Eine Welt in den Händen - Maylis de Kerangal - E-Book

Eine Welt in den Händen E-Book

Maylis de Kerangal

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Beschreibung

Eine junge Frau, Paula Karst, entschließt sich, ihre Heimatstadt Paris zu verlassen und nach Brüssel umzusiedeln: Dort besucht sie die Akademie für angewandte Kunst und lernt, auch die schwierigsten Aspekte der Wirklichkeit mit der Hand täuschend nachzuahmen. Da solche Fähigkeiten in einer Zeit, die sich mit Surrogaten zufriedengibt, en vogue sind, ist sie ständig mit der termingerechten Erfüllung ihrer Aufträge beschäftigt: Mal ist ihre Kunst in Russland gefragt, mal soll sie in Paris die entsprechend luxuriösen Apartments illuminieren, schließlich bricht sie nach Rom auf, in das Reich der Cinecittà, um an der Illusion von Wirklichkeit zu arbeiten.

Doch die Serienproduktion von geschäftlichen Erwägungen dienenden Nachahmungen ist ihr nicht Herausforderung genug: Deshalb beschließt sie, sich bei den Nachbildungen der berühmten Höhlen von Lascaux (Entstehungszeit: zwischen 17000 und 15000 v. Chr.) in der Dordogne zu engagieren. Die Aufgabe unterscheidet sich zunächst in nichts von den gängigen, den Effekt der Realität erzeugenden Zeichnungen. Während der Arbeit an der millimetergenauen Rekonstruktion der berühmten Wandmalereien drängen sich ihr allerdings unabweisbare Fragen auf: Kann man als Gegenwartsmensch prähistorische Gemälde reproduzieren, müsste man sich dafür nicht in einen Urzeitmenschen verwandeln? Oder ist umgekehrt die Rettung der Zeichnungen durch Vortäuschung das einzige Gegenmittel zum die (Um-)Welt zerstörenden Lebensstil? Ist eine Welt, die jederzeit und überall zuhanden ist, nicht notwendigerweise dem Untergang geweiht? Gibt es überhaupt noch einen eindeutigen Unterschied zwischen Realität und Nachahmung, zwischen harten Fakten und inszenierten Illusionen, zwischen Nachrichten und fabrizierten Meldungen?

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Seitenzahl: 314

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Maylis de Kerangal

Eine Welt in den Händen

Roman

Aus dem Französischen von Andrea Spingler

Suhrkamp Verlag

Rauscht der Wind in den BäumenWenn niemand da ist, der es hört?Koan

Paula Karst erscheint auf der Treppe, sie geht heute Abend aus, das sieht man sofort, merklich verändertes Tempo, seit sie die Wohnungstür hinter sich zugeschlagen hat, Atmung schneller, Herzschlag schwerer, langer dunkler Mantel offen über weißem Hemd, Stiefel mit sieben Zentimeter hohen Absätzen und keine Tasche, alles, Handy, Zigaretten, Geld, alles hat sie so eingesteckt, der Schlüsselbund begleitet klappernd ihren Gang – Schauer einer kleinen Trommel –, das Haar wippt auf ihren Schultern, und sie wirbelt die sich spiralförmig abwärts windende Treppe hinunter bis in die Eingangshalle, wo sie, im letzten Augenblick von dem großen Spiegel erfasst, stehen bleibt und prüfend ihre verschiedenfarbigen Augen betrachtet, mit dem Zeigefinger den zu dicken Lidschatten verstreicht, sich in die blassen Wangen kneift und ihre Lippen aufeinanderpresst, um den Lippenstift zu verteilen, dabei nicht auf ihren Silberblick achtet, ein leichtes, am Ende des Tages aber stets ausgeprägteres Außenschielen. Bevor sie auf die Straße hinaustritt, hat sie noch einen Knopf ihrer Bluse aufgemacht, kein Schal, obwohl draußen Januar ist, Winter, Kälte, Nordwind, aber sie will ihre Haut zeigen und die Nachtluft in ihrem Nacken spüren.

Von den zwanzig Schülern, die zwischen Oktober 2007 und März 2008 am Institut de peinture, Rue du Métal 30A in Brüssel, ausgebildet wurden, sind drei in Verbindung geblieben, haben sich Kontakte und Aufträge weitergereicht, vor unrealistischen Plänen gewarnt, einander ausgeholfen, um eine Arbeit fristgerecht hinzukriegen, und diese drei – darunter Paula mit ihrem langen schwarzen Mantel und ihren smokey eyes – treffen sich heute Abend in Paris.

Es war eine einmalige Gelegenheit, eine Planetenkonjunktion, wie sie schöner nicht sein konnte, so selten wie die Wiederkehr des Halley'schen Kometen! – sie hatten im Netz ihre Aufregung geteilt, ihre Posts großspurig mit Bildern illustriert, die sie von Astrofotografie-Webseiten geklaubt hatten. Am späten Nachmittag jedoch blickte jeder Einzelne dem Widersehen eher zurückhaltend entgegen; Kate hatte den Tag auf einer Trittleiter in einem Hausflur der Avenue Foch verbracht und hätte nichts dagegen gehabt, daheim vor Game of Thrones abzuhängen und Tarama mit den Fingern zu essen, Jonas hätte lieber noch länger an diesem Tropendschungelfresko gearbeitet, das in drei Tagen fertig sein musste, und Paula, am Morgen erst aus Moskau zurückgekommen, litt unter einem Jetlag und wusste nicht mehr so recht, ob dieses Treffen eine gute Idee war. Etwas Stärkeres hat die drei nun aber hinausgetrieben, als es Abend wurde, ein Bauchgefühl, eine körperliche Sehnsucht, die Sehnsucht, einander wiederzuerkennen, ihre Gesichter und Gebärden, den Klang ihrer Stimmen, ihre Art, sich zu bewegen, zu trinken, zu rauchen, alles, was geeignet war, sie auf der Stelle wieder in die Rue du Métal zurückzuversetzen.

Das Café schwarz vor Menschen. Jahrmarktgeschrei und Kirchendämmer. Sie erscheinen pünktlich zur Verabredung, die drei, perfekte Übereinstimmung. Stürzen als Erstes aufeinander zu, Umarmungen und Eröffnungsgeplänkel, dann bahnen sie sich einen Weg, im Gänsemarsch, zusammengeschweißt, ein Block: Kate, platinblondes Haar mit schwarzem Ansatz, ein Meter siebenundachzig, mollige Schenkel in slalomtauglicher Steghose, Motorradhelm in der Armbeuge und so große Zähne, dass die Oberlippe zu kurz ist; Jonas, Eulenaugen und graue Haut, Arme wie Lassos, Yankeemütze; und Paula, die schon viel besser aussieht. Sie finden einen Tisch in einer Ecke, bestellen zwei Bier, ein Spritz – Kate: Ich mag die Farbe – und beginnen dann gleich mit dem Dauerpendeln zwischen Drinnen und Draußen, das die Abende der Raucher im Café rhythmisiert, gehen auf die Straße mit der Fluppe im Mund, das Feuer in der hohlen Hand. Die Müdigkeit des Tages verschwindet im Handumdrehen, die Erregung ist zurück, die Nacht bricht an, man wird reden.

Paula Karst, willkommen zurück, beschreib deine Eroberungen, erzähl deine Heldentaten! Jonas reibt ein Streichholz an, sein Gesicht zuckt kurz im Schein der Flamme, kupferfarben, und augenblicklich ist Paula in Moskau, ihre Stimme heiser, zurück in den großen Mosfilm-Studios, wo sie drei Monate verbracht hat, den Herbst, doch anstatt irgendwelche allgemeinen Eindrücke zu erzählen, statt eines chronologischen Berichts fängt sie an, den Salon Anna Kareninas zu beschreiben, der im Kerzenlicht fertiggemalt werden musste, weil ein Stromausfall am Abend vor dem ersten Drehtag die Dekors in Dunkelheit getaucht hatte; sie beginnt langsam, als folgten die Worte Bildern wie bei einer Simultanübersetzung, als erlaubte die Sprache zu sehen, und lässt die Räumlichkeiten erstehen, die Gesimse und Türen, die Täfelungen, die Form der Lambris' und die Gestalt der Fußleisten, die Feinheit der Stuckaturen und die so besondere Farbgebung der Schatten, die es an den Wänden aufzubringen galt; sie zählt genau die Töne der Palette auf, Seladongrün, Blassblau, Gold und Zinkweiß, nach und nach kommt sie in Fahrt, hohe Stirn, glühende Wangen, und schildert diese Malnacht, diese Wahnsinnsschinderei, beschreibt ausführlich die überreizten Produzenten in schwarzer Daunenjacke und Yeezy Sneakers, die in rollendem und schmeichelndem Russisch die Maler anfeuerten und daran erinnerten, dass kein Verzug geduldet werde, keiner, aber mögliche Prämien in Aussicht stellten, und wie sie plötzlich begriff, dass sie die ganze Nacht würde arbeiten müssen, und in Panik geriet, weil es halb dunkel war, überzeugt, dass die Farbtöne nicht richtig sein konnten und die Übergänge im Scheinwerferlicht zu sehen sein würden, es war Wahnsinn – sie tippt sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, während Jonas und Kate zuhören und schweigen, sie erkennen hier einen erstrebenswerten Wahnsinn, einen, den auch sie stolz für sich beanspruchen –; dann erzählt sie weiter, beschreibt ihre Verblüffung, als am Abend plötzlich eine Handvoll Studenten von der Kunsthochschule auftauchte, die der Chefdekorateur zur Verstärkung geholt hatte, talentierte Hilfskräfte, die knapp bei Kasse waren, gewiss, aber auch auf dem besten Weg, alles zu versauen, also war sie es, die ihnen in dieser Nacht auf dem abgedeckten Boden kniend die Paletten vorbereitete und im Licht eines iPhone-Lämpchens, das einer von ihnen auf die Tuben richtete, die Farben mischte, worauf sie jedem einen Abschnitt der Dekoration zuwies, zeigte, welcher Effekt erreicht werden sollte, und dann von einem zum andern ging, um einen Pinselstrich zu verfeinern, einen Schatten zu setzen, ein Weiß aufzuhellen, zugleich gezielt und zufällig bewegte sie sich, so als führte ihr elektrisierter Körper sie instinktiv zu demjenigen, der zögerte, oder zu derjenigen, die abschweifte, so dass um Mitternacht jeder an seinem Platz war und schweigend, konzentriert malte, die Atmosphäre am Set gespannt wie ein Trampolin, knisternd, irreal, die bewegten Gesichter von Kerzen erleuchtet, funkelnde Blicke, marsschwarze Pupillen, man hörte nur das Wischen der Pinsel auf den Holzplatten, das Quietschen der Sohlen auf der Plastikplane, die verschiedenen Atemgeräusche, einschließlich der Schnaufer eines apathischen Hundes, der zusammengerollt mitten in dem Chaos lag, eine plötzlich von wer weiß woher ertönende Stimme, ein Ausruf – блясмотри, смотриздеськаккрасиво, verflucht, schau mal, schau dir das an, ist das nicht schön –, und wenn man die Ohren spitzte, vernahm man im Hintergrund den Rhythmus eines russischen Rap; das Studio summte wie ein Bienenstock, erfüllt von menschlicher Anwesenheit, und bis zum Morgengrauen war die Spannung mit Händen zu greifen, Paula arbeitete ohne Müdigkeit, je weiter die Nacht fortschritt, desto lockerer, freier, sicherer wurden ihre Gesten; und dann hielten gegen sechs Uhr morgens feierlich die Elektriker Einzug mit den Stromaggregaten, die sie in Moskau abgeholt hatten, einer mit Tenorstimme rief fiat lux!, und alles wurde hell, starke Strahler warfen ein sehr weißes Licht aufs Set, und Anna Kareninas großer Salon zeigte sich im silbrigen Schein eines Wintermorgens: er war da, er existierte; die hohen Fenster waren reifbedeckt und die Straße verschneit, aber innen war es warm und behaglich, ein majestätisches Feuer loderte im Kamin, und Kaffeegeruch zog durch den Raum, im Übrigen waren die Produzenten zurückgekehrt, geduscht, rasiert, strahlend, sie öffneten Wodkaflaschen und Pappschachteln, in denen sich lauwarme, mit Zimt und Kardamom bestäubte Blinis stapelten, verteilten Cash an die Studenten, die sie mit der männlichen Komplizenhaftigkeit von Mafiapaten im Nacken packten, oder brüllten englisch auf Mailboxen ein, die Telefone in Los Angeles, London oder Berlin vibrieren ließen; der Druck wich, das Fieber aber nicht, alle blickten sich blinzelnd um, geblendet von den Milliarden Photonen, die jetzt die Textur der Luft bildeten, staunend über das, was sie vollbracht hatten, trotzdem ein bisschen fertig, Paula schaute instinktiv nach den heiklen Anschlüssen, ängstlich gespannt auf das Ergebnis, aber nein, es war gut, die Farben waren richtig, und nun gab es Schreie, aneinanderklatschende Handflächen, Umarmungen und ein paar Tränen der Erschöpfung, manche legten sich mit ausgebreiteten Armen auf den Boden, andere deuteten Tanzschritte an, Paula küsste ein wenig lang einen der Aushilfsmaler, der große Kerl mit den dunklen Augen schob eine Hand unter ihren Pulli und auf ihre heiße Haut, verweilte in ihrem Mund, während die Handys wieder anfingen zu läuten, jeder seine Sachen zusammensuchte, seinen Mantel zuknöpfte, sich den Schal umschlang, die Handschuhe anzog oder seine Zigarette zückte, die Außenwelt sich wieder belebte, aber irgendwo auf diesem Planeten, in einem der großen Mosfilm-Studios, wartete man jetzt auf Anna, Anna mit den schwarzen Augen, Anna, die unsterblich Verliebte, ja, alles war bereit, das Kino konnte losgehen und mit ihm das Leben.

Die Kälte ist schneidend, die Tür des Cafés öffnet und schließt sich wie ein Blasebalg und entlässt neue Raucher auf den Gehweg, Paula fröstelt. Sie senkt den Kopf, steckt die Hände in die Taschen und schabt mit der Stiefelspitze über den Boden, während Kate und Jonas sie schweigend betrachten, nachdenklich, neidisch auf diese hitzige Nacht, die so sehr den Nächten gleicht, die sie zusammen am Institut de peinture erlebt haben, die eine hat Paula ihnen ebendarum geschildert, damit sie sich an alle erinnern, denn diese durchwachten Nächte, in denen sie Seite an Seite gemalt haben, um im Morgengrauen ihre Arbeiten auf den großen Schreibtisch der Institutsdirektorin zu legen wie einen Tribut und eine Opfergabe, diese Nächte gehörten ihnen gemeinsam, sie waren die Basis ihrer Freundschaft, ein Vorrat an Bildern und Empfindungen, aus dem sie, wenn sie sich trafen, immer wieder mit offensichtlichem Vergnügen schöpften, sie übertrieben beim Erzählen den Zeitdruck, die Müdigkeit und den Zweifel, bauschten den kleinsten Zwischenfall auf, die fehlende Farbtube, den umgestürzten Farbtopf, das brennende Lösungsmittel oder, noch schlimmer, den Perspektivenfehler, den sie nicht gesehen hatten, sie spielten die Szenen nach und genossen es, lächerlich zu erscheinen, ignorant, kleine Würstchen angesichts der Malerei, Antihelden eines atemberaubenden und spaßigen Abenteuerromans, aus dem sie umso siegreicher hervorgingen, als sie an der Katastrophe nur knapp vorbeigeschlittert, umso tapferer, als sie in der Finsternis umhergeirrt waren, umso schlauer, als alles verloren schien, und diese Geschichten hatten von da an die Kraft eines Rituals, sie waren unumgänglicher Bestandteil des Wiedersehens, funktionierten wie eine Umarmung.

Sie sitzen wieder drinnen, die Mädchen auf der Bank, Jonas ihnen gegenüber, er hat die Schultern hochgezogen und reibt sich die kalten Hände. Was machst du zurzeit? Kate blickt ihn fragend unter den türkisfarbenen Wimpern hervor an, das Glas an den Lippen, und man stutzt, wenn man ihre zarte Stimme hört, die so gar nicht zu ihrer Robustheit passt, wie losgelöst scheint von ihrem Körper. Der junge Mann lehnt sich vergnügt zurück und erklärt, Arme vor der Brust verschränkt, Hände unter den Achseln: Das Paradies, ein tropisches Eden, acht auf drei Meter fünfzig. Schweigen. Die Mädchen sind sichtlich beeindruckt, sie halten inne. Kate trinkt langsam und schaut an die Decke – sie berechnet die Fläche, überschlägt den Lohn, sie ist schnell –, Paula spreizt nach und nach ihre Finger ab und stimmt die Litanei der Farbnamen an, die sie alle drei auswendig können, dabei betont sie die einzelnen Silben, die klingen, als öffnete sie einen um den andern die Deckel reiner Empfindungen: Zinkweiß, Rebschwarz, Chromorange, Kobaltblau, Alizarin-Krapplack, Blasengrün und Cadmiumgelb für die Grüntöne? Jonas lächelt, er schaut ihr in die Augen und fährt im gleichen Tempo fort: Topaz, Avocado, Abricot und Teer – die beiden rücken näher zusammen, eine schöne Bewegung –, Paula atmet tief ein und sagt tonlos: Ich möchte, dass du in deinem Dschungel einen Ort für unseren Menschenaffen schaffst, machst du das? Jonas nickt, ohne sie aus den Augen zu lassen, das mach ich, und Paula senkt den Blick.

Es ist voll hier, man versteht sein eigenes Wort nicht, und doch wird überall geredet, so als bildeten sich Waben im Stimmengewirr – ein Bienenstock –, als erzeugte jeder Tisch einen akustischen Raum um sich, in dem geheimste Gespräche möglich sind. Jonas hat sein Kinn in die Hand gestützt, spöttisch beobachtet er die Mädchen, eine nach der anderen, die sind sich ganz gleich, die beiden. Kate lacht und fragt neugierig: Für wen machst du deinen Dschungel? Der Junge verkneift sich das Lachen, seine Schultern zucken, sein Oberkörper bebt, dann antwortet er: No way, du erfährst nichts, kleiner Maulwurf. Er schaut sie herausfordernd an, ein Lächeln um die Lippen, so dass Kate es noch einmal versucht, nicht lockerlässt, die Rolle der Pragmatischen übernimmt, derjenigen, die mit beiden Beinen fest auf der Erde steht, Versicherungsleistungen vergleicht, für ihre Rente einzahlt und auf die Löhne der Dekorationsmalerinnung achtet: Wird er wenigstens gut bezahlt, dein Job? Wie viel für den Quadratmeter? Achthundert? Tausend? Jonas hebt die Augen zur Decke, sein Lächeln wird breiter und entblößt graue, unordentliche Zähne, nur weiter so, mein Kind, der Typ ist stinkreich. Kate nennt also einen Betrag, Jonas bedeutet ihr, sie könne höher gehen, und die beiden Mädchen beginnen sich gegenseitig zu überbieten mit immer horrenderen Zahlen, Tarifen, die nur die Stars der Szene erreichen, es wird ein Spiel, ein hitziges Gerangel, aber dann gibt Jonas plötzlich klein bei: O. ‌k., es ist ein spezielles Projekt. Er macht eine Pause, er blickt sich misstrauisch um. Es ist ein Originalfresko. Aha. Er richtet sich auf und betont noch einmal: Es ist etwas Eigenes. Im Schweigen, das folgt, scheint der Lärmpegel im Café noch etwas anzusteigen, aber Jonas hört trotzdem Kates Stimme: Ach, jetzt haben wir's, du bist ein Künstler! Er schüttelt den Kopf, und aus den Augenwinkeln zu Kate schielend wendet er sich an Paula: Was für ein fieses Stück! Sie haben ihr Sprechtempo wiedergefunden, die Scharfzüngigkeit, Ventil der Zärtlichkeit. Ein Kellner streift ihren Tisch, kickt in Kates auf dem Boden liegenden Helm, sein Tablett kippt. Krach, Stille, Applaus. Danach setzt der Lärm wieder ein, der Lärm, den Paula mit ihren Augen durchdringt, um auf die Industrieuhr über der Bar zu schauen und sich zu erinnern, dass sie gestern genau zu dieser Zeit über den Roten Platz lief. Ihr Blick wandert einmal um das Zifferblatt, dann verweilt er auf Jonas, und in einem Atemzug sagt sie: Ein Reich für die Menschenaffen, das sollst du machen, Jonas.

Die Gläser sind leer, Jonas nimmt seine Zigaretten vom Tisch und steht auf: Und wie lässt es sich für euch an, das Jahr 2015, Mädchen? Sie gehen hinaus. Wieder der frostige Gehweg, der Rinnstein voller Kippen und der Menschenauflauf, durch den man hindurchmuss, bevor man sich wieder bewegen kann. Auf offener Straße zieht Kate ihr Handy aus der Innentasche ihrer Jacke, aktiviert es mit flinken Fingern und verkündet feierlich: O. ‌k., genug gescherzt, der Moment ist gekommen, euch echte Profiarbeit zu zeigen! Paula und Jonas beugen sich zusammen darüber, ihre Schläfen berühren sich jetzt.

Ein spiegelndes Bild, sehr dunkel. Marmor. Die Eingangshalle der Avenue Foch, die sie seit acht Tagen ausmalt. Tiefschwarz, mit Adern von flüssigem Gold, verschattet und ostentativ, majestätisch. Augustsonne, die das Unterholz durchdringt, goldüberpuderter japanischer Lack, die Grabkammer eines ägyptischen Pharaos. Malst du ihnen einen Portor? Paula schaut zu ihrer Freundin auf, die nickt und sich dabei mit königlicher Ruhe abwendet, um den Rauch ihrer Zigarette durch die Nase zu blasen. Yes. Verdammt, du hast es drauf, murmelt Jonas, beeindruckt vom Fließen der Äderung, vom vieldeutigen Glanz, von der Tiefenwirkung. Kate ist stolz, aber sie wiegelt ab: Ich hab doch mein Diplom mit einem Portor-Marmor gemacht, ich mag das. Sie sind gebannt von dem Foto. Bemalst du ihnen alle vier Wände? Paula wundert sich – Portor wird selten für große Flächen genommen, wie sie weiß, zu schwarz, zu schwierig zu malen, auch zu teuer. Mit einem Schnipser landet Kates Zigarette im Rinnstein: Die Decke bemale ich auch.

Eine Fläche reinen Petroleums. Mit diesen Worten hatte Kate dem Verwalter des Hauses ihre Portor-Probe vorgestellt, so jedenfalls erzählt sie es jetzt, vom Gehweg hinuntergestiegen, um mitten auf der Fahrbahn die Szene nachzuspielen, ihre eigene Rolle, aber auch die des Typen, den sie überzeugen musste – ein blasser Dreißigjähriger mit langem Namen und übergroßem Siegelring, schmalen Schultern, aber rundem Bauch, sein perlgrauer Zweireiher schlotterte an ihm, und während er das Probestück musterte, strich er sich langsam über den Schädel, ohne dass er es schaffte, zu dieser großen Frau aufzublicken, die vor ihm stand, oder sich eine Vorstellung von ihrem Körper zu machen: Statue oder Mannweib? Kate war in einem marineblauen Kostüm und Pumps zu der Verabredung erschienen, sie hatte vergessen, ihr Fußkettchen mit dem Totenkopfverschluss abzunehmen, hatte aber ihr Haar seitlich gescheitelt und sich weniger dick geschminkt: sie wollte diese Arbeit. In der Tat hatte sie an ihrer Palette geackert – Titanweiß, gelber Ocker, Cadmiumorange, Siena natur, Umbra gebrannt, Van-Dyck-Braun, Zinnoberrot, ein wenig Schwarz – und zweimal lasiert, um eine zugleich dunkle und transparente Oberfläche zu erhalten – Dunkelheit und Transparenz: das Geheimnis des Portors. Im Übrigen hatte ihr Vorschlag gute Chancen, die Hausbesitzer waren reiche Familien vom Golf, die drei Nächte im Jahr hier verbrachten. Sie würden diesen Marmor lieben, der wie der Spiegel ihres Reichtums schimmerte, ihrer Allmacht schmeichelte, an das fossile Manna erinnerte, das aus dem Boden sprudelt, wo früher Herden weideten und man in der stickigen Hitze der Zelte vor sich hindämmerte. Um den Auftrag zu bekommen, hatte Kate die Seltenheit des Portors hervorgehoben, lang und breit die glühend heißen Marmorbrüche von Palmaria und Porto Venere am Rand des Golfs von Genua beschrieben, Steinbrüche, die in hundertfünfzig Meter Höhe über dem Meer hingen, sie hatte von den Schiffen erzählt, die an den Felswänden anlegten, damit man die Steinblöcke direkt hineinrutschen lassen konnte, bis zu hundert carrate pro Schiff – die Carrata, ein Volumenmaß, entspricht der Wagenladung eines Zweispänners, also etwa einer Dreivierteltonne –, die Schiffe luden den Rohmarmor an den Kais von Ripa Maris ab und wurden sofort wieder beladen mit Marmor, der bearbeitet war, um zu beeindrucken, gesägt, vorbehauen, poliert, manchmal graviert mit der königlichen Lilie, dann hissten sie die Segel, nahmen Kurs auf Toulon, Marseille, Cadix, passierten die Straße von Gibraltar und fuhren die Atlantikküste hinauf Richtung Saint-Malo, in Le Havre bog die Marmorroute ab, um dem Fluss zu folgen und Paris zu berühren; schließlich, letzter Trumpf, hatte Kate die königliche Aura des Steins gerühmt, ein Stein, den der Sonnenkönig persönlich schätzte, ein Stein, den man an den Wänden von Versailles findet, aber sicherlich nicht in den Klos angesagter Restaurants, darf ich Ihnen Fotos zeigen? Jetzt ahmt sie die Haltung des Verwalters nach, seine Art, ihr eine schlaffe Hand zu geben, nachdem er sich ihr mit seinem ganzen langen Namen vorgestellt hat, die heiße Kartoffel, die er im Mund hatte, sie äfft seine verkrampfte Geilheit nach, seine steife Vornehmheit, aber vor allem bezieht sie sich selbst in die Szene ein, Schauspielerin, parodiert ihre eigene Habgier, ihre gerissenen Schmeicheleien, übertreibt so schön ihren Körpereinsatz und ihren schottischen Akzent, dass sie wirbelnd und ihre filmreife Mähne schüttelnd die ganze Straße einnimmt, vor dem Café entsteht ein wenig Unruhe, man wird neugierig, man bewegt sich, man dreht den Kopf zu dem Mädchen, das seine Nummer abzieht. Der Verwalter hatte schließlich doch seinen Blick auf sie gerichtet, er nahm sie auf Probe, kam nun jeden Abend vorbei, um sich vom Fortschritt der Arbeit zu überzeugen, und redete bereits überwältigt von weiteren renovierungsbedürftigen Eingangshallen, Treppenhäusern, Wohnungen – er verwaltete einen bedeutenden Immobilienpark im Pariser Westen, waschechter Haussmann-Stil, Hunderte Quadratmeter, aus denen er Kapital schlagen wollte. Ich werde reich! Kates Zahnfleisch schimmert rötlich durch ihr Lachen. Darauf verbeugt sie sich wie ein Schauspieler am Ende des Stücks, eine Hand auf dem Herzen, erklärt dann, sie gebe einen aus, und alle strömen hinter ihr zurück ins Café.

Was wirst du jetzt tun? Jonas fixiert Paula, unter seinem Mützenschild mit Logo ist das Weiße seiner Augen gelb, und die Pupillen sind geweitet. Paula schreckt hoch, keine Ahnung, ich bin doch heute Morgen erst aus Moskau zurückgekommen. Kate neben ihnen entspannt sich, lässt Zeichen von Erschöpfung oder Trunkenheit oder beidem erkennen – Schlaffheit, offener Mund, leerer Blick –, und man wundert sich, dass sie noch genug Energie findet für eine bissige Bemerkung: Du musst dir eine goldene Nase verdient haben bei den Russen, die haben Kohle da drüben, was? Paula lächelt, keine Sorge. In diesem Augenblick zirpt es in einer Hosentasche, und Jonas springt auf, mit dem Handy am Ohr läuft er auf die Straße hinaus ohne einen Blick für die beiden Mädchen, die sitzen bleiben, hockt sich draußen vor dem Fenster auf den gegenüberliegenden Bordstein, nimmt seine Kappe ab – sehr seltenes Ereignis –, legt den Kopf in den Nacken, so dass die Straßenlampe sein Gesicht beleuchtet, und dann sieht man, dass er die Augen schließt und die Lippen bewegt, während sich auf seinen Schläfen und seinen hohlen Wangen Schatten bilden, und es kann niemandem entgehen, dass er ab und zu die Lider hebt und zu Paula schaut, die ihm hinter der Fensterscheibe den Rücken zukehrt. Sein Gesicht ist jetzt das eines Menschen, der von der Liebe, der unterirdischen Bewegung der Liebe ergriffen ist, und wahrscheinlich haben die beiden Mädchen sich deswegen abgewendet, sie wären nie auf die Idee gekommen, sich ihm zu sehr zu nähern oder gar ihn auszufragen, niemals, so funktionieren sie nicht, die drei, ihr Liebesleben findet im Off statt, sie reden nicht darüber, schamhaft, mimen übertrieben das romantische Debakel (Jonas) oder die Lakonik (Kate) und bringen einen komischen Zug in die Sache, die Liebe ist stets exaltiert und tragisch, der Sex unbeholfen oder rein technisch, bei diesem Spiel sind sie lustig, und Paula lacht, kneift die Augen zusammen, runzelt die Stirn und erwidert »bis zum Umfallen!«, wenn sie sie fragen: »Gehst du auch ein bisschen unter Leute?« Und letztlich schweigen alle drei über die Liebe. Jonas hat glühende Wangen und eine belegte Stimme, als er an den Tisch zurückkommt, er setzt sich nicht, sondern erklärt: Ich muss zu einem Fest in der Rue Sorbier, kommt ihr mit? Kate schüttelt den Kopf, ich bin fix und fertig, morgen muss ich arbeiten, aber Paula steht auf und sagt, sie begleitet ihn ein Stück, sie hat Lust, ein paar Schritte zu gehen.

Später, lange nachdem Kate sie im Leerlauf überholt hat, sehr gerade auf ihrem Roller, die Arme erhoben wie ein Wagenlenker, der am Anfang des Rennens den Kaiser grüßt, als die fortgeschrittene Nacht eine ganz andere Stadt zum Vorschein kommen lässt, gehen Paula und Jonas die Avenue Gambetta hinauf, am Friedhof Père-Lachaise entlang. Sie hat sich bei ihm untergehakt und rafft mit der freien Hand die Mantelaufschläge um ihren kalten Hals zusammen, er hat sich die Mütze in die Stirn gezogen, seinen Schal fester gewickelt, die Hände in die Taschen gesteckt, und so marschieren sie. Du hast nicht genug an, das ist Blödsinn. Jonas' Blick streift die Friedhofsmauer, blind für die Grabmale, die darüber hinausragen – Steinkreuze und Statuen, efeuüberwucherte Pyramidenspitzen, Pseudotempel, glänzende Kuppeln, Mausoleen in Form von Grotten aus Muschelwerk. Als Antwort drückt sich Paula noch enger an ihn, und sie gehen Schulter an Schulter weiter. Was für einen Affen wirst du malen? Sie hat leise gesprochen. Der Nebel, der aus ihrem Mund kommt, löst sich auf, sonst kein Luftzug, die Häuserfassaden sind dunkel, die Kälte lässt die Stadt erstarren, der sehr hohe Himmel ist hart und funkelnd. Ich male Wounda, erwidert Jonas mit gedämpfter Stimme, die Nase im Schal, und bei diesen Worten beginnt Paulas Gesicht zu strahlen.

Sie haben den Kleinen Platz erreicht. Es ist Mitternacht, die Cafés schließen, die Theken blitzen in leeren Gasträumen, die Fenster rahmen kleine Schattentheater ein, wo noch Silhouetten zu Gange sind, die ihre Arbeit zu Ende bringen, Karaffen ausspülen, Gläser abtrocknen, den Tresen abwischen. Jonas hat mit entschlossener Geste seinen Arm von Paula gelöst, ich muss gehen, ich gehe jetzt, und als er sich abwendet, hält sie ihn zurück, zieht seinen Kragen hoch, du bist auch nicht schlecht, aber du stinkst nach Terpentin, weißt du das? Jonas schnüffelt an seinem Mantelärmel, und Paula redet weiter, neugierig und damit es länger dauert, du bist entflammbar, könnte man meinen, wirst du erwartet? Ein Jogger, der vorbeiläuft, schielt auf seine Stoppuhr, ein Typ im Pelzmantel führt seinen Hund aus, eine alte Dame raucht in einen Fransenschal gemummt auf ihrem Balkon eine Zigarette. Es ist ruhig. Also was machst du? Kommst du mit oder nicht? Jonas tritt von einem Fuß auf den andern, die Schultern hochgezogen, den Blick auf sie gerichtet.

Dann geht er einen Schritt zurück, zieht die Hände aus den Taschen und hält sie unter die Straßenlampe. So beleuchtet, scheinen sie von seinem Körper losgelöst und gleichsam aus der Dunkelheit hervorzukommen, schwebend, weißlich, irgendwie monströs, lange Finger, knochige Gelenke, die Lebenslinie ein Schnitt wie mit dem Taschenmesser in ein Holzbrett, die kleinen Polster am Ansatz der Finger schuppig von alten Blasen und die Haut von allerlei Substanzen gegerbt – Ölen, Pigmenten, Sikkativen, Lösungsmitteln, Lacken, Gouachen, Klebstoffen. Und jetzt deine. Er hat eine Kopfbewegung zu Paula hin gemacht, die kleine, kurze, eckige Hände vorzeigt: auf dem Handrücken die gleiche dicke Haut, die Fingerglieder runzlig wie Nussschalen, die kurzen Fingernägel mit schwarzem Rand, auf der Handfläche die gleichen Spuren. Lange sind sie, Stirn an Stirn, über ihre offenen Handflächen gebeugt geblieben, die helle Flecken aus der Nacht schnitten, Schablonen, Stempel, Abziehbilder – von weitem hätte man glauben können, zwei Wanderer seien in eine topografische Karte vertieft, studierten das Blatt und entzifferten die Legende, um ihren Weg zu finden. Plötzlich zieht Jonas Paula an sich, schließt sie in die Arme, flüstert ihr rasch ins Ohr, ich ruf dich morgen an.

Imbricata

Reden wir jetzt ein wenig über die Rue du Métal. Wir sehen Paula, die sich an jenem Septembertag 2007 vor der Nr. 30A einfindet und auf dem Gehweg einen Schritt zurücktritt, um den Blick zur Fassade hochzuheben – das ist ein wichtiger Moment. Was dort steht, in dieser Straße des unteren Saint-Gilles-Viertels von Brüssel, einer beliebigen, belanglosen, wie ein alter Wollstrumpf geflickten Straße, das ist ein Haus wie aus dem Märchen: rot, ehrwürdig, zugleich unwirklich und verschlossen. Und es ist, denkt Paula, der der Nacken wehtut, weil sie den Kopf nach hinten biegt, es ist auch schon ein Haus wie aus der Malerei, ein Haus, dessen Fassade dem Gemälde eines flämischen Meisters entnommen zu sein scheint: bürgerlicher Backstein, Stufengiebel, reiche schmiedeeiserne Verzierungen an den Fenstern, monumentale Tür, vergittertes Guckloch und dann noch die Glyzinie, die das Gebäude wie ein Hüftschmuck gürtet. Genau so, als träte sie in ein Märchen ein, genau so, als wäre sie selbst eine Märchenfigur, zieht Paula am Türöffner, die Glocke gibt ein brüchiges Klingeln von sich, die Tür geht auf, und Paula betritt das Institut; sie verschwindet im Dekor.

Paula ist zwanzig, sie trägt eine dunkelrote Adidas-Sporttasche über der Schulter, eine Zeichenmappe unterm Arm und hat eine Sonnenbrille auf, hinter der sie ihr Schielen versteckt, so dass die Eingangshalle, in der sie sich jetzt befindet, durch die rauchfarbenen Gläser noch dunkler wirkt, dunkler aber fabelhaft, stark, unsituierbar. Es riecht nach Kirche und frischer Farbe. Die staubgesättigte Luft ist stellenweise dick wie Nebel, schwül wie Weihrauch, und die kleinste Bewegung, der kleinste Atemzug erzeugt Millionen mikroskopischer Wirbel. Sie unterscheidet zu ihrer Linken eine Tür, eine Treppe, hinten rechts geht ein Flur ab. Sie beginnt zu warten.

Sie hat ihre Sachen vor sich abgestellt und lässt den Blick durch den Raum schweifen, über den Boden, die Decke, die Wände. Sie fragt sich, wohin sie geraten ist: ringsum erkennt sie, und umso deutlicher, je mehr die Sekunden vergehen und ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen, große Marmorflächen und Holzpaneele, kannelierte Säulen, Kapitelle mit Akanthusblättern, ein Fenster, geöffnet auf die Zweige eines blühenden Kirschbaums, eine Meise, einen zarten Himmel. Plötzlich steigt Paula über ihre Tasche, geht langsam auf die Marmorplatten zu – violette Breccie, erfährt sie später –, legt ihre Hand flach auf die Wand, doch statt der Kälte des Steins spürt sie die Körnung der Farbe. Sie tritt noch näher, schaut: es ist wirklich ein Bild. Erstaunt wendet sie sich den Holztafeln zu und beginnt von vorn, tritt zurück und dann näher heran, berührt die Tafeln, als ließe sie spielerisch die anfängliche Illusion verschwinden und zurückkehren, geht weiter an der Wand entlang, zunehmend verwirrt, vorbei an Steinsäulen, skulptierten Bögen, Kapitellen, Gesimsen und Stuck, erreicht das offene Fenster, bereit, sich hinauszulehnen, überzeugt, dass sich dort, gleich dahinter, eine andere Welt befindet, in Reichweite, aber überall ertastet sie Malerei. Und doch bleibt sie bei der Meise auf ihrem Zweig stehen, streckt den Arm in die rosa Morgendämmerung, öffnet die Hand, um mit den Fingern ins Gefieder des Vogels zu langen, und horcht ins Laub.

Die Uhrzeit des Vorstellungstermins, die sie auf ihrem Handy überprüft, erscheint ihr plötzlich so kryptisch wie der Geheimcode eines Safes, vier einzelne, unerforschliche, von der irdischen Zeitlichkeit losgelöste Zahlen. Paula wird leicht schwindelig vor lauter Hinschauen, ihr dreht sich der Kopf, Innen und Außen vermischen sich, sie weiß nicht mehr, wo sie die Gegenwart packen soll. Doch zur vereinbarten Zeit geht die Tür auf, und Paula betritt einen großen, von einer durch Bleiglasfenster gefilterten Helligkeit durchfluteten Raum.

Hinter einem Schreibtisch sitzt eine Frau. Paula kann sie nicht gleich von der Umgebung trennen, so sehr scheint sie mit ihr verwachsen, hineinzugehören, eingepasst in die Räumlichkeiten wie das letzte Teil eines Puzzles. Sie beugt sich über ein Heft und blättert langsam die Seiten um, dann hebt sie den Kopf, und mit der Sicherheit des Trapezkünstlers, der am Ende einer Figur wieder auf dem Holm steht, nimmt sie das junge Mädchen in den Blick. Jetzt kann man sie gut sehen, vollständig das Gesicht wahrnehmen, das so neutral ist wie eine Maske, die Haltung, an der nichts forciert ist, nichts wankt, die Ökonomie und die Strenge, die von diesem Körper ausgehen, vor dem Paula sich sofort tollpatschig und schmuddelig fühlt. Der Kittel der Frau sitzt wie angegossen, als wäre er ihr auf den Leib geschneidert, und ihr schwarzer Rollkragen, zugleich Etui und Sockel, bringt ihren Kopf zur Geltung wie ein Massai-Halsschmuck, betont die Blässe ihrer Haut, die Umrisse des Kiefers, das starke Kinn. Obwohl sie weniger als einen Meter von Paula entfernt ist, scheint ihre Stimme von weit her zu kommen, aus dem Inneren der Mauern, und ein Echo zu erzeugen, als sie ohne Umschweife beginnt: Fräulein Karst, wer Dekorationsmaler werden will, muss seinen Beobachtungssinn trainieren und seine Gesten konstrollieren, anders gesagt, das Auge – in diesem Moment erinnert sich Paula, dass sie allzu lang gezögert hat, ihre Brille abzunehmen – und die Hand, die Frau spreizt zur Verdeutlichung die Finger. Schweigen. Die Luft ist trocken, metallisch, bewegt, als wäre der Raum mit dem Lappen abgerieben worden und hätte sich elektrostatisch aufgeladen. Paula rührt sich nicht auf ihrem Stuhl, gerader Rücken, der Hals gespannt. Vielleicht ist es schon vorbei, denkt sie, vielleicht ist schon alles gesagt und es gibt nichts hinzuzufügen, das Auge und die Hand, das ist es, gut, ich habe verstanden, ich stehe auf und gehe. Aber die Frau fährt mit ihrer tiefen Stimme fort – eine bronzene, geschmeidige Stimme, die in der Brust und nicht in der Kehle zu entstehen scheint –: Das Trompe-l'œil ist eine Begegnung von Malerei und Blick, es ist für einen festgelegten Standort konzipiert und bestimmt durch die Wirkung, die es erzielen soll. Den Schülern des Instituts stehen für die Arbeit Archivmaterialien und Muster aus der Natur zur Verfügung, im Wesentlichen stützt sich die Ausbildung aber auf die Demonstration im Atelier: lernen an Beispielen – sie spricht so diszipliniert, langsam, besonnen, jeder Satz ist so klar gewichtet, jeder Tonfall so überlegt, dass Paula unsicher wird, so als wäre die Szene surreal, als hätte sie eine Theaterbühne betreten, um sich dort auf den Platz zu begeben, der auf sie wartete, um ihre Rolle zu übernehmen. Und weiter: Wir lehren hier die traditionellen Maltechniken, Ölfarbe, Wasserfarbe, und unsere Methode besteht – an dieser Stelle dehnt die Frau ihre Rede, hält sie in der Schwebe, um sie nach einer Weile schroff fortzusetzen – in einem intensiven praktischen Training: Die Teilnahme am Unterricht ist Pflicht, fernzubleiben bedeutet, die Schule zu verlassen, und jede Arbeit muss fristgerecht abgeliefert werden. Eine schwarze Strähne, die sich aus einem lockeren Knoten gelöst hat, hängt ihr jetzt ins Gesicht: Der Ruf dieser Einrichtung gründet auf der Holz- und Marmormalerei; wir dringen hier in die Materie der Natur selbst ein, wir erforschen ihre Form, um ihre Struktur zu erfassen. Wälder, Unterholz, Boden, Verwerfungen, Höhlen, es geht da um eine geduldige Arbeit der Aneignung – sprachlos konzentriert Paula sich auf die Bewegung der gestikulierenden Hände, sie hält sich daran fest, denn alles überfordert sie hier. Fragen? Der Schreibtisch, der sie trennt, ist von Papieren übersät, in von Pigmentstaub bedeckten Bündeln breitet sich da die Verwaltung des Instituts aus. Zwischen zerknitterten Rechnungen und Einladungskarten bemerkt Paula auf der Rückseite eines Kraftpapierumschlags die Skizze eines gut verschraubten Skaphanders, sie stammelt eine unhörbare Silbe und will ihre Zeichenmappe öffnen, als die Frau ihr Einhalt gebietet: lassen Sie die zu – beredte Geste mit der flachen Hand. Rosafarbene und goldene Strahlen, die durch die Bleiglasfenster brechen, schneiden durchscheinende Diagonalen in den Raum, werfen schimmerndes Licht auf die Eichenpaneele – Meisterwerke der Trompe-l'œil-Technik – den alten Teppich, Paulas Haar, das die Farbe wechselt, ihr Gesicht, dem die Verwunderung jetzt eine ganz andere Schattierung gibt.

Nun zum Programm – die Stimme wird etwas lauter, die Augen glänzen, anilinschwarz, wie Lack. Die Ausbildungszeit dauert von Oktober bis März, sechs Monate, die für Maler als Nebensaison gelten. Als Erstes malen wir Hölzer. Eiche, was keineswegs das Leichteste ist, aber auch Ulme beispielsweise oder Esche, Makassar-Ebenholz, Kongo-Mahagoni, Pappel, Birnbaum, Maserholz, alles, von dem ich finden werde, dass man es malen können sollte. Mitte November machen wir uns an den Marmor. Carrara, Grand antique, Labrador, Henriette blonde, Fleur de pêcher oder Griotte d'Italie, und auch da treffe ich zu gegebener Zeit eine Auswahl – die Aufzählung dieser Namen ist viel mehr als ein Katalog, es macht der Frau sichtlich Spaß, sie auszusprechen, und ihre Stimme wiegt sich im Raum wie ein schamanischer Gesang, von dem Paula nichts als den Rhythmus aufnimmt. Mitte Januar sind die Halbedelsteine an der Reihe, Lapislazuli und Citrin, Topaz, Jade, Amethyst und Bergkristall, im Februar Zeichnen, Perspektive, dann Gesimse und Friese, Stuckdecken und Patina, im März Gold- und Silberauflagen, Schablonen, Schriftgestaltung und schließlich das Diplom. All das ziemlich dicht, ziemlich kompakt. Während des Redens ist sie langsam um den Schreibtisch herum zur Tür gegangen, hat eine Hand auf die Klinke gelegt und der verwirrten Paula damit zu verstehen gegeben, dass das Gespräch zu Ende ist, mit der anderen Hand reicht sie ihr die Liste des erforderlichen Materials. Denken Sie daran, sich einen Kittel zu besorgen. Als sie zum Schreibtisch zurückkehrt, besinnt sie sich und macht noch einmal kehrt: noch etwas, am Anfang kann das Terpentin Schwindel und Brechreiz auslösen, umso mehr, als wir hier im Stehen arbeiten, Sie werden sehen, es ist alles recht körperlich.

Draußen auf dem Gehweg blinzelt Paula, geblendet vom blassen Septemberhimmel, und sie schwankt wie dann, wenn sie aus dem Kino kommt und wieder im echten Leben landet. Die Szene, die gerade stattgefunden hat – der Hausflur, das Warten, das Gespräch – geht weiter und verändert sich, während sie jetzt, den Klang der wunderbaren Namen im Ohr, die Rue du Métal hinuntergeht. Es gibt mehr auf dieser Welt, denkt sie, mehr Arten, sie zu sehen und von ihr zu erzählen. Ihre Schritte werden länger, der Gehweg unter ihren Füßen scheint zu rollen und sie davonzutragen wie ein Fahrsteig im Flughafen. Sie läuft zu den braun werdenden Bäumen da unten auf dem Platz, und im selben Augenblick stürzt in ihrem Rücken ein Krähenschwarm von oben her in die Straße. Paula dreht sich um, von dem Geräusch gewarnt. Die Vögel fliegen in ihre Richtung, vielleicht ein Dutzend, und manche haben fast einen Meter Spannweite, die Straße hallt wider von ihrem Gekrächz, es ist ein wilder, unerklärlicher Flug, nur ein in den besten Tempeln der Antike ausgebildeter Haruspex könnte eine Offenbarung der Götter darin sehen, ein Omen daraus lesen. Der Schwarm kommt näher, breitet sich zwischen den Fassaden der Straße aus, die jetzt eine riesige Voliere geworden ist, und Paula duckt sich instinktiv zwischen zwei Autos, zieht die Schultern hoch und hält sich mit gespreizten Fingern die Hände über den Kopf, denn die Krähen, glaubt sie, werden mit ihrem Schnabel, mit ihren Krallen – glänzend wie Orangenschale und hart wie Holz – nach ihr hacken. Sie spürt den Flug über ihrem Kopf, den Luftzug, wartet und richtet sich langsam wieder auf, als sie einen kleinen Schlag auf den Hinterkopf bekommt, einen Klaps, einen Stups, sie taumelt vorwärts, lehnt sich an eine Karosserie, schaut sich um, aber nichts, es ist vorbei, die Vögel sind verschwunden, die Stille ist zurückgekehrt und der Himmel über der Rue du Métal ist leer.