Die Lebkuchen-Prinzessin - Romy Herold - E-Book

Die Lebkuchen-Prinzessin E-Book

Romy Herold

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Beschreibung

Entgegen sämtlicher Widerstände ihrer Zeit nimmt eine junge Lebkuchenbäckerin ihr Schicksal selbst in die Hand …

1864: Die Süße von Honig vereint mit dem würzigen Aroma des Orients – Lebkuchen haben auf die achtzehnjährige Elise schon immer einen besonderen Zauber ausgeübt. Als Tochter eines Nürnberger Lebküchners möchte sie unbedingt einmal die familieneigene Großbäckerei übernehmen und dort herrliche Lebkuchen-Kreationen herstellen. Doch dann droht Elises Traum zu zerplatzen: Ihr geliebter Vater verunglückt. Ihre Mutter wiederum ist überfordert mit der Leitung der Fabrik und flüchtet sich in die Arme eines Mannes, der das Unternehmen zu ruinieren droht. Elise sammelt all ihren Mut, um für das Erbe des Vaters und ihren Lebenstraum zu kämpfen. Dabei findet sie nicht nur zu ungeahnter Kraft und Kreativität, sondern erhält auch die Hilfe eines charmanten Mannes …

Weitere historische Romane von Romy Herold:
Das Marzipan-Schlösschen

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Seitenzahl: 619

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Buch

1864: Die Süße von Honig vereint mit dem würzigen Aroma des Orients – Lebkuchen haben auf die achtzehnjährige Elise schon immer einen besonderen Zauber ausgeübt. Als Tochter eines Nürnberger Lebküchners möchte sie unbedingt einmal die familieneigene Großbäckerei übernehmen und dort herrliche Lebkuchen-Kreationen herstellen. Doch dann droht Elises Traum zu zerplatzen: Ihr geliebter Vater verunglückt. Ihre Mutter wiederum ist überfordert mit der Leitung der Fabrik und flüchtet sich in die Arme eines Mannes, der das Unternehmen zu ruinieren droht. Elise sammelt all ihren Mut, um für das Erbe des Vaters und ihren Lebenstraum zu kämpfen. Dabei findet sie nicht nur zu ungeahnter Kraft und Kreativität, sondern erhält auch die Hilfe eines charmanten Mannes …

Autorin

Romy Herold ist das Pseudonym der Autoren Eva-Maria Bast und Jørn Precht.

Eva-Maria Bast ist Journalistin, Autorin mehrerer Sachbücher, Krimis und zeitgeschichtlicher Romane. Für ihre Arbeiten erhielt sie diverse Auszeichnungen, darunter den Deutschen Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Jørn Precht ist Professor für Storytelling an der Stuttgarter Hochschule der Medien sowie mehrfach preisgekrönter Drehbuchautor für Kino- und Fernsehproduktionen. Er hat zahlreiche Sachbücher und historische Romane verfasst, sein Erstling »Das Geheimnis des Dr. Alzheimer« wurde mit dem Literaturpreis HOMER prämiert.

Als Duo schreiben Eva-Maria Bast und Jørn Precht seit einigen Jahren sehr erfolgreich historische Familiensagas und eroberten mehrfach die SPIEGEL-Bestsellerliste.

Von Romy Herold bereits erschienen

Das Marzipan-Schlösschen

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Romy Herold

DIELEBKUCHENPRINZESSIN

ROMAN

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Copyright © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (Maria Vonotna, borisb17, rh2010, Andrey Volokhatiuk, Britta und Ralph Hoppe, Thiemo Wenkemann, ArtCookStudio) und Shutterstock.com (REDPIXEL.PL, Guschenkova) und Richard Jenkins Photography

DK · Herstellung: sam

Satz:Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-6412-8013-0V002

www.blanvalet.de

Für Julius und Nadja

Vater und Tochter

»Ich muss nicht da sein,

um da zu sein.«

Teil 11864

1

Der Geschmack von Honiglebkuchen und der Geruch von Schnee – diese Mischung war für Elise Lusin seit Kindertagen der Inbegriff der Winterzeit. Auch am heutigen Januarnachmittag, an dem die Achtzehnjährige zum Wöhrder See gekommen war, um über die glitzernde Eisfläche zu gleiten, hatte sie zur Stärkung ein Stück Lebkuchen dabei.

Lächelnd zog sie das Gebäck hervor und betrachtete das Motiv, das darauf zu sehen war: Wilhelm Lusin hatte ihr natürlich einen Eisläufer-Lebkuchen mitgegeben; die Prägung entstammte einer Stanzform, einem sogenannten Model, das er eigens für seine eislaufbegeisterte Tochter geschnitzt hatte. Hungrig biss sie hinein und genoss den vertrauten Geschmack auf ihrer Zunge. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass dieses Gebäck im Vergleich mit dem Biskuit, den sie gestern heimlich bei der Konditorei Beer in der Breiten Gasse gekauft hatte, etwas hart und zäh schmeckte. Der Biskuit war so herrlich luftig gewesen! Sie hoffte nur, dass sie niemand bei ihrem Kauf gesehen hatte, sie konnte sich die Reaktion ihres Vaters schon ausmalen. Wie die meisten Lebküchner war Wilhelm Lusin nicht gut auf die Zuckerbäcker, die ihnen schwere Konkurrenz machten, zu sprechen. Aus Erzählungen wusste sie, dass es um den richtigen Lebkuchenteig – und vor allem um die Frage, wer ihn backen durfte – in Nürnberg einst eine regelrechte Fehde zwischen den Lebküchnern und Zuckerbäckern gegeben hatte, den sogenannten Nürnberger Lebkuchenkrieg, in dem auch ihr Großvater für die Rechte der Lebküchner eingetreten war. Ihr Vater zählte sich zur Zunft der echten Lebküchner, die nach einer im 15. Jahrhundert erlassenen Zunftordnung Lebkuchen, Met, Kerzen und Wachsbilder herstellten. Und wie Wilhelm nicht müde wurde zu erzählen, hatte sein Vater als Lebzelter und Wachszieher noch ein gutes Leben gehabt. Denn bis vor einigen Jahren hatte es noch nicht so viel Naschwerk gegeben wie heutzutage, Lebkuchen waren die Süßigkeit des einfachen Volkes gewesen und die Lebküchner damit außer Konkurrenz. Der Kerzenverkauf tat ein Übriges. Licht brauchte schließlich jeder.

Doch dann hatte der Zucker seinen Siegeszug angetreten und den Honig immer mehr verdrängt. Und damit hatte der Untergang der klassischen Lebküchner begonnen, denen die Zuckerbäcker nun das Leben schwer machten.

Elise nahm noch einen Bissen von ihrem Lebkuchen und packte ihn dann entschlossen in ihre Tasche. Sie wollte sich den schönen Tag wirklich nicht mit trüben Gedanken verderben! Zu verlockend sah der zugefrorene See aus, obendrein hatte es zu schneien begonnen. Sie wollte jetzt endlich aufs Eis! Elise ließ sich auf einem Baumstumpf am Rande des Sees nieder und schnallte ihre Schlittschuhe an. Dann stapfte sie durch die Schneedecke die letzten Meter bis zum See – und stand endlich auf dem Eis. Wie herrlich es sich unter den Kufen anfühlte! Elise fuhr ein Stück weiter hinaus, schneller und immer schneller, legte den Kopf in den Nacken und genoss das Gefühl ihres dahingleitenden Körpers und der Schneeflocken auf ihrem Gesicht.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie in der Nähe eine junge, elegante Frau in ihrem Alter, die sich besonders grazil auf dem Eis bewegte. Elise erkannte sie sofort: Das war Helene von Tucher aus der berühmten Brauerei-Dynastie. Die Familie besaß hier in Nürnberg sogar ein Schloss. Die beiden jungen Frauen waren einander schon einige Male begegnet – oder besser: Elise hatte die andere dann und wann gesehen, bezweifelte aber, dass Helene sie bemerkt hatte, geschweige denn etwas von ihrer Existenz wusste. Insgeheim bewunderte sie die Tuchertochter, die immer so elegant aussah und obendrein mit ihrem blonden Haar und den strahlend grünen Augen eine Schönheit war.

In diesem Moment ertönte aus der Richtung, in der Helene glitt, ein bedrohliches Knacken, gefolgt von dem eigentümlich hallenden Klopfgeräusch, das ertönte, wenn Eis zu brechen drohte. Und dann ging alles ganz schnell: Helene von Tucher gab einen erschrockenen Schrei von sich, da brach sie auch schon ein. Sofort versank die junge Frau in dem entstandenen Eisloch. Die anderen Schlittschuhläufer standen nur wie erstarrt da, machten erschrockene Gesichter oder schrien herum.

»Warum hilft ihr denn keiner?«, rief Elise und fuhr, so schnell sie nur konnte, zum Eisloch. »Halten Sie meine Füße fest!«, rief sie einem tatenlos dastehenden Herrn zu, während sie sich flach auf das Eis legte.

Der Mann erwachte aus seiner Erstarrung und schnappte sich ihr linkes Bein, während ein zweiter hinzukam und sich ihr rechtes griff. Dann legten sich die beiden Männer ebenfalls aufs Eis und schoben Elise näher an das Loch heran, zögerten dann aber.

»Na, machen Sie schon! Weiter! Ich versuche, sie rauszuziehen«, schrie sie und holte einmal tief Luft, bevor die Männer sie weiterschoben, sodass sie mit dem Oberkörper untertauchte. Das eisige Wasser stach wie tausend Nadeln, die Luft blieb ihr weg, doch zu ihrer unfassbaren Erleichterung war Helene nicht unter die Eisdecke abgetrieben. Sie bekam ein Stück Stoff zu fassen, dann eine Hand. Mein Gott, war das kalt! Doch sie durfte nicht aufgeben! Lang würde sie da unten nicht überleben! Wenn die Männer sie doch nur zurückziehen würden! Sie wackelte ein wenig mit den Beinen, um ihnen ein Signal zu geben. Zum Glück schienen die beiden zu verstehen und zogen sie mit aller Kraft nach hinten. Elise hielt die Hand der Tucher-Erbin fest umklammert und schnappte nach Luft. Wie durch einen Nebel nahm sie wahr, dass helfende Hände nach Helene griffen und sie ganz aus dem Loch zogen. Mit ihren schweren, eisigen Kleidern am Leib lag Elise keuchend auf der Eisfläche.

»Atmet sie?«, rief Elise in Richtung der Menschen, die sich um Helene kümmerten.

»Ja«, rief eine Frau zu ihrer Erleichterung. »Sie hat die Augen wieder geöffnet.«

Sie ließ sich aufhelfen, wobei sie zitterte und ihre Zähne wie noch nie zuvor in ihrem Leben klapperten. Die eiskalte Kleidung raubte ihr fast die Sinne. Und dann wurde es schwarz um sie.

***

Wie von fern drangen die besorgten Stimmen in Elises Bewusstsein. Sie spürte eine kühle Hand auf ihrer Stirn. Jemand wickelte feuchte Tücher um ihre Waden. »Wenn das Fieber nicht innerhalb der nächsten Stunde sinkt, müssen wir nach einem Arzt schicken«, hörte sie ihre Mutter sagen.

»Was soll der denn noch sagen oder tun?«, erklang nun die verzweifelte Stimme ihres Vaters. »Er hat doch schon die verschiedensten Tinkturen und Säfte verordnet. Aber es hilft alles nichts.«

Die Stimme des Vaters wurde leiser, driftete immer weiter fort. Elise fühlte sich wieder, als drehe sie ihre verträumten Runden auf dem gefrorenen See. In diesem Moment begann es zu schneien, lauter kleine weiße Sterne fielen sanft vom Himmel, küssten ihr Gesicht und liefen an ihr herab. Aber die Flocken waren kalt, so eisig kalt. Die Kälte vertrieb den wunderbaren Zauber. Elises Körper zitterte und bebte. Und da war sie wieder, die besorgte Stimme ihrer Mutter, panisch nun.

»Sie hat Schüttelfrost. Wilhelm, du musst etwas tun!«

Elise spürte, dass ihr eine weitere Decke über die Beine gelegt wurde.

Dann wieder die Stimme ihres Vaters. »Ich habe eine Idee«, murmelte er. »Ich bin bald wieder zurück.«

»Wo willst du denn jetzt hin?«, rief Margarethe Lusin entsetzt.

»In die Backstube hinunter.«

»Aber du kannst doch jetzt nicht ans Backen denken!«, widersprach seine Frau.

»Es ist für Elise«, erwiderte er. »Vertrau mir. Ich mache, so schnell ich kann. Du musst dafür sorgen, dass das Fieber nicht weiter steigt.«

Draußen tanzten die Schneeflocken. Wilhelm, der den Schnee und die kalte Jahreszeit sonst so liebte – schließlich waren das die Monate, in denen sich seine Lebkuchen am besten verkauften –, verzog das Gesicht, als er auf dem Weg in seine Backstube durch das Fenster auf dem Treppenabsatz nach draußen sah. Er wusste, dass der so schön und so märchenhaft aussehende Schnee mit eisiger Kälte einherging. Einer Kälte, die seiner kleinen Elise derart schwer zugesetzt hatte, dass sie sich jetzt in einem beängstigenden Zustand befand. Seine tapfere Lebensretterin, die ohne Zögern, unter Einsatz des eigenen Lebens, die Tucher-Erbin gerettet hatte.

Besorgte Zeugen hatten die völlig ausgekühlte Elise, in Decken gehüllt, nach Hause gebracht und atemlos Bericht erstattet. Margarethe hatte sie sofort ins Bett gepackt, mitsamt Wärmflaschen und bergeweise Decken. Doch Elise war einfach nicht wieder warm geworden.

Am nächsten Morgen hatte sie über schreckliche Halsschmerzen geklagt, am Abend keinen Appetit gehabt und in der Nacht hohes Fieber bekommen, das seit drei Tagen nicht mehr sinken wollte. Die Ärzte waren ratlos und Wilhelm noch nie in seinem Leben so verzweifelt gewesen. Was er nun versuchen wollte, war ein letzter Strohhalm, nach dem er verzweifelt griff. Einen ganz speziellen Lebkuchen wollte er ihr backen. Einen, der nicht dem Genuss, sondern der Gesundheit diente. Mit ganz wenig Mehl und mit besonders vielen Gewürzen. Schließlich war die heilende Wirkung dieses Gebäcks von alters her bekannt. Schon in den Klöstern, in denen sie einst hergestellt wurden, hatte man die Lebkuchen zu medizinischen Zwecken eingesetzt, wusste man doch um die schmerzstillende Wirkung der Nelke und dass Zimt Appetit und Kreislauf anregte.

Inzwischen hatte Wilhelm den hinteren Teil des Erdgeschosses erreicht, in dem sich die Backstube befand. Zunächst feuerte er den Ofen an, dann ging er in die Gewürzkammer und holte eilig Nelken, Zimt, Muskat, Kardamom und Piment aus den dafür vorgesehenen Gefäßen. Sogleich erfüllte ein herrlicher Duft den Raum, doch dafür hatte Wilhelm nun nichts übrig. Hastig machte er sich daran, die Gewürze in der dafür vorgesehenen Schüssel zusammenzustellen. Dann ging er nach nebenan in seine Backstube.

Dort wog er zunächst den Zucker ab, fügte die Eier und etwas Vanille hinzu und begann die Masse so lange schaumig aufzuschlagen, bis sich der Zucker vollständig aufgelöst hatte. Vorsichtig hob er anschließend die gemahlenen Mandeln, etwas Orangeat und Zitronat unter sowie die Gewürzmischung, die er noch mit Zitronen- und Orangenschale verfeinert hatte. Da er dem Teig keinen Tag Ruhe an einem kühlen Ort gönnen konnte, gab er zum Schluss noch etwas Backtriebmittel bei.

Ungeduldig und mit den Gedanken bei Elise, begann Wilhelm aus dem Teig kleine Kugeln zu formen, die er anschließend flachdrückte und jeweils mittig auf eine Oblate setzte. Ohne dem Gebäck die übliche Ruhezeit zu geben, schob er es in den vorgeheizten Ofen und wartete dann unruhig, bis der vertraute Duft durch die Backstube zog.

Wie immer benötigte Wilhelm Lusin auch dieses Mal keine Uhr, um zu wissen, wann die Lebkuchen fertig waren. Er erkannte es an dem Geruch. Sobald er eine bestimmte Note angenommen hatte und durch die Backstube zog, waren die Lebkuchen so weit. In diesem Moment begannen sie sich an der Unterseite leicht braun zu verfärben und mussten sofort aus dem Ofen.

Mit einem Heber holte er die duftenden braunen Kuchen vom Blech, legte sie in den Korb, den er bereitgestellt hatte, löschte das Feuer im Ofen und eilte durch das Treppenhaus wieder hinauf ins Obergeschoss, wo sich die Wohnung der Lusins befand.

***

Die klirrende Kälte wollte nicht enden. Um sie herum war alles weiß und Elise ging mutterseelenallein durch eine weite Schneelandschaft. Da war niemand, der ihr in dieser ihrer eisigen Einsamkeit helfen konnte. Niemand, der sie schützte. Niemand, der sie wärmte. »Mama!«, rief sie verzweifelt. »Papa!«

»Wir sind hier, Liebes!«, hörte sie eine vertraute Stimme an ihrem Ohr. »Wir sind bei dir und wir haben etwas, das dich gesund machen wird.«

Der herrliche Duft von Gewürzen kroch in ihr Bewusstsein. »Zimt«, murmelte sie. »Nelken. Und Muskat.«

»Ihr Geruchssinn ist noch da«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. »Das ist ein gutes Zeichen.«

»Ja«, freute sich Wilhelm. »Ja, das ist es.«

Im nächsten Moment spürte Elise etwas Warmes an ihren Lippen.

»Versuch, etwas zu essen, mein Kind«, riet ihr Vater mit liebevoller Stimme. »Das wird dir guttun.«

»Und wenn sie sich verschluckt?«, fragte ihre Mutter besorgt, doch der Vater presste ihr nur weiter das Gebäck gegen die verschlossenen Lippen. »Das wird nicht passieren«, sagte er. »Ich weiß, dass es ihr hilft, gesund zu werden.«

Sie öffnete den Mund, und warmer, weicher Lebkuchen schob sich auf ihre Zunge.

Himmlisch! Die Wärme des ofenfrischen Gebäcks schien Elises ganzen Körper zu durchströmen und die eisigen Kristalle fortzuschmelzen. Und im Gegensatz zu den anderen Lebkuchen war er diesmal auch gar nicht hart und zäh! Die Gewürze belebten ihren Gaumen, sie kaute, schluckte und öffnete den Mund, in den ihr Vater ihr sogleich einen weiteren Bissen schob. Sie genoss das Gefühl, wie sie sich langsam, buchstäblich Stückchen für Stückchen, immer besser fühlte.

»Siehst du«, sagte Wilhelm Lusin zufrieden, »ich habe es ja gewusst. Meine Lebkuchen machen sie wieder gesund.«

Elise öffnete die Augen und lächelte. »Gut«, sagte sie. »Mehr.«

»Liebes!«, rief Margarethe und brach in Tränen der Erleichterung aus. »Ich bin so froh, dass es dir wieder besser geht.«

Elise lächelte ihre Eltern glücklich an. »Das sind die köstlichsten Lebkuchen, die du je gemacht hast«, wisperte sie schwach.

Ihr Vater drückte gerührt ihre Hand. »Dann backen wir die jetzt immer«, entschied er. »Und wir benennen sie nach dir. Elisenlebkuchen.«

2

Agathe sah aus dem Fenster in das dichte Schneetreiben hinaus auf den Mann, der da gerade in gebückter Haltung aus dem Wald kam und auf ihr Haus zustapfte, das auf einer kleinen Lichtung stand.

Die Sorgen drücken ihn regelrecht nieder, dachte die junge Frau: Je mehr die Sorgen wuchsen, desto kleiner wurde ihr Vater. Und Sorgen hatte er die ganzen letzten Monate gehabt. Schuld war der zurückliegende Sommer, der eigentlich keiner gewesen war, viel zu kalt und nass hatten sich die meisten Tage im Juni und Juli gezeigt. Schon früher im Jahr hatte ihr Vater um seine Bienenvölker gebangt, aber mit jedem Schlechtwettertag war die Lage schwieriger geworden.

Agathe, die gerade im Begriff gewesen war, den Abwasch für die sechsköpfige Familie zu erledigen, die aus ihr selbst, ihren Eltern und ihren drei jüngeren Geschwistern bestand, legte das Geschirrtuch beiseite und ging in den Flur, um dem Vater die Haustür zu öffnen. Ein Schwall kalter Winterluft wehte mit einigen Schneeflocken herein. Ihre hellbraunen Locken lösten sich und fielen ihr ins Gesicht. Die Sechzehnjährige schloss für einen Moment die Augen. Sie liebte diese klare, frische Luft, und für einen Augenblick vergaß sie sogar die Sorgen, die sie sich angesichts der finsteren Miene ihres Vaters machte.

Josef Welser trat sich mit einem kräftigen Stampfen auf der Fußmatte, die vor der Tür bereitlag, den Schnee von den Stiefeln und schob sich dann an seiner Tochter vorbei ins Haus. Agathe sah ihn irritiert an. Er hatte ihr keinen Blick gegönnt – und das, obwohl er ihr sonst stets ein Lächeln oder ein liebes Wort schenkte, wie vertrackt die Lage auch immer sein mochte.

Sie folgte ihm in die Küche, wo ihre Mutter Ilse mit ihren jüngeren Geschwistern am Tisch saß, Kleider ausbesserte und gleichzeitig versuchte, den Kindern je nach Alter Unterricht zu geben. Agathe als Älteste war die Einzige, die in die Schule gehen durfte, und sie war ihren Eltern unendlich dankbar, dass sie ihr diese Möglichkeit gaben. Für einen Schulbesuch der Jüngeren reichte das Geld nicht, und Ilse Welser tat ihr Bestes, den Kleineren Wissen zu vermitteln. Auch Agathe teilte gern bereitwillig, was sie in der Präparandenanstalt lernte, einer speziellen Schule zur Vorbereitung auf das Lehrerinnenseminar, die etwa einen halbstündigen Marsch durch den Wald entfernt lag. Ohnehin plagte sie wegen ihrer Bevorzugung das schlechte Gewissen. Andererseits, sagte sie sich, hatte sie als Älteste auch viel mehr Pflichten als die Kleinen. Schließlich unterstützte sie ihre Mutter fleißig im Haushalt, kümmerte sich um Geschirr und Wäsche und putzte das Haus.

Der Vater hatte seine beiden Söhne, den fünfjährigen Karl und den siebenjährigen Hannes, auf den Schoß genommen und flüsterte seiner neben ihm sitzenden Frau etwas zu. Ilse wurde blass und warf Agathe, die sich wieder um den Abwasch kümmerte, einen erschrockenen Blick zu, den diese sehr wohl bemerkte. Ihr wurde immer mulmiger zumute. Was in aller Welt war denn nur geschehen?

»Barbara«, hörte sie die Mutter zu ihrer Zweitältesten sagen. »Bitte geh mit deinen Brüdern hinauf in die Kinderstube und spiel ein wenig mit ihnen.«

»Aber«, setzte die Zwölfjährige missmutig an, doch der Vater fiel ihr ungewohnt scharf ins Wort: »Keine Widerworte!«

Das Mädchen zog den Kopf ein und stand auf.

»Kommt!«, sagte sie, offenbar den Tränen nah, zu ihren Brüdern. Agathes jüngere Schwester war sensibel und derart harsche Worte nicht gewohnt. Die Welsers besaßen zwar nicht viel, aber es reichte zum Leben, und sie waren glücklich miteinander. In der Familie wurde viel gelacht, die Eltern liebten die Kinder von ganzem Herzen, und sie genossen das Zusammensein. Die harten Worte des Vaters hatten offenbar auch Agathes Brüder eingeschüchtert, nun kletterten sie still von seinem Schoß, um der großen Schwester nach oben zu folgen. Dort befanden sich das Schlafzimmer der Eltern, die Kinderstube der Buben und die Kammer, die sich die beiden Schwestern teilten. Sie war winzig, es gab gerade genug Platz für zwei Betten und einen Schrank, aber Agathe liebte ihr kleines Reich, von wo aus sich ein herrlicher Blick in den Feuchter Wald bot.

Als die Tür sich hinter den Geschwistern geschlossen hatte, blickte ihr Vater endlich auf und direkt in ihr Gesicht. In seinen Augen lag so viel Kummer, dass es Agathe in den Magen fuhr.

»Kind«, sagte er ungewohnt leise, »bitte setz dich!«

Stumm legte die Erstgeborene ihr Geschirrtuch beiseite, zog den schlichten Holzstuhl zurück, der ihren Eltern gegenüberstand, und nahm an dem runden, alten, aber stets blitzsauberen Küchentisch Platz.

Ihr Vater räusperte sich und nestelte an dem rot-weiß karierten Deckchen, das in der Mitte des Tisches lag.

»Es ist so«, setzte er an, unterbrach sich dann aber wieder und starrte auf seine Hände.

Liebevoll legte Ilse ihm die ihre auf den Unterarm. »Lass mich das machen!«

Dankbar sah Josef Welser seine Frau an, und obwohl Agathes Angst immer mehr wuchs, so dachte sie in diesem Moment einmal mehr, wie froh sie doch darüber war, dass ihre Eltern so glücklich miteinander waren. Und dass sie hoffte, eines Tages eine ebenso glückliche Ehe führen zu dürfen. Agathe hatte gar keine hochtrabenden Erwartungen. Es musste kein Prinz auf einem weißen Ross sein. Ein einfacher Arbeiter, den sie liebte und dem sie vertrauen konnte. Ein rechtschaffener Mann, so wie Josef Welser einer war. Der Vater, der nun nicht imstande war, sie anzublicken, während ihre Mutter behutsam sagte: »Mein liebes Mädchen, wie du weißt, hatten wir in letzter Zeit schwer zu kämpfen.«

Agathe nickte und sah ihre Mutter fragend an.

»Solange wir denken können, haben wir noch nie so wenig Honig geerntet wie im zurückliegenden Jahr. Das bedeutet, dass all unsere Ersparnisse aufgebraucht sind. Und da der Winter sehr kalt ist, müssen wir den Bienen noch mehr Honig zufüttern als sonst. Es ist wie verhext. Und deshalb«, Ilse Welser schluckte, »deshalb bleibt uns keine andere Wahl, als dich aus der Schule zu nehmen.«

Nun hob ihr Vater den Blick, um ihr in die Augen zu sehen.

»Glaub mir, mein Kind, es tut mir unendlich weh, aber es geht nicht anders.«

Keine Schule mehr! Es traf sie wie ein Schlag. Alles in Agathe schrie danach, ihr Gesicht in den Händen zu vergraben und in Tränen auszubrechen. Oder fortzurennen. Ganz weit fort – weg von allen Problemen und weg von der Tatsache, dass der Schulbesuch ihr fortan verwehrt bliebe. Doch dort, ihr gegenüber, saß ihr Vater und sie wusste, dass der Umstand, dass er ihr ihren großen Traum nehmen musste, für ihn mindestens genauso schlimm war wie für sie selbst.

Reiß dich zusammen, befahl sie sich. Deine Eltern tun alles, um dir und deinen Geschwistern eine glückliche Kindheit zu schenken. Sogar den Besuch der Präparandenschule haben sie dir ermöglicht, obwohl das für ein Mädchen alles andere als üblich ist. Sie haben alles für dich gegeben. Du wirst es ihnen jetzt nicht noch schwerer machen.

Doch die Wut und die Enttäuschung waren einfach stärker. Sie kam nicht dagegen an. Ihre ganze Welt brach gerade zusammen, all ihre Zukunftsträume waren auf einmal nichts als ein Scherbenhaufen.

Sie schluchzte heftig auf, machte auf dem Absatz kehrt und rannte hinaus in den tiefen Wald, der ihre Heimat war. Und in dem sie immer Trost gefunden hatte.

***

»Die Erfindung der Elisenlebkuchen hat, wie es scheint, nicht nur dich, sondern auch unser Unternehmen gerettet«, sagte Wilhelm Lusin zu seiner Tochter. »Ab jetzt bist du offiziell meine kleine Lebkuchenprinzessin.«

Ihr Vater hatte ihr haarklein berichtet, wie er es damals angestellt hatte.

Die inzwischen wieder vollständig Genesene lächelte.

»Dann war es ja doch zu etwas gut, dass ich krank geworden bin«, sagte sie, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Ich bin sehr erleichtert. Und vor allem bin ich froh, dass Helene von Tucher ebenfalls wieder auf dem Weg der Besserung ist. Ich kann es kaum glauben, dass sie all das unbeschadet überstanden hat, sie war ja länger als ich in dem eisigen Wasser.«

»Ich bin auch sehr froh«, versicherte er. »Ich habe ihr als kleine Aufmunterung einen Korb mit den Lebkuchen schicken lassen, die auch dich gesund gemacht haben. Offenbar haben sie auch bei ihr gewirkt.« Er lächelte. »Die von Tuchers haben geschrieben. Sie verehren dich fast schon, und wenn Helene wieder ganz genesen ist, sollst du sie besuchen.«

Elise sah ihn erschrocken an. »Ich weiß doch gar nicht, wie ich mich in einem solch feinen Haushalt benehmen soll.«

»Das schaffst du schon«, sagte ihr Vater ermutigend. »Und in der Zwischenzeit backe ich Lebkuchen. Wenn ich auch gar nicht weiß, wo mir der Kopf steht vor lauter Arbeit. Hilf du deiner Mutter und Frau Gietz heute im Geschäft aus! Wenn der Ansturm so groß ist wie in den letzten Tagen, werden sie das niemals alleine bewerkstelligen können, ohne dass die Schlange bis zum Rathausplatz hinunter geht.«

»Wir schaffen das schon«, versicherte sie.

Der Vater lächelte. »Natürlich. Wenn du deine Mutter und Frau Gietz unterstützt, mache ich mir um das Geschäft keine Sorgen. Und für die Backstube werde ich mir zwei Gesellen holen. Denn der Erfolg scheint anzudauern.«

Elise nickte. Wie sehr sie sich für ihren Vater freute! Schließlich hatte Lebkuchen Lusin harte Jahre hinter sich. Besser gesagt: Eigentlich kannte Elise nur schwierige Zeiten. Seit sie denken konnte, hatte ihr Vater darüber geklagt, dass die Umsätze zurückgingen. Die Leute, erklärte er, wollten einfach keine Lebkuchen mehr essen. Elise hatte das nie verstehen können, denn für sie war das süße Gebäck das Beste, was man sich überhaupt vorstellen konnte. Es schmeckte nicht nur himmlisch, sondern rief in ihr auch stets das Gefühl der Heimeligkeit und der Geborgenheit hervor. Der Duft der Gewürze, der stets durchs Haus zog, wenn ihr Vater in seiner Backstube werkelte, war für sie, in Kombination mit dem Geruch von Bienenwachs, der Inbegriff von Liebe, Wärme und Zuhause. Seit sie allerdings heimlich den Biskuit gekostet hatte, konnte sie die neuen Vorlieben der Leute besser verstehen. Umso schöner, dass sich im Angebot ihres Vaters noch ein herrlich weicher Lebkuchen befand, der den Geschmack der Kundschaft offenbar genau zu treffen schien.

»Warum ist das eigentlich so, dass die Leute weniger Lebkuchen essen als früher? Also, ich weiß, dass es an den Zuckerbäckern liegt, aber wo kamen die plötzlich her?«, fragte sie nun und nahm sich noch eine Scheibe Brot, die die Mutter in einem Korb bereitgestellt hatte.

Wilhelm Lusin seufzte. »Eigentlich ist Napoleon daran schuld«, sagte er.

»Der französische Kaiser?«, fragte sie überrascht.

Sie blickte zu ihrer Mutter, die dem Gespräch bis dahin schweigend beigewohnt hatte; es war offensichtlich, dass Margarethe Lusin die Geschichte mit dem kleinen Franzosen bereits kannte.

»Im allerweitesten Sinn«, schränkte ihr Vater nun ein. »Während der Napoleonischen Kriege Anfang des Jahrhunderts wurden die französischen Handelswege blockiert. Das hatte zur Folge, dass es in Europa kaum noch Zuckerrohr gab. Napoleon hat es nicht gereicht, hier alles zu zerstören und die Menschen ins Elend zu stürzen, nein, er musste neben wer weiß wie vielen weiteren Unsäglichkeiten auch noch großflächig Zuckerrüben pflanzen lassen. Er sorgte dafür, dass in Frankreich, Österreich, Russland und Dänemark, aber auch hier bei uns mehr als vierzig Zuckerfabriken gebaut wurden.«

»Und deshalb gab es mehr Zucker?«, kombinierte Elise.

»Vor allem mehr billigen Zucker«, schnaubte ihr Vater. »Als die Kriege zu Ende waren, kam dann auch wieder Rohrzucker in die Regale. Aber der war natürlich viel teurer. Und bevor es billigen Zucker gab, waren die Honiglebkuchen eigentlich die einzige Süßigkeit, die sich die einfacheren Leute leisten konnten. Wir Lebzelter hatten damit sozusagen ein Monopol auf die Herstellung von Süßwaren. Und auf die Herstellung von Kerzen natürlich auch.«

»Und als der Zucker billig wurde, bekamen die Lebzelter Konkurrenz«, stellte Elise fest.

»Ganz genau«, brummelte ihr Vater. »Und es wurde immer schlimmer. Nun eröffneten viele Konditoreien und Zuckerbäckereien, die Konfekt, Gefrorenes und Kuchen anboten. Der Geschmack der Leute veränderte sich.«

»Wie schön, dass der neue Elisenlebkuchen dem Geschmack der Leute offenbar entspricht«, sagte Elise.

»Ja«, sagte Wilhelm. »Ich habe auch Backtriebmittel verwendet, wodurch sie viel weicher werden.«

Nachdenklich sah Elise ihren Vater an. »Warum versuchst du dann nicht, mehr Lebkuchen wie die Elisenlebkuchen zu backen? Nach der neuen Methode? Sie sind nämlich sehr lecker.«

»Ach«, sagte Wilhelm Lusin und klang mit einem Mal unheimlich traurig, »ich habe einfach das Gefühl, dass diese neuen Lebkuchen nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Und außerdem verkaufen sich unsere Elisenlebkuchen so gut, dass ich ohnehin für neue Erfindungen keine Zeit mehr habe.«

»Fragt sich nur, ob es am Geschmack liegt oder weil ganz Nürnberg weiß, dass unsere Tochter durch diesen Lebkuchen wieder gesund geworden ist, und nun mit dem Kauf der Elisen etwas für seine Gesundheit tun will«, meinte Margarethe Lusin.

»Vermutlich beides«, erwiderte Wilhelm und lächelte seine Frau liebevoll an. »Und obendrein noch die Tatsache, dass Elise die Tucherin gerettet und auch die für ihre Genesung meine Lebkuchen gegessen hat.«

3

So traurig Agathe auch darüber war, dass sie künftig die Schule nicht mehr besuchen konnte, so genoss sie doch die winterliche Fahrt mit dem Vater ins rund drei Stunden südwestlich gelegene Nürnberg sehr. Nachdem sie stundenlang durch den verschneiten Wald gelaufen war, hatte sie sich immer noch nicht wirklich beruhigt. Die Enttäuschung saß zu tief. Doch sie wusste, dass sie nichts an der Lage ändern, geschweige denn ihren Eltern Vorwürfe machen konnte. Deshalb hatte sie gern eingewilligt, als sie am Abend von ihrem Vater eingeladen worden war, ihn am nächsten Morgen nach Nürnberg zu begleiten. Da die Strecke vornehmlich durch dichtes Waldgebiet führte und es sich um einen ausgesprochen schneereichen Winter handelte, hatte Josef Welser statt der Kutsche den alten Schlitten angespannt. So saß sie nun, in dicke Decken gewickelt, neben ihm auf dem Kutschbock und fuhr durch einen weißen Märchenwald.

»Wie schön die Natur doch ist«, seufzte sie. »Wie reich sie einen beschenkt. Und diese Fahrt mit dir ist auch ein Geschenk. Danke, dass du mich mitnimmst.«

Er nickte. »Schon gut. Macht mir ja Freude.«

»So wirkst du aber nicht«, bemerkte Agathe, als sie eine Weile lang schweigend durch den Wald gefahren waren. »Du bist so furchtbar bedrückt.«

»Ja«, gestand Josef leise. »Ja, das bin ich.«

»Du sorgst dich, ob wir es schaffen werden?«

»Das werden wir, mein Kind«, sagte er. »So wahr ich dein Vater bin. Nein, zum einen gräme ich mich sehr, dass wir dir den Schulbesuch nicht länger ermöglichen können. Und gerade im Moment sorge ich mich, weil ich Angst habe, meinem alten Kunden Wilhelm Lusin zu gestehen, dass ich ihm viel weniger Honig liefern kann, als er bestellt hat.«

»Glaubst du, er wird sehr böse sein?«, fragte Agathe besorgt.

»Böse sicher nicht«, sagte ihr Vater. »Herr Lusin ist ein guter Mann, ich glaube, der kann gar niemandem böse sein. Aber ich will ihn nicht in Schwierigkeiten bringen. Er rechnet doch mit dem Honig. Andererseits …«

Josef sprach seinen Satz nicht zu Ende, sondern sah angestrengt nach draußen.

»Andererseits?«, fragte sie nach.

»Nun, als ich ihn kurz vor Weihnachten besucht habe, war er sehr besorgt. Er ist ein Lebküchner der alten Tradition, das heißt, er backt die Teige noch nach altem Rezept, mit Modeln und allem, was dazugehört. Aber die Leute mögen diese Art von Lebkuchen nicht mehr so, und letztes Mal sagte er mir schon, es sei möglich, dass er nicht die übliche Menge Honig abnehmen kann. Darauf hoffe ich nun, auch wenn ich Herrn Lusin natürlich keine Flaute wünsche.«

»Oje«, fasste Agathe zusammen, und mehr gab es eigentlich auch nicht zu sagen.

Der Rest der Fahrt verlief in einträchtigem Schweigen, Vater und Tochter Welser hingen ihren Gedanken nach. Schließlich erreichten sie Nürnberg und fuhren durch das Königs-Tor in die Stadt ein, durchquerten die Innenstadt und steuerten schließlich die Fleischbrücke an, die über die Pegnitz führte. Als der Schlitten das steinerne Tor an der Brücke passierte, deutete Agathe hinauf. »Wieso haben sie denn ausgerechnet einen steinernen Ochsen als Zierde gewählt?«, fragte sie ihren Vater. Sie teilte mit ihm ihre Leidenschaft für Geschichte, besser gesagt: Josef hatte sie erst in ihr erweckt. Seit sie denken konnte, war ihr Vater mit ihr durch den Wald spaziert und hatte ihr vom Leben und der Arbeit ihrer Vorfahren berichtet oder ihr abends vor dem Kamin vorgelesen – nicht etwa Märchen, sondern wahre Geschichten aus der Vergangenheit. Kein Wunder, dass er nun auch hinsichtlich des Ochsens an der Fleischbrücke Bescheid wusste.

»Früher wurden Ochsen aus Ungarn über eine Strecke von nahezu tausend Kilometern ins Zentrum Nürnbergs getrieben«, begann der Vater zu erzählen. »Hier stand damals das Fleischhaus, in dem die Metzger ihre Ware verkauften.« Er deutete auf das Gebäude direkt hinter der Brücke. »Die Tiere mussten über die Brücke marschieren und dann ins Schlachthaus, das als Holzkonstruktion direkt vor dem Fleischhaus in der Pegnitz stand. Die Schlachtabfälle schmissen die Metzger einfach in den Fluss.«

»Einfach so?« Agathe konnte es sich nur schwerlich vorstellen. »Und um daran zu erinnern, haben sie das Portal mit dem Ochsen gebaut?«

»Ich denke, das sollte eher für das Fleischhaus werben, in dem die Waren angeboten werden.«

Nun kam die Kaiserburg ins Blickfeld. Agathe dachte wieder einmal, wie mächtig und prachtvoll diese doch aussah. Sie empfand deren Anblick immer irgendwie als tröstlich, schließlich stand das prunkvolle Gebäude unerschütterlich seit Jahrhunderten an Ort und Stelle, egal, was für Dramen sich zu seinen Füßen abspielten.

»Ich parke den Schlitten hier unten«, verkündete Josef, als sie den Hauptmarkt erreicht hatten. »Die Bergstraße traue ich mich nicht hinauf.«

Agathe nickte, stieg vom Kutschbock und half ihrem Vater, das Pferd an einem der dafür vorgesehenen Ringe anzubinden.

»Ich helfe dir, den Honig hinaufzubringen«, bot Agathe an, doch ihr Vater winkte ab. »Nicht nötig, ist ja leider nicht viel«, sagte er, als er den Eimer mit der goldgelben Masse von der Ladefläche holte. »Und außerdem hole ich mir den Ärger mit Wilhelm Lusin lieber allein ab.«

Besorgt sah sie ihn an. »Du sagtest doch, dass du nicht glaubst, dass es Ärger gibt.«

»Glaube ich auch nicht«, versicherte er. »Das war nur der jämmerliche Versuch, einen Scherz zu machen. Sieh du dir nur ein wenig die Stadt an, Liebes. Wir treffen uns dann im Anschluss im Bratwurstglöcklein.«

»Können wir uns das denn leisten?«, fragte sie bang, auch wenn ihr beim Gedanken an eine Nürnberger Bratwurst das Wasser im Mund zusammenlief.

»So weit wird es noch kommen, dass ich meiner Tochter nichts mehr zu essen kaufen kann«, brummte Josef. »Natürlich gehen wir eine Bratwurst essen.«

***

Wohin jetzt? Nachdem ihr Vater mit seinen Honigeimern verschwunden war, sah Agathe sich suchend um. Da fiel ihr Blick auf die Türme der Kirche St. Sebald, und kurz entschlossen lenkte sie ihre Schritte dorthin. Es konnte sicher nicht schaden, in dem Gotteshaus, das immerhin dem Schutzpatron der Stadt geweiht war, für das Wohl ihrer Familie zu beten.

Sie hatte die Kirche gerade durch das Nordportal betreten, als sie mit einer dunkelhaarigen Frau zusammenstieß.

»Hoppla«, sagte die schöne, elegant gekleidete Schwarzhaarige und trat einen Schritt zurück, um dann überrascht auszurufen: »Agathe, wie schön, dich zu sehen, liefert dein Vater gerade Honig bei uns ab? Meine Tochter Elise«, sie deutete auf die junge Frau an ihrer Seite, bei der es sich um ein jüngeres Abbild ihrer selbst handelte, »war schon ganz traurig, dass sie dich nicht kennengelernt hat, da dein Vater dich nun schon mitgebracht hat.«

»Das war ich in der Tat«, ergriff Elise das Wort. »Umso mehr freue ich mich, dass wir uns nun kennenlernen. Wir dürften im gleichen Alter sein.«

Agathe nickte und war von einer seltsamen Scheu ergriffen. Sie fragte sich, woher diese rührte. Ob es die schiere Schönheit der beiden Frauen war, die sie so verunsicherte? Oder deren Ähnlichkeit? Beide waren ungemein zierlich, hatten ein madonnenhaftes Gesicht und strahlend blaue Augen unter vollem pechschwarzem Haar.

»Ich glaube, ich bin ein klein wenig jünger«, sagte Agathe leise. »Ich bin sechzehn.«

»Dann bin ich in der Tat etwas älter, zwei Jahre, um genau zu sein«, erklärte Elise. »Hast du Lust, mit uns zu kommen und noch eine Tasse Tee bei uns zu trinken? Du musst ja entsetzlich durchgefroren sein.« Freundlich lächelte sie ihr zu. »Dann kannst du auch einen meiner berühmten Elisenlebkuchen probieren. Nach denen ist die ganze Stadt verrückt.«

Erschrocken sah Agathe auf. »Dann laufen die Geschäfte also gut?«

»Ja«, mischte sich Margarethe Lusin wieder ins Gespräch. »Meine Tochter hat eine Frau, die im Eis eingebrochen ist, aus dem See gezogen, und ist danach schwer an Fieber erkrankt. Darauf versuchte mein Mann ihre Lebensgeister mit einem ganz besonderen Lebkuchen zu wecken. Sie wurde wieder gesund, und seitdem will jeder dieses Gebäck kaufen.« Sie lächelte die junge Frau an. »Nur, uns gehen langsam die Zutaten aus. Dein Vater mit seinem Honig kommt wie gerufen.«

»Oh«, sagte Agathe, die gar nicht wusste, was sie sagen sollte. Zum einen stieg ihre ohnehin schon so große Bewunderung für diese junge Frau durch das Gesagte ins Unermessliche. Zum anderen sorgte sie sich nun noch mehr, wie Wilhelm Lusin auf die Hiobsbotschaft ihres Vaters reagieren würde. Wo er doch derart darauf angewiesen war.

»Du wirkst so bedrückt?«, stellte Elise fest, die für die Befindlichkeiten anderer Menschen ein ziemlich gutes Gespür haben musste.

»Ach«, sagte Agathe und winkte ab. »Es ist nichts.« Sie konnte der sympathischen Frau Lusin und ihrer entzückenden Tochter ja kaum sagen, dass ihr Vater Wilhelm Lusin gerade eine denkbar schlechte Nachricht überbrachte.

Mitfühlend sah Elise sie an. »Willst du unsere Einladung annehmen und noch mit zu uns kommen?«

»Ich treffe meinen Vater gleich im Bratwurstglöcklein«, bedauerte Agathe.

»Dann lasst uns doch spazieren gehen – in Richtung Bratwurstglöcklein«, schlug Elise vor.

»Es spricht nichts dagegen«, antwortete Margarethe Lusin, »dann dauert unser Sonntagsspaziergang heute eben ein bisschen länger. Dein Vater wird ohnehin in der Backstube sein und sofort seine neuen Zutaten verarbeiten. Aber im Bratwurstglöcklein essen können wir nicht, Wilhelm erwartet ja ebenfalls ein warmes Essen.« Auch sie schenkte der verlegenen Zeidlertochter ein freundliches Lächeln.

Agathe schluckte erneut und kam sich schäbig vor, weil sie den beiden nicht die Wahrheit sagte. Andererseits wollte sie sich auch nicht in die geschäftlichen Angelegenheiten ihres Vaters einmischen.

»Ich freue mich sehr, wenn Sie mich begleiten«, sagte sie daher und folgte Mutter und Tochter nach draußen.

Als sie an der Nordwand von St. Sebald entlangschritten, steuerten die drei auf ein weiteres Portal zu. Margarethe blieb einen Moment stehen und lächelte.

»Meine Mutter wird immer furchtbar romantisch, wenn sie dieses Portal sieht«, erklärte Elise flüsternd.

»Warum denn das?«, fragte Agathe und musterte das reich geschmückte Portal.

»Meine Eltern haben in dieser Kirche geheiratet«, sagte Elise. »Und das hier ist das Brautportal.«

»Ich höre sehr wohl, was ihr da miteinander flüstert«, sagte Margarethe und wandte sich lächelnd zu den beiden jungen Frauen um. »Leider konnten Wilhelm und ich uns nicht vor diesem Portal trauen lassen.«

»Vor dem Portal?«, fragte Agathe verwundert, und ihre Neugierde auf die Geschichte um die Hochzeit der Lusins ließ sie ihre Sorgen vergessen. Wieder einmal dachte sie, wie wunderbar es war, dass die Welt voller Geschichten steckte, wohin man auch blickte.

»Die Brautpaare ließen sich seit dem 11. Jahrhundert vor dem Portal trauen, da die Trauungen dem weltlichen Recht unterlagen«, erklärte Margarethe. »Erst im Anschluss führte der Priester die Brautleute in die Kirche und vollzog die Brautmesse«, ergänzte sie. Im 15. Jahrhundert waren die Trauungen dann ins Innere der Kirche verlegt worden, bevor diese Eigenart mit dem Konzil von Trient im 16. Jahrhundert ganz abgeschafft wurde. »Und so gern ich mit Wilhelm vor Gott verheiratet bin, so schön hätte ich es andererseits gefunden, mit ihm Seite an Seite durch dieses Portal zu schreiten. Leider ist es längst zugemauert.«

***

Zusammen überquerten sie den Hauptmarkt und steuerten dabei direkt auf den Schönen Brunnen zu.

»Den habe ich schon als Kind geliebt«, schwärmte Elise.

»Ja«, lachte ihre Mutter. »Wir mussten immer stehen bleiben und ihn betrachten. Du wolltest dir jede Figur einzeln ansehen, was angesichts der Tatsache, dass es immerhin vierzig Stück sind, ziemlich lange gedauert hat.«

Agathe nickte. Auch sie hatte den Schönen Brunnen bei jedem Besuch in Nürnberg sehr bewundert. Die Figuren waren in vier Stockwerken angeordnet. Unten befanden sich die Philosophie und die Sieben Freien Künste, darüber die vier Evangelisten und die vier Kirchenväter, dann die sieben Kurfürsten und die Neun Guten Helden und schließlich Moses und sieben Propheten. Außerdem gab es noch die Wasserspeier, die die Laster symbolisierten, und den Glücksbringer Adebar.

Auch jetzt legte sie den Kopf wieder in den Nacken und blickte an dem so kunstvollen wie farbenfrohen Gebilde aus Muschelkalk nach oben bis zu der gotischen Kirchturmspitze, die es bekrönte. Schneeflocken benetzten ihr Gesicht, eine fiel auf ihre Wimpern. Agathe blinzelte.

»Schön, nicht?«, fragte Elise und tat es ihr nach.

»Und wie!« Agathe lächelte ihr zu und ergänzte: »Jetzt musst du noch den Metallring anfassen. Das bringt Glück.«

»Welchen Metallring?«, fragte Elise erstaunt.

»Na, diesen hier«, erklärte Agathe und deutete auf einen goldglänzenden Ring, der sich in dem eisernen Gitter befand, das den Brunnen umgab.

»Der ist mir noch nie aufgefallen«, staunte Elise. »Dir, Mutter?«

»Nein, ich habe ihn tatsächlich auch noch nie bemerkt«, sagte Margarethe verwundert. »Dabei komme ich täglich hier vorbei.«

»Wahrscheinlich liegt es genau daran«, murmelte Agathe. »Man bemerkt die Dinge nicht mehr, wenn man sie ständig sieht.« Sie nahm den Ring in die Hand. »Das Besondere ist, dass er keine Nahtstelle hat. Sehen Sie?«

Sie drehte den Ring um sich selbst.

»Tatsächlich«, staunte Elise. »Wie ist er dann an das Gitter gekommen? Hat man das Gitter um den Ring herumgeschmiedet?«

Agathe lächelte geheimnisvoll. »Dazu gibt es eine spannende Sage. Der Mann, der das Gitter gebaut hat, Meister Kuhn, hatte eine schöne Tochter. Die hieß Margret. Der Lehrling von unserem Meister Kuhn war in Liebe für das Mädchen entbrannt. Der Vater wollte davon aber nichts wissen, seine Tochter sei zu gut für einen armen Lehrburschen. Er sagte also: ›Schlag dir das aus dem Kopf. Daraus wird ebenso wenig, wie es dir gelingen wird, die Ringe am Brunnengitter so zu fertigen, dass sie sich drehen können.‹«

»Darf ich raten?«, fragte Elise, ganz im Bann der Geschichte. »Der Lehrling hat es hinbekommen, wie dieser Ring hier beweist, und die Tochter heiraten dürfen.«

»Leider endet die Geschichte traurig«, bedauerte Agathe. »Der Meister begab sich auf Reisen, und in seiner Abwesenheit setzte der Lehrling alles daran, unter Beweis zu stellen, dass er die vom Meister als unlösbar dargestellte Aufgabe durchaus bewältigen könne. Heimlich fertigte er diesen Ring«, sie zeigte auf das Stück, das Elise immer noch in ihrer Hand hielt, »brachte ihn am Gitter an und lötete und feilte so lange, bis keine Nahtstelle mehr zu sehen war. Und dann ging er. Und kehrte nie wieder zurück.«

»Wie bitte?«, fragte Elise betroffen. »Und was wurde aus dem armen Mädchen?«

»Nun«, sagte Agathe. »Die weinte sich die Augen aus, und ihr brach fast das Herz.«

»Und was hat der Vater gesagt, als er zurückkam? Tat es ihm wenigstens leid?«, fragte Elise und musste an ihren eigenen Vater denken, der ihr so etwas Furchtbares niemals angetan hätte.

»Das tat es«, bestätigte Agathe. »Sehr sogar. Es tat ihm leid für seine Tochter, aber er erkannte nun auch, was für einen talentierten Lehrbuben er da mit seiner Forderung fortgejagt hatte.«

»Wie traurig«, sagte Margarethe, während Elise wissen wollte: »Und warum soll es dann Glück bringen, wenn man den Ring berührt? Bringt es nicht eher Pech?«

»Den Grund kenne ich auch nicht«, erwiderte Agathe. »Laut der Sage bringt es Glück.«

Elise schloss kurz die Augen, drückte den Ring fest und sah ihre neue Bekannte dann auffordernd an. »Jetzt du.«

Nachdenklich betrachtete Agathe den Ring zwischen ihren behandschuhten Fingern. Wie viele Menschen hatten ihn schon in den Händen gehalten, verzweifelt und voller Hoffnung, dass die Berührung mit diesem Ring ihrem Leben eine Wendung geben und ihnen Glück bringen würde? Was für Menschen mochten das gewesen sein?

Auch ihre Familie konnte etwas Glück gebrauchen. Nachdenklich drehte sie den Ring in ihren Fingern, schloss einmal kurz die Augen und dachte ganz fest an ihren Vater.

4

»Sieh mal, Mutter«, sagte Elise, als sie neben Margarethe Lusin die Bergstraße hinaufging. »Ob dieser Herr wohl zu uns will?«

Margarethe hob den Kopf und blickte mit leicht zusammengekniffenen Augen in Richtung ihres Hauses. Es hatte schon wieder zu schneien begonnen, was die Sicht etwas erschwerte, doch es war unverkennbar: Vor der Lebküchnerei Lusin stand ein Mann mit einem langen Wintermantel und einem Hut auf dem Kopf.

»Vermutlich hat er vergeblich versucht, sich bemerkbar zu machen«, überlegte Margarethe. »Dein Vater wird hinten in seiner Backstube sein und ihn nicht hören.«

Die beiden Frauen beschleunigten ihre Schritte und waren kurz darauf bei dem Herrn angelangt, der ihnen erwartungsvoll entgegensah. Erst jetzt erkannte Elise, wie gut gekleidet ihr Besucher war und wie elegant er aussah. Der Mantel war aus feinstem Zwirn, die Handschuhe aus edlem Leder, seine ganze Erscheinung war distinguiert und gepflegt. Besonders auffallend war aber der Blick, mit dem er sie ansah, wie vom Donner gerührt; ihre Mutter hingegen, die etwa in seinem Alter sein musste, beachtete er gar nicht.

»Können wir Ihnen helfen?«, fragte Margarethe freundlich, als sie bei dem Mann und damit auch bei ihrer Haustür angekommen waren.

»Das hoffe ich«, erwiderte der Fremde. Dann wandte er sich wieder an Elise. »Verzeihen Sie meine Unverfrorenheit, wenn ich Sie so direkt frage, aber sind Sie Elise Lusin?«

Sie nickte verwirrt und spürte, dass ihre Mutter ihr schützend eine Hand auf den Unterarm legte. Wie Elise schien auch sie die Situation äußerst befremdlich zu finden.

Der Mann zog seinen Hut und deutete eine Verneigung an. »Dann stehe ich tief in Ihrer Schuld, gnädiges Fräulein.«

Verständnislos sah Elise den Mann an. »In meiner Schuld?«

»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Ich bin Karl Friedrich Wilhelm Freiherr von Tucher. Und Sie sind die Lebensretterin meiner Tochter. Bitte verzeihen Sie, dass ich erst jetzt herbeieile, um Ihnen zu danken, aber Helenes Gesundheitszustand erlaubte es mir nicht, früher zu kommen.«

»Oh«, rief Elise. »Ich bin hocherfreut zu hören, dass es Ihrer Tochter besser geht. Ich war in Gedanken ständig bei ihr.«

»Kommen Sie doch herein, Herr von Tucher«, mischte sich Margarethe Lusin wieder ins Gespräch. »Wir würden gerne Genaueres über den Gesundheitszustand Ihrer Tochter erfahren. Das gilt sicher auch für meinen Mann. Und hier draußen ist es gar zu ungemütlich.«

»Oh, ich möchte aber keine Umstände machen«, wehrte von Tucher ab. »Und ich komme ja auch vollkommen unangemeldet.«

»Sie machen keine Umstände«, versicherte Margarethe Lusin. »Allerdings müssen Sie damit rechnen, dass es bei uns längst nicht so fein zugeht wie im Tucherschlösschen.«

»Sie beschämen mich, gnädige Frau«, sagte Freiherr von Tucher. »Als käme es darauf an.«

Margarethe nickte, schloss die Tür auf und bat ihren Gast herein. Wie sie erwartet hatten, schimmerte Licht aus der verschlossenen Tür zur Backstube, und das Treppenhaus war erfüllt vom Duft frisch gebackener Lebkuchen.

»Bitte unterrichte deinen Vater über unseren Gast«, wandte sich Margarethe Lusin an ihre Tochter, während sie nach einem der Kerzenhalter griff, die immer auf dem Tischchen neben der Treppe bereitstanden, und die Kerze entzündete.

Elise wäre ihnen gern gefolgt, es drängte sie, Näheres über die junge Frau zu erfahren, die sie vom Eis gerettet hatte. Doch natürlich musste sie ihrem Vater Bescheid geben. Hastig riss sie die Tür zur Backstube auf – und erstarrte. Wilhelm Lusin stand keineswegs, wie sie es erwartet hatte, am Backofen, sondern saß an dem Tisch, an dem er sonst Lebkuchen formte oder Teige anrührte, das Gesicht in den Händen vergraben. Besorgt trat sie zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Rücken. Erschrocken fuhr er hoch. Offensichtlich hatte er sie nicht kommen hören.

»Elise.«

»Was ist los, Vater?«, fragte sie. »Du warst doch heute Morgen noch so guter Dinge?«

»Ja«, seufzte er. »Da wusste ich auch noch nicht, dass Josef Welser keinen Honig mehr hat. Er war meine große Hoffnung, denn durch den plötzlich so hohen Bedarf können auch die anderen Lieferanten nicht alles abdecken.«

»Josef Welser hat keinen Honig mehr?«, wiederholte sie verblüfft. »Davon hat seine Tochter ja gar nichts gesagt.«

»Es ist wie verhext«, jammerte Wilhelm Lusin. »Endlich wollen die Leute meine Lebkuchen wieder haben, und dann bekomme ich keine Zutaten.«

»Ich bin sicher, es wird sich eine Lösung finden«, meinte Elise mit leiser Ungeduld. »Allerdings muss ich dich nun nach oben bitten, Vater. Wir haben Besuch.«

Überrascht und auch ein wenig unwillig sah Wilhelm Lusin auf. »Wer ist es denn?«

»Freiherr Karl Friedrich Wilhelm von Tucher«, erklärte sie. »Der Vater des Mädchens, das ich aus dem Eisloch gezogen habe.«

Wilhelm Lusin sprang so heftig auf, dass er sich das Knie an der Tischkante stieß und schmerzerfüllt das Gesicht verzog. »Warum sagst du mir das erst jetzt?«, rief er und humpelte zur Tür. Dann kehrte er noch mal um und legte einige ofenfrische Lebkuchen in einen kleinen Korb. »Irgendwas müssen wir dem Freiherrn ja wohl anbieten.«

***

Elise fand ihre Mutter und von Tucher in der guten Stube vor, wo beide in ein angeregtes Gespräch vertieft waren. Sie dachte, wie merkwürdig der feine Herr in dem gemütlichen, aber doch eher schlicht eingerichteten Wohnzimmer ihrer Eltern wirkte. Sie war noch nie im Tucherschloss gewesen, kannte es aber von außen und wusste, dass ihr kleines Fachwerkhäuschen sicherlich zwanzig Mal in das Schloss gepasst hätte. Karl Freiherr von Tucher erhob sich höflich, als Elise und Wilhelm das Wohnzimmer betraten, und reichte dem Hausherrn die Hand.

»Ich erzähle dem Freiherrn gerade, wie du unsere Elise mit den Lebkuchen gesund gemacht hast«, hob Margarethe an, als sie wieder Platz genommen hatten.

Wilhelm lächelte. »Da wir gerade dabei sind: Darf ich Ihnen einen anbieten?« Er reichte seinem Gast den Korb, und dieser griff dankbar zu.

»Köstlich«, bekundete er, nachdem er hineingebissen hatte. »Ich muss schon sagen, Sie sind ein großer Meister Ihres Fachs. Nachdem Sie meiner Tochter einen Korb von dieser Leckerei schickten, habe ich die Dienerschaft täglich beauftragt, mehr von diesem schmackhaften Gebäck zu besorgen. Sie gehen in Ihrem Geschäft schon ein und aus.«

»Das ist zu gütig«, sagte Margarethe Lusin. »Die Kunde, wie köstlich und heilsam sie sind, hat in der Stadt schnell die Runde gemacht.«

»Ich möchte mich nochmals in aller Form bei Ihnen für Ihren Wagemut bedanken«, richtete der Freiherr nun das Wort an Elise. »Wenn Sie nicht gewesen wären … Ich kann es nicht mal aussprechen.«

»Ich habe gar nicht nachgedacht«, erzählte Elise. »Ich bin froh, dass das gnädige Fräulein nun auf dem Weg der Besserung ist.«

Der Freiherr nickte. »Ja, wir mussten leider eine ganze Weile um ihr Leben bangen. Aber nun ist sie vollständig genesen und hat keinen sehnlicheren Wunsch, als Sie kennenzulernen.«

»Mich?«, fragte Elise verwundert.

»Natürlich Sie«, entgegnete Freiherr von Tucher mit einem leisen Lächeln. »Schließlich sind Sie ihre Lebensretterin. Würde es Ihnen morgen zum Nachmittagstee passen?«

»Morgen?«, rief Elise überfordert, und das Erste, was ihr einfiel, war: Ich habe für einen derart feinen Anlass nichts anzuziehen. Sie schluckte die Worte aber hinunter und sprach stattdessen das Zweite aus, das ihr in den Sinn kam: »Ich weiß nicht, ob Mama mich entbehren kann. Seit Papas Lebkuchen sich so gut verkaufen, muss ich im Laden aushelfen.«

Wilhelm Lusin stieß ein Seufzen aus. »Nun, morgen wird es nicht viel zu verkaufen geben.«

»Aber warum denn das?«, rief Margarethe Lusin erschrocken. »Die Kundschaft wird furchtbar enttäuscht sein.« Dann wandte sie sich wieder an ihren Gast. »Wie unhöflich von mir. Entschuldigen Sie bitte.«

»Kein Grund, sich zu entschuldigen«, beruhigte ihn der Freiherr. »Schließlich habe ich Sie einfach so überfallen. Und mit Verlaub, ich möchte nicht neugierig erscheinen, aber auch mich würde interessieren, warum es morgen nicht genügend Elisenlebkuchen geben wird.«

»Die heutige Honiglieferung fiel leider sehr bescheiden aus. Mein Zeidler hat mir gestanden, dass er einen sehr schlechten Sommer hatte. Er bangt um seine Existenz, was mir von Herzen leidtut, aber …«

Margarethe und Elise wechselten einen wissenden Blick. Darum hatte die junge Agathe vorhin so bedrückt gewirkt.

»Aber Sie bangen nun um die Ihre?«, fragte der Freiherr geradeheraus.

Wilhelm Lusin zuckte die Achseln. »Die Wahrheit ist, dass die Lebküchnerei, die ich noch von meinem seligen Schwiegervater übernommen habe, seit vielen Jahren mehr schlecht als recht lief – bis ich aus der Not heraus die Elisenlebkuchen erfunden habe. Seither können die Leute gar nicht genug davon bekommen. Und nun habe ich keine Zutaten mehr.«

Karl Friedrich Wilhelm Freiherr von Tucher hatte den Ausführungen seines Gegenübers mit Interesse gelauscht. Nun beugte er sich vor und sah Wilhelm Lusin eindringlich an: »Dann, mein verehrter Herr Lusin, will ich Ihnen gerne einen Vorschlag unterbreiten.«

5

Agathe konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als sie aus dem Fenster blickte und ihre Mutter schwer beladen auf das Haus zustapfen sah. Anders als ihr Vater, dessen Ankunft sie vor wenigen Wochen ebenfalls durch das Küchenfenster beobachtet und gleich gewusst hatte, dass er schlechte Nachrichten mitbrachte, war ihr beim Anblick ihrer Mutter sofort klar, dass diese etwas Erfreuliches zu berichten hatte. Ilse Welsers Wangen waren vor Eifer gerötet – was allerdings auch an der Kälte liegen mochte – und auf ihren Lippen lag ein Lächeln. Im nächsten Moment hörte Agathe auch schon, dass die Haustür aufgestoßen wurde. »Jemand zu Hause?«, rief Ilse gut gelaunt in den Flur.

Agathe lachte auf. Was für eine Frage! Bei den Welsers war immer jemand zu Hause. Und als wüsste ihre Mutter das nicht ohnehin, erwiderte Agathe: »Hier, in der Küche.«

Im nächsten Moment stand Ilse Welser auch schon vor ihr und streckte ihr strahlend ein in Zeitungspapier eingeschlagenes Päckchen entgegen, bei dem man unschwer erkennen konnte, dass es sich um ein Buch handelte. Seit sie nicht mehr die Schule besuchen durfte, schleppte ihre Mutter jedes Buch an, das sie nur finden konnte, um ihrer Ältesten die Möglichkeit zu geben, ihren Wissensdurst zu stillen.

»Stell dir vor«, sagte Ilse, während Agathe das Päckchen auswickelte, »heute habe ich ein ganz besonderes Buch für dich dabei.«

»Und ich?«, maulte Karl vom Tisch her. »Immer bringst du nur der Agathe was mit.«

»Sei still!«, zischte Barbara und stieß ihren kleinen Bruder in die Rippen, woraufhin dieser in lautes Geheul ausbrach.

Während Ilse zu ihren drei jüngeren Kindern an den Tisch eilte, um den Streit zu schlichten, zog Agathe das Buch aus dem Papier.

»Es ist von einer Vorfahrin von uns«, verriet Ilse Welser, »sie hat wohl im ausgehenden Mittelalter gelebt.«

»Ein Buch einer Frau?«, fragte Agathe fasziniert. »Das habe ich noch nie gesehen! Und dann ist sie auch noch mit uns verwandt!« Inzwischen hatte sie das Buch ganz ausgepackt und las: »Sabina Welserin. Ein köstlich new Kochbuch von allerhand Speisen.« Leise Enttäuschung machte sich in Agathe breit. Zwar fand sie es durchaus spannend, ein Kochbuch aus dem Jahr 1553 zu lesen, aber eigentlich hatte sie auf etwas Aufregenderes gehofft – und es schwächte die Tatsache, dass es eine Frau gewesen war, die das Buch geschrieben hatte, etwas ab. Kochen war schließlich Frauensache. Doch sie wollte ihre Mutter, die ausgerechnet auf dieses Buch so stolz gewesen war, auf keinen Fall enttäuschen. Und vielleicht fand sich in dem Werk ja ein schönes Rezept, das sie mit ihren Geschwistern nachkochen konnte. Dann wären sie sicherlich auch nicht so enttäuscht darüber, dass ihre Mutter in der letzten Zeit immer nur ihr etwas mitbrachte. Sie hatte schon ein richtig schlechtes Gewissen deshalb.

»Danke, Mutter«, sagte sie. »Ich freue mich wirklich sehr darüber. Ich bringe das Buch rasch nach oben.«

Nachdem Agathe am Abend noch durch das Buch geblättert und zunächst mit der antiquierten Sprache gekämpft hatte, gelang es ihr mit der Zeit immer besser, das Gelesene zu verstehen. Auch wenn es ihr anfangs schwergefallen war, sich zwischen den zahlreichen Rezepten zu entscheiden, war ihr schnell klar geworden, dass sie mit ihren Geschwistern Schneeballen backen wollte.

Nach dem Frühstück verkündete sie die frohe Botschaft: »Mama hat mir doch gestern das Buch geschenkt, mit den leckeren Rezepten.«

»Ja«, erwiderte der kleine Karl und wirkte immer noch ein wenig beleidigt.

»Nun«, fuhr Agathe unbeirrt fort, »was haltet ihr davon, wenn wir eins dieser Rezepte nachbacken?«

»Fein«, rief Hannes, und Barbara wisperte: »Das wäre schön.«

Kurz darauf standen die Geschwister Seite an Seite an der Arbeitsplatte, und Agathe las zunächst die Überschrift vor: »Schneballen zú bachen.«

»Was sind Schneeballen?«, wollte der kleine Hannes wissen, während Karl fand: »Das ist aber eine komische Sprache«, und besorgt hinzufügte: »Hoffentlich schmeckt der Schneeballen dann nicht auch komisch. Ist der etwa so kalt wie Schnee?«

»Nein«, lachte Agathe. »Er heißt nur so, weil er aussieht wie ein Schneeball – und wenn er aus dem Ofen kommt, ist er ganz heiß. Die Schneeballen sind in etwa so groß.« Sie legte ihre Hände zusammen, etwa von der Größe einer Kanonenkugel, »und bestehen aus einem ganz mürben Teig, werden in Fett ausgebacken und dann mit feinem Zucker bestreut.«

»Lecker!«, freute sich Karl.

»Und was müssen wir jetzt als Erstes machen?«, fragte Barbara, die sich zwischenzeitlich schon eine Schürze umgebunden hatte.

Agathe schlug das Buch auf. »Im Rezept steht: Mach den taig wie zú den hassenerrlach, aber welgle jn wie zú den langen pfanzelten, allain ain wenig breter, vnnd redlen feine klaine schnitzlen.«

Barbara prustete laut heraus. »Das klingt wirklich komisch. Konnten die damals kein richtiges Deutsch?«

»Weiß ich auch nicht«, erwiderte Agathe ehrlich.

Die beiden kleinen Buben sahen sie ratlos an, während die ältere Barbara verstehend nickte.

»Aber wir können das ja gar nicht backen, wenn wir nicht verstehen, was wir machen sollen«, gab Karl bekümmert zu bedenken.

»Und ob wir das können«, beruhigte sie den Kleinsten. »Ich verstehe es nämlich. Soll ich es euch übersetzen?«

Nachdem alle zugestimmt hatten, schlug Agathe vor: »Zunächst einmal machen wir den Teig, dazu brauchen wir Mehl, Eier, Zucker, Butter, etwas Sahne und Wein.«

Die Geschwister beeilten sich, die Zutaten auf den Küchentisch zu stellen, und im Anschluss maß Barbara mithilfe von Agathe die jeweils benötigten Mengen ab.

Nachdem sie die Zutaten vermengt und den Teig geknetet und ausgerollt hatten, schnitten sie sie gemeinsam in gleichmäßige Streifen.

»So, jetzt kommt der knifflige Teil«, kündigte Agathe an.

»Ah, du liest wieder vor«, spottete Barbara.

»Ganz genau«, erwiderte Agathe grinsend und las: »Vnnd hebs aúf mit ainer spindel, aúff, ains nider, das ander aúff vnnd legs jn ain morserlin vnnd lasß bachen, so send sý gút.«

Am Tisch brach schallendes Gelächter aus, nachdem Agathe den Text aber übersetzt hatte, konzentrierten sich die Kinder schnell wieder auf ihre Aufgabe: Zucker musste im Mörser zu Staubzucker zerrieben und die vorbereiteten Teigstreifen so über einen Kochlöffel drapiert werden, dass dabei eine lockere ineinander verflochtene Kugel entstand.

»Gut macht ihr das«, lobte Agathe ihre jüngeren Geschwister. »Und jetzt müssen wir sie noch backen. Aber nicht im Ofen, sondern in heißem Fett.«

Sie gab eine große Portion Schmalz in einen Topf und hoffte, dass die Mutter sie nach ihrer Rückkehr – sie half dem Vater heute bei den Bienen – nicht über die Verschwendung schimpfen würde. Aber andererseits konnte man das Fett sicher wiederverwenden.

Sie hängte es über das Feuer und wartete, bis es erhitzt war. »Und nun geben wir eine Kugel nach der anderen hinein.«

Fasziniert beobachteten die Geschwister, wie die Kugeln sich nach und nach goldgelb verfärbten und einen verführerischen Duft verströmten. Sie musste auf einmal wieder an die nette Elise Lusin denken, deren Vater so köstliche Lebkuchen backte. Und sie fragte sich, wie ihr diese Schneeballen wohl gemundet hätten.

»Jetzt dürft ihr den Staubzucker drüberstreuen«, erklärte Agathe schließlich. »Und dann lassen wir es uns schmecken!«

***

So müssen die französischen Paläste aussehen, dachte Elise verträumt, als sie auf das Tucherschlösschen zuging. Wie wunderhübsch der dreigeschossige Sandsteinquaderbau war! Unter seiner Schneedecke wirkte er, als schliefe er den Dornröschenschlaf.

So verzaubert sie von diesem Bauwerk war, so unsicher fühlte sie sich andererseits bei dem Gedanken, es gleich zu betreten. Zwar hatte die Mutter ihr ihr bestes Kleid geliehen und obendrein noch den Schmuck, den sie wiederum von ihrer eigenen Mutter geerbt hatte, jedoch nie trug. Dennoch war Elise vollkommen klar, dass sie im Vergleich zu all der Pracht ausgesprochen schäbig wirken musste. Aber wie hatte der freundliche Freiherr doch gesagt: Darauf kam es nun wirklich nicht an. Schließlich war sie eine Lebensretterin!

»Nur Mut!«, raunte ihr Wilhelm Lusin zu, der zu ihrer großen Erleichterung an ihrer Seite schritt. Freiherr von Tucher hatte am Vorabend seinen Vorschlag unterbreitet und Wilhelm gleich mit ins Tucherschloss gebeten, der freudig zugesagt hatte.

In diesem Moment erreichten Vater und Tochter das prachtvolle Eingangsportal, und wie von Geisterhand öffnete sich die Tür.

»Willkommen«, sagte ein großgewachsener, kräftiger Herr. Er mochte Mitte fünfzig sein und hatte sein graues Haar straff nach hinten gekämmt. »Ich bin Eugen, der Erste Diener. Der Freiherr und die Gräfin erwarten Sie schon. Bitte, treten Sie ein!«

Der Hausdiener nahm ihnen die Mäntel ab und winkte einen jungen Diener herbei, der mit ihnen entschwand.

Staunend sah Elise sich in der imposanten Eingangshalle um. Eine derartige Pracht hatte sie noch nie gesehen!

Eugen führte sie zu einer großen, mit Schnitzereien verzierten Flügeltür, die er nach kurzem Klopfen öffnete. »Herr Lusin und Fräulein Lusin, gnädiger Herr.«

Elise war kaum durch die Tür getreten, als ein blonder Wirbelwind auf sie zuschoss und ihr um den Hals fiel. »Meine Lebensretterin«, rief die junge Frau dramatisch. »Endlich lerne ich Sie kennen. Oder darf ich du sagen? Schließlich sind wir im selben Alter.«

»Nun lass unsere Gäste doch erst einmal eintreten«, kam es von einer eleganten Dame in dem schönsten Kleid, das Elise je gesehen hatte: dunkelblaue Seide reichlich und kunstvoll mit silbrig schimmernder Stickerei verziert. Sie hatte sich, ebenso wie ihr Gatte, den Elise ja schon am Vortag kennengelernt hatte, erhoben und blickte dem Besuch entgegen. Elise, die nicht wusste, wie sie ihre Gastgeber korrekt begrüßen sollte, machte einen verlegenen Knicks, während der ebenfalls etwas unsichere Wilhelm Lusin bei der Dame des Hauses einen Handkuss andeutete.