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Im märchenhaften Kamelienpark in Locarno wird eine kopflose Leiche gefunden. Commissaria Roberta Casanova erkennt in dem Toten einen alten Bekannten: Marco della Valle, den Leiter der Wellnessoase, die zwei Jahre zuvor Schauplatz eines Mordes war. Die Commissaria vermutet einen Zusammenhang mit dem ersten Mordfall, tappt aber zunächst im Dunkeln. Marco della Valle hat ein sehr zurückgezogenes Leben geführt - und offenbar ein Geheimnis gehütet. Wurde er etwa von Schatten aus seiner Vergangenheit eingeholt?
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Seitenzahl: 280
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Annemarie Regez
Die Lago Maggiore-Morde – Tod im Kamelienpark
Kriminalroman
Mord im Ferienparadies Commissaria Roberta Casanova hat eigentlich Urlaub. Mutterschaftsurlaub, denn ihre Partnerin hat erst vor kurzem eine Tochter zur Welt gebracht. Wegen Personalengpässen muss Roberta aber trotzdem selbst den Tatort im verwunschenen Kamelienpark in Locarno untersuchen. Es stellt sich heraus, der Tote ist für sie kein Unbekannter. Marco della Valle, Leiter einer örtlichen Physiotherapiepraxis, hat bereits bei einem zwei Jahre zurückliegenden Mordfall ihren Weg gekreuzt. Die ersten Untersuchungen der Locarner Kriminalpolizei ergeben, dass Marco sehr zurückgezogen gelebt hat. Nichts deutet darauf hin, warum er auf so bestialische Weise getötet worden ist. Bis eine Spur die Ermittler in die Vergangenheit des Opfers führt, in Marcos isolierte Kindheit im Val Bavona – und zu einem dunkeln Geheimnis.
Annemarie Regez ist im Berner Oberland aufgewachsen und hat in der Bundeshauptstadt Bern Philosophie, Germanistik und Volkskunde studiert. Sie lebt als freie Schriftstellerin und Bibliothekarin im Kanton Schwyz und verbringt die zweiten Wochenhälften in ihrer Wahlheimat Locarno.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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© 2024 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Illustration Lutz Eberle nach einem Foto von Elitravo / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3090-4
Ich möchte mich bei den Bewohnerinnen und Bewohnern des Val Bavona entschuldigen. Die beschriebenen Ereignisse sind voll und ganz von mir erfunden und stehen in keiner Beziehung zu irgendwelchen realen Vorkommnissen.
Die kleine Laura war gerade wieder eingeschlafen und mit ihr die Commissaria, die sich verpflichtet gefühlt hatte, wach zu bleiben, während Julia stillte, als sich ihr Telefonino mit einem nervtötenden Rattern aus der Nachttischschublade meldete.
Mit aus langjähriger Übung geborener Geschicklichkeit fischte sie das Telefon aus der Schublade, nahm den Anruf entgegen, stieg gleichzeitig aus dem Bett und hatte das Schlafzimmer schon verlassen, als sie sich mit Dienstrang und Namen meldete.
Ein Toter war in der Nähe des Sees gefunden worden.
»Wieso rufst du mich an? Ich habe Urlaub, ich bin gerade Mutter geworden.«
»Oh! Das habe ich gar nicht gewusst, gratuliere! Merda, du warst meine letzte Hoffnung. Wie lange ist denn die Geburt her? Ich meine, könntest du vielleicht nicht trotzdem einspringen? Nur für den Anfang.«
»Was?«
»Entschuldige, nur wenn du physisch dazu in der Lage bist. Es sind alle an Covid erkrankt – totale Katastrophe. Ich habe niemanden mehr, den ich anrufen kann.«
Die Commissaria warf einen Blick auf die Schlafzimmertür, sah auf die Uhr und sagte: »Okay, ich komme.«
Um ihre Kleider zu holen, schlich sie sich so leise es ging zurück ins Schlafzimmer. Julia war aber schon wach und hatte die gedimmte Nachttischlampe eingeschaltet. »Was ist los?«, flüsterte sie.
»Ein Notfall, ich muss wohl oder übel einspringen, tut mir leid.« Sie küsste Julia zum Abschied und warf einen Blick ins Kinderbettchen, wo die neugeborene Laura, die Händchen zu Fäusten geballt und die Augen im noch etwas zerknitterten, noch etwas roten Gesicht fest geschlossen, ruhig schlief.
Nachdem sie sich hastig angezogen und ihre Sachen zusammengesucht hatte, versuchte sie, so leise es ging, die Wohnungstür zu schließen und die Treppe möglichst schnell und geräuschlos hinunterzusteigen. Leider war sie nicht schnell und nicht leise genug. Zwar hatte sie schon die Hand auf die Klinke der Haustür gelegt, aber sie schaffte es nicht nach draußen, bevor sich die Tür der Erdgeschosswohnung öffnete. »Wo willst du hin?«, fragte ihre Mutter.
»Ein Notfall, erkläre ich dir später«, sagte Roberta und verließ hastig das Haus, obschon sie hörte, dass ihre Mutter rief, sie könne Julia und die Kleine doch jetzt nicht allein lassen.
Als ob Papa nach meiner Geburt die ganze Zeit da gewesen wäre, dachte Roberta und stieg in ihren uralten Fiat Panda.
Es war kurz nach 6 Uhr, als sie gegenüber vom Parco della Pace in die Via Respini einbog und ihr die blinkenden Blaulichter der Polizeiwagen das Ziel anzeigten. Immerhin schien nicht die ganze Polizeimannschaft von Locarno durch Covid außer Gefecht gesetzt worden zu sein. Sie parkte unter den Alleebäumen gegenüber vom Kamelienpark und zog sich Schutzkleidung an: Overall, Überzieher für die Schuhe und Einweghandschuhe. Um sich einen Überblick zu verschaffen und einen Eindruck von der Szenerie zu bekommen, blieb sie kurz neben dem Auto stehen.
Es hatte stark geregnet in der Nacht und es war noch nicht lange her, dass der Regen aufgehört hatte. Die Straße war nass, und auf den kiesbedeckten Parkplätzen unter den Pappeln hatten sich Pfützen gebildet.
Der Kamelienpark war eine der Touristenattraktionen des Städtchens und zog vor allem im Frühling, zur Hauptblütezeit, scharenweise Menschen an, die mit ihren Handys die prächtigen rosenähnlichen Blüten an den immergrünen Sträuchern fotografierten. Roberta, die mit den in Locarnos Stadtbild allgegenwärtigen Blumen aufgewachsen war, konnte deren Attraktivität nicht so recht nachvollziehen. Die Sträucher mit den wächsernen Blättern, die, dicht nebeneinander gepflanzt, den Gehsteig auf der anderen Straßenseite säumten, wurden vom Blaulicht gestreift. Für Sekunden tauchten sie aus der Dunkelheit auf und wirkten unheimlich lebendig. Bei Tag und vor allem im Sommer, wenn das hinter dem Kamelienpark am See liegende Bagno publico geöffnet war, wimmelte es hier von Menschen. Jetzt wirkte der Park auf die Commissaria wie ein gespenstischer Friedhof. Sie überquerte die Straße und ließ sich von einem uniformierten Polizisten den Weg weisen, obschon sie aufgrund der Taschenlampenlichter auch ohne Erklärung zum Tatort gefunden hätte.
Ihr Eindruck, einen Friedhof zu betreten, verstärkte sich noch, weil man die Kamelien auf Erdhaufen gepflanzt hatte, die an Grabhügel erinnerten. Sie hatte sich dem Zentrum des Geschehens genähert, als plötzlich ein Scheinwerfer aufflammte und den toten Körper, der auf einem der noch unbepflanzten Hügel auf dem Rücken lag in einem unbarmherzigen, scharfen Licht zur Schau stellte.
Die Commissaria, in einer Geste, die wohl dazu diente, einen Schrei zu unterdrücken, hielt sich die Hand vor den Mund. Was ihr erst bewusst wurde, als ihr der penetrante Gummigeruch des Einweghandschuhs in die Nase stieg. Sie ließ die Hand sinken und machte ein paar zögernde Schritte auf die Leiche zu, und was sie von weiter weg mehr befürchtet als richtig hatte sehen können, wurde zur Gewissheit. Der Leiche fehlte der Kopf.
Auf dem Grabhügel, bestreut mit weißen Kamelienblüten, lag ein männlicher Körper in Sportbekleidung – einer schwarzen engen Jogginghose, einer dunkelroten Trainingsjacke und schwarzen Joggingschuhen mit neongrünen Streifen. Verstörend waren aber nicht nur der fehlende Kopf und die weißen Blüten, sondern auch das antik aussehende Schwert, das auf der Leiche lag.
Während die Commissaria noch fassungslos auf das starrte, was ihr wie das offene Grab eines kopflosen Ritters im Jogginganzug erschien, machte sich der kriminaltechnische Dienst ans Werk. Einer der Männer, der mit einer Kamera aus allen erdenklichen Winkeln Bilder geschossen hatte, holte sie aus ihrer Erstarrung, indem er auf das Kamelienbeet zeigte und sagte: »Das Schwert könnte die Tatwaffe sein. Der Regen hat zwar viele Spuren vernichtet, aber wenn wir Glück haben, finden wir Blut auf der Unterseite.«
Handelte es sich hier etwa um so etwas wie einen Ritualmord? Hatte der Täter oder die Täterin den Kopf als Trophäe mitgenommen? Unwahrscheinlich, sagte sich die Commissaria. Es war viel naheliegender, dass die Identifizierung des Toten hatte erschwert werden sollen. Kaum gedacht, fiel der Commissaria die Tätowierung auf dem Handrücken der Leiche auf. Eine kleine stilisierte Schildkröte, von der eine archaische Kraft ausging. Sie hatte diese Tätowierung schon einmal gesehen und nicht vergessen.
Roberta Casanova musste tief durchatmen und schloss einen Moment die Augen, um sich zu sammeln.
Sie kannte den Toten. Und wenn es sich nicht um einen sinnlosen Zufall handelte, hatten sich mit diesem Tötungsdelikt all ihre Befürchtungen der letzten zwei Jahre bewahrheitet, und alle Horrorszenarien, in die sie sich in schlaflosen Nächten verstrickte, hatten sich erfüllt.
Das war die Leiche von Marco della Valle, Chef von ICSA, einem Physiotherapie- und Fitnesscenter in Locarno, das vor zwei Jahren Schauplatz eines Mordfalls gewesen war. Ein Mordfall, der bis jetzt nicht hatte aufgeklärt werden können, ein Mordfall, an dem sich die Commissaria die Zähne ausgebissen hatte. Dabei wog die Schmach der beruflichen Niederlage zwar schwer, aber noch viel heftiger quälte sie die Befürchtung, der Mörder oder die Mörderin könnte erneut zuschlagen. Jetzt deutete alles darauf hin, dass genau das geschehen war.
Ob das Schwert, das auf der Leiche lag, tatsächlich die Tatwaffe war, würde sich noch herausstellen. Der Commissaria erschien es jedoch als sicher, dass die Leiche nach dem Tod bewegt worden war. Niemand würde sich freiwillig in ein Gartenbeet legen, um geköpft zu werden. Wahrscheinlich war die Leiche nur hier abgelegt worden, und der Tatort befand sich ganz woanders. Der Physiotherapeut trug Sportkleidung, allerdings nicht seine Berufskleidung, die weiß und mit dem Logo von ICSA bestickt war. Marco war also privat unterwegs gewesen, vielleicht auf einer abendlichen Joggingrunde. Das konnte ein erster Hinweis auf die Tatzeit sein. War er gestern Abend noch spät unterwegs gewesen oder heute zu sehr früher Stunde? Die Ablage der Leiche musste im Dunkeln erfolgt sein, tagsüber wäre der Ort viel zu belebt dafür; gerade jetzt, weil die Kamelien anfingen zu blühen, kamen viele Besucher in den Park.
Bis die Spurensicherung alles akribisch abgesucht hatte, konnte sie sich dem Toten nicht nähern, daher konzentrierte sie sich darauf, die Umgebung zu inspizieren.
Es war inzwischen hell geworden, und vom Eingang des Kamelienparks her hörte die Commissaria, wie der dort postierte Agente Leute zum Weitergehen aufforderte. Sie nahm an, dass sich die ersten Spaziergänger, die meisten wohl Hundehalter, auf dem Weg zum beliebten Maggia-Ufer eingefunden hatten, und wollte sich wieder ihrer Arbeit zuwenden, als der Agente nach ihr rief. Sie ging zu ihm, und er informierte sie, dass eine Journalistin mit ihr sprechen wolle.
Genauso hatten sie und Julia sich kennengelernt. An einem Tatort war Julia aufgekreuzt, um herauszufinden, was es mit dem großen Polizeiaufgebot auf sich hatte. Sie hatte damals für ein Lokalradio gearbeitet und sehr nervös gewirkt. Später hatte sie Roberta erzählt, dass es ihre erste Begegnung mit der Polizei gewesen sei, und irgendwie habe man doch immer Angst, etwas falsch zu machen und zurechtgewiesen zu werden.
Für Roberta hatte es sich von Anfang an gut angefühlt. Sie konnte der jungen Lokalreporterin die Nervosität nehmen, indem sie ihre Fragen sachlich und geduldig beantwortete, und war beeindruckt von ihrer Entschlossenheit und ihrem beruflichen Eifer. Hier schob sich irritierenderweise das Bild von Julia als stillender Mutter mit rosigen Wangen dazwischen, das die Commissaria schnell beiseiteschob.
Die Journalistin, die sie zusammen mit einem Kameramann beim Agente erwartete, hatte gar nichts gemein mit Julia. Sie war ein dunkler, südländischer Typ, perfekt geschminkt, die schulterlangen Haare geglättet und in teures Tuch gekleidet. Julia band ihre blonden Haare meistens zu einem Pferdeschwanz und trug am liebsten Jeans.
Die Commissaria erklärte ihr und dem Fotografen, dass eine leblose Person aufgefunden worden sei und die Untersuchungen gerade erst begonnen hätten. Sobald erste Ergebnisse vorlägen, würden die Medien informiert werden. Die Journalistin versuchte es mit ein paar Routinefragen – ob der Name des Opfers schon bekannt sei, ob man etwas über die Todesursache erfahren könne, ob es schon Spuren zum Täter gebe – und war nicht erstaunt, dass sie auf alle nur Routineantworten bekam: zu diesem frühen Zeitpunkt könnten keine Aussagen dazu getätigt werden.
Als Davide Lombardi, genannt Davì, das Physiotherapie- und Fitnesscenter ICSA um 8 Uhr morgens aufschließen musste, wunderte er sich sehr. Normalerweise war sein Chef, Marco, um 7 Uhr auf dem Posten, um E-Mails zu beantworten und Anrufe entgegenzunehmen, weil das Sekretariat erst ab 8.30 Uhr besetzt war.
Davì startete den Computer, prüfte den E-Mail-Posteingang und die Anrufliste, in der Hoffnung, eine Nachricht von Marco vorzufinden. Nach ergebnisloser Suche wollte er Marco auf dem Handy anrufen, kam aber nicht mehr dazu, weil wie eine übernatürliche Erscheinung urplötzlich Commissaria Casanova vor ihm am Tresen aufgetaucht war. Davì konnte nur knapp einen Schrei der Überraschung zurückhalten.
»Ich suche deinen Chef«, sagte sie, und Davì überfiel augenblicklich eine Vorahnung, dass Marco etwas zugestoßen sei. Er hätte gerne eine flapsige Bemerkung gemacht, zum Beispiel: »Da sind wir ja schon zwei, die ihn suchen«, aber er brachte keinen Ton heraus. Die Commissaria wiederum las in seiner Reaktion, was sie befürchtet hatte: Marco war nicht zur Arbeit erschienen. Gegen jede Gewissheit hatte sie gehofft, den ernsten jungen Mann lebend anzutreffen.
»Marco ist nicht da«, stellte sie fest.
»Nein«, sagte Davì, »das ist noch nie vorgekommen, warum suchen Sie ihn?«
Die Commissaria überlegte. Sie brauchte jemanden, der den Toten identifizierte. Allerdings war der Anblick eines kopflosen Leichnams äußerst verstörend und nicht allen Menschen zumutbar, geschweige denn, dass jemand fähig sein musste, einen Menschen ohne Kopf zu erkennen. Bis sie Material für einen DNA-Abgleich besorgt hätten und das Resultat vorlag, würde es noch eine Weile dauern. Fürs Erste würde sie Davì ein Bild der Schildkrötentätowierung auf Marcos Handrücken zeigen.
»Er ist doch nicht tot?«, fragte Davì entsetzt und ließ beinahe das Handy der Commissaria fallen.
»Ich kann dir keine Auskunft geben«, sagte die Commissaria und nahm ihm ihr Telefon schnell wieder ab. »Aber du erkennst die Tätowierung?«
»Nicht nur die Tätowierung«, sagte Davì und schüttelte sich unwillkürlich. »Das ist die Hand von Marco, da bin ich mir sicher.«
»Wir müssen seine Angehörigen verständigen. Gibst du mir bitte seine Adresse?«
»Ich glaube, er ist geschieden. Auf jeden Fall wohnt er allein. Also nicht ganz allein, er hat einen Hund. Jemand muss sich um den Hund kümmern.« In Davìs Kopf überstürzten sich die Gedanken. Seine Zweizimmerwohnung war zu klein für einen Hund. Vielleicht waren Martas Eltern bereit, ihn aufzunehmen? Es musste doch eine Lösung geben – auf keinen Fall würde er zulassen, dass er in ein Tierheim kam.
»Davì! Ich brauche die Adresse von Marco.« Die Commissaria riss Davì aus seinen planlosen Überlegungen zurück in die tragische Realität. Er nannte Marcos Adresse in Losone, und die Commissaria notierte sie in einem polizeiblauen Notizheft. »Wann hast du Marco das letzte Mal gesehen? Hat er gestern gearbeitet?«
»Ja. Gestern war er hier. Aber wir hatten viel zu tun, der Terminkalender war voll. Darum haben wir kaum miteinander gesprochen. Er ist auch schon um 18 Uhr gegangen. Sie sollten Tiziano fragen. Er war die ganze Zeit in der Palestra, vielleicht hat er mehr mitbekommen.«
Wie aufs Stichwort erschien der hochgewachsene blonde Fitnesstrainer im Eingang von ICSA. Er hob die Hand, um Davì zu begrüßen, ließ sie aber gleich wieder fallen, als er die Commissaria erblickte. Er vergaß, die Hände zu desinfizieren und stürmte nach vorne, offenbar bereit, Davì gegen die Staatsmacht zu verteidigen. »Sie wollen doch nicht schon wieder Davì verhaften? Er ist unschuldig, ich habe gemeint, das hätten Sie jetzt begriffen.«
Zwei Jahre zuvor war im Physiotherapiecenter ein Mann erdrosselt worden, ein Mann, den Davì hätte behandeln sollen. Er hatte ihn ein paar Minuten allein gelassen, und als er zurückkehrte, war der Mann tot, mit einem Sprungseil erdrosselt, das von der Behandlungsliege herunterbaumelte. Davì, dem als einzigen Anwesenden die Gelegenheit zur Tat nachgewiesen werden konnte, galt als Verdächtiger. Am Ende fehlten jedoch die Beweise, und der Fall hatte nicht aufgeklärt werden können.
»Es geht nicht um mich«, beschwichtigte Davì seinen Kollegen. Tiziano schaute verblüfft von der Commissaria zu Davì und wieder zurück. »Haben Sie eine neue Spur?«
»Leider nicht«, sagte die Commissaria. »Wir befürchten, dass Ihrem Chef etwas zugestoßen ist. Wann haben Sie Marco das letzte Mal gesehen?«
»Marco? Was soll ihm denn zugestoßen sein? Er war gestern bis um 18 Uhr hier und wollte dann nach Hause, um mit seinem Hund rauszugehen.«
»Danach haben Sie nichts mehr von ihm gehört? Er hat keine Nachricht geschrieben oder gar angerufen?«
»Nein. Ich habe nur geschäftlich Kontakt mit ihm. Er ist eine sehr reservierte Person.«
»Dann wissen Sie auch nichts von Angehörigen? Davì hat mir gesagt, er lebe allein und sei geschieden. Kennen Sie seine Ex-Frau?«
»Ex-Frau? Er hatte mal kurze Zeit eine Freundin, aber ich glaube nicht, dass er verheiratet war.«
»Da muss ich wohl etwas falsch verstanden haben«, sagte Davì.
»Kennen Sie den Namen dieser Frau? Wissen Sie vielleicht, wo wir sie finden können?«
»Keine Ahnung. Er hat einmal erwähnt, sie sei Italienerin, Frontaliera.«
»Wo sie gearbeitet hat, wissen Sie auch nicht?«
»Nein, leider nicht. Er ist ein sehr diskreter Mensch. Spricht nur wenig über sein Privatleben. Vielleicht können Marcos Nachbarn Auskunft geben. Aber was ist denn nun mit ihm? Was ist ihm zugestoßen? Ein Unfall? Liegt er im Krankenhaus?«
»Ich kann nicht mehr dazu sagen. Fällt Ihnen außer den Nachbarn sonst noch jemand ein, der in näherem Kontakt mit Marco stand?«
»Wieso sagen Sie ›stand‹? Ist Marco etwa tot?« Tizianos Stimme klang auf einmal schrill.
»Wie gesagt, ich kann im Moment keine Auskunft geben«, sagte die Commissaria, aber Tiziano und Davì lasen die schreckliche Wahrheit in ihren normalerweise für den unerbittlichen Blick berüchtigten Augen.
Die Commissaria ordnete an, dass Marcos Büro nicht betreten werden durfte, und griff, kaum hatte sie das Gebäude verlassen, nach ihrem Telefon. »Marta? Kannst du mich bei ICSA abholen? Ich weiß, du hast heute frei genommen, aber bei diesem Fall möchte ich dich von Anfang an dabeihaben.«
»Was machst du bei ICSA? Ist etwas mit Davì?«
»Nein, keine Sorge, Davì geht es gut. Wir haben eine Leiche im Kamelienpark. Sie wurde heute Morgen von Leuten, die ihren Hund ausführten, entdeckt. Ich werde gleich alles erklären, mach schnell.«
Marta brauchte mit ihrem winzigen roten Citroën nur zehn Minuten von ihrem Elternhaus in Minusio zu den Hochhäusern im Zentrum der Neustadt.
Auf der Fahrt nach Losone zu Marcos Wohnung schilderte Roberta Casanova ihrer frischgebackenen Ispettrice – Marta hatte die Ausbildung zur Inspektorin gerade erst abgeschlossen – was geschehen war.
Als sie vor dem Mehrfamilienhaus, in dem Marco wohnte, anlangten, verließ gerade eine junge Mutter mit Kinderwagen das Haus. Marta hielt ihr die Tür auf, und sie konnten das Gebäude betreten, ohne zu klingeln. Sie schauten sich die Namensschilder an den Türen an und fanden Marcos Wohnung im ersten Stock. Auf ihr Klingeln rührte sich nichts. Sie versuchten es in den direkt danebengelegenen Wohnungen und gelangten an einen älteren Mann, der sich beklagte, dass Marco ihm gestern, bevor er mit dem Hund raus sei, versprochen hatte, er werde ihm helfen, das neue Internet-Kästchen zu installieren. Aber seither habe er nichts mehr von ihm gehört. Der Mann klang vorwurfsvoll, nicht besorgt, was sich aber änderte, als die Commissaria ihn aufklärte, dass sie von der Polizei seien.
»Ist Marco etwas zugestoßen? Um Himmels willen! Und wer kümmert sich um Froda?«
Es stellte sich heraus, dass der Nachbar einen Schlüssel zu Marcos Wohnung hatte, weil er ab und zu mit Froda, Marcos Hund, Gassi ging.
Die Wohnung war leer, kein Hund, kein Marco. Im Wohnzimmer befand sich ein Wäscheständer, vollgehängt mit frisch gewaschener Trainingskleidung. In der Küche wartete ein schönes dickes Steak, an den Rändern schon ein bisschen gräulich, auf die Zubereitung. Alles deutete darauf hin, dass Marco vor dem Abendessen die Wohnung für eine Joggingrunde verlassen hatte und nicht wiedergekommen war.
Während sich der kriminaltechnische Dienst in Marcos Wohnung an die Arbeit machte, befragten die Commissaria und Marta den Nachbarn.
Es sei kurz vor 20 Uhr gewesen, als er Marco auf dem Flur abgefangen habe, um ihn um Hilfe bei der Installation der Internet-Box zu bitten. Marco habe schwarze oder dunkelblaue Trainingskleidung angehabt und Froda an einer Leine gehalten, die er an einem Gurt um seine Taille befestigen konnte, damit er die Hände frei hatte.
Er habe ganz normal gewirkt, unaufgeregt, ruhig und freundlich wie immer.
Ja, er könne sich an die Ex-Freundin von Marco erinnern. Sie habe Rossi geheißen mit Nachnamen. Nein, Bruni … Er erinnere sich nicht mehr sicher. Sie sei ja auch nur ein paar Monate bei Marco ein- und ausgegangen.
Marco habe nie viel Besuch. Eigentlich gar keinen Besuch. Ob sie ihm endlich sagen könne, was los sei?
Bevor die Commissaria antworten konnte, wurden sie durch Ruggero vom kriminaltechnischen Dienst unterbrochen. Er bat sie in Marcos Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Der Abgleich von Marcos Fingerabdrücken mit denen der kopflosen Leiche hatte bestätigt, dass es sich, wie vermutet, um Marco handelte, der gewaltsam ums Leben gekommen, enthauptet und in das Kamelienbeet gelegt worden war.
»Okay«, sagte die Commissaria, »dann gehen wir am besten zurück zu ICSA. Ich nehme mal an, Marcos Arbeitskollegen können uns noch ein bisschen mehr über seine Lebensumstände …« Der schrille Ton der Türklingel unterbrach die Commissaria. Sie schauten sich verwundert an, und Marta öffnete die Tür, nachdem sie von der Commissaria mit einer Kopfbewegung dazu aufgefordert worden war.
Draußen stand der Nachbar. »Scusate! Aber ich will jetzt wissen, was mit Marco ist. Und wenn ihm etwas zugestoßen ist, muss sich jemand um Froda kümmern. Das ist nämlich ein ganz besonderer Hund, ein Lupo Italiano. Ein halber Wolf, aber sehr gutmütig. Marco hat ihn gut erzogen.«
»Marco ist etwas zugestoßen. Ich kann Ihnen im Moment nicht mehr sagen. Wir werden nach dem Hund suchen. Stand Marco noch mit anderen Bewohnern dieses Hauses in engerem Kontakt?«
»Er hat manchmal Maria aus dem dritten Stock mit den Einkäufen geholfen und ist sehr beliebt im Haus, immer freundlich und hilfsbereit.«
»Hmm«, brummelte die Commissaria, »wir haben später noch Fragen an Sie, bitte halten Sie sich bereit.«
Der Nachbar wollte etwas entgegnen, aber das Telefon der Commissaria summte dazwischen. Sie meldete sich, sagte: »Wo?« und »gut« und »wir kommen sofort«, steckte das Handy in die Manteltasche und rief: »Wir müssen los. Ruggero, das hier hat Zeit, wir brauchen dich anderswo.«
Ein paar Stunden später saß Marta im Büro der Commissaria und trank aus einer PET-Flasche, die mit »Vitamin Water« angeschrieben war. Die Commissaria wollte fragen, was das sei, nahm stattdessen einen ersten Schluck himmlisch duftenden Espressos und hatte die Frage schon wieder vergessen, als sie die Tasse zurück auf die Untertasse stellte. Neben dem Schreibtisch lag ein großer brauner Wolfshund, den Kopf müde und traurig auf die Vorderpfoten gelegt.
Sie hatten Froda gefunden. Er war in der Nähe des Wanderwegs, der nach Intragna führte, an einem Busch angeleint gewesen. Eine Joggerin hatte ihn völlig durchnässt und schlotternd entdeckt und die Polizei alarmiert. Die Agenti der Polizia Comunale hatten nicht geahnt, dass Froda ein wertvoller Zeuge in einem Mordfall war und ihn zu einem Tierarzt gebracht, der ihn trocknete, aufwärmte und untersuchte und damit die Hoffnung auf eventuell vorhandene DNA-Spuren vernichtete. Die Vermutung lag nahe, dass es der Täter oder die Täterin gewesen war, die den Hund draußen in der Natur angebunden und womöglich Spuren hinterlassen hatte.
Das Gebiet um den Platz, wo Froda gefunden wurde, war großräumig abgesperrt worden, die Spurensuche lief noch. Nachdem es die ganze Nacht geregnet hatte, war die Hoffnung allerdings gering, noch etwas Brauchbares zu finden.
»Was ist mit dem Schwert?«, fragte die Commissaria.
»Ruggero ist da dran. Er fragt im Schlossmuseum nach.«
Der schrille Klingelton der Commissaria ertönte, und Froda schrak mit einem schwachen Jaulen auf. Die Commissaria sah auf das Display ihres Handys und sagte: »Wenn man vom Teufel spricht … Ciao, Ruggero! Hast du etwas für uns?«
Marta stand auf und versuchte, den Hund zu beruhigen, während die Commissaria Ruggeros Redeschwall zuhörte. Als das Gespräch beendet war, starrte die Commissaria Marta an oder besser durch Marta hindurch und rührte sich nicht. Marta kannte zwar diese Zustände der Commissaria, während derer sie für ein paar Sekunden wegzutreten schien und nicht ansprechbar war. Es war aber lange her, seit sie sie so erlebt hatte, und immer noch ein wenig unheimlich. Deshalb sagte sie so normal und beiläufig wie möglich: »Ich glaube, Froda muss Gassi gehen.«
Die Commissaria schaute verblüfft zu dem Hund und dann zu Marta und sagte: »Du wirst es nicht glauben. Ruggero hat mir gesagt, das Schwert sei wahrscheinlich keltisch, besser gesagt, eine Kopie von einem keltischen Schwert. Aber um mehr zu erfahren, sollen wir uns an den hiesigen Experten wenden. Und jetzt kommts: Der hiesige Experte für antike Waffen heißt Alois Anderhub!«
Marta, die sich zu Froda gebeugt hatte, richtete sich so abrupt auf, dass der Hund Laut gab. »Was? Im Ernst? Geht das alles jetzt wieder von vorne los?«
Zwei Jahre zuvor war im Physiotherapiezentrum ICSA ein Patient mit einem Sprungseil erdrosselt worden. Alois Anderhub war der Nachbar dieses Patienten gewesen, und seine Frau eine der Verdächtigen in dem Tötungsdelikt, das nicht hatte aufgeklärt werden können.
»Keine Ahnung«, sagte die Commissaria. »Es schaut fast so aus. Ein zweites Mal werden wir uns nicht verarschen lassen. Diesmal erwischen wir ihn. Oder sie.«
Alois Anderhub wurde von einem Assistenten ins Pathologische Institut im Locarner Krankenhaus begleitet, wo Marta und die Commissaria auf ihn warteten.
Die Begrüßung fiel ein wenig verlegen aus, schließlich war Alois’ Ehefrau Evelyne eine Verdächtige geblieben, auch wenn sie ihr das Tötungsdelikt nicht hatten nachweisen können.
Die Commissaria erklärte Herrn Anderhub in groben Zügen, was es mit dem Schwert auf sich hatte, natürlich ohne den Namen des Opfers oder die Tatumstände zu benennen.
Er schaute sich das Schwert an und fragte, ob er es aus dem Asservatenbeutel nehmen dürfe, was ihm aber nicht gestattet wurde, weil die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen waren. Also schob er sich die Brille ins weiße Haar und ging mit dem Gesicht nah an die Waffe im Plastikbeutel heran, gespannt von Marta, der Commissaria und dem Pathologen beobachtet.
Nachdem er das Schwert gewendet und auf der Rückseite untersucht hatte, richtete sich Alois Anderhub auf, schob sich die Brille zurück auf die Nase und sagte: »Das habe ich schon fast vermutet. Es ist ein Stück aus der Sammlung Kleinschmidt. Einem deutschen Sammler von historischen Hieb- und Stichwaffen. Neben den kostbaren Originalen besaß er auch eine umfangreiche Sammlung von Nachfertigungen. Und dieses Schwert hier ist in ausgezeichnetem Zustand und natürlich kein Original. Sehen Sie, hier auf der Klingenmitte sitzt eine Marke. Es handelt sich eindeutig um eine Schildkröte, das ist der Stempel der Kleinschmidt-Sammlung. Das Schwert – so vermute ich, um sicherzugehen müsste ich es schon in die Hand nehmen können – ist wahrscheinlich eine Reproduktion eines keltischen, vielleicht aus der späten Latènezeit. Das würde ich jedenfalls aus der Länge schließen.«
»Und wo finden wir diesen Kleinschmidt?«, fragte die Commissaria und fing einen alarmierten Blick von Marta auf.
»Kleinschmidt ist in der Finanzkrise pleitegegangen. Wann war das schon wieder – 2008 oder 2009? Egal, er musste auf jeden Fall seine Sammlung verkaufen. Ich habe damals die Auktion mitverfolgt, in der Hoffnung, das eine oder andere Stück zu ergattern. Aber Kleinschmidt hatte die Mindestpreise sehr hoch angesetzt, das überstieg meine Möglichkeiten.«
»Wer führte die Auktion durch?«
»Das Auktionshaus Tobler in Ascona. Die können Ihnen sicher darüber Auskunft geben, wer das Schwert gekauft hat.«
Als Roberta Casanova gegen 22 Uhr in ihrem Zuhause eintraf, war Julia gerade am Stillen. Die Commissaria setzte sich auf das Sofa gegenüber dem Lesesessel, der auch vor Lauras Geburt Julias Lieblingsplatz gewesen war. Roberta fiel es schwer, den hektischen Ermittlungstag hinter sich zu lassen und sich dem noch ungewohnten heimischen Mutter-und-Kind-Idyll hinzugeben. Also stand sie wieder auf und fragte Julia, ob es ihr etwas ausmache, wenn sie sich einen Whisky genehmigte, um runterzukommen.
»Mach nur«, sagte Julia und lächelte versonnen.
Als Roberta mit dem Glas zurückkam, war Laura satt, und Julia hielt sie über ihre Schulter, damit sie Bäuerchen machen konnte.
Als Laura in ihrem Bettchen lag und schlief – »braves Kind«, meinte die Commissaria – setzte sich Julia wieder in ihren Lesesessel. »Was war denn heute los?«, fragte sie.
Roberta nahm einen Schluck Whisky, zögerte, stellte das Glas wieder ab und sagte: »Du bist ja jetzt in Mutterschaftsurlaub, und wenn du mir versprichst, alles für dich zu behalten, dann erzähle ich dir, was heute geschehen ist.«
»Ich werde schweigen, versprochen.«
»Es ist alles so verrückt, ich platze fast vor Mitteilungsbedürfnis und brauche einfach deine Außensicht. Wir hatten ja vor zwei Jahren den Fall Leutenegger.«
»Der nicht aufgeklärt werden konnte, wie könnte ich den vergessen!«
»Und jetzt, stell dir vor, haben wir die Leiche des Chefs der Physiotherapie, in der Leutenegger getötet wurde, gefunden.«
»Wow! Das kann kaum ein Zufall sein.«
»Ja, das ist unwahrscheinlich. Aber es geht noch weiter. Auf der Leiche lag ein Schwert, die Hände über dem Griff gefaltet, wie bei einem Ritter-Sarkophag aus dem Mittelalter. Wir haben uns ans historische Museum gewandt, und die haben uns einen Experten für historische Waffen empfohlen. Alois Anderhub, seine Frau war eine der Hauptverdächtigen im Fall Leutenegger.«
»Was? Der Anderhub?«
»Ganz genau! Der Anderhub.« Julia gehörte jetzt für kurze Zeit wieder ganz ihr, und Roberta genoss es, ihr von den Ermittlungen zu erzählen. »Es geht noch weiter. Das Schwert hat ursprünglich Hubert Kleinschmidt gehört.«
»Ich fasse es nicht«, sagte Julia. »Der Kleinschmidt? Das Schwert stammt aus der Waffensammlung von Charlottes Vater?«
Charlotte Kleinschmidt war Leuteneggers Physiotherapeutin gewesen und hatte auch eine Zeit lang zu den Tatverdächtigen gehört.
»Kleinschmidts Waffensammlung wurde versteigert, nachdem er pleiteging. Wir haben uns beim Auktionshaus Tobler in Ascona erkundigt. Das Schwert ist bei der Auktion nicht verkauft worden und an Kleinschmidt zurückgegangen. Danach haben wir mit Kleinschmidt Kontakt aufgenommen, sie leben ja seit dem Bankrott in Spanien, und er hat behauptet, das Schwert sei noch in seinem Besitz. Ich vermute jetzt mal, dass eine Verwechslung vorliegt. Die Stempelmarke ist auf jeden Fall diejenige von Kleinschmidt. Wir haben deshalb mit der spanischen Polizei Kontakt aufgenommen, die sollen sich das Schwert zeigen lassen, es fotografieren, uns die Bilder schicken, und dann wird sich das Rätsel schon auflösen. Und wenn wir mal wissen, wer das Schwert erworben hat, dann sind wir auf einer heißen Spur. Ich hoffe nur, dass sich die Spanier nicht allzu lange Zeit lassen, sonst müssen wir jemanden runterschicken.« Roberta gähnte.
»Ja, schön und gut. Das ist alles total verrückt. Schon wieder wird jemand umgebracht, der mit dieser Physiotherapie zu tun hat. Kann das ein Zufall sein, oder hat dieselbe Person wieder zugeschlagen?«
»Das ist ein Albtraum, Julia. Ich hätte den Täter oder die Täterin schnappen müssen, bevor er oder sie wieder zuschlägt. Wir hatten ja damals die drei Verdächtigen: Evelyne Anderhub, Simone Falchetto und Leonardo Bevilaqua. Einer von ihnen war es, davon bin ich überzeugt. Aber im Moment sind mir die Hände gebunden. Ich habe keinen ausreichenden Grund, die drei zu befragen. Ich kann Evelyne Anderhub nicht nach einem Alibi fragen, nur weil ihr Mann sich mit historischen Schwertern auskennt.«
»Trainieren die drei eigentlich immer noch in diesem Physiotherapiecenter? Wie heißt es noch?«
»ICSA – von in corpore sano. Marta, meine Ispettrice, ist in einer Beziehung mit einem der dortigen Physiotherapeuten, und ab und zu frage ich sie, ob Davì etwas beobachtet hat. Bis jetzt haben sich die drei verhalten wie vor dem Mord. Sie trainieren immer noch fleißig und regelmäßig. Aber wer auch immer den Leutenegger erdrosselt hat, weiß, dass Davì mit einer Polizistin liiert ist, und ist auf der Hut.«
»Du brauchst eine Undercover-Agentin, schade, dass ich nicht zur Verfügung stehe.«
»Du wärst auch nicht die richtige Person. Die Leute sind so klatschfreudig, es ist kein Geheimnis, dass du meine Frau bist.«
»Deine zukünftige Frau«, sagte Julia. Nachdem das Schweizer Volk im September des vergangenen Jahres der »Ehe für alle« zugestimmt hatte, würden ab dem 1. Juli gleichgeschlechtliche Paare heiraten können, was Julia und Roberta auch planten, sobald Laura abgestillt war und Julia richtig würde feiern können.
»Deine Zukünftige muss jetzt ins Bett. Sie muss morgen wieder sehr früh raus.« Roberta wollte aufstehen, da sah sie, dass Julias Lippen verdächtig zitterten. Scheiße, dachte sie, das ist zu viel für sie. Ich lasse sie im Stich. Sie ging zum Lesesessel, beugte sich zu Julia hinunter und umarmte sie. »Es tut mir so leid, ich sollte jetzt für dich und Laura da sein. Soll ich morgen versuchen, den Fall abzugeben? In ein paar Tagen wird bestimmt jemand übernehmen können. Die Leute können nicht ewig krank oder in Quarantäne sein.«
Julia verharrte in ihrer Umarmung, Roberta spürte ihre Atemzüge und dachte, Julia ist mir wichtiger als alles andere auf der Welt. Aber als Julia sich aus der Umarmung löste, sagte sie: »Auf keinen Fall. Das wäre der Anfang vom Ende unserer Beziehung. Ich weiß, wie wichtig dir dein Beruf ist. Laura und ich kommen schon zurecht. Deine Mutter ist mir eine große Hilfe. Und jetzt ab ins Bett. Am besten schläfst du im Gästezimmer, Laura wird schon bald wieder Lärm machen.« Julia strich Roberta liebevoll über den Arm, sie sahen sich in die Augen, und Roberta dachte, alles wird gut.
Allerdings, als sie sich nach dem Zähneputzen ins kalte Gästebett legte und das Licht löschte, drängte sich aus dem Dunkeln der Gedanke auf, dass sie Julia lieber wieder für sich allein hätte.
Am nächsten Morgen bereitete sich Roberta einen Kaffee in der Moka, ihrer verbeulten, uralten Kaffeekanne zu. Nachdem sie sich stundenlang im zu weichen Gästebett hin und her gewälzt hatte, riss sie der Wecker um 6 Uhr aus einem wirren Traum und versetzte sie sogleich in schlechte Laune. Eine kleine Tasse mit einem Löffel Zucker angereicherte, köstlich duftende Koffeindosis später fiel ihr wieder ein, dass sie in der Nacht einen ziemlich genialen Geistesblitz gehabt hatte. Sie musste jedoch beschämt feststellen, dass die Idee, bei Tageslicht besehen, eher behämmert als genial war. Julias Bemerkung, sie brauche eine Undercover-Agentin, hatte sie bis in den Halbschlaf beschäftigt, und dann war wie eine übernatürliche Erscheinung die Idee am Bettrand aufgetaucht: la mamma!
Im Gegensatz zu Roberta, die sich die Ohren mit Wachsstöpseln zugestopft hatte, war sie unten in der Wohnung von Lauras Geschrei geweckt worden und wollte nachsehen, ob sie helfen könne. Und weil sie schon dabei war, hatte sie auch im Gästezimmer nach ihrer Tochter gesehen.