Kind in dunkelblauen Hosen, einem weißen Mantel und weißer Wollmütze. Es hatte die Augen geschlossen, aber nun blinzelte es ein wenig.

Jenta weinte laut. Sie lehnte sich an Denise. »Wer kann so etwas tun?«, stammelte sie. »Das Kind lag in einer Gondel.«

»Ja, da soll doch gleich …«, schimpfte Hermann Lenschau.

»Stellen Sie Wasser auf, Jenta«, bat Denise. Nur mühsam konnte sie ihre Erregung überwinden. »Für ein heißes Bad.« Sie setzte sich auf die Couch, zog dem Kind die Handschuhe aus und drückte dessen Hände, die eiskalt waren. Liebevoll neigte sie sich über das blasse Gesicht. Sie redete auf das Kind ein, zärtlich und zutiefst erschüttert. »Jetzt bist du im Warmen, mein Schatz. Nein, mach kein so ängstliches Gesicht.«

Die Augen des Kindes füllten sich mit Tränen, das Gesichtchen verzog sich. Leises stoßweises Weinen klang durch das Zimmer.

Henrik presste sich an seinen Vater. »Ich habe das Kind gehört, Vati.« Er kämpfte mit den Tränen.

Niemand hatte bemerkt, dass Hermann Lenschau aus dem Zimmer gegangen war. Jetzt kam er mit einem dicken Federbett zurück, mit einem Kopfkissen und mehreren Decken. »Wärme ist alles, was er jetzt braucht«, sagte er mit verbissenem Ton in der Stimme. Er wollte wohl nicht zeigen, wie aufgewühlt auch er war.

»Ist es ein Junge?«, fragte Henrik.

»Ich meine schon«, antwortete Hermann Lenschau. Er beugte sich über das Kind. »Wie heißt du denn? Du bist doch schon groß. Sicher kannst du uns deinen Namen sagen.«

»Mutti!«, weinte das Kind. »Christoph will zur Mutti.«

»Was habe ich gesagt?«, triumphierte Hermann Lenschau. »Es ist ein Junge. Und wie schön er seinen Namen sagen kann.«

Jenta betrat das Wohnzimmer. Sie bat: »Herr von Schoenecker, können Sie mir helfen, die Wanne hier hereinzutragen? Hier ist es am wärmsten.«

Während Alexander von Schoenecker der jungen Frau in die Küche folgte, zog Denise den Jungen aus. »Weine nicht mehr, Christoph«, bat sie. »Du darfst jetzt in die Wanne. Magst du gern planschen?«

Der Junge sah sie ängstlich an. Er hatte große blaue Augen und ein volles rundes Gesicht. Als Denise ihm die Mütze abzog, sah man sein kurz geschnittenes blondes Haar. Unter dem Mäntelchen und der Hose trug er einen zitronengelben Strampelanzug.

Alexander von Schoenecker setzte mitten im Zimmer eine kleine Wanne ab. Jenta kam mit einem Eimer heißem Wasser. Sie setzte ihn ab und ging zu der Couch. In ihrem Gesicht arbeitete es, als sie den kleinen Jungen sah. »Schnell in die Wanne mit dir«, sagte sie und nahm ihn auf den Arm. Plötzlich drückte sie ihn ganz fest an sich. »Du heißt Christoph. Ist das wahr?«

Die Tränen des Jungen versiegten. Er beugte sich etwas zurück und sah Jenta an. »Ja, Christoph. Wo ist meine Mutti?«

Jenta sah zur Seite. Ja, wo war seine Mutti? Er konnte doch nur so ernsthaft nach ihr fragen, wenn er noch bis vor Kurzem mit ihr beisammen gewesen war.

Denise hatte das Bad schon vorbereitet. Jetzt zog sie den Jungen auf Jentas Armen vollends aus. »Er wird noch nicht unterkühlt sein«, sagte sie mit einem erlösten Seufzer. »Er war sehr warm angezogen. Baden Sie ihn, Frau Jenta. Ich bereite inzwischen die Couch vor.«

Plötzlich bückte sich Henrik nach einem Zettel. »Das ist vorhin aus der Decke gefallen.«

Denise nahm ihm den Zettel aus der Hand und überflog die zierliche Schrift darauf.

Dann las sie mit erstickter Stimme: »Ich heiße Christoph und bin am Heiligen Abend zwei Jahre alt geworden. Bitte, habt mich lieb.«

»Ausgesetzt«, sagte Alexander von Schoenecker. Plötzlich ging er zur Tür. »Ich muss ein bisschen an die frische Luft. Hier werde ich ja doch nicht gebraucht.«

Auch Hermann Lenschau verließ das Zimmer. Mit grimmigem Gesicht.

Henrik hockte sich neben die Badewanne. Er flüsterte Jenta zu: »Will seine Mutter ihn nicht mehr?«

Jenta zuckte die Schultern. »Das wissen wir nicht, Henrik. Sprechen wir nicht darüber.« Sie sah den kleinen Christoph an, dann wieder Henrik. »Er könnte zu viel verstehen. Schau, Henrik, er ist schon zwei Jahre alt. Sicher kann er auch schon gut sprechen.«

Als müsste Christoph ihr das bestätigen, sagte er: »Christoph will ins Bett, Tante.«

»Ja, du kommst jetzt ins Bett, Christoph.« Jenta legte den Jungen noch einmal auf ihren Arm, damit er ganz im warmen Wasser war, dann stellte sie ihn auf die Füße. Jetzt sah der Knirps zum ersten Mal Henrik an, der über das ganze Gesicht strahlte.

»Ich heiße Henrik. Kannst du das sagen?«

Während Jenta den Jungen trocken rubbelte, hielt Christoph den Kopf etwas schräg, dann probierte er: Hen … Hen …« Plötzlich stieß er hervor: »Rick-Rick!«

Henrik lachte verlegen. »Ja, sag Rick zu mir, wenn das einfacher für dich ist.«

»Rick! Rick!«, rief Christoph und streckte die Hände aus.

Henriks Augen strahlten. Er sah seine Mutter an. »Ich glaube, er mag mich, Mutti. Ich habe ihn ja auch weinen hören.«

Jenta zog dem Jungen wieder den Strampelanzug an und legte ihn ins Bett. Als sie sah, dass Denise schon eine heiße Milch auf ein Tischchen gestellt hatte, bat sie: »Geben Sie ihm die Milch, Frau von Schoenecker.«

Dann ging sie schnell zu Henrik. Spontan zog sie ihn an sich. Tränen klangen aus ihrer Stimme, als sie leise sagte: »Ja, du hast Christoph weinen hören, Henrik. Es ist nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn wir ihn erst am Morgen in der Gondel gefunden hätten.« Schauer rannen über ihren Rücken. »Nie werde ich dir das vergessen. Du hast dieses arme kleine verlassene Kind gerettet.«

Henrik fühlte sich diesem Ausbruch nicht gewachsen. Er sah Jenta scheu an, dann lief er zu der Couch. »Morgen spielen wir miteinander, Christoph. Jetzt muss ich ins Bett gehen, und du musst auch schlafen. Gute Nacht.« Er lief zur Tür.

Denise und Jenta saßen allein bei dem kleinen Christoph. Die Wärme hatte den Jungen müde gemacht.

Denise erhob sich und trat ans Fenster. Sie blickte lange in die helle Nacht hinaus. Als Jenta zu ihr trat, fragte sie: »Wollen Sie hier unten bei ihm bleiben, Frau Jenta?«

»Ja. Ich kann heute nicht mehr schlafen.«

»Morgen früh werden Sie gleich die Polizei verständigen müssen.«

»Was wird dann mit dem Jungen geschehen, Frau von Schoenecker?« Das schöne schmale Gesicht der jungen Frau sah sehr mitgenommen aus.

»Wer kann das voraussagen? Vielleicht sucht die Polizei zuerst nach der Mutter oder nach der Familie, zu der Christoph gehört. Mein Gott, was passiert heute nicht alles. Christoph kann auch ein Kind sein, das entführt wurde und das man nun loswerden wollte.« Denise legte die Hand auf Jentas Schulter. »Vielleicht verrät uns Christoph morgen selbst etwas. Wir sollten uns heute nicht den Kopf zerbrechen. Wir können doch nur Vermutungen anstellen.«

»Es fällt nur so schwer, nicht über das Schicksal des Jungen nachzudenken. Ich bin überzeugt, dass die Mutter ihn ausgesetzt hat. Nur sie kann diesen Zettel geschrieben haben. Aber wie ist jemand mit dem Kind hier heraufgekommen? Mit dem Lift nicht. Also mit den Skiern. Anders ist es nicht möglich.« Jenta presste die Hände an den Kopf. »Nein, ich kann jetzt wirklich nicht mehr darüber nachdenken. Wir müssen wohl alle erst etwas zu uns kommen.« Sie reichte Denise die Hand. »Gehen Sie schlafen, Frau von Schoenecker. Sie haben es nötig.«

»Ja, das stimmt. Ich kann das, was wir in dieser Nacht erlebt haben, noch gar nicht begreifen. Während wir hier übermütig waren beim ›Mensch ärgere dich nicht‹, hat vielleicht draußen in der Kälte eine Mutter den furchtbaren Kampf ausgefochten.« Denise ergriff nun beinahe die Flucht, um nicht noch mehr ihrer peinigenden Gedanken vor Jenta auszusprechen.

*

Obwohl sie alle mehr Schlaf gebraucht hätten, standen sie doch früh auf, Henrik war der Erste, der unten im Wohnzimmer auftauchte. Still saß er neben dem kleinen Christoph. Der kleine Junge war der Einzige, der noch tief und fest schlief. Er hatte heiße rote Wangen.

Immer wieder kam Jenta aus der Küche und blickte den Jungen besorgt an. Er sah aus, als habe er Fieber.