Die Lago Maggiore-Morde - Tod im Camper - Annemarie Regez - E-Book

Die Lago Maggiore-Morde - Tod im Camper E-Book

Annemarie Regez

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Beschreibung

Am Lago Maggiore, wo Palmen und Oleander in der Sonne leuchten, wird die sommerliche Idylle durch ein grausames Verbrechen erschüttert: Auf dem Campingplatz von Locarno wurde ein Mann vergiftet. Commissaria Casanova und Ispettrice Marta Ravelli ermitteln vor der malerischen Kulisse des Sees und tauchen währenddessen tief ein in die dunklen Schatten der Vergangenheit. Dabei enthüllen sie Stück für Stück ein Netz aus Familiengeheimnissen, politischen Verstrickungen und Lügen.

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Seitenzahl: 259

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Annemarie Regez

Die Lago Maggiore-Morde – Tod im Camper

Kriminalroman

Zum Buch

Lügen in Locarno Im malerischen Locarno am Lago Maggiore wirft der mysteriöse Tod eines Campers Fragen auf. Commissaria Roberta Casanova nimmt die Ermittlungen auf, wird jedoch wegen Befangenheit vom Fall abgezogen und zu einer Neuaufnahme des Cold Cases »Leutenegger« verdonnert, als sich persönliche Verbindungen zum Mordopfer auftun. Während Roberta in Locarno alte Verdächtige befragt, übernimmt die frischgebackene Ispettrice Marta Ravelli den Fall Banfi, der sie bis nach Italien und in die Zeit führt, als die »Roten Brigaden« in den 1970ern das Land terrorisierten. In Locarno erhält Roberta währenddessen Drohbriefe, die sie dazu auffordern, nicht weiter in der Vergangenheit zu stochern – aber auch einen Hinweis auf den Täter im Fall Leutenegger. Roberta und Marta tauchen ein in ein Netz aus alten Geheimnissen, politischen Verstrickungen, Hass und familiären Konflikten – können sie die Wahrheit aufdecken, bevor es zu spät ist?

Annemarie Regez ist im Berner Oberland aufgewachsen und hat in der Bundeshauptstadt Bern Philosophie, Germanistik und Volkskunde studiert. Sie lebt als freie Schriftstellerin und Bibliothekarin im Kanton Schwyz und verbringt die zweiten Wochenhälften in ihrer Wahlheimat Locarno.

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung von: © Illustration Lutz Eberle nach einem Foto von Michael Gorog auf unsplash

ISBN 978-3-7349-3364-6

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Heimkehr

Er ist früh aufgewacht, wie immer in letzter Zeit. Am Vorabend hat sich nach einem schwülen Tag ein Gewitter über Locarno entladen, und nun leuchtet der Himmel rein gewaschen in einem makellosen Stahlblau. Weil sich damit erneut ein heißer Sommertag ankündigt, nutzt er die frühmorgendliche Frische für einen Spaziergang durch die noch leeren Straßen. Wie von selbst führen ihn seine Schritte zum Haus in der Via Nessi. Er bleibt stehen, ist überrascht, wie wenig sich verändert hat. Die Palmen und Oleanderbüsche sind höher und mächtiger geworden, die Eingangstür hat einen neuen Anstrich bekommen, aber das eiserne Tor zum Innenhof steht wie damals offen, im Kies wachsen wie früher einzelne Büschel der gleichen Unkräuter. Erinnerungen überwältigen ihn, ein Stechen in der Brust verschlägt ihm den Atem, seine Augen füllen sich mit Tränen. Er gibt sich der Vorstellung hin, hier und jetzt tot zusammenzubrechen, als die Haustür aufgerissen wird, und Elena mit einem Korb in der Hand erscheint. Sie geht zum Auto, er zieht sich schnell zurück und schaut, an die Hecke gepresst, zu, wie sie in Richtung Rotonda davonfährt.

Nach kurzem Zögern geht er entschlossenen Schrittes zurück zu seinem Campingbus, wo er sich ans Steuer setzt und auf dem Handy eine Route eingibt. Zwar hat er die letzten Tage bereits die Umgebung erkundet, aber Locarno hat sich in den vergangenen 40 Jahren derart verändert, dass er sich nicht mehr auskennt. Spätestens als er Ponte Brolla erreicht, wo die Straße ins Centovalli abzweigt, kommt ihm jedoch alles wieder vertraut vor. Jetzt braucht er die Anweisungen aus dem Handy nicht mehr. Kurz nach Intragna biegt er auf ein Sträßchen ab, das sich in Haarnadelkurven den Berghang hochschraubt. Wie erwartet, steht Elenas Fiat am Ende der befahrbaren Straße. Er steigt aus dem Campingbus und sieht sich um. Als er einen frischen Fußabdruck am Waldrand entdeckt, folgt er vorsichtig der Fährte. Es dauert nicht lange, bis er Elena eingeholt hat, da sie nur langsam vorankommt, weil sie nach Pilzen Ausschau hält. Er beobachtet sie aus sicherer Entfernung, indem er lautlos von Baumstamm zu Baumstamm huscht.

1

Laura kreischte in einer Mischung aus Furcht und Entzücken, als der mächtige Uhu so dicht über ihre Köpfe flog, dass sie den Luftzug spüren konnten.

Sie saßen auf der Tribüne der Falconeria in Locarno, eine Mischung aus Zoo und Zirkus, wo man sich der alten Kunst der Falknerei widmete, aber auch mit vielen anderen exotischen Vögeln arbeitete.

Zweimal pro Tag fanden Vorführungen statt, bei denen die verschiedenen Vögel, begleitet von informativen Ausführungen in Deutsch und Italienisch, präsentiert wurden.

Sie hatten sich an diesem Sonntagmorgen spontan dazu entschieden, die Vorführung um 11 Uhr zu besuchen. Ein schon lange gehegter Vorsatz, schließlich befand sich die Falconeria nur ein paar 100 Meter von ihrem Haus entfernt die Straße runter. Jetzt, Ende Juli, auf dem Höhepunkt der Touristensaison, war die Tribüne voll besetzt.

Roberta beobachtete ihre Tochter, wie sie fasziniert dem Flug der Falken, Adler und Eulen folgte und ihren Plüschkoala, ein Geschenk von Julias Schwester, die in Australien lebte, an sich drückte, wenn die Vögel zu nahekamen. Roberta war glücklich. Laura saß zwischen ihr und Julia, ihre Eltern, Elena und Bruno Casanova neben ihr.

Vor ihnen lag eine Parklandschaft mit mittelalterlichen Türmen. Die Bühne für eine unterhaltsame Show, gespickt mit Fakten über die Falknerei und die Lebensgewohnheiten der verschiedenen Vögel, alles untermalt mit dramatischer Musik. Anders als Roberta befürchtet hatte, wurden die Tiere nicht wie dressierte Sklaven präsentiert, sondern mit viel Liebe und Respekt für ihre Bedürfnisse.

Auch Julia machte es glücklich zu sehen, wie gebannt Laura das Spektakel verfolgte. Am Ende des Sommers plante sie, ihre Arbeit bei der Lokalredaktion vom Messaggero del Ticino wieder aufzunehmen. Laura würde dann im asilo nido, der Kinderkrippe, untergebracht werden. Julia freute sich darauf, wieder zu arbeiten. Auch wenn sie sich jetzt noch nicht vorstellen konnte, den ganzen Tag von der Tochter getrennt zu sein.

Auch Bruno Casanovas Gedanken kreisten über einer Trennung. Allerdings nicht von einem Menschen, sondern von seinem geliebten italienischen Wolfshund namens Froda. Normalerweise machte er am Sonntagmorgen einen ausgedehnten Spaziergang mit ihm, jetzt saß Froda zu Hause und wartete enttäuscht.

Elena Casanova war in Gedanken beim Sonntagsessen. Ob die Steinpilze, die sie am Morgen gesammelt hatte, für die Tagliatelle ai funghi porcini reichten? Zum Leidwesen ihres Mannes hatte sie den Sonntagsbraten gestrichen, weil Julia Vegetarierin war. Eigentlich müssten sie schon reichen, und nächste Woche wollte sie noch einmal in den Wald. Ein paar Tage nach dem Gewitter hatten die Steinpilze Zeit genug gehabt, um so richtig zu sprießen.

»Signore e Signori!«, tönte es nun aus dem Lautsprecher. »Schauen Sie auf den Herrn mit der roten Baseballmütze in der vierten Reihe.«

Elena Casanova drehte sich um, hielt wie gefordert Ausschau nach der roten Mütze, dann stockte ihr der Atem. Neben dem Mann mit der Baseballmütze saß jemand, den sie zu kennen meinte. War das möglich? Konnte es sein, dass er nach über 40 Jahren wieder auftauchte? Ohne Vorwarnung, ganz zufällig?

Ihr Bruder.

Ihre Blicke trafen sich für ein paar endlose Sekunden, bis der Flug des Uhus sie trennte, der die rote Mütze unter dem Beifall der Zuschauer vom Kopf des Mannes raubte.

Darauf war die Vorstellung beendet, und alle erhoben sich von den Bänken, um zum Sonntagsbraten zu eilen oder sich einen Fototermin mit einem der Raubvögel zu sichern.

Elena versuchte, sich vorzudrängen, musste aber kapitulieren, weil vor ihr einer alten Frau auf die Beine geholfen wurde, die sich dann im Schneckentempo auf das Ende der Reihe zubewegte. Elena versuchte, ihren vermeintlichen Bruder nicht aus den Augen zu verlieren, aber als sie schließlich die Tribüne verlassen und sich nach vorne schieben konnte, war er verschwunden.

»Mamma? Was ist mit dir?«, fragte Roberta, die ihrer Mutter gefolgt war. »Ist dir nicht gut?«

Elena stand verwirrt und etwas verloren da, während an ihr vorbei die Leute zum Ausgang strebten. »Ich glaubte, jemanden gesehen zu haben, den ich kenne. Aber ich habe mich wohl getäuscht«, sagte sie und zuckte die Schultern.

Jetzt war Roberta verwirrt. Im Kontrast zu den gleichgültig klingenden Worten schien ihre Mutter äußerst aufgewühlt. Außerdem kam es ihr seltsam vor, dass sie einem beliebigen Gesicht hinterherhetzen würde, nur weil es ihr bekannt vorkam. Aber dann hörte sie Laura »Mamma« rufen und sah sie so unsicher und in beängstigendem Tempo auf sie zu stolpern, dass sie sie schnell auffangen musste, um den unvermeidlichen Sturz zu verhindern. Danach war der Moment vorbei. Elena hatte sich wieder gefasst. Sie verließen die Falconeria, um sich bald darauf an den häuslichen Tisch zu setzen und die frischen Porcini in Rahmsoße zu genießen.

2

Die Erinnerung an den Sonntagsausflug in die Falconeria war schon fast verblasst, die Porcini lange verdaut, als die Commissaria von der Nachricht aufgeschreckt wurde, dass man in einem Campingbus auf dem Stellplatz in der Via Lavizzari einen Toten gefunden hatte.

Sie informierte Marta, und die beiden machten sich zu Fuß auf den Weg. Ihr Ziel lag nur ein paar 100 Meter vom Polizeiposten entfernt, auf dem Gelände des ehemaligen Schlachthofs der Stadt Locarno.

Der Tote befand sich in einem verbeulten Citroën Jumper mit französischem Nummernschild und war entdeckt worden, weil die Parkgebühr nicht mehr bezahlt worden war. Die Gemeinde Locarno, die den Stellplatz betrieb, hatte einen Mitarbeiter geschickt, der nach dem Rechten sehen sollte. Nachdem er mehrmals an die Tür des Wohnmobils geklopft hatte, ohne eine Reaktion zu erhalten, fragte er die anwesenden Camper, ob sie wüssten, wo sich die Leute, die zu diesem Wohnmobil gehörten, aufhielten. Die Befragung brachte ihm nur Schulterzucken ein, sodass er probehalber an der Türverriegelung zog, worauf die Tür mit leisem Quietschen aufschwang. Der Tote lag eingezwängt zwischen dem Aluminiumfuß des Tisches und der Sitzbank, als ob er sich hätte verkriechen wollen.

Kein schöner Anblick, der Gemeindemitarbeiter war selbst leichenblass, als er gegenüber Marta und der Commissaria beteuerte, die Tür habe sich praktisch von selbst geöffnet, er habe sich ganz bestimmt nicht widerrechtlich Zutritt verschaffen wollen.

Da auf den ersten Blick nicht festzustellen war, wie der Mann zu Tode gekommen war, überlegte die Commissaria, sich wieder zurück auf den Polizeiposten zu begeben, bis erste Ergebnisse der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin vorlagen. Aber dann bog ein vertrauter knallroter Smart auf den Stellplatz ein. Die Gerichtsmedizinerin Chiara Vanini war wohl gerade in der Nähe gewesen, als sie von dem Todesfall gehört hatte.

Die Dottoressa schälte sich aus dem Auto, das viel zu klein war für ihre massige Gestalt.

Vielleicht gibt ihr das winzige Auto ein Gefühl von Zierlichkeit, das sie sonst vermisst, ging der Commissaria durch den Kopf, bevor sie sagte: »Ciao, Chiara! Wir haben einen toten Camper.«

Chiara Vanini grüßte zurück und ließ sich den Toten zeigen. »Aha, finales Höhlenverhalten. Aber er wird ja kaum erfroren sein bei diesen Temperaturen.«

»Was?«, fragte die Commissaria.

»Finales oder terminales Höhlenverhalten. Der Mensch verkriecht sich, um zu sterben. Sieht man oft bei Leuten, die erfrieren. Bei denen kommt aber meistens noch die Kälteidiotie hinzu. Wenn die Körpertemperatur auf 32 Grad sinkt, dilatieren die Gefäße, was zu einem Hitzegefühl führt, und die Leute ziehen sich dann aus. Ist hier aber nicht der Fall. Wenn es Winter wäre, hätte ich sofort auf Erfrieren getippt. Oder Kohlenmonoxidvergiftung von einer defekten Gasheizung. Ist vielleicht einfach ein Herzinfarkt. Also, dann schauen wir mal.«

Chiara Vanini hievte sich in das Wohnmobil und ließ sich dann vorsichtig auf die Knie nieder. »Seltsam«, sagte sie, als sie dem Toten Auge in Auge gegenüberkauerte. »Ausgeprägter Ikterus. Ist wohl doch kein Herzinfarkt.«

»Was heißt das?«, fragte die Commissaria ungeduldig vor der Wohnmobiltür stehend. »Bedeutet das, du hast doch eine Fremdeinwirkung gefunden?«

»Ikterus, Gelbsucht«, murmelte die Dottoressa, während sie versuchte, dem Toten eine Socke auszuziehen. »Da! Siehst du diese Blase über dem Knöchel?«

»Nein, du stehst mir im Weg.«

»Ist ja nicht so wichtig, kannst du nachher begutachten. Ich vermute, dieser Mensch ist an einer Vergiftung gestorben. Ich muss auf jeden Fall eine Autopsie machen.«

Als die Leiche abtransportiert war, sah sich die Commissaria im Wohnmobil um. Es war zwar alt, verfügte aber über Küche, WC und Dusche und war in einem sauberen, ordentlichen Zustand. Es befanden sich auch nicht übermäßig viele Habseligkeiten im Wagen, das deutete darauf hin, dass der unbekannte Tote auf Campingurlaub war und nicht etwa dauernd im Wohnmobil wohnte. Im Handschuhfach fand sich ein Portemonnaie mit ein paar 100 Euro, einer Bankkarte, einem französischen Personalausweis und Führerschein. Ein Handy, das auf dem Tisch gelegen hatte, wurde vom Kriminaltechnischen Dienst mitgenommen.

Der Tote hieß Jules Leclerc, ein Allerweltsname, wie der Commissaria eine schnelle Internetsuche verriet.

Marta hatte bereits herausgefunden, dass das Wohnmobil auf diesen Namen gemeldet war. Sie würden über die französische Zulassungsbehörde ausfindig machen, wo er gewohnt hatte und eventuelle Angehörige benachrichtigen lassen. Bis entschieden werden konnte, wie es weiterging, musste das Ergebnis der Obduktion abgewartet werden. In der Zwischenzeit wurde das Wohnmobil auf den Werkhof der Polizei gebracht.

3

»Pronto, dimmì Chiara!« Commissaria Casanova hatte den Anruf der Gerichtsmedizinerin schon ungeduldig erwartet.

»Halt dich fest, Roberta. Unser Camper ist mit großer Wahrscheinlichkeit an einer Vergiftung durch einen Knollenblätterpilz gestorben. Habt ihr in der Küche des Wohnmobils Spuren einer Pilzmahlzeit gefunden?«

»Was?« Der Kopf der Commissaria schwirrte von verschiedenen Assoziationen, einschließlich ihrer eigenen Pilzmahlzeit vom Sonntag. »Nein. Die Küche war unbenutzt. Wir haben nur Instant-Kaffee, Zucker und Milch gefunden. Er hat sich offenbar in Restaurants verpflegt. – Cavolo! Jetzt müssen wir die Restaurants abklappern. Es könnte ja auch noch andere erwischt haben. Hast du noch von anderen Pilzvergiftungen gehört?«

»Bis jetzt nicht. Aber ich werde mich umhören und gebe dir Bescheid.«

»Danke, Chiara. Ich reiche die Nachricht an mein Team weiter. Sie werden sich auf die Restaurantbesuche freuen.«

Entgegen der pessimistischen Vermutung der Commissaria konnte das Lokal, wo der vergiftete Jules Leclerc seine letzte Mahlzeit – und im Übrigen auch die Mahlzeiten davor – eingenommen hatte, sehr schnell ausfindig gemacht werden. Es war ein beliebtes Restaurant mit Pizzeria ganz in der Nähe des Stellplatzes. Jules Leclerc war dem Servicepersonal in Erinnerung geblieben, weil er an zwei Tagen in Folge am Mittag und am Abend bei ihnen gegessen hatte. Und auch, weil er alle vier Mal das Gleiche bestellt hatte: Bistecca mit patatine. Bei dieser Ernährung wäre er ohnehin nicht alt geworden, dachte die Commissaria und dass dieses Menü keine Pilze enthielt. Pilze wurden in diesem Restaurant nur auf der Pizza serviert, und sie kamen nicht aus dem Wald, sondern aus einem Alubeutel.

Auch wenn mit ziemlicher Sicherheit ausgeschlossen werden konnte, dass sich Jules Leclerc die Knollenblättervergiftung hier zugezogen hatte, war die Befragung des Servicepersonals doch noch für eine interessante Information gut: Der gemäß seinen Ausweispapieren französische Staatsbürger hatte nicht nur akzentfreies Italienisch gesprochen, sondern auch ein paar Dialektwendungen eingestreut. Den Dialekt beherrschte nur jemand, der hier aufgewachsen war. Jules Leclerc stammte also mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Kanton Tessin.

Hatte er vielleicht Verwandte getroffen, die sich so über seinen Besuch gefreut hatten, dass sie ihn mit einer finalen Mahlzeit daran hindern wollten, sie je wieder zu verlassen?

Knollenblätterpilze sollen sehr gut schmecken. Die Commissaria hatte gelesen, dass Überlebende behauptet hatten, das potenziell tödliche Gericht sei das beste ihres Lebens gewesen. Allerdings kam ihr das sehr unglaubwürdig vor. Normalerweise hatte man keine guten Erinnerungen an Speisen, die einen zum Erbrechen brachten. Das sollte auch für eine Knollenblättervergiftung gelten, obschon das Erbrechen erst Stunden nach Einnahme der Pilze einsetzte. Das war überhaupt das Perfide an diesem Gewächs: Bauchschmerzen und Übelkeit machten sich erst bemerkbar, wenn es schon fast zu spät war. Und ausgesprochen teuflisch war, dass man sich nach dem großen Erbrechen wieder besser fühlte und sich in Sicherheit wiegte, während das Gift unbemerkt die Leber zerstörte. Danach bestand die letzte und einzige Chance zu überleben in einer Lebertransplantation.

Die Leiche von Jules Leclerc war am Donnerstagmorgen gefunden worden. Chiara Vanini hatte vermutet, dass er etwa zwölf bis allerhöchstens 24 Stunden vorher gestorben war. Eine Vergiftung mit Knollenblätterpilzen führte nach zwei bis vier Tagen zum Tod. Er konnte also die Pilze am Sonntag zu sich genommen haben und am Mittwoch gestorben sein. Für die Einnahme am Sonntag sprach auch, dass er nicht mehr im Restaurant aufgetaucht war, um seine Bistecca con patatine zu essen.

Aber wer hatte ihm das Gift serviert?

Es gab nur eine Handvoll Personen namens Leclerc im Tessin. Sie waren bereits befragt worden, und alle hatten glaubhaft versichert, den Toten nicht zu kennen.

Es gab auch die Möglichkeit, dass er bei einem seiner Nachbarn auf dem Wohnmobil-Stellplatz gegessen hatte. Die Commissaria seufzte. Der Stellplatz wies 37 Plätze auf und war jetzt im Hochsommer ständig voll besetzt. Sie mussten also mindestens 36 Wohnmobilbesitzerinnen und -besitzer ausfindig machen und befragen. Wahrscheinlich sogar mehr, weil sicher einige am Sonntag abgereist und andere angekommen waren.

»Wie soll man sich das Szenario denn vorstellen?«, fragte Marta die Commissaria, als sie sich nach der Teambesprechung in ihrem Büro trafen. »Wer würde einen Nachbarn auf dem Campingplatz vergiften? Nehmen wir an, du hasst jemanden so sehr, dass du ihn umbringen willst. Er hat ein Wohnmobil, also mietest du eines und verabredest dich mit ihm. Vielleicht auf halbem Weg zwischen deinem und seinem Wohnort, auf einem anonymen, unbewachten Stellplatz, wo man mit einer App bezahlen kann. Dann lädst du ihn zum Essen ein, würzt seine Portion mit Knollenblätterpilzen, sagst ›Ciao‹ und reist wieder ab.« Marta dachte einen Moment nach. »Eigentlich genial. Wenn es sich so abgespielt hat, dann wird es für uns schwierig. Auch wenn es uns gelingt, diese hypothetische Person zu finden und ihr eine Beziehung zu Jules Leclerc nachzuweisen, müssen wir immer noch Beweise finden.«

Die Commissaria zuckte die Schultern. »Ich glaube nicht an den Wohnmobil-Mörder, aber überprüfen müssen wir es trotzdem. Mein Gefühl sagt mir, dass der Tote nicht zufällig nach Locarno gekommen ist. Da ist einmal sein Handy. Ein billiges Prepaid, das er offenbar nur dazu benutzt hat, den Stellplatz zu bezahlen. Und was wirklich ungewöhnlich ist, dass ein französischer Staatsbürger Tessiner Dialekt spricht. Wir müssen herausfinden, was er hier wollte. Am besten veröffentlichen wir ein Bild von ihm. Vielleicht kann Ruggero ihn jünger machen? Schließlich hat er offenbar schon Jahrzehnte in Frankreich gelebt und war vielleicht längere Zeit nicht in Locarno.«

4

Schon am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass das Gefühl der Commissaria richtig war. Fünf Leute meldeten, dass es sich bei dem Mann auf dem Bild, das die Polizei auch auf den sozialen Medien geteilt hatte, um Valerio Banfi handelte. Es gab keine Zweifel. Ein Lehrmeister erkannte seinen ehemaligen Auszubildenden, es meldeten sich Schulkameraden und Arbeitskollegen.

Und es meldete sich noch ein Gefühl bei der Commissaria. Eine leichte Irritation. Banfi war der Mädchenname ihrer Mutter. Was allein noch kein Grund zur Beunruhigung wäre. Aber Banfi war ein seltener Name, sie kannte nur noch eine Person, die so hieß: Elisabetta, die Schwester ihrer Mutter. Diese hatte die Commissaria schon ewig nicht mehr gesehen. Als sich Roberta als Lesbe geoutet hatte, wollte Tante Elisabetta nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Die Commissaria griff zum Telefon. »Ciao, Mamma. Ich habe eine Frage: Kennst du einen Valerio Banfi?«

Stille.

»Mamma?«

»Was ist mit ihm?«

»Er wurde tot aufgefunden. In einem Wohnmobil auf dem Stellplatz beim ehemaligen Schlachthof. Du kennst ihn?«

Stille.

»Mamma?« Die Commissaria schaute entgeistert auf ihr Handy, auf dem angezeigt wurde, dass der Anruf beendet worden war. Sie überlegte kurz, verließ dann ihr Büro, informierte Marta, dass sie eine Weile weg sei, und machte sich auf den Weg nach Hause.

Elena Casanova, die offenbar damit gerechnet hatte, dass ihre Tochter auftauchen würde, stand bereits vor der Haustür, als Roberta eintraf. Vielleicht hatte sie fliehen wollen, ging ihrer Tochter durch den Kopf, als sie sah, dass ihre Mutter die Autoschlüssel in der Hand hielt.

Mutter und Tochter fochten ein Blickduell aus, das die Tochter gewann. Elena Casanova ging zurück ins Haus, Roberta folgte ihr unaufgefordert.

Sie hatten das Haus für sich allein. Der Vater war mit Froda unterwegs, und Julia besuchte mit Laura probehalber das Nido dell’infanzia, die Kinderkrippe der Stadt.

»Also, Mamma, was hat es mit diesem Valerio Banfi auf sich?«, fragte Roberta, nachdem sie sich in der Küche an den Tisch gesetzt hatte, wo ihre Mutter automatisch die Moka mit Kaffee und Wasser füllte und aufsetzte.

Ihre Mutter drehte sich zu ihr um. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, Roberta.«

»Am besten sagst du mir einfach, wer dieser Valerio Banfi ist. Sind wir mit ihm verwandt?«

Elena nickte.

»Okay. Wie denn? Ist er ein entfernter Cousin von dir? Er kann ja nicht besonders eng verwandt sein. Ich habe noch nie von ihm gehört.«

»Roberta, Valerio ist mein Bruder.« Elena schaute voller Angst und jahrzehntelangem Kummer zu ihrer Tochter, die erst überrascht, dann fassungslos war. »Wir haben alles getan, um zu vergessen, dass es ihn gibt. Eigentlich habe ich angenommen, dass er längst gestorben sei. Es ist 40 Jahre her, dass wir das letzte Mal von ihm gehört haben.«

»Was erzählst du da? Das ist doch nicht möglich!« Roberta hatte sich unwillkürlich vom Stuhl erhoben.

»Ihn zu vergessen, war der einfachste Weg. Der Schmerz war einfach zu groß. Und es hat ja auch funktioniert. Irgendwie.«

»Mamma! Wovon sprichst du?«

Mit lautem Zischen kochte der Kaffee in der Moka über, die von den beiden Frauen unbeachtet vor sich hin geblubbert hatte. Roberta stürzte zum Herd, um das Gas abzustellen, und Elena fing an zu schluchzen. Roberta, die bereits zum Putzlappen gegriffen hatte, um das Gröbste aufzuwischen, erstarrte. Sie hatte ihre Mutter noch nie schluchzen gehört. Und das letzte Mal, dass sie geweint hatte, war auch schon eine Weile her. Typischerweise auch in Familienangelegenheiten, nämlich wegen Zia Elisabettas Reaktion auf Robertas Coming-out. Sie drehte sich zu ihr um und nahm sie in die Arme. »Mamma, wein doch nicht«, sagte sie hilflos über die Schulter ihrer Mutter und schämte sich sogleich für die dämlichen Worte. Wie sollte man Trost spenden, wenn sich ein lebenslang unterdrückter Kummer Bann brach?

Als die Schluchzer weniger wurden und das Weinen versiegte, lockerte Roberta ihre Umarmung. Die Mutter trat einen Schritt zurück und griff nach der Küchenpapierrolle. Sie schnäuzte die Nase und wischte sich die Augen. Die Schminke hinterließ schwarze Streifen auf dem Papier, was Elena fast wieder zum Weinen brachte.

Roberta, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, die Geschichte über ihren unbekannten Onkel zu erfahren, und der Angst, ihre Mutter wieder zum Weinen zu bringen, schraubte die Moka auseinander und klopfte den Kaffeesatz aus dem Sieb. Während sie die Kanne spülte, kam ihr ein niederschmetternder Gedanke. Falls Valerio Banfi ihr Onkel war – noch konnte sie dieser Nachricht nicht wirklich Glauben schenken – dann würde sie von den Ermittlungen abgezogen. Einen konfusen Augenblick lang schwirrten ihr Szenarien durch den Kopf, in denen sie verheimlichte, dass der Tote ein enger Verwandter war, um dann einzusehen, dass es unmöglich war. Allerdings würde sie sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen, ihre Mutter auszufragen, bevor sie Staatsanwalt Franscini informierte.

»Mamma? Willst du mir nicht erzählen, was es mit deinem Bruder auf sich hat?«, fragte sie, in der Hoffnung, der beiläufige Ton wirke beschwichtigend auf ihre Mutter.

Elena Casanova gab einen tiefen Seufzer von sich. »Eigentlich gibt es gar nicht so viel zu erzählen. Du weißt ja, dass ich in einem sehr konservativen Elternhaus aufgewachsen bin. Jeden Sonntag in die Kirche und strenge Vorschriften, vor allem für uns Mädchen. Wir durften keine Jeans und nur Kleider tragen, die bis über die Knie gingen. An Hotpants und Miniröcke, die damals gerade der letzte Schrei waren, durften wir nicht einmal denken. Wir haben alle drei sehr unterschiedlich auf das strenge Regime reagiert. Ich habe früh geheiratet, um wegzukommen. Elisabetta hat sich – ganz die Musterschülerin – noch konservativer und gottgefälliger als meine Eltern gebärdet, und Valerio hat dann halt politisch rebelliert.«

»Politisch? Was meinst du damit?«

»Er hat sich einer radikalen Organisation angeschlossen.«

Roberta versuchte, sich vorzustellen, was für ihre Mutter als »radikale Organisation« gelten würde. Die Sozialdemokratische Partei oder Greenpeace? Sie schluckte eine spöttische Bemerkung hinunter und begnügte sich mit einem fragenden Blick.

»Ich habe damals nicht verstanden, was vor sich ging. Ich ging ja noch zur Schule und hatte keine Ahnung von den Kreisen, in denen er verkehrte. Und dann hatte ich nie mehr Gelegenheit, ihm Fragen zu stellen. Er begab sich offenbar sofort in den Untergrund.«

»Untergrund?« Es war höchst irritierend, ein solches Wort aus dem Mund ihrer Mutter zu hören.

»1978, als er 20 und damit volljährig wurde, ging er nach Italien, um sich den Roten Brigaden anzuschließen.«

»Was?«

»Er hat sich radikalisiert. Unsere Eltern haben seinen Freunden die Schuld gegeben, aber ich dachte damals schon, dass sie mitschuldig seien. Sie waren aus der Zeit gefallen mit ihrem Konservatismus und ihrer Sturheit. Du kannst ja nicht wissen, wie es damals war. Wenn man in den 70er-Jahren jung war, hat man sich nicht mehr mit Traditionen und alten Zöpfen abspeisen lassen. Es hat einfach keinen Sinn mehr gemacht. Die ganze Autoritätsgläubigkeit hat nur zu Krieg und der Katastrophe des Holocaust geführt. Aber das Establishment, die Regierung, die Unternehmer, alle sahen sie immer noch gleich aus mit ihren schwarzen Anzügen, weißen Hemden und Hornbrillen, und sie wehrten sich mit Vehemenz gegen Gleichberechtigung oder andere neumodische Ideen. Da hat sich eine Menge Wut aufgestaut.«

Daran zweifelte Roberta nicht, aber dass ihre Mutter das Wort »Establishment« in den Mund nahm und sich fast wie ein ehemaliges Blumenkind anhörte, war äußerst verwirrend. Andererseits musste Roberta zugeben, dass sie zwar klaglos ein konventionelles Hausfrauenleben geführt, aber nie versucht hatte, Roberta, die sich um keine Konventionen geschert hatte, zu beeinflussen. Hatte sie ihre Mutter etwa ein Leben lang falsch eingeschätzt?

»Valerio ist einfach verschwunden, ohne Erklärung, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Das war grausam für uns, vor allem für meine Eltern. Die Ungewissheit hat sie fertig gemacht. Aber als dann die Polizei vor der Tür stand und sagte, Valerio werde gesucht, wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, hätten sie wohl die Ungewissheit vorgezogen. Das war 1980, zwei Jahre nach der Entführung und Ermordung von Aldo Moro. Ich hatte gerade meine kaufmännische Lehre beendet und wohnte noch bei meinen Eltern, denen ich den größten Teil meines Lehrlingsgehalts abgeben musste. Dein Vater und ich waren verlobt, aber meine Eltern hätten ihm niemals erlaubt, bei mir zu übernachten, geschweige denn, dass wir die Ferien gemeinsam verbrachten. Deshalb wollten wir so schnell wie möglich heiraten. Das weißt du ja. Du warst ein Siebenmonatskind.« Die Mutter lächelte und wurde gleich wieder ernst. »Ich habe dir aber nie erzählt, dass wir damals jahrelang überwacht wurden. Unser Telefon wurde abgehört und unsere Post kontrolliert. Das hatten wir alles Valerio zu verdanken. Es lagen offenbar Beweise vor, dass er an verschiedenen Mordanschlägen der Brigate Rosse beteiligt gewesen war, bevor er abtauchte. Sie vermuteten natürlich, dass er mit der Familie Kontakt aufnehmen und uns um Hilfe bitten würde, was er aber nie getan hat. Bis jetzt.«

»Bis jetzt? Was meinst du damit? Hast du mit ihm gesprochen?« Roberta, die konzentriert zugehört und, überwältigt von den überraschenden Informationen, versucht hatte, sich darauf einen Reim zu machen, war plötzlich alarmiert.

»Nein. Aber ich glaube, ihn gesehen zu haben.«

»Gesehen? Wo?«

»In der Falconeria. Er saß hinter uns, neben dem Mann mit der roten Kappe. Du weißt doch die, die sich der Vogel geschnappt hat?«

»Warum hast du nichts gesagt? Hast du ihn denn nicht angesprochen?«

»Ich habe versucht, ihm zu folgen. Aber er war verschwunden. Danach dachte ich, es mir nur eingebildet zu haben. Ich habe ihn über 40 Jahre nicht gesehen. Ich war mir nicht sicher.«

5

Marta seufzte. Ihr war mitgeteilt worden, dass Commissaria Casanova den Fall Banfi – er hieß jetzt nicht mehr Leclerc – wegen Befangenheit abgeben müsse und man ihr die Leitung übertrage. Jetzt schwankte sie zwischen Euphorie und Angst. Es war das erste Mal, dass sie die volle Verantwortung übernehmen durfte oder musste. Ausgerechnet bei einem Fall, in den die Familie der Commissaria verstrickt war. Was bedeutete, dass sie es auf keinen Fall versemmeln durfte.

Die Roten Brigaden. Lange vor ihrer Zeit. Eine schwache Ahnung von Autobomben und etwas mit Aldo Moro. Wer war das schon wieder gewesen?

Wikipedia würde weiterhelfen.

Zwei Stunden später versammelte sie ihr Team im Besprechungsraum.

»Als Erstes muss ich erklären, warum ich hier stehe und nicht Roberta«, sagte sie, die Verwunderung in den Gesichtern der Anwesenden bemerkend. »Wir haben die Identität des Toten vom Stellplatz auf dem ehemaligen Schlachthofgelände feststellen können. Seine Papiere sind auf den Namen Jules Leclerc ausgestellt, französischer Staatsbürger. Es hat sich jetzt herausgestellt, dass die Papiere gefälscht sind. Eine sehr gute Fälschung, aber eben eine Fälschung. Aufgrund seiner Dialektkenntnisse haben wir vermutet, dass er im Tessin aufgewachsen sein könnte. Ein Fahndungsbild hat dann ergeben, dass das der Fall ist und dass sein richtiger Name Valerio Banfi lautet. Banfi ist der Mädchenname der Mutter der Commissaria, und der Tote ist ihr Onkel. Deswegen wurde Roberta vom Fall abgezogen.« Marta hob beschwichtigend die Hand, ob der verschiedenen erstaunten Ausrufe, die auf diese Ankündigung ertönten. »Das ist noch nicht alles. Roberta hat nichts von der Existenz dieses Onkels gewusst. Die Familie hat ihn sozusagen verstoßen, weil er mit 20 nach Italien abgehauen ist, um sich den Roten Brigaden anzuschließen. Ich habe ein paar Fakten recherchiert. Auch wenn einige von euch diese Zeit gerade noch so miterlebt haben, kann es nicht schaden, wenn ich hier die wichtigsten Eckpunkte in Erinnerung rufe. Die Roten Brigaden haben ihre Wurzeln in den Studentenprotesten Ende der 1960er-Jahre, die sich in Italien mit den Arbeiterprotesten verbunden haben. Damals bildeten sich zahlreiche solche Protestgruppen. Die Brigate Rosse gingen aus einer Mailänder Gruppe hervor. Das ist wichtig im Zusammenhang mit dem Attentat auf der Mailänder Piazza Fontana. Am 12. Dezember 1969 verübten Rechtsextreme in einer Bank an der Piazza Fontana ein Attentat, das sechs Tote und 88 Verletzte forderte. Dieses Attentat wollte man den Linken in die Schuhe schieben. Sofort wurden mehrere Linksaktivisten verhaftet, ein Anarchist namens Giuseppe Pinelli starb dabei bei einem Fenstersturz unter ungeklärten Umständen. Das schürte die Wut der Linken, gerade in Mailand, die sich daraufhin radikalisierten. Die Roten Brigaden wurden neun Monate später gegründet. Der Name deutet darauf hin, dass sie sich in der Tradition der Partisanenbrigaden in einem Kampf für die gerechte Sache sahen. Zuerst galten die Anschläge Vertretern großer Konzerne wie Siemens oder Pirelli, um auf die schlechten Arbeitsbedingungen hinzuweisen und Sympathisanten zu gewinnen. Die ersten Anschläge waren Sachbeschädigungen, meistens Brandanschläge auf die Autos der Manager. Die Gewaltbereitschaft steigerte sich, bis die Situation 1978 mit der Entführung und Ermordung Aldo Moros, des Vorsitzenden der Democrazia Cristiana, eskalierte. Danach wurde die italienische Gesellschaft mit zahlreichen Mordanschlägen terrorisiert, und die Regierung erließ Sondergesetze, nach denen die Polizei Hausdurchsuchungen ohne Durchsuchungsbeschlüsse durchführen durfte, und den pentiti, den Reuigen, wurden Strafnachlässe gewährt, wenn sie gegen ihre Mitstreiter aussagten.«

Marta machte eine kurze Pause, um sich zu vergewissern, dass die Leute ihr noch zuhörten, bevor sie fortfuhr. »Provisorisch kann ich daher zwei mögliche Tätergruppen ausmachen: Erstens Angehörige von Mordopfern der Roten Brigaden, die sich nie mit dem Tod ihres Vaters, Onkels, vielleicht auch Bruders abfinden konnten und Rache geschworen haben. Zweitens kommen ehemalige Rotbrigadisten, die sich von Banfi verraten fühlten, infrage. Wir wissen im Moment aber noch nicht, ob Banfi je vor Gericht gestanden ist. Wenn ja, besteht die Möglichkeit, dass er Reue gezeigt und seine Kameraden verpfiffen hat, um mit einer milderen Strafe davonzukommen. Ob er ein sogenannter pentito