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Die Physiotherapiepraxis im Ferienparadies Locarno am Lago Maggiore ist eine Oase der Ruhe und Entspannung. Umso größer ist der Schock, als ein Patient erwürgt auf der Behandlungsliege gefunden wird. Jacques Leutenegger war ein Wichtigtuer und Tyrann, der sich bei vielen unbeliebt gemacht hat. Dementsprechend lang ist die Liste der Verdächtigen. Hat der Physiotherapeut Davide Lombardi die Nerven verloren? Oder sind die Nachbarn nicht so harmlos, wie sie wirken? Commissaria Roberta Casanova hat eine harte Nuss zu knacken.
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Seitenzahl: 259
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Annemarie Regez
Die Lago Maggiore Morde
Kriminalroman
Morte Italiana Für die Commissaria Roberta Casanova kommen die Ermittlungen im Fall des erwürgten Physiotherapie-Patienten gerade recht, um den Diskussionen mit ihrer Partnerin aus dem Weg zu gehen. Julia wünscht sich Kinder, lieber zwei als nur eins, aber Commissaria Casanova hat keine Lust auf die Mutterrolle. Der Tote in der Physiotherapie bringt zwar willkommene Beschäftigung, aber der Fall ist verzwickt, Beweise fehlen und die Verdächtigen beschuldigen sich gegenseitig. Der Tote war ein unbeliebter Wichtigtuer, dem alle aus dem Weg gegangen sind. Dementsprechend lang ist die Liste der Verdächtigen. Wird der unberechenbare Täter erneut zuschlagen und den Touristen in Locarno, dem Ferienparadies am Lago Maggiore, den Urlaub vergällen? Commissaria Casanova kämpft für Recht und Ordnung in ihrer geliebten Heimatstadt, aber wird sie in diesem Fall den Sieg davontragen?
Annemarie Regez ist im Berner Oberland aufgewachsen und hat in der Bundeshauptstadt Bern Philosophie, Germanistik und Volkskunde studiert. Sie lebt als freie Schriftstellerin und Bibliothekarin im Kanton Schwyz und verbringt die zweiten Wochenhälften in ihrer Wahlheimat Locarno. »Die Lago Maggiore-Morde« ist ihr erster Kriminalroman um die Commissaria Casanova.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung einer Illustration von: © Lutz Eberle
ISBN 978-3-8392-7738-6
Ich habe den Großkotz erwürgt.
Es war nicht geplant, es ist über mich gekommen, ich bereue es nicht.
Ich bereue es nicht.
Aber ich schäme mich. Ich schäme mich sehr.
Ich habe die Grenze überschritten, die kein Mensch überschreiten sollte. Ich habe einem hässlichen, verabscheuungswürdigen Impuls nachgegeben und einen Menschen getötet.
Warum?
Die Mutter aller Fragen: warum?
Die naheliegendste Erklärung liegt bei der allgemeinen Verluderung der Sitten, der zügellosen Gier, der Verachtung jeglichen Anstandes, die sich im Moment in Politik und Gesellschaft breitmachen.
Dazu kommt der Stress, den die Corona-Pandemie verursacht, die allgemeine Ausnahmesituation.
Alles Ausreden.
Ich habe ein Menschenleben ausgelöscht. Aus einem niederen Motiv, aus einem absolut nichtigen Grund heraus habe ich einen Menschen getötet.
Der Großkotz ging mir nämlich auf die Nerven. Er ging mir so was von auf die Nerven.
Und das ist die ganze Wahrheit.
Die ganze Wahrheit, aber kein ausreichendes Motiv, was wiederum – paradoxerweise – meine Chance erhöht, nicht erwischt zu werden.
In dem Buch Strangers on a Train von Patricia Highsmith, verfilmt von Alfred Hitchcock, treffen sich zwei Männer in einem Zug. Der eine will den anderen davon überzeugen, für ihn einen Mord zu begehen. Als Gegenleistung würde er für den Fremden im Zug ebenfalls eine Person beseitigen, in dem Fall die Ehefrau, die einer neuen Liebe im Weg steht.
Das geht nicht gut, aber das gehört jetzt nicht hierher, wer die Geschichte nicht kennt, soll sich den Film ansehen oder das Buch lesen. Beides äußerst spannend, kann ich nur wärmstens empfehlen.
Worauf ich hinaus will, ist die Theorie, die der Fremde im Zug aufstellt: Mord wird aufgedeckt, weil Opfer und Täter normalerweise in einer Beziehung stehen, diese Beziehung enthüllt das Motiv, und das Motiv führt zum Mörder. Wenn es jedoch keine Beziehung zwischen Opfer und Täter gibt, dann wird es so gut wie unmöglich, eine Tat aufzuklären.
Ich kann hier verraten, dass ich in keinerlei Beziehung zum Großkotz gestanden habe. Das heißt, ich kannte ihn vom Sehen. Aber das gilt für viele Leute. Locarno ist klein, ständig läuft man sich über den Weg. Umgekehrt kann ich fast sicher sein, dass der Großkotz mich nicht zur Kenntnis genommen hat. Ich gehöre nicht der Sorte Mensch an, der der Großkotz Beachtung schenkt.
Davì öffnete die Haustür, schlug die Kapuze seines Hoodies hoch und rannte los in den strömenden Regen. Sein Arbeitsplatz lag gegenüber seiner Wohnung, er musste nur ein paar Dutzend Meter zurücklegen und spürte dennoch an den Schultern bereits die Nässe durch den dicken Baumwollstoff eindringen, als er den Eingang erreichte.
Sein Arbeitgeber war das Physiotherapie- und Fitnesscenter ICSA, dessen Name aus dem Akronym aus «In corpore sano« gebildet wurde.
Davìs Tag hatte gut angefangen. So um 8.15 Uhr hatte er sich in Unterhose und T-Shirt auf das Sofa gesetzt, Biscotti in den Milchkaffee getunkt und die Schlagzeilen sowohl im Corriere del Ticino als auch im Corriere del Veneto gelesen, um darüber auf dem Laufenden zu bleiben, was sich in seiner neuen und der alten Heimat tat. Weil er seinen ersten Patienten erst um 10 Uhr erwartete, konnte er sich Zeit lassen. Zufrieden nahm er zur Kenntnis, dass die Zahl der Corona-Neuinfektionen wieder gesunken war.
Dann klingelte sein Telefon. »ICSA« stand auf dem Display, und Davì war klar, dass es mit der Ruhe vorbei war.
Marco rief an, weil Charlotte sich krankgemeldet hatte, und fragte, ob Davì ihren Patienten um 9 Uhr übernehmen könne. In solchen Notfällen riefen sie immer zuerst ihn an, weil er gegenüber wohnte und am schnellsten da sein konnte.
Davì sagte zu, ohne zu fragen, um welchen Patienten es sich handle, ein großer Fehler, der zweitgrößte Fehler seiner 28 Lebensjahre, wie sich dann herausstellte. Den größten Fehler hatte er mit 18 begangen, als er dem Rat seines Onkels folgte und statt Medizin zu studieren, die Ausbildung zum Physiotherapeuten begann.
Eigentlich schwante ihm schon in dem Moment nichts Gutes, als er Marco am Empfangstresen stehen und beschäftigt tun sah. Davì setzte zu einer Frage an, aber Marco hob die Hand, um ihn zu unterbrechen, tippte auf der Computertastatur herum und sagte schließlich: »Ich habe dir das Dossier ausgedruckt. Ich habe gleich den kleinen Luca und muss noch etwas vorbereiten.« Der Drucker im Büro hinter dem Empfang hatte sich noch nicht in Gang gesetzt, als Marco schon zur Tür hinaus war, auf dem Weg zum Gymnastikraum für Gruppenunterricht und Kindertherapie, der einen separaten Eingang hatte.
Davì, allein gelassen mit seinem Stirnrunzeln, zog sich den nassen Hoodie aus und ging ins Büro, um das Patientendossier aus dem Drucker zu nehmen.
»Merda«, sagte er laut und deutlich, als er den Namen von Charlottes Patienten las, »merda, der Großkotz.«
Kurz vor 9 Uhr stand der Großkotz vor dem Empfang, wie immer mit geschwellter Brust, die Arme seitlich zu einem Bogen gespannt, als ob er es im nächsten Moment mit einem Stier in der Arena aufnehmen müsste. Davì, dem im Tierreich eher die Rolle eines Rehs als eines Stiers zugeteilt würde, versuchte es mit einem möglichst inoffensiven Lächeln. Vergebene Liebesmüh, es war nicht der Tag, an dem der Großkotz seinen Namen Lüge strafen wollte.
»Wo ist Charlotte?«, bellte er Davì an. Und da waren sie schon, die Probleme. Der Großkotz sprach kein Italienisch und Davì nur ein paar Brocken Deutsch.
»Grang«, sagte Davì.
»Was, ›grang‹?«, bellte der Großkotz.
»Grang, malata«, sagte Davì.
»Charlotte ist krank? Da hätte ich ja nicht extra herkommen müssen. Warum habt ihr mich nicht benachrichtigt?«
Davì schaute ihn verständnislos an. Der Großkotz merkte, dass er so nicht weiterkam, machte Anstalten zu gehen – «Diese Sitzung könnt ihr mir nicht berechnen, ist ja nicht meine Schuld« –, hielt dann wieder inne, sagte: »Okay, wenn ich schon mal da bin …«, und ging in den Behandlungsraum, ohne sich darum zu kümmern, ob Davì ihm folgte.
Während Davì die Liege mit einem Spannbetttuch überzog, versuchte er, dem Großkotz zu erklären, dass er noch die Maschine holen müsse. Charlotte behandelte den Großkotz an der Schulter mit einem Kurzwellentherapiegerät, das in einem Raum neben den Garderoben zusammen mit anderen Gerätschaften aufbewahrt wurde.
Davì wusste hinterher nicht mehr, dass er vergessen hatte, die Tür zu schließen. Es ging in dem Moment nur darum, möglichst schnell vom Großkotz wegzukommen und möglichst lange von ihm fernzubleiben.
Der Zufall wollte es, dass die Kabel vom Kurzwellentherapiegerät sich mit denjenigen vom Stoßwellengerät verheddert hatten – irgendjemand hatte es wohl eilig gehabt beim Wegräumen.
Davì schloss die Tür hinter sich und ließ sich alle Zeit der Welt, die Kabel zu entwirren. Der Großkotz würde so oder so motzen, und jede Minute, die Davì nicht mit ihm verbringen musste, war eine gewonnene Minute.
Als er endlich die Kabel der beiden Geräte sauber aufgewickelt und auch die anderen Utensilien ein bisschen geordnet hatte, als es wirklich gar nichts mehr zu tun gab, machte sich Davì auf den Weg, das Kurzwellentherapiegerät auf seinen Rollen vorsichtig und langsam vor sich herschiebend, als ob es sich um das fragile Schaustück eines Konditors aus Schokolade handelte.
Ich habe nicht gewollt, dass Davì den Toten findet. Ich mag Davì, und der Großkotz war doch eigentlich Charlottes Patient. Das heißt nicht, dass ich etwas gegen Charlotte habe. Ich hätte auch keine Zeit gehabt, mir zu überlegen, wer den Großkotz wohl finden wird. Außerdem kenne ich Charlotte kaum. Sie spricht fließend Deutsch, wahrscheinlich deutsche Eltern, weshalb ihr die deutschsprachigen Patienten zugeteilt werden.
Auf jeden Fall hatte ich keine Zeit für irgendwelche taktischen Überlegungen. Ich sah die Gelegenheit und habe sie genutzt.
Ich war auf dem Weg ins Training, habe das Gebäude betreten und sah den Großkotz beim Lift stehen. Ich nehme immer die Treppe. Diesmal habe ich mir Zeit gelassen, weil ich dem Großkotz nicht begegnen wollte. Eine Physiotherapie-Sitzung dauert eine halbe Stunde, sie beginnen zur vollen und zur halben Stunde, also habe ich mich im ersten Stock auf den Treppenabsatz gesetzt und bis nach 9 Uhr gewartet, bevor ich in den zweiten Stock hinaufging und ICSA betrat.
Am Empfang kein Mensch, in der Palestra, soweit ich sehen konnte, kein Mensch. In diesen ersten Tagen der Wiedereröffnung nach dem Corona-Shutdown trauten sich nur wenige her. ICSA hatte Kurzarbeit angemeldet, das Sekretariat war nur ein paar Stunden pro Woche besetzt, und auch von den Physiotherapeuten arbeiteten nur wenige.
Ich war also ganz allein, und als ich an den Behandlungsräumen der Physiotherapie vorbeiging und eine Tür offen stehen sah, machte ich, was jeder normale Mensch gemacht hätte: Ich warf einen Blick hinein.
Der Großkotz lag auf dem Schragen und sagte über seinen Bauch hinweg: »Was gibt’s denn zu gaffen?«
Ich konnte den Blick nicht von seinen Turnschuhen lösen: knallrote Dinger mit dicker weißer Sohle und einem Klettverschluss um den Knöchel. Ich hätte bestimmt vermutet, sie seien orthopädisch verordnet, wenn ich nicht zufällig durch einen Dokumentarfilm erfahren hätte, dass so teure Sammlerstücke aussahen. Sammlerstücke, die Tausende von Franken kosten.
»Mach das Fenster zu, es regnet rein!«, befahl er mir, und da ist mir die Sicherung durchgebrannt. Eigentlich erstaunlich, bis dahin hatte ich noch nie größere Probleme mit der Impulskontrolle. Das stimmt nicht. Ich bin äußerst impulsiv. Aber meistens kann ich mich beherrschen.
Er sah so hässlich aus mit seinem himbeerroten Kopf und den schneeweißen Haaren, ein Anti-Schneewittchen gewissermaßen. Ich hatte keine Zeit zu denken. Ich sah seinen roten Kopf und das knallgelbe Springseil, und die beiden mussten einfach zusammenkommen, und ich wollte, dass diese verächtlichen, herrischen Augen aus seinem Kopf quollen und dieser riesige, hässliche Mund mit seinen überweißen Zähnen zum letzten Mal aufgerissen wurde und nichts mehr herauskam und nichts mehr hineinging.
Davì stoppte mit seinem Kurzwellengerät vor der Tür des Behandlungsraums Nummer drei. Er sah auf die Uhr: Neun Uhr und sieben Minuten – der Großkotz würde inzwischen vor Wut kochen, dass man ihn warten ließ, – aber Davì würde zum Glück nicht viel von seinem Geschimpfe verstehen. Er nahm sich vor, so zu tun, als ob alles in Ordnung sei, setzte ein strahlendes Lächeln auf und öffnete die Tür.
Der Großkotz war still.
Davì sah ihn nicht an, rollte sein Gerät zu der Liege, wickelte das Kabel ab und bückte sich zu der Steckdose. Aus dem Augenwinkel sah er das knallgelbe Springseil von der Liege herunterhängen. Was zum Teufel, fragte er sich und richtete sich in böser Ahnung zögernd wieder auf.
Der Großkotz war zwar still, bot allerdings kein friedliches Bild. Auch ohne Anatomiekenntnisse hätte Davì sofort gewusst, was hier geschehen war. Der Großkotz war mit einem Springseil aus der Palestra erwürgt worden. Seine Augen quollen aus den Höhlen, sein Mund stand offen, die Zunge hing heraus, und sein Gesicht war nicht mehr himbeerrot sondern heidelbeerblau.
Die entsetzlichsten Minuten meines Lebens! Ich habe die Kontrolle verloren, das Seil um seinen Hals geschlungen und dann gab es keinen Weg mehr zurück. Bis er endlich Ruhe gab, bis er aufhörte zu strampeln und zu röcheln!
Mir blieb keine Wahl, ich musste es zu Ende bringen. Das meine ich nicht als Rechtfertigung, es gibt keine Rechtfertigung für meine schändliche Tat. Ich will nur sagen, es wäre völlig unlogisch gewesen, dem Großkotz das Springseil um den Hals zu legen, ihn ein bisschen zu würgen und dann einfach wieder zu gehen. Wenn ich schon die Kontrolle über meine Impulse verliere, dann mache ich nicht auf halbem Weg halt.
Als es dann vorbei war, bin ich in Panik davongerannt. Ich habe niemanden gesehen, ich bin raus, kann mich noch erinnern, dass ich Marco gehört habe, wie er im Therapieraum einem Kind Anweisungen gab – die Türen stehen seit dem Beginn der Pandemie überall offen –, die Treppe hinuntergestolpert, aus dem Haus geflohen, die Straße entlanggehetzt, völlig kopflos, bis ich einer alten Frau begegnete, die, selbst schon unsicher auf den Beinen, einen behinderten Mann mittleren Alters an der Hand führte. Dieser riss sich von ihr los, als er mich sah, fing an zu klatschen und schrie: »Dai, dai, dai! Forza!«
Meine kopflose Flucht in Trainingskleidung wirkte also auf unvoreingenommene Beobachter, als ob ich, leicht überfordert, an einem Volkslauf teilnehmen würde. Ich nahm diese Rolle bereitwillig an, trabte weiter und weiter, gab mich der Illusion hin, meine schreckliche Tat hinter mir lassen zu können, weiter und weiter, bis ich ans Ufer der Maggia gelangte, wo ich anfing, mich an die Hoffnung zu klammern, dass ich mir alles nur eingebildet hatte. Ich folgte dem Fluss laufaufwärts, überholte und kreuzte die Hundehalter, die ihre übliche Gassiroutine absolvierten und mir nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkten. Als ich, nach Luft japsend, bei der neu gebauten Fußgängerbrücke anlangte, glaubte ich schon fast, das Erwürgen des Großkotzes sei nur ein übler Albtraum gewesen. Bis ich die Sirenen der Polizeiautos hörte, die von allen Seiten in die Richtung rasten, aus der ich gerade geflohen war. Jetzt erst fühlte ich, wie mir der Schweiß aus den Gummi-Einweghandschuhen lief, die ich vor dem Besuch des Fitnesscenters auf Empfehlung irgendeines Corona-Experten angezogen hatte. Ich zog sie aus und stopfte sie in den nächstbesten Abfallkübel, der vor allem für Säckchen mit Hundekot gedacht war. Meine nassen und aufgeweichten Hände wischte ich an meiner Trainingshose ab.
Nach der Entdeckung der Leiche verlor Davì ein bisschen den Kopf. Als Erstes lief er in die Palestra, um nachzusehen, ob die beiden gelben Springseile noch an ihrem Platz waren. Wie zu erwarten war, fehlte eines. Dann rannte er an den Fitnessmaschinen entlang zum Empfang zurück, griff über den Tresen nach dem Telefonhörer, legte ihn aber gleich wieder zurück, als ihm einfiel, dass Marco nebenan war und benachrichtigt werden musste. Als er durch den Flur zum Ausgang hetzte, fiel ihm ein, dass sich der Mörder in einer der beiden Garderoben verstecken könnte, weshalb er nacheinander die Türen der Frauen- und der Männergarderobe aufriss, die beide leer waren. Als er schon draußen im Treppenhaus war, beschloss er, dass es besser wäre, die Türe zu ICSA abzuschließen, also musste er wieder hinein, um seinen Schlüssel zu holen. So dauerte es eine ganze Weile, bis Davì im Gruppenraum eintraf, wo Marco versuchte, dem kleinen Luca den Purzelbaum beizubringen, während die Mutter besorgt danebenstand.
Marco war nicht erfreut über die Störung. Davì hatte seine liebe Mühe, ihn dazu zu bringen, das Training zu unterbrechen, zumal er vor Mutter und Kind nicht schildern konnte, was soeben mit dem Großkotz geschehen war. In letzter Verzweiflung zog er Marco am Arm nach draußen, der erst noch protestierte und dann begriff, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste.
»Bist du sicher, dass er tot ist?«, fragte Marco, und ob Davì ihm den Puls gefühlt habe.
Davì sagte, das sei nicht nötig gewesen. Der Großkotz sei mausetot. Er musste dann die Tür wieder aufschließen und begleitete Marco bis vor den Behandlungsraum, verzichtete aber gerne darauf, noch einen Blick auf den Patienten zu werfen.
»Dio mio!«, sagte Marco, machte sofort kehrt und musste sich danach an der Wand abstützen. Er beugte sich nach vorn, rang nach Atem wie ein Läufer nach dem Sprint, richtete sich wieder auf und sah Davì erschrocken an: »Hast du ihn umgebracht?«
»Nein!«, schrie Davì. »Bist du verrückt geworden?«, aber da wurde ihm auf einen Schlag klar, dass er der Hauptverdächtige war.
Ich setze mich erschöpft auf die Bank bei der Fußgängerbrücke, die aus einem halben Baumstamm besteht und hart und unbequem ist. Meine Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, betrachte ich die Abdrücke der Hundepfoten im Sand. Die Sirenen sind eine nach der anderen verstummt. Ich wage nicht, mir vorzustellen, was jetzt bei ICSA los ist.
»Hallo, hallo!«, ruft jemand ganz in der Nähe, ich schaue auf, verdammt, ausgerechnet, denke ich und sage ebenfalls «Hallo, hallo«, was aus meinem Mund nur idiotisch klingt, aber dieser Person scheint das nicht aufzufallen.
»Hast du die Sirenen gehört?«, fragt sie. »Da muss etwas passiert sein.«
Ich habe keine Zeit, darauf etwas zu bemerken, weil sich ein Dreiergrüppchen zu uns gesellt. »Ist das hier ein ICSA-Treffen?«
Tatsächlich sind wir alle Patienten und Kunden von ICSA, es ist nicht außergewöhnlich, dass wir hier am Maggia-Ufer zusammentreffen, ist es doch die zweitliebste Spazierstrecke der Locarnesi nach dem Uferweg zwischen Locarno und Tenero. Auch der Großkotz kann einem hier über den Weg laufen. Also jetzt natürlich nicht mehr.
»Habt ihr die Sirenen gehört?«, frage ich. »So ein Aufgebot habe ich schon lange nicht mehr erlebt.«
Von den Sirenen kommen wir fast automatisch auf die Zeit im Lockdown zu sprechen, die – anders als in der Deutschschweiz – dramatisch verlaufen ist, mit rigoros durchgesetzter Ausgangssperre und Spitälern an der Grenze ihrer Kapazitäten.
Alle sind begierig darauf, ihre Erlebnisse zu erzählen, ich halte mich zurück und tue so, als ob ich zuhören würde. Da fällt mir plötzlich auf, dass mein Mundschutz, den ich beim Betreten des ICSA-Gebäudes übergezogen habe, verschwunden ist.
Davì wollte als Erstes den kleinen Luca und seine Mutter nach Hause schicken, aber Marco bestand darauf, dass sie alle zusammen auf die Polizei warteten. Er sagte, Luca und seine Mutter seien sein Alibi. Davì wunderte sich über Marcos Umsicht, sie hätte ihm verdächtig vorkommen müssen, wenn ihm dadurch nicht seine eigene Verdächtigkeit vor Augen geführt worden wäre. Er hatte kein Alibi, eher das Gegenteil eines Alibis. Sieben Minuten, in denen ein Mörder lautlos und brutal zugeschlagen hatte, ohne dass Davì glaubhaft erklären konnte, warum er sich so lange im Geräteraum aufgehalten hatte. Oder besser gesagt, seine wahrheitsgetreue Erklärung, dass er so lange wie möglich die Gesellschaft des Großkotzes hatte meiden wollen, würde ihm schon fast ein Mordmotiv eintragen. Ein schwaches zwar, aber immerhin. Außerdem hatte er nichts gehört, nichts gesehen, nichts geahnt.
Nachdem er die Polizei alarmiert hatte, schloss Marco den Haupteingang von ICSA ab und befahl Davì nach nebenan in den Gruppentherapieraum.
Dort warteten sie endlose Minuten lang, während die Mutter von Luca Davìs Nerven arg strapazierte, indem sie ununterbrochen lamentierte und bettelte, nach Hause gehen zu dürfen. Der arme kleine Luca würde garantiert einen Schaden davontragen.
Dass er einen Schaden davontragen könnte, vermutete auch Davì, aber nicht, weil er gleich einen aufregenden Polizeieinsatz miterleben würde, sondern weil seine Mutter so ein Spektakel aufführte.
Ich verabschiede mich so schnell wie möglich von der Gruppe und gehe den ganzen Weg am Maggia-Ufer entlang zurück, in der Hoffnung, meine Maske zu finden. Etwa in der Mitte finde ich eine. Sie ist bereits in den Sand getrampelt worden und sieht aus, als ob sie schon einige Tage dort liegen würde, außerdem ist sie grünlich und meine war hellblau. Auf dem Trottoir neben dem Campingplatz liegt noch eine, frisch und unberührt, aber schwarz. Ich gehe nach Hause, wo ich es keine zehn Minuten aushalte.
Danach begebe ich mich auf den Spazierweg am Seeufer Richtung Tenero. Zu viele Leute sind nach dem Lockdown unterwegs, ich kehre wieder um. Gehe über die Piazza Grande und lande schließlich vor dem ICSA-Gebäude. Das heißt, an der Polizeiabsperrung vor dem Gebäude. Ich frage den riesigen Polizisten, der neben der Tür steht, ob etwas passiert sei. Er sagt, er dürfe keine Auskunft geben, ich solle doch wieder nach Hause gehen.
»Ist etwas mit ICSA?«
»Ich kann keine Auskunft geben. Sie können heute nicht trainieren und die nächsten Tage auch nicht.«
Fast hätte ich ihn gefragt, ob man eine hellblaue Hygienemaske gefunden habe.
Ich muss noch in meine neue Rolle hineinwachsen. Aber die Rückkehr zum Tatort oder in die Nähe des Tatorts hat mich irgendwie beruhigt.
Vor drei Jahren habe ich das erste Mal die Physiotherapie von ICSA aufgesucht. Marco stand gerade am Tresen, und ich habe ihm mein orthopädisches Problem geschildert und die Physiotherapieverordnung gezeigt, die mir meine Ärztin ausgestellt hatte.
Marco ist der Leiter von ICSA Locarno (es gibt noch Filialen in Bellinzona und Lugano), ein ernster Mann Mitte 30, an dem irgendein versteckter Kummer zu nagen scheint. Er hat mir freundlich Auskunft gegeben, und wir haben einen Termin für eine Behandlung vereinbart.
Meine erste Therapeutin war die liebliche Bibiana. Ein Engel mit blauen Augen und blonden Locken. Sie ist so hübsch, nett und liebenswürdig, dass sich alle Leute in sie verlieben. Aber mir hat sie schon beim ersten Mal gezeigt, dass sie auch anders kann. Ich musste vor ihr auf und ab gehen, danach auf einem Bein stehen bleiben, was ich ganze zwei Sekunden lang schaffte. Dann befahl sie mir, den Boden mit den Fingerspitzen zu berühren, ich erreichte ungefähr die Mitte des Schienbeins. Es folgten noch weitere Tests meiner Beweglichkeit und Sportlichkeit, die alle nicht zu Bibianas Zufriedenheit ausfielen. Ihre wunderbar glatte Stirn runzelte sich, die Winkel ihres rosigen Mundes senkten sich zusehends, bis eine nach unten zeigende Mondsichel ihr reizendes Gesicht verunstaltete.
»Wenn wir jetzt nicht sofort etwas unternehmen, wirst du in ein paar Jahren einen Rollator vor dir herschieben«, sagte sie und rollte dabei dramatisch ihre blauen Augen. Das war eine groteske Übertreibung, aber sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Ich hörte Bibiana aufmerksam zu, wie sie die nötigen Schritte schilderte, die unternommen werden mussten, um mich vom Schreibtischkrüppel in eine Sportskanone zu verwandeln.
Neun Sitzungen lang stand Bibiana in der Palestra neben mir, gab Anweisungen und schaute zu, wie ich an Gummibändern zog, nach zwei Liegestützen auf den Boden krachte und versuchte, nicht vom Gymnastikball zu fallen, während ich Rumpfbeugen machte. Danach wurde ich an Tiziano, den Fitnesstrainer, weitergereicht.
Groß und blond, natürlich mit athletischer Figur, hörte er mir mit ernster Miene zu, und ich kam mir klein, plump und unscheinbar vor. Er führte mich zu den verschiedenen Maschinen, ich quetschte mich ungeschickt in die verlangten Positionen und machte, was Tiziano mir sagte. Die Übungen machten mir keinen großen Spaß, aber ich muss zugeben, ich fühlte mich mit der Zeit um einiges besser.
Als ich eine Zeit lang beruflich ständig auf Achse war und nicht mehr ins Krafttraining gehen konnte, fiel es mir sehr schwer, wieder damit anzufangen. Auch als Tiziano mich anrief, um zu fragen, warum ich nicht mehr aufgetaucht sei, und ich hoch und heilig versprach, bald wieder loszulegen, konnte ich mein Versprechen nicht einhalten.
So vergingen ein paar Monate, bis ich eines Morgens aus dem Bett stieg und ein Blitz in meinem rechten Knie einschlug. Ich krachte rückwärts auf die Matratze, schnappte nach Luft und hätte mich beinahe der erlösenden Schwärze hingegeben, die mein Blickfeld überschwemmte.
Meine Ärztin diagnostizierte einen Meniskusriss und stellte mir eine Physiotherapieverordnung aus. Also machte ich mich wieder auf den Weg zu ICSA.
Marco begrüßte mich sehr freundlich, sah sich mit gerunzelter Stirn die Verordnung an und sagte, dass Bibiana in nächster Zeit keine freien Termine habe. Er werde mich bei Davì einschreiben, einem sehr fähigen und gut ausgebildeten Italiener, der neu bei ICSA sei. Ich würde bestimmt zufrieden sein.
Davì war mir sofort sympathisch. Er war herzlich, klug und lustig. Nicht so schön wie Bibiana, eher durchschnittlich, nicht so blond wie Bibiana, sondern schwarzhaarig, mittelgroß und natürlich schlank und sportlich.
Als Erstes traf ein Zweiergespann der Polizia Comunale bei ICSA ein. Agente Ravelli, eine junge Frau, die so winzig wirkte, dass Davì sich unwillkürlich fragte, ob man in der Schweiz keine Mindestanforderungen an die Körpergröße von Polizisten stellte. Aber vielleicht wirkte sie nur winzig neben ihrem Partner, Agente Chiesa, einem langen Kerl, der auch mit seinen gut 50 Jahren vor Kraft nur so strotzte. Die beiden ließen sich erklären, was passiert war, und informierten sofort die Zentrale, nachdem sie einen Blick auf den Toten geworfen hatten.
Davì, Marco, dem kleinen Luca und seiner Mutter wurde psychologische Betreuung angeboten, die sie jedoch ausschlugen. Danach bat man sie, weiter im Gymnastikraum zu warten.
Davì war kalt, er zitterte und hatte Mühe, seinen Kiefer unter Kontrolle zu halten. Nicht nur der grausige Anblick der Leiche machte ihm zu schaffen. Er hatte Angst. Wie sollte er ohne Zeugen beweisen, dass er den Großkotz nicht erwürgt, sondern die ganze Zeit im Geräteraum herumgetrödelt hatte?
Davì bemerkte, dass Marco ihn beobachtete. Es war nicht schwer, die Gedanken seines Chefs zu lesen. Marco überlegte gerade fieberhaft, ob es möglich wäre, dass Davì den Großkotz umgebracht hatte. Wenn schon sein Chef ihm nicht vollkommen vertraute, was würde dann erst die Polizei aus den Umständen schließen?
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Kriminalpolizei eintraf. Die Mutter des kleinen Luca rief ihren Mann an, der ihr erst nicht glauben wollte, dass im Fitnesscenter jemand getötet worden war, und als er kapierte, dass sie die Wahrheit sagte, brüllte er, für Davì und Marco gut hörbar, sie solle sofort mit dem kleinen Luca nach Hause kommen. Worauf sie lautstark entgegnete, sie werde hier von der Polizei festgehalten und könne nicht einfach weg. Sie könne nichts dafür, und es sei wieder einmal typisch, dass er ihr die Schuld gebe. In diesem Moment fing der kleine Luca wie eine Sirene an zu heulen.
Irgendwann öffnete Agente Ravelli die Tür und sagte zu Davì: »Da Sie den Toten gefunden haben, möchte Sie Commissaria Casanova als Ersten sprechen.«
Davì stand auf und ging unter den lautstarken Protesten der Mutter des kleinen Lucas zur Tür.
Davì war Commissaria Roberta Casanova noch nie begegnet, hatte aber im Corriere del Ticino ein seitenlanges Porträt über sie gelesen. Sie war nicht nur die einzige Frau weit und breit, die eine derartig hohe Position in der Polizei einnahm, sondern lebte dazu noch offen in einer lesbischen Beziehung. Eine Kombination, die im katholisch geprägten Kanton Tessin durchaus eine Schlagzeile wert war. Aufgrund der Beschreibung in der Zeitung erwartete Davì eine übermenschliche Amazone, die allein mit ihrem durchdringenden Blick Verbrecher in die Knie zwang.
Während er der winzigen Agente Ravelli vom Gymnastikraum in Marcos Büro folgte, versuchte er, seiner Nervosität Herr zu werden. Es war unwahrscheinlich, dass die Commissaria ihm glauben würde, wie er nichtsahnend im Geräteraum herumgetrödelt und vom Mord weder etwas gesehen noch etwas gehört hatte. Umso wichtiger, dass er jetzt ruhig blieb. Er war unschuldig und hatte nichts zu befürchten.
Auf das Klopfen der Polizistin kam keine Antwort, und als sie die Tür öffnete, saß auf dem Bürostuhl keine unerbittliche Inquisitorin, er war leer.
»Sie ist wohl noch nicht bereit«, sagte Agente Ravelli, «dann kann ich ja schon mal deine Personalien aufnehmen.«
Davide Lombardi, Alter 29, italienischer Staatsangehöriger, geboren in Treviso, Veneto. Seit einem Jahr wohnhaft in Locarno, Physiotherapeut bei ICSA, einem Fitnesscenter mit Physiotherapie und Ernährungsberatung.
Die Fragen nach seinem Namen, Geburtstag und Geburtsort waren einfach genug zu beantworten. Davì zwang sich, ruhig zu atmen, und ihm fiel plötzlich auf, dass Agente Ravelli sehr sympathisch war. Sie war zwar klein, aber überhaupt nicht zierlich. Nicht etwa dick, aber kompakt, voller Energie. Davì, der einen großen Teil seiner Freizeit mit Comiclesen verbrachte, hatte plötzlich das Bild vor Augen, wie sie sich im Kampf gegen die Verbrecher in einen polizeiblauen Vollgummiball verwandelte und die Gegner reihenweise zu Boden knallte.
Dieser kindliche Trost war ihm jedoch nicht lange vergönnt, die Bürotür öffnete sich und riss den schönen Comicstrip in Fetzen. Commissaria Casanova betrat das Büro.
Davìs erster Gedanke war, dass ihre Augen eigentlich ganz normal aussahen, nichts deutete auf einen Röntgenblick oder Laserstrahlen. Die Augen waren braun, die Haare blondiert. Sie trug Jeans und T-Shirt, darüber einen Blazer, praktische Kleidung für eine Frau, die sich nicht gerne mit äußerlichen Kinkerlitzchen abgab. Mit ihrem entschiedenen Auftreten machte sie sogleich klar, dass man es mit einer donna in gamba zu tun hatte, einer tüchtigen Frau.
Die Commissaria schenkte jedoch Davì keine Beachtung, sondern wandte sich an Marta. »Mein Ispettore ist auf dem Weg hierher vom Contact Tracing angerufen worden. Er muss in Quarantäne. Ich möchte, dass du ihn vertrittst. Ich werde meinem Vorgesetzten sagen, dass du für den Ispettore aspirierst.«
»Was?«, wollte Marta sagen – niemand konnte wissen, dass sie mit dem Gedanken spielte, sich für die Inspektorenausbildung zu bewerben –, dann realisierte sie, dass die Commissaria ihr zugezwinkert hatte, und sie rief: »Zu Befehl!«
Die Commissaria wandte sich Davì zu, musterte ihn kurz und ließ sich dann von ihm schildern, was sich an diesem Morgen zugetragen hatte.
Davì hatte sich inzwischen gefangen, es gelang ihm, ohne Abschweifungen zu erklären, warum er statt Charlotte den Großkotz hatte behandeln müssen, nur der richtige Name vom Großkotz wollte ihm um keinen Preis einfallen. Also nannte er ihn »den Verstorbenen« und versuchte gleichzeitig, die Patientenakte zu visualisieren, auf der oben links der Name stehen müsste. Irgendetwas Deutsches, Kompliziertes.
Aber Commissaria Casanova schien seine Erinnerungslücke nicht aufzufallen. Sie bat Davì, ihr den Geräteraum zu zeigen und vor Ort zu erklären, warum er so lange gebraucht hatte, die Kabel zu entwirren.
Ich habe viel Zeit darauf verwendet zu überlegen, wie ich mich verhalten würde, wenn ich den Großkotz nicht umgebracht hätte, und bin zum Schluss gekommen, dass ich Davì angerufen hätte, um zu erfahren, was los sei.
Ich muss vorausschicken, dass ich kein Mensch mit festen Gewohnheiten bin. Ich gehe zum Training, wann es mir gerade passt. Wenn ich jeden Dienstag um 9 Uhr auf der Matte stünde, dann hätte ich jetzt ein Problem. Aber so kann ich Davì anrufen und fragen, was denn los sei, ich hätte trainieren wollen und man habe mich nicht reingelassen. Natürlich habe ich zuerst den Festanschluss von ICSA angerufen und nur den Beantworter erreicht.
Auch bei Davì lande ich erst auf der Mailbox. Zwanzig Minuten später ruft er mich an.
Er ist außer sich, will sich mitteilen, und ich habe leichtes Spiel. Ich erfahre, was ich schon weiß – der Großkotz ist umgebracht worden – und was ich noch nicht weiß: Commissaria Casanova leitet die Ermittlungen.
Im Corriere del Ticino war neulich ein seitengroßes Interview mit der Commissaria: Eine lesbische Frau wird Kommissarin der Kriminalpolizei Locarno. Gegen sie werde ich mich also behaupten müssen.
An dieser Stelle muss ich noch einmal wiederholen: Ich schäme mich für diese verabscheuungswürdige Tat, aber ich bereue sie nicht. Und ich werde alles tun, um nicht überführt zu werden.