Die Lebenden reparieren - Maylis de Kerangal - E-Book

Die Lebenden reparieren E-Book

Maylis de Kerangal

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Beschreibung

Simon lebt, jedenfalls schlägt sein Herz noch. Doch die Ärzte stellen den klinischen Tod des Neunzehnjährigen fest. Simons Eltern müssen nun entscheiden, ob sie seine Organe zur Spende freigeben wollen, ob ein anderer mit Simons Organen weiterleben darf.
In einer rasanten Folge von emotional aufwühlenden Szenen erzählt Die Lebenden reparieren von einem Tod mitten im Leben und der vielleicht schwersten Entscheidung, die Eltern treffen müssen. Ein spannender und bewegender Roman, der erschüttert und zugleich tröstet.

»Ein Roman, der buchstäblich unter die Haut geht.« Wolfgang Schneider, Deutschlandradio Kultur

»Ein spannender, anrührender, ein wichtiger Roman.« Niklas Bender, Frankfurter Allgemeine Zeitung

»So also ist gloriose Literatur. Kein Journalismus, kein Film käme auch nur in die Nähe jener Zone, in der sie sich bewegt ...« Peter Praschl, Die Welt

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Seitenzahl: 308

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Maylis de Kerangal

Die Lebendenreparieren

Roman

Aus dem Französischenvon Andrea Spingler

Suhrkamp

»My heart is full«

Die Wirkung von Gammastrahlen auf Ringelblumen,Paul Newman, 1972

Was Simon Limbres’ Herz, dieses Menschenherz, ist, seit sein Rhythmus sich im Augenblick der Geburt beschleunigt hat, als andere Herzen draußen, die das Ereignis begrüßten, sich ebenfalls beschleunigten, was dieses Herz ist, was es hat hüpfen, überlaufen, anschwellen, leicht wie eine Feder tanzen oder schwer wie ein Stein wiegen lassen, was es betäubt hat, was es zum Schmelzen gebracht hat – die Liebe; was Simon Limbres’ Herz gefiltert, aufgezeichnet, archiviert hat, Blackbox eines zwanzigjährigen Körpers, das weiß niemand so genau, nur ein durch Ultraschall erzeugtes bewegtes Bild könnte ein Echo davon wiedergeben, die Freude zeigen, die es weitet, und die Traurigkeit, die es zusammenschnürt, nur die von Anfang an aufgezeichnete Verlaufskurve eines Elektrokardiogramms könnte es darstellen, seine Leistung, seine Beanspruchung beschreiben, die aufpeitschende Emotion, die Energie, die es verbraucht, um sich etwa hunderttausend Mal pro Tag zusammenzuziehen und jede Minute bis zu fünf Liter Blut in Umlauf zu bringen, ja, nur diese Kurve könnte davon erzählen, sein Leben umreißen, ein Leben von Hin- und Rückfluss, von Ventilen und Klappen, von Pulsschlägen; wenn Simon Limbres’ Herz, dieses Menschenherz, den Maschinen entrinnt, kann niemand behaupten, es zu kennen; in dieser Nacht, einer sternenlosen Nacht, da es im Pays de Caux und an der Seinemündung Stein und Bein fror, während an der Steilküste eine Dünung ohne Lichtreflexe wogte, während der Kontinentalsockel erodierte und seine geologischen Streifen entblößte, pulsierte es im regelmäßigen Rhythmus eines ruhenden Organs, eines sich langsam wieder aufladenden Muskels – ein Puls von wahrscheinlich weniger als fünfzig Schlägen pro Minute –, als neben dem schmalen Bett der Weckton eines Mobiltelefons losschrillte, das Echo eines Echolots, das mit Leuchtbalken auf dem taktilen Display die Zahlen 05:50 schrieb, und plötzlich alles sich überschlug.

In dieser Nacht also bremst ein Lieferwagen auf einem leeren Parkplatz, bleibt schräg stehen, die Vordertüren schlagen und eine seitliche Schiebetür gleitet zu, drei Gestalten erscheinen, drei Schatten heben sich von der Dunkelheit ab, erschauern vor Kälte – eisiger Februar, Fließschnupfen, Schlafen in Kleidern –, drei Jungen, offenbar, die ihre Jacken bis zum Kinn schließen, ihre Fleecemützen über den fleischigen oberen Rand ihrer Ohren bis dicht an die Augenbrauen ziehen und sich, während sie in ihre zusammengelegten hohlen Hände hauchen, dem Meer zuwenden, das um diese Zeit ein einziges Rauschen ist, Rauschen und Finsternis.

Jungen, jetzt sieht man es. Sie haben sich aufgereiht hinter dem Mäuerchen, das den Parkplatz vom Strand trennt, sie stampfen mit den Füßen und atmen heftig, Jod und Kälte schmerzen in der Nase, und sie suchen diese dunkle Fläche ab, wo nichts ist außer dem Donnern der explodierenden Wellen, dem gewaltigen Krachen der Brecher, sie starren auf das, was ihnen entgegengrollt, dieses wahnsinnige Gebrüll, wo nichts ist, woran sich der Blick festmachen kann, nichts, außer vielleicht der weißlich schäumende Saum, Milliarden gegeneinandergeschleuderter Atome in einem phosphoreszierenden Schein, und jetzt, nachdem beim Aussteigen zunächst der Winter ihnen die Sinne geraubt, die Meeresnacht sie betäubt hat, fangen die Jungen sich wieder, richten ihre Augen, ihr Gehör auf das aus, was sie erwartet, den Swell, taxieren mit den Ohren den Seegang, schätzen seine Brecherkennzahl, seinen Tiefenkoeffizienten und erinnern sich, dass die im offenen Meer entstehenden Wellen rascher vorankommen als die schnellsten Schiffe.

Es ist gut, flüstert einer der Jungen, das wird eine schöne Session, die beiden andern lächeln, dann gehen die drei zusammen zurück, langsam schlurfen sie mit den Sohlen über den Boden, drehen sich um sich selbst, wie Tiger, heben den Blick, um die Nacht über dem Dorf zu ergründen, die noch tiefe Nacht hinter der Steilküste, dann sieht der, der gesprochen hat, auf die Uhr, noch eine Viertelstunde, Jungs, und sie steigen wieder ins Auto, um auf die nautische Dämmerung zu warten.

Christophe Alba, Johan Rocher und er, Simon Limbres. Als die Wecker klingelten, haben sie ihre Decken zurückgeschlagen und sind aufgestanden; sie hatten sich kurz vor Mitternacht per SMS zu einer Session verabredet, einer Session bei Mittelwasser, wie man sie zwei- oder dreimal im Jahr bekommt – hoher Seegang, regelmäßige Dünung, schwacher Wind und keine Menschenseele am Spot. Jeans, eine Jacke, so sind sie nach draußen gehuscht, ohne etwas zu frühstücken, nicht mal ein Glas Milch, eine Handvoll Müsliflocken, nicht mal ein Stück Brot, und haben sich unten vor den Wohnblock (Simon), vor das Gartentor des Einfamilienhauses (Johan) gestellt und auf den Lieferwagen gewartet, der ebenfalls pünktlich kam (Chris); sie, die sonntags trotz mütterlicher Ermahnungen nie vor dem Mittag aufstehen, von denen es heißt, sie könnten nur schlaff zwischen dem Wohnzimmersofa und dem Stuhl in ihrem Zimmer hin- und herpendeln, sie sind um sechs Uhr morgens ungeduldig auf der Straße gestanden, mit losen Schnürsenkeln und schlechtem Mundgeruch – unter der Straßenlampe hat Simon Limbres die Auflösung der Atemwolke beobachtet, die er ausstieß, die Metamorphosen der weißen Fumarole, die kompakt aufstieg und dann in der Luft zerging, bis sie verschwunden war, er hat sich erinnert, wie er als Kind gern Rauchen spielte, indem er Zeige- und Mittelfinger ausgestreckt an seine Lippen hielt, kräftig Luft einsaugte, wobei er die Wangen hohl machte, und dann ausblies wie ein Mann –, sie, Chris, John und Sky, alias die Drei Caballeros, alias die Big Wave Hunters, was keine Spitznamen sind, sondern Pseudonyme, die sie gewählt haben, Gymnasiasten in der Seinemündung, um sich als globale Surfer neu zu erfinden, so dass umgekehrt das Aussprechen ihres Vornamens sie sofort auf eine feindliche Situation zurückwirft, den eisigen Nieselregen, die bescheidenen Wellen, die Wand der Steilküste und die menschenleeren Straßen am Abend, die elterlichen Vorwürfe und die schulischen Anforderungen, die im Stich gelassene Freundin, die sich beklagt, weil man ihr wieder mal den Van vorgezogen hat; nie wird sie gegen das Surfen ankommen.

Sie sind im Van – niemals würden sie Lieferwagen sagen, lieber sterben. Schmierige Feuchtigkeit, alle Oberflächen rau von Sand, der am Hintern kratzt wie Schmirgelpapier, ranziges Gummi, Schlick- und Ölgestank, aufeinandergestapelte Surfbretter, ein Berg von Neos – dicke Ganzanzüge oder Shortys mit integrierter Kapuze –, Handschuhe, Füßlinge, Dosen mit Wachs, Leashes. Haben sich alle drei nach vorn gesetzt, Schulter an Schulter, reiben sich die Hände zwischen den Schenkeln und stoßen Affenschreie aus, verdammt, ist das kalt, kauen Müsliriegel – aber man sollte nicht alle futtern, erst hinterher darf man sie verschlingen, nachdem man sich selbst hat verschlingen lassen –, reichen sich die Colaflasche weiter, die Nestlé-Kondensmilch aus der Tube, die Packung mit den weichen süßen Keksen, angeln schließlich unter dem Sitz die letzte Nummer von Surf Session hervor, die sie auf dem Armaturenbrett aufschlagen, stecken ihre Köpfe über den im Halbdunkel schimmernden Seiten zusammen, das Hochglanzpapier wie eine mit Sonnenöl und Urlaubsspaß gepflegte Haut, tausend Mal umgeblätterte Seiten, die sie von neuem studieren, die Augen fallen ihnen fast aus dem Kopf, der Mund steht ihnen offen: die Brandungswelle von Mavericks und der Pointbreak von Lombok, die Riesenbrecher von Jaws in Hawaii, die Tubes von Vanuatu, die Wellen von Margaret River, die besten Küstenstriche des Planeten künden hier von der Herrlichkeit des Surfens. Mit dem Finger zeigen sie begeistert auf die Bilder, da, da wollen sie irgendwann hinfahren, vielleicht sogar schon im kommenden Sommer, mit dem Van werden sie zu einem sagenhaften Surftrip aufbrechen, werden sich auf die Suche nach der schönsten Welle machen, die sich jemals auf Erden gebildet hat, werden diesen wilden und geheimen Spot finden, ihn entdecken, wie Christoph Kolumbus Amerika entdeckt hat, und allein auf dem Line-up sein, wenn sie endlich auftaucht, die Welle, auf die sie gewartet haben, die Welle aus der Tiefe des Ozeans, archaisch und vollkommen, die Schönheit selbst, dann werden Bewegung und Geschwindigkeit sie in einem Adrenalinrausch auf dem Brett halten, eine unbändige Freude wird über ihren ganzen Körper und bis zu den Wimpernspitzen perlen, und sie werden auf der Welle reiten, sich vereinen mit der Erde und der Sippe der Surfer, diesem Volk von Nomaden mit ihren von Salz und ewigem Sommer ausgebleichten Haaren, ihren wässrigen Augen, Jungen und Mädchen, die nichts anhaben als diese mit Tiaréblüten oder Hibiskusblättern bedruckten Shorts und türkisgrüne oder blutorangenfarbene T-Shirts, die keine anderen Schuhe tragen als Plastikflipflops, jung und strahlend vor Sonne, vor Freiheit. Bis an den Strand werden sie auf der Welle surfen.

Die Magazinseiten hellen sich auf, je fahler draußen der Himmel wird, sie entfalten ihre Palette von Blautönen, darunter reines Kobalt, das den Augen wehtut, und so tiefen Grünschattierungen, dass man an Acrylfarben denkt, hier und da kommt eine Surfspur zum Vorschein, ein winziger weißer Strich auf phänomenaler Wasserwand, die Jungs blinzeln, murmeln geil, verdammt, ist das irre, dann löst sich Chris von den anderen, um auf sein Handy zu schauen, das Display lässt sein Gesicht bläulich leuchten und, weil das Licht von unten kommt, die Knochen hervortreten – vorspringende Augenbrauenbogen, Überbiss, violette Lippen –, während er laut die Informationen für den Tag vorliest: die Petites-Dalles today, ideale Südwest/Nordost-Dünung, Wellen zwischen einem Meter fünfzig und einem Meter achtzig, beste Surfsession des Jahres; dann verkündet er feierlich: Wir hauen rein, yes, wir sind die Kings! Ständig mischen sie Englisch in ihr Französisch, für alles und nichts, Englisch, als lebten sie in einem Popsong oder in einer amerikanischen Serie, als wären sie Helden, Ausländer, auf Englisch sind die großartigen Wörter leichter, »Leben« und »Liebe« werden luftiger, life und love, Englisch gegen die Scham – und John und Sky nicken zustimmend, yeah, wir sind die Big Wave Riders, wir sind die Kings.

Es ist so weit. Tagesanbruch, das Formlose nimmt Form an. Die Elemente ordnen sich, der Himmel trennt sich vom Meer, der Horizont zeichnet sich ab. Die drei Jungs treffen ihre Vorbereitungen, systematisch, in einer bestimmten Reihenfolge, die einem Ritual entspricht: Auf dem Parkplatz wachsen sie ihr Brett, prüfen die Befestigung der Leash, ziehen Spezialunterwäsche aus Polypropylen an, bevor sie sich unter Verrenkungen in die Surfanzüge zwängen – das Neopren klebt am Körper, es reibt und greift manchmal die Haut an –, ein Ballett von Gummihampelmännern, das gegenseitige Hilfe erfordert, sie berühren einander, hantieren miteinander; danach die Schuhe, die Kapuze, die Handschuhe, und dann fallen die Wagentüren zu. Sie gehen zum Meer hinunter, Surfbrett unterm Arm, leicht, durchmessen mit großen Schritten den Strand, wo die Kieselsteine unter ihren Füßen höllisch prasselnd nachgeben, am Wasser angekommen, alles vor ihnen wird jetzt deutlicher, das Chaos und das Fest, fixieren sie die Leash am Fußgelenk, ziehen die Kapuze zurecht, lassen noch den letzten Streifen nackter Haut am Hals verschwinden, indem sie nach der Strippe in ihrem Rücken greifen und den Reißverschluss bis zum obersten Zahn schließen – sie müssen ihre Jungmännerhaut so gut wie möglich schützen, eine Haut, die am Rücken, an den Schulterblättern oft von Pickeln übersät ist, nur Simon Limbres trägt an der Schulter ein Maori-Tatoo zur Schau –, und diese Bewegung, das ruckartige Hochrecken des Arms, bedeutet, dass die Session anfängt, let’s go!, während gleichzeitig die Herzen zu beben, sich im Brustkorb zu regen beginnen, vielleicht ihre Masse und ihr Volumen zunimmt, ihr Pochen sich verstärkt, zwei unterschiedliche Sequenzen in ein und demselben Puls, zwei Schläge, immer dieselben: Angst und Lust.

Sie gehen ins Wasser. Schreien nicht, als sie eintauchen mit ihren hautengen elastischen Hüllen, in denen Körperwärme, Beweglichkeit und Schnellkraft erhalten bleiben, geben keinen Laut von sich, überqueren, das Gesicht verziehend, den Wall der rollenden Kieselsteine, und da das Wasser rasch tief wird und sie nach fünf oder sechs Metern schon keinen Grund mehr haben, beugen sie sich nach vorn, legen sich bäuchlings auf ihr Brett und paddeln, kraftvoll mit den Armen die Fluten teilend, durch die Brandungszone ins Offene.

Zweihundert Meter vom Ufer ist das Meer nur noch eine Wellenbewegung, es wölbt und senkt sich, wie ein Laken, das man ausbreitet und über eine Matratze wirft. Simon Limbres verschmilzt mit der Bewegung, er paddelt dem Line-up entgegen, der Zone, in der der Surfer auf die Welle wartet, er schaut sich nach Chris und John um, die weiter links liegen, kleine schwarze Figuren, kaum noch sichtbar. Das Wasser ist dunkel, marmoriert, geädert, zinngrau. Noch immer keinerlei Schimmer, keinerlei Glanz, aber diese weißen Partikel auf der Wasseroberfläche, wie Zucker, und das Wasser ist eiskalt, 9 oder 10°C, mehr nicht, niemals wird Simon mehr als drei oder vier Wellen nehmen können, er weiß es, Surfen im kalten Wasser strapaziert den Organismus, nach einer Stunde wird er erledigt sein, er muss die Welle auswählen, die am besten geformt ist, die einen hohen, aber nicht zu spitzen Kamm hat, deren Volute sich weit genug öffnet, damit er darin Platz findet, die bis zum Schluss andauert und dann noch die nötige Kraft hat, um auf den Strand zu sprudeln.

Er dreht sich zur Küste um, wie er es immer gern tut, bevor er sich noch weiter entfernt: Das Land ist da, auseinandergezogen, eine schwarze Kruste in bläulichem Schimmer, und es ist eine andere Welt, eine Welt, von der er sich getrennt hat. Die wie ein Sagittalschnitt aufragende Steilküste zeigt ihm die Zeitschichten, doch da, wo er sich befindet, existiert die Zeit nicht mehr, gibt es keine Geschichte mehr, nur die zufällige Flut, die ihn trägt und umherwirbelt. Sein Blick bleibt an dem zum kalifornischen Vanumgewidmeten Lieferwagen hängen, der auf dem Parkplatz am Strand steht – er erkennt die Karosserie mit den im Lauf der Sessions gesammelten Aufklebern, er kennt die dicht an dicht prangenden Namen, Rip Curl, Oxbow, Quiksilver, O’Neill, Billabong, Surfweltmeister und Rockstars bunt gemischt zu einem psychedelischen Fresko mit langhaarigen Mädchen in knappen Bikinis dazwischen, dieser Van ist ihr gemeinsames Werk und das Vorzimmer der Welle –, dann fällt sein Blick auf die Rücklichter eines Autos, das landeinwärts, aufs Plateau hinauffährt, er sieht die schlafende Juliette vor sich, sie liegt mit angezogenen Beinen unter ihrer Kinderdecke, sogar im Schlaf macht sie ihr bockiges Gesicht, und plötzlich dreht er sich um, wendet sich vom Festland ab, reißt sich mit einem Ruck los, noch ein paar dutzend Meter, dann hört er auf zu paddeln.

Die Arme ruhen sich aus, die Beine lenken, Simon Limbres’ Hände umklammern den Rand des Surfboards, sein Oberkörper ist leicht aufgerichtet, sein Kinn erhoben, so liegt er im Wasser. Er wartet. Alles schwankt um ihn, Stücke von Meer und Himmel tauchen auf und verschwinden wieder in den Strudeln der trägen, schweren, holzigen Oberfläche, einer basaltischen Masse. Sein Gesicht brennt im rauen Morgengrauen, die Haut spannt, seine Wimpern werden hart wie Plastikschnüre, die Linsen hinter seinen Pupillen vereisen, als hätte man sie in der Tiefe eines Gefrierfachs vergessen, und sein Herz beginnt auf die Kälte zu reagieren und schlägt langsamer; da sieht er sie plötzlich, sieht sie näher kommen, fest und homogen, die Welle, die Verheißung, und instinktiv nimmt er die richtige Position ein, um hineinzugleiten, sich hineinzustehlen wie ein Gangster in einen auszuraubenden Tresor – dieselbe Vermummung, dieselbe Millimeterarbeit –, sich in die Rückseite der Welle einzufädeln, in diese Torsion der Materie, wo das Innere sich noch weiter und tiefer anfühlt als das Äußere, sie ist da, dreißig Meter entfernt, sie kommt mit konstanter Geschwindigkeit näher, und nun, die Energie auf seine Unterarme konzentriert, legt Simon los, paddelt mit aller Kraft, um genau in dieser Geschwindigkeit die Welle zu nehmen, um von ihrer Wand mitgenommen zu werden, und jetzt kommt das Take-off, eine superschnelle Phase, in der sich die ganze Welt konzentriert und überstürzt, in der man blitzschnell tief einatmen, die Luft anhalten, die Körperspannung auf eine einzige Aktion ausrichten und aufspringen, sich auf die Beine stellen muss, den linken Fuß nach vorn, regular, die Knie gebeugt, den Rücken fast parallel zum Brett, die Arme ausgebreitet, um das Ganze zu stabilisieren, diese Sekunde ist für Simon entschieden die schönste, in dieser Sekunde kann er seine zersplitterte Existenz als ein Ganzes begreifen, sich im Einklang mit den Elementen fühlen, mit dem Leben verschmelzen, und wenn er sich dann auf dem Brett aufgerichtet hat – der Höhenunterschied zwischen Wellental und Wellenberg beträgt in diesem Augenblick schätzungsweise mehr als eineinhalb Meter –, weitet er den Raum, dehnt die Zeit, schöpft die Energie jedes Meeresatoms bis zum Ende aus. Wird Brandung, wird Welle.

Er stößt einen Schrei aus bei diesem ersten Ride und befindet sich für einen Moment im Stand der Gnade – Taumel der Horizontalen, er ist ganz dicht an der Oberfläche der Welt, als ginge er aus ihr hervor, triebe in ihrem Strom –, der Raum überwältigt ihn, erdrückt ihn genauso, wie er ihn befreit, sättigt seine Muskelfasern, füllt seine Bronchien, versorgt sein Blut mit Sauerstoff; die Welle entfaltet sich in ungewissem Tempo, man weiß nicht, ob langsam oder schnell, sie schiebt die Sekunden auf, eine um die andere, bis sie sprudelnd ausläuft, sinnlose organische Masse, Simon Limbres aber, es ist unglaublich, macht kehrt, nachdem er die prasselnden Kieselsteine zu spüren bekommen hat, und paddelt sofort wieder los, ohne den Boden zu berühren, ohne sich mit den flüchtigen Figuren aufzuhalten, die sich im Schaum bilden, wenn das Meer aufs Land trifft, Oberfläche auf Oberfläche, er paddelt noch stärker, hinaus aufs offene Meer, zu der Schwelle, wo alles beginnt, wo alles ins Rollen kommt, er hat seine Freunde eingeholt, die bald den gleichen Schrei ausstoßen werden, und das Set von Wellen, das vom Horizont her auf sie zurollt und ihre Körper fordert, gönnt ihnen keine Pause.

Kein anderer Surfer ist am Spot erschienen, niemand hat sich an die Brüstung gestellt, um ihnen beim Surfen zuzuschauen, niemand hat sie eine Stunde später ausgelaugt, gerädert, taumelnd aus dem Wasser kommen, mit weichen Knien über den Strand zurück zum Parkplatz gehen und das Auto aufschließen sehen, niemand hat ihre blauen, geschundenen, bis unter die Nägel violett verfärbten Hände und Füße bemerkt, die schuppige Haut ihrer sich schälenden Gesichter, ihre rissigen Lippen und klappernden Zähne, tack, tack, tack, dieses anhaltende Zittern des Kiefers und des gesamten Körpers, das sie nicht bändigen konnten; niemand hat etwas gesehen, und als sie wieder angezogen waren, mit wollener Unterwäsche unter den Hosen, mehreren Pulloverschichten, Lederhandschuhen, hat niemand beobachtet, wie sie sich gegenseitig den Rücken rieben, ohne etwas anderes sagen zu können als Scheiße nochmal, meine Fresse aber auch, wo sie doch so gern geredet, ihre Wellenritte beschrieben, von der Session geschwärmt hätten; frierend haben sie sich in den Lieferwagen gesetzt, Chris hat, umstandslos, die Kraft gefunden, den Motor anzulassen, und sie sind davongefahren.

Chris sitzt am Steuer – es ist immer er, der Van gehört seinem Vater, und weder Johan noch Simon haben einen Führerschein. Von den Petites-Dalles nach Le Havre muss man ungefähr eine Stunde rechnen, wenn man ab Étretat die alte Landstraße nimmt, die über Octeville-sur-Mer, das Tal von Ignauval und Sainte-Adresse zur Flussmündung hinunterführt.

Die Jungs haben aufgehört zu zittern, die Autoheizung ist voll aufgedreht, die Musik auch, und wahrscheinlich ist die plötzliche Wärme im Wageninnern ein neuerlicher Temperaturschock für sie, wahrscheinlich macht sich die Müdigkeit bemerkbar, und sie gähnen, schwanken hin und her, suchen sich in die Polster zurückzulehnen, eingehüllt in die Vibrationen des Fahrzeugs, die Nase im Schal, und bestimmt dösen sie auch, bestimmt fallen ihnen zwischendurch die Augen zu, und dann, hinter Étretat, hat Chris vielleicht beschleunigt, ohne es zu merken, die Schultern schlaff, die Hände schwer auf dem Lenkrad, die Straße führt jetzt geradeaus, ja, vielleicht hat er sich gesagt, alles gut, alles frei, und schließlich hat der Wunsch, die Rückfahrtzeit zu verkürzen, um sich zu Hause hinzuhauen, die heftige Session zu verdauen, auf das Tempo gedrückt, und er hat es laufen lassen, über das Plateau und die brachliegenden schwarzen Felder, auch die Felder schlafen, und bestimmt hat der Blick auf die Landstraße – eine auf die Windschutzscheibe gerichtete Pfeilspitze wie auf dem Bildschirm eines Videospiels – ihn irgendwann hypnotisiert wie eine Luftspiegelung, so dass er nur noch darauf gestarrt hat, ohne aufzupassen, dabei ist doch jedem bewusst, dass es in der Nacht gefroren und der Winter die Landschaft wie mit Alufolie überzogen hatte, jeder kennt das Glatteis, das sich auf dem Asphalt bildet und das man unter dem fahlen Himmel nicht sieht, das aber die Straßenränder verschwinden lässt, und jeder fürchtet, wenn mit dem beginnenden Tag die Feuchtigkeit aus dem Schlamm verdunstet, die in unregelmäßigen Abständen auftauchenden gefährlichen Nebelbänke, die alles verschlucken und jeden Anhaltspunkt auslöschen, ja, okay, und was noch, was weiter? Ein Tier, das die Straße überquert? Eine verirrte Kuh, ein Hund, der unter einem Zaun hindurchgeschlüpft ist, ein Fuchs mit feurigem Schwanz oder gar eine menschliche Gestalt, schemenhaft aufgetaucht am Rand der Böschung, der man durch Herumreißen des Steuers im letzten Moment ausweicht? Oder ein Lied? Ja, vielleicht sind die Bikinimädchen, die die Karosserie des Van zierten, plötzlich lebendig geworden, haben sich mit ihren grünen Haaren lasziv auf der Kühlerhaube und der Windschutzscheibe geräkelt und ihre unmenschlichen oder allzu menschlichen Stimmen ertönen lassen, und Chris hat den Kopf verloren, ist ihnen in die Falle gegangen, hat ihren Gesang vernommen, der nicht von dieser Welt war, den Sirenengesang, der tötet? Oder Chris hat vielleicht eine falsche Bewegung gemacht, ja, genau, eine Ungeschicklichkeit, so wie der Tennisspieler einen leichten Ball verfehlt, wie der Skifahrer sich verkantet, irgendeine Dummheit, vielleicht hat er das Lenkrad nicht gedreht, obwohl die Straße eine Kurve beschrieb, oder aber, denn auch diese Möglichkeit muss in Betracht gezogen werden, Chris ist am Steuer eingeschlafen, hat sich von der düsteren Landschaft gelöst, um in die Tube einer Welle zu surfen, in die herrliche und plötzlich sichtbare Spirale, die sich vor ihm öffnete und die Welt in sich aufsaugte, die Welt und das Himmelsblau der Welt.

Um 9.20 Uhr sind Rettungswagen und Polizei am Ort eingetroffen, oberhalb und unterhalb der Unfallstelle hat man sofort Schilder aufgestellt, um den Verkehr auf kleine Seitenstraßen umzuleiten und so den Einsatzbereich abzuschirmen. Im Wesentlichen bestand die Arbeit darin, die drei eingeschlossenen Jungs aus dem Autowrack zu bergen, wo sie sich mit den Sirenenmädchen vermischten, die auf der Motorhaube lächelten oder Grimassen schnitten, entstellt, zusammengequetscht zu einem Haufen von Schenkeln, Popos, Brüsten.

Die ersten Ermittlungen haben ergeben, dass der kleine Lieferwagen zu schnell gefahren ist, man schätzt seine Geschwindigkeit auf 92 km/h, so dass er die an dieser Stelle erlaubte Geschwindigkeit um 22 km/h überschritten hat, und sie haben ebenfalls ergeben, dass er aus unbekannten Gründen nach links ausgeschert und nicht wieder auf seine Spur zurückgekehrt ist, dass er nicht gebremst hat – keine Reifenspuren auf dem Asphalt – und dass er mit voller Wucht gegen den Mast geprallt ist; es hat sich herausgestellt, dass der Wagen keine Airbags besaß, das Modell war zu alt dafür, und dass von den drei Insassen auf dem Vordersitz nur zwei angeschnallt waren, die beiden, die an den Türen saßen, auf der Fahrerseite und auf der Beifahrerseite; der dritte Insasse, der in der Mitte, so hat sich weiter herausgestellt, ist durch den Aufprall nach vorn geschleudert worden und mit dem Schädel gegen die Windschutzscheibe gekracht, zwanzig Minuten hat es gedauert, bis man ihn aus dem Wrack befreit hatte, er war ohnmächtig, als der Rettungswagen eintraf, doch das Herz schlug noch, und da man in seiner Jackentasche seinen Kantinenausweis fand, wusste man, dass er Simon Limbres heißt.

Pierre Révol hat an diesem Morgen um acht seinen Dienst angetreten. Er hat am Eingang zum Parkplatz seine Magnetkarte gezückt, als die Nacht dem Grau-in-Grau wich – bleicher Himmel, leicht taubengrau, jedenfalls weit entfernt von den bombastischen Choreographien, die den Wolken der Seinemündung in der Malerei zu Berühmtheit verholfen haben –, ist langsam über das Krankenhausgelände gefahren, um die nach einem komplexen Plan mehr oder weniger miteinander verbundenen Gebäude herum bis zu dem Platz, der für ihn reserviert ist, hat vorwärts eingeparkt mit seinem petrolfarbenen Laguna, einem schon älteren, aber immer noch bequemen Fahrzeug, Lederausstattung und gute Stereoanlage, das Lieblingsmodell der Taxibarone, sagt er lächelnd, dann hat er die Klinik betreten, zügig die riesige verglaste Halle Richtung Nordflügel durchquert und im Erdgeschoss die Station für Intensiv- und hyperbare Notfallmedizin erreicht.

Er geht durch die Tür, die er mit der flachen Hand aufdrückt, so dass sie mehrmals hinter ihm in der Leere schwingt, und andere, die ihren Dienst beenden, Männer und Frauen in weißen oder grünen Kitteln, alle gleich erledigt, zerzaust, abrupte Gesten und glänzende Augen, hektisches Zucken auf angespannten Gesichtern – Haut wie eine Tamburinbespannung –, die zu laut lachen oder husten oder sich räuspern, begegnen ihm im Flur, gehen an ihm vorbei oder, im Gegenteil, sehen ihn von weitem kommen, werfen einen Blick auf ihre Uhr und beißen sich auf die Lippen, denken, es ist so weit, wir sind fertig, in zehn Minuten hauen wir ab, in zehn Minuten sind wir weg, und sofort erschlaffen ihre Züge, sie verändern ihre Farbe, werden aschfahl und haben plötzlich dunkle Schatten unter den flatternden Lidern.

Mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten strebt Révol seinem Büro zu, ohne von seinem Weg abzuweichen, ohne bereits jetzt auf ein Zeichen einzugehen, das man ihm macht, irgendwelche Unterlagen, die ihm überreicht werden, irgendeine Assistenzärztin, die sich an seine Fersen heftet und etwas von ihm will; vor einer unauffälligen Tür zückt er seinen Schlüssel, tritt ein und führt die Handgriffe aus, mit denen er sich in der Arbeit einrichtet, er hängt seinen Mantel – einen kittfarbenen Trenchcoat – an den Kleiderhaken innen an der Tür, zieht seinen Kittel über, schaltet die Kaffeemaschine und den PC ein, betastet mechanisch die Papiere, die seinen Schreibtisch bedecken, sortiert sie stapelweise neu, setzt sich, stellt die Verbindung mit dem Internet her, sichtet seine E-Mails, schreibt eine oder zwei Antworten – kein Gruß, kein Nichts, die Wörter vokallos und keinerlei Interpunktion –, dann steht er auf und atmet tief durch. Er ist in Form, er fühlt sich gut.

Er ist ein großgewachsener magerer Typ, eingefallener Brustkorb und runder Bauch – die Einsamkeit –, lange Arme, lange Beine, weiße Schnürschuhe von Repetto, etwas Schlaksiges und Unsicheres, verbunden mit einer jugendlichen Erscheinung, und sein Kittel ist immer offen, so dass, wenn er geht, die Rockschöße wehen, sich ausbreiten wie Flügel, und eine Jeans zum Vorschein kommt und ein ebenfalls weißes, zerknittertes Hemd.

Die kleine Diode am Sockel der Kaffeemaschine leuchtet rot, während der beißende Geruch der heizenden Platte sich im Leeren verströmt, der Kaffeerest in der Glaskanne wird kalt. Obwohl winzig – bestenfalls fünf oder sechs Quadratmeter –, ist dieser eigene Raum im Krankenhaus ein Privileg, und man wundert sich, dass er trotzdem so unpersönlich, unaufgeräumt und nicht besonders sauber ist: ein Drehsessel, recht bequem trotz hohem Sitz, ein Schreibtisch, vollgepackt mit Formularen aller Art, Papieren, Heften, Notizblöcken und Werbekugelschreibern in Plastiketuis mit dem Logo der Labors, einer angebrochenen Flasche San Pellegrino und einem gerahmten Foto von einer Landschaft am Mont Aigoual, wobei zwischen dem ganzen Plunder ein Briefbeschwerer aus Muranoglas, eine steinerne Schildkröte, ein Becher mit Stiften vielleicht eine persönliche Absicht erkennen lassen; ein Metallregal an der hinteren Wand enthält nach Jahren nummerierte Archivboxen und verschiedene Akten mit einer dicken Staubschicht und wenige Bücher, deren Titel man lesen kann, wenn man nahe genug herangeht: Geschichte des Todes von Philippe Ariès, La sculpture du vivant von Jean-Claude Ameisen, ein Buch von Margaret Lock mit zweifarbigem Umschlag, auf dem ein Gehirn abgebildet ist, Twice Dead. Organ Transplants and the Reinvention of Death, eine Nummer der Revue neurologique von 1959 und Mondlicht steht dir gut von Mary Higgins Clark – ein Krimi, den Révol schätzt, man wird noch verstehen, warum. Ansonsten kein Fenster, hartes Neonlicht wie um drei Uhr morgens in einer Großküche.

Innerhalb des Krankenhauses ist die Intensivstation eine Welt für sich, der Ort, wo die auf der Kippe stehenden Leben, die undurchdringlichen Komata, die angekündigten Tode aufgenommen, die zwischen Leben und Tod schwebenden Körper beherbergt werden. Ein Reich aus Fluren, Krankenzimmern, Räumen, in dem die Spannung regiert. Hier bewegt sich Révol, auf der Rückseite der Tagwelt, der Welt des stetigen, beständigen Lebens, der Welt des Lichts und der Zukunftspläne, in diesem Reich ist er tätig, es umgibt ihn wie ein großer Mantel mit seinen dunklen Falten, seinen Ausbuchtungen. Deswegen liebt er die Sonntags- und Nachtdienste, schon in seiner Assistenzarztzeit hatte er eine Vorliebe dafür – man kann sich vorstellen, wie den langgliedrigen jungen Révol die Idee der Bereitschaftsdienste begeistert, dieses Gefühl, gebraucht zu werden, als diensthabender Arzt autonom zu sein, eingesetzt, um in einem bestimmten Umkreis die durchgehende medizinische Versorgung sicherzustellen, wachsam zu sein und Verantwortung zu tragen. Er liebt die Intensität dabei, den besonderen Zeitrhythmus, die Müdigkeit, die sich wie ein heimliches Aufputschmittel allmählich im Körper ausbreitet, ihn beschleunigt und präzisiert, diese ganze unbestimmte Erotik; liebt die vibrierende Stille, das Helldunkel – blinkende Geräte im Dämmerlicht, bläuliche Computerbildschirme, der Schein der Schreibtischlampe, der wirkt wie eine Kerzenflamme bei Georges de La Tour, auf dem Bild Das Neugeborene, beispielsweise – und auch die äußeren Gegebenheiten, die Isolation, die Abgeschiedenheit, die Situation wie in einem Raumschiff auf der Reise in die schwarzen Löcher, einem U-Boot auf Tauchfahrt ins tiefste Meerestief, in den Marianengraben. Schon lange aber schöpft Révol daraus etwas anderes, das nackte Bewusstsein seiner Existenz. Nicht Machtgefühl, größenwahnsinnige Hochstimmung, sondern genau das Gegenteil, eine Klarheit, die sein Handeln steuert und seine Entscheidungen bestimmt. Eine Dosis Gelassenheit.

Dienstbesprechung: Übergabe. Die Teams, die sich ablösen, sind versammelt, man steht, lehnt sich an die Wand, einen Kaffeebecher in der Hand. Der Oberarzt, der den vorhergehenden Dienst geleitet hat, ist um die dreißig, stämmig, dichtes Haar, muskulöse Arme. Er strahlt erschöpft. Schildert die Situation der Patienten auf Station – keine nennenswerte Entwicklung, beispielsweise bei dem Achtzigjährigen, der nach sechzig Tagen Intensivstation immer noch bewusstlos ist, wohingegen sich der neurologische Zustand des vor zwei Monaten nach einer Überdosis eingelieferten jungen Mädchens verschlechtert hat –, bevor er ausführlicher die Neuzugänge vorstellt: eine siebenundfünfzigjährige Obdachlose mit fortgeschrittener Zirrhose, die aufgenommen wurde, nachdem sie in der Notunterkunft einen Krampfanfall hatte, und deren hämodynamischer Zustand instabil bleibt; ein Mann in den Vierzigern, am Abend eingeliefert nach schwerem Infarkt und mit einem Hirnödem – ein Jogger, lief am Meer entlang Richtung Cap de la Hève, Luxuslaufschuhe an den Füßen, um den Kopf ein orangefarbenes Neonband, brach in Höhe des Café de l’Estacade zusammen, und obgleich in eine Wärmedecke eingepackt, war er bei der Einlieferung blau, in Schweiß gebadet, das Gesicht eingefallen. Wie steht es mit ihm? Révol fragt in neutralem Ton, ans Fenster gelehnt. Eine Krankenschwester meldet sich zu Wort, berichtet, dass die Werte (Puls, Blutdruck, Temperatur, Sauerstoffsättigung) normal sind, die Diurese ist schwach, der PVK (peripherer Venenkatheter) wurde gelegt. Révol kennt die Schwester nicht, erkundigt sich nach dem Blutbild des Patienten, sie antwortet, dass es gerade erstellt wird. Révol schaut auf die Uhr, gut, es kann losgehen. Die Versammlung löst sich auf.

Die Schwester, die gesprochen hat, bleibt im Raum, geht auf Révol zu, gibt ihm die Hand: Cordélia Owl, ich bin neu, ich war vorher im OP. Révol nickt, okay, willkommen – würde er sie genauer betrachten, würde er merken, dass etwas nicht stimmt, dass sie einen klaren Blick hat, aber merkwürdige Flecken am Hals, Knutschflecken, könnte man meinen, und einen viel zu roten Mund, obwohl er ungeschminkt ist, dicke Lippen, verfilzte Haare, Blutergüsse an den Knien, vielleicht würde er sich fragen, woher dieses unsichere Lächeln kommt, dieses Mona-Lisa-Lächeln, das selbst dann nicht verschwindet, wenn sie sich zur Augen- und Mundpflege über die Patienten beugt oder Infusionen anhängt, Vitalparameter prüft, Medikamente verabreicht, und vielleicht würde er schließlich erraten, dass sie heute Nacht ihren Liebhaber wiedergesehen hat, dass er sie angerufen hat nach wochenlangem Schweigen, der Hund, und dass sie zum Rendezvous erschienen ist, nüchtern und bildschön, geschmückt wie ein Weihnachtsbaum, rauchgrauer Lidschatten, glänzendes Haar, schwellende Brüste, entschlossen zu freundschaftlicher Distanz, und dann doch eher wie eine mittelmäßige Schauspielerin flötete: Geht’s dir gut? Ich freue mich, dich zu sehen!, während ihr ganzer Körper Verwirrung ausstrahlte und vor Erregung glühte, so dass sie ein Bier tranken und dann noch eins und versuchten, ein Gespräch anzufangen, das versandete, worauf sie hinausging, um zu rauchen, und dauernd dachte, ich muss gehen, ich muss jetzt gehen, es ist Schwachsinn, er aber folgte ihr nach draußen, ich werde nicht mehr lang bleiben, ich will nicht zu spät ins Bett kommen, eine Finte, er zog sein Feuerzeug hervor, um ihr die Zigarette anzuzünden, und sie hielt schützend ihre Hände vor die Flamme und neigte den Kopf, Locken fielen ihr ins Gesicht und drohten Feuer zu fangen, er strich sie ihr mit einer beiläufigen Handbewegung hinters Ohr, seine Fingerkuppen berührten ihre Schläfe, so beiläufig, dass sie schwach wurde, weiche Knie bekam, all das übrigens reichlich abgegriffen und ein uralter Hut, und rumms, ein paar Sekunden später taumelten die beiden in eine benachbarte Toreinfahrt, spürten in Dunkelheit und Weingeruch, gegen Mülltonnen stoßend, die Körperzonen auf, wo ihre Haut blass war, die Schenkel, die sich aus Jeans oder Strumpfhosen schälten, Bauch und Po, wenn das Hemd hochgeschoben, der Gürtel gelöst war, alles zugleich heiß und eiskalt, und steigerten ihr gegenseitiges heftiges Begehren ins Maßlose – ja, würde Révol sie genauer betrachten, sähe er eine Cordélia Owl, die ihren Dienst erstaunlicherweise in Bestform antritt, obwohl sie die Nacht durchgemacht hat, eine junge Frau, die viel besser drauf ist als er und auf die er sich wird verlassen können.

Man hat jemanden für Sie. Ein Anruf um zehn Uhr zwölf. Die Worte fallen neutral, informativ. Ein Mann, ein Meter dreiundachtzig, siebzig Kilo, ungefähr zwanzig Jahre alt, Verkehrsunfall, Koma nach Schädelhirntrauma – wir wissen, wer es ist, den man derart beschreibt, wir kennen seinen Namen: Simon Limbres. Das Telefonat ist kaum beendet, da trifft das Rettungsteam bereits auf der Intensivstation ein, die Brandschutztüren gehen auf, die Trage rollt durch den Hauptflur der Station, man macht ihr Platz. Révol erscheint – er hat gerade die Patientin untersucht, die in der Nacht nach einem Krampfanfall aufgenommen wurde, und er ist pessimistisch, die Frau hat nicht rechtzeitig Herzdruckmassage bekommen, der Scan hat gezeigt, dass nach dem Herzstillstand Leberzellen abgestorben sind, ein Zeichen, dass die Gehirnzellen betroffen sind –, man hat ihn alarmiert, und als er am Ende des Flurs die Trage kommen sieht, sagt er sich, dass an diesem Sonntag der Dienst wohl hart werden wird.

Der Rettungsarzt folgt der Trage. Er sieht aus wie ein Hochgebirgsgeodät, kahl, gute fünfzig und absolut dürr, wie Holz, er entblößt spitze Zähne, als er laut verkündet: Glasgow 3!, und dann Révol berichtet: Die neurologischen Untersuchungen haben ergeben, dass keinerlei spontane Reaktion auf auditive (Rufe), visuelle (Licht) oder taktile Reize erfolgt; zudem wurden okulomotorische Störungen (unkontrollierte Augenbewegungen) und Atemstörungen festgestellt; wir haben sofort intubiert. Er schließt die Augen und streicht sich über den Schädel, von der Stirn zum Hinterkopf: Verdacht auf Hirnblutung infolge eines Schädelhirntraumas, areaktives Koma, Glasgow 3 – er benutzt diese ihnen gemeinsame Sprache, eine Sprache, die Weitschweifiges als Zeitverschwendung verbannt, Beredsamkeit und Wortgewandtheit ausschließt, Missbrauch treibt mit Nominalkonstruktionen, Codes und Akronymen, eine Sprache, in der Sprechen vor allem bedeutet zu beschreiben, anders gesagt, ein Gremium zu unterrichten, die Parameter einer Situation zusammenzutragen, damit eine Diagnose gestellt werden kann, damit Untersuchungen angeordnet werden, damit behandelt und gerettet werden kann: Macht der Knappheit. Révol registriert jede Information, stellt sich auf ein Schädel-CT ein.

Es ist Cordélia Owl, die den jungen Mann übernimmt, sich darum kümmert, dass er in ein Zimmer gebracht, in ein Bett gelegt wird; danach können die Rettungsleute mit ihren Geräten – Trage, Transportrespirator, Sauerstoffflasche – die Intensivstation verlassen. Nun müssen ein arterieller Zugang und ein Blasenkatheter gelegt, Elektroden am Thorax angebracht und der Monitor in Gang gesetzt werden, der Simons Vitalparameter aufzeichnet – es erscheinen verschiedenfarbige und unterschiedlich geformte Kurven, durchgehende oder unterbrochene Linien, gestrichelte Passagen, rhythmische Wellen: Morsezeichen der Medizin. Cordélia arbeitet mit Révol zusammen, ihre Handgriffe sind sicher, ihre Gesten fließend und mühelos, ihr Körper scheint befreit von der zähen Schwermut, die noch gestern ihre Bewegungen lähmte.

Eine Stunde später zeigt sich der Tod, kündigt der Tod sich an, ein Fleck mit unregelmäßiger Kontur, der eine hellere und größere Form verdunkelt, da haben wir ihn, das ist er. Ein Anblick, hart wie ein Schlag mit dem Knüppel, aber Révol zuckt nicht mit der Wimper, konzentriert auf die Bilder des Scans, die er auf seinem Computer betrachtet, labyrinthische Bilder, mit Legenden versehen wie Landkarten, die er in alle Richtungen dreht und heranzoomt, wo er Bezugspunkte sucht und Abstände misst; in Reichweite, auf seinem Schreibtisch, liegen in einer Mappe mit dem Schriftzug des Krankenhauses Papierabzüge der »aussagekräftigen« Bilder, die die Radiologie von Simon Limbres’ Gehirn geliefert hat. Um diese Darstellungen zu erhalten, wurde also bei einer sogenannten Computertomographie der Kopf des Jungen von einem Röntgenstrahlenbündel abgetastet und aus den gewonnenen Daten wurden Schnittbilder erzeugt, millimeterdünne coronare, axiale, sagittale oder schräge Querschnitte. Révol kann diese Bilder lesen, was sie aussagen über den Zustand des Organs und über den möglichen weiteren Verlauf, er erkennt die Formen, die Flecken, die Schatten, interpretiert die milchigen Ränder, die schwarzen Stellen, entziffert Legenden und Codes; er vergleicht, prüft, beginnt von vorn, führt die Befundung gründlich durch, aber da ist nichts zu machen, es steht bereits fest: die Zerstörung des Gehirns von Simon Limbres ist nicht aufzuhalten, es ertrinkt im Blut.

Diffuse Verletzungen, frühzeitiges ausgedehntes Hirnödem und keine Möglichkeit, den bereits übermäßig erhöhten intrakraniellen Druck in Grenzen zu halten. Révol lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Er stützt das Kinn in die Hand, und sein Blick wandert über den Schreibtisch, streift die Unordnung, die gekritzelten Notizen, die Verwaltungsrundschreiben, die Fotokopie eines Artikels der Ethikkommission über Organentnahmen nach Herzstillstand, schweift über die kleinen Dinge, die da stehen, einschließlich der Schildkröte aus Jade, Geschenk einer