Ritter Sport - Ein Traum von Schokolade - Romy Herold - E-Book
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Ritter Sport - Ein Traum von Schokolade E-Book

Romy Herold

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Beschreibung

Wie aus einem Traum von Schokolade das wohl berühmteste Quadrat der Welt wurde ...

Verführerisches Aroma und zart-schmelzender, vollmundiger Geschmack. Als die junge Clara zum ersten Mal ein Stück Schokolade probiert, weiß sie sofort, dass sie die süße Köstlichkeit zu ihrem Beruf machen will. 1912 legt sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Alfred Ritter den Grundstein für eine Schokoladen- und Zuckerwarenfabrik. Clara erfindet schließlich eine quadratische Tafel, deren zahlreiche Sorten das Zeug haben, die Welt zu erobern. Doch der Weg bis dahin ist steinig – und nicht nur ein Mal muss sich das Paar gegen Widerstände zur Wehr setzen, um das Familienunternehmen in eine glänzende Zukunft zu führen …

Jeder kennt die beliebte Schokoladenmarke Ritter Sport, kaum jemand deren Entstehungsgeschichte. In diesem packenden Roman zeichnet das Autorenduo Romy Herold das Leben einer außergewöhnlichen Frau nach: Aus kleinen Anfängen heraus stellte Clara Ritter zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Weichen für ein Unternehmen, das heute weltweit bekannt ist.

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Seitenzahl: 563

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Verführerisches Aroma und zart-schmelzender, vollmundiger Geschmack. Als die junge Clara zum ersten Mal ein Stück Schokolade probiert, weiß sie sofort, dass sie die süße Köstlichkeit zu ihrem Beruf machen will. 1911 begegnet sie dem Konditormeister Alfred Ritter – der Liebe ihres Lebens und dem Mann, der ihre Leidenschaft teilt. Gemeinsam mit ihm kann sie ihren Traum von der Schokoladenfabrik wahr machen. Clara erfindet schließlich eine quadratische Tafel, deren zahlreiche Sorten das Zeug haben, die Welt zu erobern. Doch der Weg dahin ist steinig – und nicht nur ein Mal muss sich das Paar gegen Widerstände zur Wehr setzen, um das Familienunternehmen in eine glänzende Zukunft zu führen …

Autorin

Romy Herold ist das Pseudonym der Autoren Eva-Maria Bast und Jørn Precht.

Eva-Maria Bast ist mehrfach preisgekrönte Journalistin sowie Autorin von Sachbüchern und zeitgeschichtlichen Romanen.

Jørn Precht ist Professor für Storytelling an der Stuttgarter Hochschule der Medien. Für seine Drehbücher und Romane wurde er mehrfach ausgezeichnet.

Auch unter dem Namen Charlotte Jacobi schreiben Eva-Maria Bast und Jørn Precht seit einigen Jahren sehr erfolgreich historische Familiensagas – darunter »Die Douglas-Schwestern« – und eroberten mehrfach die SPIEGEL-Bestsellerliste.

Von Romy Herold bereits erschienen

Das Marzipan-Schlösschen · Die Lebkuchen-Prinzessin

Romy Herold

Ein Traum von Schokolade

Roman

Dies ist ein historischer Roman. Er basiert auf der Unternehmensgeschichte von Ritter Sport.

Zahlreiche tatsächliche Abläufe und handelnde Personen sind jedoch so verändert und ergänzt, dass Fakten und Fiktion eine untrennbare künstlerische Einheit bilden.

Das Werk wurde nicht im Auftrag der Firma Ritter Sport verfasst, insbesondere besteht keine wie auch immer geartete Lizenzbeziehung. Die Verwendung des Firmennamens erfolgt ausschließlich aus beschreibenden und nicht aus markenmäßig-kennzeichnenden Gründen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (ogurechka; everettovrk; andersphoto; Abbies Art Shop); Richard Jenkins Photography und Schriftzug von Alfred Ritter GmbH und Co. KG

Fotos Umschlag-Innenseiten: Alfred Ritter GmbH und Co. KG

DK · Herstellung: DiMo

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-29999-6V004

www.blanvalet.de

»Nichts ist wertvoller als ein guter Freund,

außer ein guter Freund mit Schokolade.«

Charles Dickens

Prolog Mai 1888

Schokolade! Das sanft-bittere Aroma von Kakao war unter einer wunderbaren Süße deutlich zu schmecken. Obwohl das braune Stückchen beim Abbeißen geknackt hatte, wirkte die Masse jetzt während des Kauens leicht sahnig und zerging förmlich im Mund.

»Das ist sooo lecker«, schwärmte Clara Göttle überwältigt.

Das zehnjährige Mädle öffnete ihre Augen und sah in das freundlich lächelnde Gesicht des gepflegt wirkenden Wanderers, der vorhin im Gasthof ihrer Eltern zum Mittagessen eingekehrt war. Clara hatte ihm einen von ihrer Mutter Louise zubereiteten Zwiebelrostbraten aus der Küche in die Wirtsstube gebracht, dann war sie von dem gesprächigen Herrn in ein Schwätzle verwickelt worden. Der schlanke Vollbartträger mit den gutmütigen Augen mochte etwa dreißig Jahre alt sein und hatte sich ihr bei seinem Eintreffen sogar mit Namen vorgestellt, das taten hier die wenigsten Gäste. Hugo Gerstmann hieß er und roch wunderbar angenehm, es musste ein Rasierwasser sein oder edle Seife. So etwas fiel auf dem Göttle-Hof, wo es oft nach Dung stank, sofort auf. Derart gut dufteten die Menschen hier in Tomerdingen eher sonntags für den Kirchgang und bei größeren Festen. Herr Gerstmann war Süßwarenfabrikant aus dem fernen Leipzig, was Clara unglaublich aufregend fand.

Vom dortigen Café français hatte er ihr erzählt – und dass man darin schon seit fünfzig Jahren bei einer Tasse heißer Schokolade plaudern konnte. In Frankreich, Italien und Spanien sei das sogar schon länger Mode. Schokolade zum Trinken – wie wunderbar das schmecken musste!

Es hatte ihn ins kleine Tomerdingen verschlagen, weil er unterwegs zur sagenumwobenen Blautopf-Quelle in Blaubeuren war. Deren Wasser leuchtete bei Sonnenschein in auffälligem Blaugrün – das wusste Clara von einem Ausflug mit ihrem Lieblingsonkel Franz. Herrn Gerstmanns Reise war nicht ungewöhnlich, viele der Wanderer, die hier bei der Familie Göttle im Wirtshaus Lamm einkehrten, hatten dasselbe Ziel. Doch es war noch nie einer dabei gewesen, der Clara Schokolade zum Probieren gegeben hatte. Sie war heute zum ersten Mal in den Genuss dieser Köstlichkeit gekommen, da würde sie ihren Geschwistern nachher was zu erzählen haben!

»Sie stellen etwas ganz Wunderbares her, Herr Gerstmann«, schwärmte das Mädchen.

Von draußen war neben dem allgegenwärtigen Gebimmel der Kuhglocken und dem gelegentlichen Muhen indes leichtes Donnergrollen zu hören. Clara sah aus dem Fenster und bemerkte, dass eine bedrohlich düstere Wolkenwand heranzog. Hoffentlich würde dieser freundliche Gast nachher nicht im ersten Gewitter des Jahres nass werden, dachte die Landwirtstochter.

»Vielen Dank, Fräulein Göttle.«

Das Mädchen kicherte über Herrn Gerstmanns Anrede. Er schien gern Scherze zu machen, das mochte sie. Der Fabrikant nahm einen Schluck von seinem Bier, das neben dem fast leer gegessenen Teller auf dem Holztisch stand. Da es wegen des heranziehenden Unwetters ganz dunkel in der Gaststube geworden war, entzündete Clara eine Petroleumlampe für ihn.

In diesem Augenblick warf jedoch ein Blitz von draußen gleißendes Licht in den Raum, unmittelbar danach krachte der Donner, und zwar so erschreckend laut, als bräche ein Baumstamm entzwei.

»Oh, das ist jetzt ganz nah, es …«, setzte der Fabrikant zu kommentieren an, als polternd die Haustür aufgestoßen wurde. Von der Diele aus traten daraufhin zwei Gestalten auf die Schwelle der Gaststube – durch einen weiteren grellen Blitz beleuchtet. Die eine war recht klein, die andere etwas höher gewachsen. Im Schein der Petroleumlampe konnte Clara eine schlanke Frau mit einem etwa fünfjährigen Mädchen erkennen. Die Dame mochte Mitte zwanzig sein, und ihre edle Kleidung ließ auf eine eher städtische Herkunft schließen.

»Guten Tag«, sagte sie und sah sich kurz um.

Ihr Blick blieb interessiert an Herrn Gerstmann hängen, der die junge Frau anstrahlte wie Claras kleine Geschwister ein neues Spielzeug. »Auch Ihnen einen guten Tag.«

»Grüß Gott«, machte Clara auf sich aufmerksam, während die Fremde sich an den Tisch neben dem des Schokoladenherstellers setzte.

Die Wirtstochter ging zu den Neuankömmlingen und bemerkte, dass die beiden sogar noch besser dufteten als Herr Gerstmann. Nach Veilchen und Vanille! Clara lächelte der Kleinen zu, die sie mit ihren dunklen Löckchen ein wenig an ihre jüngste Schwester Amalie erinnerte.

»Draußen der Wauwau – der wird nass«, sagte das Kind und deutete mit ernster Miene auf das Fenster.

»Das ist unser Bello«, erklärte die Landwirtstochter.

Der Welpe war ein Nachkomme ihres alten Wachhundes Fido und eigentlich viel zu verspielt und vertrauensselig, um vor bösen Buben zu warnen oder diese gar in die Flucht zu schlagen. »Wenn es regnet, geht er von selbst in seine Hütte. Da ist es trocken«, beruhigte Clara das kleine Mädchen und wandte sich dann an dessen Mutter: »Was darf ich bringen?«

»Haben Sie Kakao?«, erkundigte sich die Dame, während draußen mit Tosen und Rauschen der befürchtete Regenguss einsetzte.

Clara schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nicht. Aber unsere Mutter hat Erdbeerlimonade gemacht – mein ältester Bruder Marcus wird morgen vierzehn, das hat er sich gewünscht.«

»Trinken wir ihm dann nicht das Geburtstagsgeschenk weg?«, gab die Frau zu bedenken, deren Stimme im Gegensatz zum Sächsischen des männlichen Gastes eine leicht hessische Färbung aufwies.

Die Wirtstochter schüttelte den Kopf. »Wir sind sechs Geschwister – deshalb macht meine Mutter sowieso immer ganz, ganz viel Limonade, damit es für alle reicht.«

»Dann probieren wir das sehr gern«, entgegnete die Dame. Ihre kleine Tochter war indes aufgestanden und spielte beim Kleiderständer neben der Tür mit einem Regenschirm, als sei er das Schwert eines Ritters. Ein Gast hatte ihn in der Woche zuvor hier vergessen.

»Kakao wäre an sich eine großartige Wahl gewesen, gnädige Frau«, wandte sich der Leipziger an die Städterin am Nebentisch, während Clara zur Theke ging, um die Limonade aus einer großen Kanne in zwei Gläser zu schütten.

»Als Schokoladenfabrikant habe ich täglich damit zu tun«, erklärte er. »Hugo Gerstmann mein Name. Auf dem Weg vom schönen Leipzig zum noch schöneren Blautopf.«

»Angenehm, Gottliebie Veith«, stellte daraufhin auch sie sich vor.

»Was führt Sie und die junge Dame denn auf die Alb hinauf?«, fragte er.

»Wir sind aus Stuttgart und müssen heute noch weiter nach Ulm«, antwortete sie, »aber etwas an unserer Kutsche ist gebrochen. Mein Gemahl ist beim Hufschmied, der kümmert sich darum. Ich wollte so lange mit meiner Jüngsten hier Schutz suchen, der Himmel hat vorhin schon so bedrohlich ausgesehen.« Dann lächelte sie. »Täglich mit Kakao zu tun zu haben, das stelle ich mir ganz wunderbar vor.«

Clara platzierte die beiden mit Erdbeerlimonade gefüllten Gläser auf Frau Veiths Tisch.

»Goethe hat einmal gesagt, dass eine Tasse Trinkschokolade genug Kraft gibt, einen ganzen Tag auf der Reise durchzuhalten«, erwiderte Gerstmann mit einem Lächeln.

»Unser großer Dichter war wohl ein Leckermäulchen.« Die junge Dame schmunzelte und nippte an der Limonade.

Von diesem Herrn Goethe hatte Clara schon ihr Onkel Franz erzählt, der ihr viel mehr beibrachte, als sie in der Schule lernte. Dort ging es ja nur um Lesen, Schreiben und Rechnen – und für die Mädchen um Handarbeit. Oft mussten Clara und ihre Geschwister aber schwänzen, weil sie auf dem Feld oder im Stall oder im Gasthaus helfen sollten. Jeden Tag die acht Göttles satt zu bekommen, das war eben wichtiger als das kleine Einmaleins!

Clara hörte, wie draußen auf der Diele erneut die Tür geöffnet wurde. Wahrscheinlich hatten das Gewitter und der Starkregen ihren Vater oder ihre älteren Geschwister von der Feldarbeit ins schützende Innere des Gebäudes getrieben. Sie nahm den leer gegessenen Teller und das Besteck von Herrn Gerstmanns Tisch, der unentwegt auf die hübsche Frau Veith einredete. Er schien sie wirklich sehr zu mögen.

»Goethe bekam den Ratschlag über die Kraft der heißen Schokolade angeblich von Alexander von Humboldt. Der berühmte Naturforscher selbst hat wohl einst gesagt: Kein zweites Mal hat die Natur eine solche Fülle von wertvollen Nährstoffen auf so kleinem Raum zusammengedrängt wie gerade bei der Kakaobohne.«

»Eine heiße Schokolade ist wirklich wunderbar belebend«, stimmte die hübsche Gottliebie zu.

»Wenn Goethe auf Reisen war, hat er seine Frau per Brief gebeten, ihm seine Lieblingssorte zu schicken. Die Köstlichkeit stammte vom Süßwarenhersteller Jean George Riquet – und der war mein Vorgänger in unserer Firma.«

Clara merkte deutlich, wie stolz Herr Gerstmann auf diese Tatsache war. Sie hatte inzwischen begonnen, den Teller und das Besteck abzuspülen.

»Mit Riquet führte der Dichterfürst einen regen Schriftverkehr über den guten Einfluss der Schokolade auf die Gesundheit. Wussten Sie, dass die lange Zeit nur in Apotheken verkauft wurde?«

Diese Aussage erstaunte Clara sehr. Sie hatte ihren Lieblingsonkel Franz öfter in die Löwenapotheke im zwölf Kilometer entfernten Ulm begleitet – dort gab es doch nur bittere Medizin! Der Bruder ihrer Mutter war Arzt und kannte viele Apotheker. Nie hatte Onkel Franz von dort Schokolade mitgebracht.

»Ja, das habe ich schon gehört, früher galt diese Süßigkeit als Stärkungsmittel«, bestätigte Gottliebie. »Außerdem muss sie anfangs wohl sehr, sehr teuer gewesen sein. Das hat mir meine Mutter erzählt. Deshalb konnten sich die Leckerei wohl nur der Adel und die wohlhabenden Bürger leisten.«

Kein Wunder also, dass ich bisher keine Schokolade bekommen habe, dachte Clara.

Gerstmann nickte. »Da hat Ihre Frau Mama völlig recht. Der hohe Preis kam unter anderem durch die Zölle und Steuern auf Kakao zustande. Die haben die Obrigkeiten inzwischen aber zum Glück in fast allen deutschen Ländern gesenkt oder abgeschafft. Trotzdem ist er manchen offenbar immer noch nicht billig genug. Bei uns im Reich sorgen derzeit die Kölner Gebrüder Stollwerck für Furore. Haben Sie schon von ihrem Dr. Michaelis’ Eichel Cacao gehört?« Er betonte den Namen abfällig und mit angewidertem Gesichtsausdruck. »An das südamerikanische Original reicht der in keinster Weise heran.«

»Kakaoersatz aus Eicheln?« Gottliebie Veith schien ebenso verwundert wie Clara. Eicheln bekamen bei ihnen auf dem Hof die Schweine zum Fressen!

»Ja, man nennt ihn Racahout. Zum Glück haben wir Schokoladenfabrikanten vor zehn Jahren in Dresden einen Verband gegründet. Wir achten vor allem darauf, was alles da reinkommt. Man sollte nicht glauben, was schwarze Schafe ihrer sogenannten Schokolade so alles beimischen: Kreide, Ziegelsteinpulver oder sogar Gips!«

Clara schüttelte sich. Wie konnte man bloß so etwas Ekliges da reintun!

»Widerlich!«, fand auch Gottliebie Veith. »Da ist es gut, wenn ehrenwerte Fabrikanten wie Sie zusammenhalten. Schokolade ist ja so beliebt, Ihre Geschäfte gehen gewiss sehr gut?« Sie sah ihm tief in die Augen.

Er nickte geschmeichelt. »Für uns deutsche Hersteller war ausgerechnet der Krieg gegen Frankreich ein Gewinn. Danach sind die hervorragenden französischen Süßwaren für einige Zeit vom Markt verschwunden – die Lücke konnten wir besetzen. Und dann waren da ja auch noch die Reparationszahlungen, durch die ist bei uns die gesamte Wirtschaft aufgeblüht. Außerdem hat man seither den Handel zwischen den deutschen Ländern erleichtert. Für uns Schokoladenhersteller ist es natürlich auch von Vorteil, dass man Zucker nicht mehr teuer importieren muss.«

Zum Glück habe der Chemiker Achard 1801 herausgefunden, wie man ihn aus Rüben gewinnen könne, berichtete Gerstmann weiter. Nur die Kakaobohnen, die müsse man natürlich weiterhin einführen.

»Bei den Azteken waren sie früher sogar Zahlungsmittel. Für zweihundert davon gab es einen Truthahn.«

Clara musste bei der Vorstellung kichern, und Frau Veith schmunzelte ihrerseits. »Ich habe in der Gartenlaube gelesen, dass wir den Azteken auch das Wort Schokolade verdanken.«

»Das stimmt«, bestätigte der Süßwarenhändler, »Xócoc bedeutet bitter, und atl ist das Wort für Wasser, xocóatl heißt also Bitterwasser. Und die Kakaobohne ist von Natur aus ja wirklich bitter. Erst durch die Zugabe von Zucker wird Schokolade zu dem süßen Genuss, den wir heute kennen.«

Bei den Worten Wasser und Zucker erinnerte sich Gottliebie wieder an ihre Tochter. »Sofie, jetzt trink doch endlich deine Limona…«

Sie unterbrach sich selbst, und Clara folgte Frau Veiths bangem Blick. Ihr kleines Töchterchen war verschwunden!

Die Dame erhob sich von ihrem Stuhl und sah sich panisch um. »Sofie, Sofie, wo bist du?«

In diesem Augenblick wurde Clara bewusst, dass vorhin wohl niemand durch die Haustür hereingekommen war, sondern das kleine Mädchen hinausgeschlüpft sein musste. Ein Blick zum Kleiderständer bestätigte ihren Verdacht: Der Regenschirm war verschwunden!

»Ich glaube, ich weiß, wo Sofie ist«, sagte Clara. »Warten Sie kurz!«

Sie eilte aus der Gaststube auf die Diele hinaus zur Haustür, ignorierte den Regen und lief um das Gebäude herum. Das kleine Mädchen kniete mit dem aufgespannten großen Regenschirm über dem Eingang der Hundehütte und streichelte Bello.

Clara fiel ein Stein vom Herzen. »Sofie, deine Mutter macht sich große Sorgen um dich. Wenn es blitzt, ist es draußen zu gefährlich. Dann geht auch der Bello in seine Hütte.«

»Aber da tropft es rein, mit Schirm ist es noch besser für den Wauwau«, rechtfertigte die Kleine ihr Ausbüxen.

»Das stört den nicht, komm, wir gehen zurück ins Haus!«

»Darf der Bello mitkommen?«

»Nein, dann schimpfen meine Eltern. Der hat in der Gaststube nichts zu suchen, sagen sie. Du kannst ihm nachher ein Stück Wurst bringen.«

Sofies Mutter wartete bereits an der Haustür und seufzte erleichtert auf, als die beiden Mädchen um die Ecke kamen.

»Ich habe dir doch gesagt, dass es draußen gefährlich ist, wenn es blitzt und donnert«, rügte die Dame ihr Töchterchen auf dem Rückweg in die Gaststube, bevor sie sich an Clara wandte: »Wieso wusstest du, wo die Kleine ist?«

»Ich habe gesehen, wie sie beim Kleiderständer mit einem Schirm zugange gewesen ist. Und sie hatte ja Angst, dass unser Bello im Regen nass wird«, antwortete die Wirtstochter. »Ich lasse auch meine kleinen Geschwister nie aus den Augen. Das haben mir meine Eltern beigebracht. Anderthalb Jahre bevor ich geboren bin, hat es hier nämlich ein schreckliches Unglück gegeben – wegen ein paar Kindern, auf die hat damals niemand aufgepasst.«

»Was ist geschehen?«, fragte Sofies Mutter neugierig.

»Drei Buben haben am Pfingstsonntag 1876 gezündelt, in der Neuen Straße, daraus ist dann ein schreckliches Feuer geworden. Bis zum Hahnenweiler draußen war danach alles in Schutt und Asche, fast fünfzig Häuser kaputt.«

»Stimmt, ich habe vorhin ein paar Ruinen gesehen im Ort – und das, obwohl der Brand ja wohl schon elf Jahre her ist. Kein Wunder, dass die Bevölkerung hier besonders auf ihre Kinder aufpasst«, meinte der Schokoladenfabrikant.

Clara verschwieg, dass es für ihre eigenen Eltern noch einen weiteren Grund gab, stets besorgt um ihre Sprösslinge zu sein. Zwei ihrer Söhne hatten sie nämlich bereits verloren: Ihr viertes Kind, Alexander, war im Sommer 1876 nur neun Tage nach seiner Geburt gestorben. Und Claras zwei Jahre jüngerer Bruder Anton hatte eigentlich einen Zwilling namens Franz gehabt, der jedoch im Alter von nur einem halben Jahr plötzlich tot in seinem Bettchen gelegen hatte. Noch heute sah Claras sonst so resolute Mutter Louise deswegen manchmal ganz traurig aus.

Der Händler beugte sich nun zur kleinen Sofie hinunter und reichte auch ihr ein Stück Schokolade. »Magst du mir versprechen, dass du deiner Mutti künftig keinen solchen Schrecken mehr einjagst? Wirst du ihr von Stund an mitteilen, wo du hingehst – und bei Gewitter stets Schutz in Häusern suchen?«

Mit sehnsüchtigem Blick auf das verlockende braune Stückchen in seiner Hand nickte das Kind eifrig. Er reichte es ihr, und sie schob es sich sogleich in den Mund.

»Wie sagt man?«, wurde Sofie daraufhin von ihrer Mutter erinnert.

»Danke schön«, piepste das Mädchen und entblößte bei einem Lächeln seine schokoladenverschmierten Zähnchen.

»Sehr freundlich von Ihnen, mein Herr«, wandte sich Frau Veith daraufhin an den Fabrikanten. Dann deutete sie mit leicht besorgtem Blick auf die Zeitung, die neben ihm auf dem Tisch lag. »Steht etwas darüber drin, wie es dem Kaiser inzwischen geht?«

Gerstmann nickte. »Sein Zustand scheint stabil zu sein.«

Clara war darüber ebenfalls erleichtert, denn wie wohl fast alle im Reich bangte auch sie um den geschwächten Monarchen. Ihr Onkel Franz war in einem schlimmen Krieg gegen Frankreich gewesen, und bei all den Feinden in der Welt da draußen brauchte Deutschland ja einen starken Anführer! Kaiser Friedrichs Vorgänger und Vater, Kaiser Wilhelm I., hatte am 9. März im Alter von fast einundneunzig Jahren in Berlin sein Leben ausgehaucht. Doch auch dessen Sohn war schwer krank. Er litt laut Claras Onkel Franz an Kehlkopfkrebs und war angeblich unfähig zu sprechen.

»Wie sehr die Journalisten gehalten sind, Friedrichs Zustand zu beschönigen, weiß man natürlich nicht«, gab Gerstmann zu bedenken. »Es kann gut sein, dass wir auch ihn bald verlieren.« Er sah mit Bedauern in der Miene auf seine goldene Taschenuhr und blickte aus dem Fenster. »Ich denke, der Regen hört gleich ganz auf. Man erwartet mich in Blaubeuren, ich muss leider aufbrechen. Zu gern hätte ich noch länger mit Ihnen geplaudert, meine verehrte Frau Veith, das war sehr anregend.«

»Mich hat es auch gefreut.« Die junge Frau strahlte, und Clara dachte bei sich, dass die Tomerdinger Mütter nie so nett zu fremden Männern waren.

Der Fabrikant wandte sich an die Wirtstochter. »Möchten Sie Ihre Frau Mama zum Bezahlen holen, Fräulein Clara?«

»Die backt gerade einen Kuchen für meinen Bruder. Aber ich darf auch abkassieren«, erklärte sie und griff in die Tasche ihrer weißen Schürze, um den großen Geldbeutel herauszuholen, den ihre Mutter ihr vorhin gegeben hatte.

Gerstmann sah die Zehnjährige verblüfft an. »Also gut. Ich hatte ein Glas Most, den Zwiebelrostbraten mit Spätzle – ach ja, und das Bier natürlich.«

Wie aus der Pistole geschossen nannte ihm Clara den Betrag, den er zu bezahlen hatte.

»Sie sind aber gut im Kopfrechnen«, stellte der Schokoladenfabrikant anerkennend fest.

»Das sagt der Herr Lehrer auch immer. Die Buben sind ein bissle neidisch darauf«, räumte die Landwirtstochter verlegen ein.

»Dann sollten Sie es sein, die das Gasthaus Ihrer Eltern irgendwann übernimmt«, meinte Gerstmann.

»Ich würde lieber Schokolade verkaufen wie Sie«, gestand Clara mit einem scheuen Lächeln.

Der Mann aus Leipzig gab ihr ein großzügiges Trinkgeld. »Vielleicht wird das ja die erste Anzahlung für Ihren eigenen Süßwarenladen, wer weiß.«

Natürlich musste Clara auch das zusätzliche Geld der Mutter geben, aber die Vorstellung eines eigenen Lädles gefiel ihr sehr. Sie dachte an die hübsch verpackten Schokoladentäfelchen, Bonbons und Pralinen, die ihr Herr Gerstmann vorhin in seiner Tasche gezeigt hatte – und wie sie die Leckereien dereinst liebevoll im eigenen Geschäft drapieren und an Kundschaft aus aller Herren Länder verkaufen würde.

»Ich will da mitspielen«, meldete sich die kleine Sofie Veith zu Wort. »Als Vorkosterin.«

Die beiden Erwachsenen lachten, und auch Clara musste schmunzeln. Der Gedanke an das eigene Schokoladenlädle ging ihr allerdings nicht aus dem Kopf.

Teil 1 1897 bis 1903

1. Kapitel

Am Samstag, dem 13. März 1897, stand Clara Göttle noch zu später Stunde allein in der Küche des Gasthauses Zum Lamm in Tomerdingen. Ihre Familie hatte sich längst zur Ruhe begeben, aber die braun gelockte junge Frau war hellwach. Sie gab Puderzucker in eine Bratpfanne – und Kakaopulver! Diese wertvolle Zutat hatte Clara am 2. Dezember des vorangegangenen Jahres von ihrem Lieblingsonkel, dem Mediziner Franz Merkle, zum neunzehnten Geburtstag geschenkt bekommen – dank seiner Freundschaft zu einem Ulmer Kolonialwarenhändler war ihr Oheim an die exotische Rarität gelangt.

Jetzt fügte seine Nichte dem vermengten Pulver in der Pfanne Kuhmilch hinzu, erhitzte die Mischung, bis sie zu köcheln begann, und rührte sie für mehrere Minuten. Schließlich nahm sie die Pfanne vom Herd und fügte ein wenig Honig und das Mark einer Vanilleschote hinzu, welches sie zuvor mit einem kleinen Messer vorsichtig ausgekratzt hatte.

Als Nächstes gab sie Butter dazu und rührte die sämige und verführerisch duftende Masse, bis sie gleichmäßig und ohne Verklumpungen war. Vorsichtig steckte Clara den rechten Zeigefinger in die entstandene Mischung und leckte ihn ab. Ja, das schmeckte tatsächlich nach Schokolade, stellte sie zufrieden fest.

Eigentlich fühlte sie sich in der Küche nicht gerade heimisch, sie kümmerte sich lieber um Abrechnungen sowie die Bestell- und Verkaufslisten von Hof und Gasthaus. Den Kalender immer im Blick, wurde neues Saatgut dank ihr nie zu spät geliefert. Wer wissen wollte, welcher Wochentag war oder welches Datum, der brauchte bloß Clara zu fragen, sie hatte alles stets im Kopf.

Auch bei ihrem Schokoladenexperiment ging sie nicht planlos, sondern nach Rezept vor. Am Weihnachtsfest nach dem Besuch des Leipziger Fabrikanten Gerstmann hatte Onkel Franz seiner Nichte einen wahren Schatz geschenkt: ein Buch über Schweizer Schokolade, in dem ein Chocolatier namens Rudolf Lindt erwähnt wurde. Der war nicht nur Süßwarenhersteller, sondern auch ein wichtiger Erfinder. Anfang des Jahrhunderts hatten die Menschen Kakao noch hauptsächlich als Getränk konsumiert, denn feste Schokolade herzustellen, war damals noch äußerst mühsam gewesen. Die Bestandteile mussten mit Mahlmühlen vermengt werden. Schon 1826 hatte Lindts Landsmann Philippe Suchard den sogenannten »Mélangeur« konstruiert, eine Maschine, mit der sich Zucker und Kakaopulver einfach vermengen ließen. Doch im Dezember 1879 gelang Rudolf Lindt eine weitere, entscheidende Verbesserung – durch die Konstruktion einer Maschine, die als »Conche« bezeichnet wurde. Vorher hatte Schokolade eine brüchig-sandige Konsistenz gehabt, sie war bitter im Geschmack gewesen und nicht auf der Zunge geschmolzen. Durch die Restfeuchtigkeit der Mélange kristallisierte nämlich der gelöste Zucker teilweise wieder und bröckelte. Indem der Schweizer die Rohmasse aber mit der Conche bei großer Hitze gründlich durchgerührt hatte, war ihm eine wunderbar zart schmelzende Schokolade gelungen. Durch langes Conchieren verflüchtigten sich nicht nur Wasseranteile, sondern auch Geruchs-, Bitter- und andere Aromakomponenten, die nicht da reingehörten. In dem Buch aus der Schweiz befanden sich zusätzlich zum geschichtlichen Abriss sogar einige Rezepte zur Schokoladenherstellung ganz ohne Maschinen. Deshalb war Clara die Idee gekommen, es einmal selbst zu versuchen.

Zu guter Letzt goss sie den braunen Brei in eine flache Schale. Nun musste das Ganze gut auskühlen. Da die Nächte derzeit für Mitte März ungewohnt mild waren, ging die Göttle-Tochter in den kühlen Vorratskeller des Gasthauses. In einem der dortigen Regale stellte sie die Schale mit der selbst gemachten Schokolade ab und begab sich danach hinauf in das Zimmer, das sie sich mit ihrer zweieinhalb Jahre älteren Schwester teilte. Marie schlief leider schon friedlich, zu gern hätte Clara ihr noch von dem süßen Experiment erzählt.

Sie freute sich dermaßen darauf, ihren Onkel Franz mit ihrer Kreation zu beeindrucken, dass sie kaum Ruhe fand und auch am nächsten Morgen schon sehr früh wieder erwachte.

Da sie wusste, dass der Arzt Frühaufsteher war und auch sonntags oft schon vor der Dämmerung nach seinen beiden Pferden sah, beschloss Clara, ihn die Schokolade gleich probieren zu lassen.

Sie wusch sich ausgiebig und zog ihren schönsten Sonntagsstaat an. Als fromme Katholiken würden sämtliche Mitglieder der Familie Göttle später natürlich in den Gottesdienst gehen. Doch bis dahin war noch genug Zeit, Onkel Franz die Schokolade probieren zu lassen, die sie nun aus dem Keller holte und mit einer Gabel aus der Schale kratzte. Die Stückchen verstaute sie schließlich in einer Papiertüte.

Als sie aus dem Haus trat, war am Horizont zwar bereits das rötliche Licht zu sehen, das die Morgendämmerung ankündigte, doch die Nacht hatte sich noch nicht gänzlich geschlagen gegeben.

Während Clara durch das dunkle Tomerdingen in Richtung der Ordination ihres Onkels lief, dachte sie daran, dass die Heimatliebe ein zweischneidiges Schwert war. In einem kleinen Bauerndorf wie dem ihren würde sie sich den Kindheitstraum vom eigenen Schokoladenlädle nie erfüllen können, für so etwas gab es hier zu wenig Kundschaft. Fortgehen kam jedoch nicht infrage, denn für das, was sie anbauten und ernteten, hatten die Eltern dank Onkel Franz’ Verbindungen inzwischen Abnehmer bis nach Ulm. Daher brauchten sie jede Hand, und Clara durfte die Familie keinesfalls im Stich lassen.

Am Ortsrand kam sie an einem der zerstörten Häuser vorbei, die einundzwanzig Jahre zuvor dem Feuer zum Opfer gefallen waren. Die Familie, die es einst bewohnt hatte, war angeblich nach dem Brand nach Ulm gezogen. Claras älterer Bruder Marcus hatte es immer »das Spukhaus« genannt und in seiner Jugend dort mit seinen Freunden »Gespenster jagen« gespielt. Aber nur tagsüber. Nachts, so hatte er zugegeben, würden ihn »keine zehn Pferde« dort hineinkriegen. Auch Clara war beim Anblick der im Dunkeln liegenden Ruine äußerst mulmig zumute. Sie hatte das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden, und beschleunigte ihre Schritte. Irgendwo rief ein Käuzchen, und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie sah zur Mariae-Himmelfahrt-Kirche hinauf und stellte erleichtert fest, dass darin schon Licht brannte. Der Priester war wohl bereits dabei, den Gottesdienst vorzubereiten. Diese Vorstellung beruhigte sie jedoch nur vorübergehend, denn plötzlich entdeckte sie beim Gotteshaus im Halbdunkel eine untersetzte Gestalt, die nur aus schwarzem und weißem Tuch zu bestehen schien. Um ein Haar hätte die Göttle-Tochter bei diesem Anblick aufgeschrien, doch da war die geisterhafte Erscheinung auch schon vollends im Dunkel verschwunden.

Clara bemerkte zu ihrer Verwunderung, dass ein Korb auf der Treppe zur Kirche abgestellt worden war, aus dem nun der Schrei eines Säuglings ertönte. Wer ließ denn so ein wehrloses Menschlein ganz allein in der Morgendämmerung vor der Kirche zurück?

Ihrer Angst vor der unheimlichen Gestalt zum Trotz eilte Clara zu dem Korb. Tatsächlich lag darin ein in Leinen gewickeltes Kleinkind, das sich bei ihrem Anblick etwas zu beruhigen schien. Claras Gedanken rasten. Was sollte sie tun? Den Säugling auf den Arm nehmen? In diesem Augenblick wurde die Kirchentür aufgerissen, und Pfarrer Weber kam herausgestürzt. Der hagere Geistliche starrte Clara und den Korb mit dem Kind darin verblüfft an, wodurch ihr bewusst wurde, wie missverständlich die Situation auf den Geistlichen wirken musste. Mein Gott, er dachte bestimmt, sie habe den Säugling loswerden wollen!

»Guten Morgen, Hochwürden, ich war gerade auf dem Weg zu meinem Onkel, da hab ich das Kind gehört«, beeilte sie sich deshalb zu erklären.

»Wer hat es hier abgestellt?«, fragte Pfarrer Weber.

»Ich habe im Dunkeln eine kleine, ziemlich dicke Gestalt gesehen«, erläuterte Clara. »Genau erkennen konnte ich sie aber nicht, sie war vermummt.«

»Ob es gesund ist?«

Auf diese Frage des Geistlichen hin nahm die Gastwirtstochter den Säugling aus dem Korb, beruhigte ihn und öffnete vorsichtig seine Windeln.

»Es ist ein Junge, scheint kräftig und gesund zu sein«, war ihr erster Eindruck. »Aber vielleicht sollte ihn mal mein Onkel untersuchen – zur Sicherheit?«

»Gut, Mädle, aber wart, ich schließ nur kurz ab, dann komme ich mit«, meinte der Priester. »Es ist wohl offensichtlich, dass jemand den Jungen in die Obhut der Kirche geben wollte, da trägt unsereins dann ja die Verantwortung.«

Vor dem Häuschen ihres Oheims sahen der Priester und Clara eine junge Frau mit blondem Haar, die gerade den Türklopfer betätigen wollte.

»Anna«, erkannte Clara hocherfreut ihre ehemalige Nachbarin und Schulkameradin. Sie stellte den Korb ab, und die beiden jungen Frauen fielen sich in die Arme. Seit Anna Markert, die inzwischen Brökel hieß, vor drei Jahren zu ihrem Mann in den Nachbarort Bollingen gezogen war, sahen sich die Freundinnen viel zu selten.

Sie waren schon an der Schule ein ungleiches Paar gewesen: die propere, kräftige Clara mit ihren roten Bäckchen und den braunen Locken an der Seite des knapp zwei Jahre älteren, hageren Blondschopfs Anna. Wie oft hatten sie einander aus der Patsche geholfen! Einmal war Anna sogar auf die waghalsige Idee gekommen, dem Lehrer heimlich den Rohrstock zu klauen und zu verbrennen, weil er Clara damit zum wiederholten Mal schlimm geschlagen hatte.

»Guten Morgen, Hochwürden«, grüßte sie nun auch den Priester.

»Was führt dich denn so früh nach Tomerdingen?«, erkundigte sich Clara.

»Ich wollte zu deinem Onkel, mein Schorsch hat wieder seine schlimmen Kopfschmerzen«, erklärte Anna. »Ich soll beim Doktor Merkle nach einem Schmerzmittel fragen.«

»Und dafür schickt er dich allein drei Kilometer durch die Nacht?«, fragte Clara empört.

Statt einer Antwort wandte sich Anna liebevoll dem Säugling im Korb zu. »Wer ist denn eigentlich das süße Würmchen?«

»Es ist ein Bub. Wir wissen noch nicht, zu wem er gehört«, antwortete Clara. »Jemand hat ihn gerade in einem Korb auf der Treppe vor der Kirche abgestellt.«

»Was? Wer tut denn so was?«, rief Anna entsetzt.

Etwas verstimmt rief sich nun Pfarrer Weber ins Gedächtnis zurück. »Das wissen wir nicht. Wenn wir dann mal Doktor Merkle konsultieren könnten?«

»Natürlich«, sagte Anna schuldbewusst und betätigte endlich den Türklopfer.

Fräulein Hummel öffnete. Die Haushälterin des Arztes machte ihrem Namen keine Ehre. Sie war hochgewachsen und dürr mit einer spitzen Nase, und Clara fand, dass ihre Bewegungen stets eckig wirkten.

»Hochwürden«, erkannte sie erstaunt.

»Wir müssten dringend Doktor Merkle sprechen«, erläuterte der Priester. »Es geht um diesen Bub hier.«

Claras Onkel Franz, ein grauhaariger Fünfundfünfzigjähriger mit einem Kneifer auf der Nase, kam aus dem Behandlungszimmer. Eigentlich war Anfang Februar ein neuer Orts- und Armenarzt namens Dr. Oskar Sonntag nach Tomerdingen gekommen, doch an den hatten sich die Bewohner noch nicht gewöhnt, daher suchten viele weiterhin Claras Onkel auf. Er lächelte seinen drei frühen Besuchern mit dem Kleinkind freundlich zu. »Guten Morgen zusammen. Was fehlt dem Menschlein denn?«

»Zunächst mal die Eltern«, antwortete seine Nichte. »Ich war gerade auf dem Weg zu dir, da hat jemand den Buben in einem Korb auf die Treppe zur Kirche gestellt.«

»Ein Moses ohne Schilf und Wasser sozusagen«, entgegnete der Arzt. »Na, dann schauen wir uns den kleinen Mann doch einmal genauer an. Kommt mit in die Ordination!«

Während Dr. Franz Merkle den Säugling eingehend untersuchte, schwiegen Clara, Anna und Pfarrer Weber gespannt.

Schon Franz’ Vater Johann Nepomuk Merkle war medizinisch tätig gewesen. Allerdings hatte er nicht wie sein Sohn in Tübingen studiert, sondern war Wundarzt gewesen. Alles, was es dazu bedurfte, hatte er von einem Bader erlernt. Dennoch war Johann wohl sehr geübt gewesen im Verarzten und Verbinden von Wunden sowie im Umgang mit Naturheilmitteln und hatte gerade deshalb in Tomerdingen hohes Ansehen genossen. Clara besaß keine Erinnerung an ihren Großvater, der bereits im Juni 1878 gestorben war, da war sie noch nicht mal ein Jahr alt gewesen. Doch seinen Sohn, ihren Onkel Franz, hatte sie schon oft in Aktion erlebt.

Soeben hob er den Säugling empor. »Also, körperlich scheint ihm der ersten Untersuchung nach nichts zu fehlen«, meinte Franz. »Ich denke, der Bub ist nicht älter als eine Woche. Der Nabel ist noch nicht ganz verheilt. Wer auch immer ihn abgelegt hat, wollte ihn schnell loswerden.«

»Was tun wir denn jetzt bloß?«, fragte der Priester hilflos.

»Wenn Sie erlauben, werden meine Haushälterin und ich uns zunächst um den Kleinen kümmern, ich hätte ihn noch gern eine Weile unter Beobachtung. Morgen melde ich es den Behörden in Ulm. Was meinen Sie, Fräulein Hummel?«

»Ich meine, dass Ihre Gutmütigkeit eh siegt, egal, was ich jetzt sage«, entgegnete sie mit einem amüsierten Funkeln in den Augen. »Und ansonsten meine ich, wir haben uns so oft um Ihre vielen Neffen und Nichten gekümmert, wenn die Mama im Wochenbett gelegen ist – wir sind wohl ganz gut darin geworden.«

»Das kann ich nur bestätigen«, sagte Clara lächelnd.

»Ich werde ihm gleich mal ein Fläschchen machen«, kündigte Fräulein Hummel an. »Bitte, mich kurz zu entschuldigen.«

Anna und Clara sahen voller Zuneigung auf den Säugling im Arm ihres Onkels.

»Wenn die leiblichen Eltern ihn so schnell loswerden wollten, steht zu befürchten, dass er nicht getauft wurde«, mutmaßte Pfarrer Weber mit gefurchter Stirn. »Das müsste dringend nachgeholt werden. Aber dazu bräuchte er erst mal einen Namen.«

»Wie wäre es mit Victor?«, schlug der sehr belesene Dr. Franz Merkle nach kurzem Überlegen vor. »Nach Victor Hugo, dem französischen Autor. In seinem berühmten Roman Der Glöckner von Notre Dame geht es ja um ein Findelkind.«

»Victor ist ein akzeptabler Vorname«, meinte der Geistliche gnädig.

Anna Brökel streichelte liebevoll über das winzige Händchen des Jungen. »Süßer kleiner Victor.« Dann sah sie zu den Erwachsenen auf. »Wenn sich die leiblichen Eltern nicht finden, ob Schorsch und ich …? Wir versuchen es schon so lange, aber …«

Anna war seit drei Jahren mit Georg Brökel verheiratet, der von allen aber nur Schorsch genannt wurde. Er hatte eigentlich Lehrer werden wollen, war dann aber zum Schreiber des Bollinger Bürgermeisters Knab geworden. Anfangs war Clara recht angetan von dem arbeitswütigen jungen Mann gewesen und hatte Anna zugeraten, auf sein Werben einzugehen. Mittlerweile fand sie Brökel viel zu kühl für die gutmütige und herzliche Freundin. Als liebevollen Vater konnte sich Clara ihn auch nicht vorstellen. »Meinst du wirklich, Schorsch wäre bereit, ein Kind anzunehmen, über das so wenig bekannt ist?«

»Ich bekomme ihn schon überzeugt«, meinte Anna. »Sie könnten mir helfen, die Laune meines Mannes zu bessern, Doktor Merkle. Haben Sie noch das Pulver gegen seine Migräne?«

»Na, wenn das dem kleinen Victor ein neues Zuhause verschafft, natürlich«, erwiderte Franz.

Clara wusste von ihm, dass es Schorschs Krankheit schon sehr lange gab und sie sehr quälend sein konnte. Angeblich hatte sogar Julius Caesar an Migräne gelitten!

Als Anna mit dem Schmerzmittel nach Bollingen aufgebrochen war und man dem Priester beim Abschied versichert hatte, einander beim Gottesdienst wiederzusehen, durfte Clara dem Säugling das von Fräulein Hummel zubereitete Fläschchen geben.

»Wieso wolltest du eigentlich in aller Herrgottsfrühe zu mir?«, erkundigte sich Franz bei seiner Nichte.

Clara schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Gott, jetzt hätt ich’s fast vergessen!«, rief sie, stellte Victors Fläschchen ab und griff in ihre Tasche. »Ich habe es nicht bis zur Kirche ausgehalten, wollte, dass du gleich nach dem Aufstehen meine erste Schokolade kostest. Schließlich verdanke ich dir die wichtigste Zutat.« Sie überreichte ihrem Onkel stolz die Papiertüte mit den süßen braunen Stückchen darin.

Er probierte sogleich eines. »Hm, ist das köstlich. Dafür lohnt es sich wirklich, früh aufzustehen. Ich muss dir wohl bald mal wieder Kakaopulver mitbringen.«

»Du sollst dich aber nicht für mich in Unkosten stürzen«, meinte Clara.

»So teuer ist es gar nicht mehr – dank Kaiser Wilhelms Machtgier. Der träumt doch schon länger von deutschen Kolonien und meint, uns steht ein Platz an der Sonne zu – wie den Engländern«, erklärte der Onkel abfällig. Seit seinen schrecklichen Erlebnissen als Feldarzt im Deutsch-Französischen Krieg war ihm gewaltsame Unterwerfung anderer Völker zuwider. »1889 kamen die ersten fünf Säcke Kakao aus Kamerun hier an, heute sind es jedes Jahr mehrere Tausend Zentner. Das braune Pulver wird in Zukunft wohl immer besser verfügbar werden – und damit auch noch billiger.«

In diesem Augenblick machte der Säugling mit einem Seufzer auf sich aufmerksam, und Clara setzte erneut das Fläschchen an. Sie fragte sich, ob man seine Eltern jemals finden würde.

2.Kapitel

Einige der fünfundzwanzig Pralinen hatte sie, dem Rezept in ihrem Buch entsprechend, mit Fruchtcreme gefüllt – aus Erdbeeren und Himbeeren; andere enthielten Vanille, Mocca, Nüsse, Pistazien oder Nougat. Am kommenden Donnerstag, dem 10. Juni 1897, wollten Clara Göttles Eltern Silberhochzeit feiern, und aus diesem Anlass sollte in ihrem Gasthof ein fulminantes Fest für das ganze Dorf stattfinden. Für jedes Ehejahr ihrer Eltern hatte sie eine Praline gefertigt – als Geschenk für deren Jubiläum. Clara betrachtete gerade zufrieden ihr Werk, da vernahm sie auf dem Hausflur die näher kommende Stimme ihres Onkel Franz. Und sie erschrak, als daraufhin auch die ihrer Mutter zu hören war. Sie stürzte zur Küchentür, deren Griff Louise Göttle bereits herunterdrückte, und stellte sich der kräftigen Matriarchin in den Weg.

»Mama, du kannst jetzt nicht da rein, sonst siehst du meine Überraschung für Donnerstag«, rief Clara aufgebracht.

»A Überraschung geit’s, heilig’s Blechle.« Ein kurzes Schmunzeln huschte über das kantige Gesicht ihrer Mutter, die ihr braunes Haar zu einem strengen Knoten zusammengebunden trug. Sie bestimmte: »Na, musch halt du m Fränzle a Wurschtbrot macha.«

»Das bekomme selbst ich hin«, entgegnete Clara.

Sie ließ Franz in die Küche und überzeugte sich noch davon, dass ihre Mutter tatsächlich das Weite suchte.

Der Onkel betrachtete durch seinen Kneifer anerkennend die Pralinen auf dem Tisch. »Selbst gemacht?«

Clara nickte. »Mit deinem Kakao, und nach Rezept aus dem Schweizer Buch. Aber anstrengend war es schon, und es hat auch nicht auf Anhieb geklappt. Sie zu essen, macht da mehr Spaß.«

Sie begann damit, ihm eine Scheibe Brot vom Laib abzuschneiden.

Doch Franz deutete grinsend an, sie solle ihm das Messer geben. »Komm, Clärle, das mache ich selbst. Verpack du besser mal die hübschen Pralinen, bevor dein Vater auch noch hier reinwill.«

Sie lächelte ihn liebevoll an. »Danke, Onkel Franz.«

In diesem Augenblick sah sie beim Blick durchs Fenster eine schlanke Frau mit Kinderwagen auf das Gasthaus zukommen. Sie trug einen Hut mit Schleier, weshalb Clara sie erst nach genauerem Hinsehen erkannte. »Das ist ja die Anna«, freute sie sich und fügte lachend hinzu: »Wieso trägt sie denn bei dem schönen Wetter so einen seltsamen Trauerhut?«

Da hörte sie ein Klappern am Hauseingang. Erwartungsvoll öffnete sie die Tür zur Diele – Anna hatte einen Brief durch den Schlitz in der Tür geworfen, sich aber seltsamerweise nicht bemerkbar gemacht. Clara eilte zur Haustür, riss sie auf und rief nach der Freundin.

Anna zuckte erschrocken zusammen, und statt der gewohnten herzlichen Umarmung unter Freundinnen drehte sie sich nur sehr zögerlich um. Dadurch fiel etwas Sonnenlicht auf ihr Gesicht, und trotz des schwarzen Schleiers erkannte Clara erschrocken, dass Annas rechtes Auge dunkel umrandet war. »O Gott, was ist dir denn passiert?«

Als nun auch noch ihr Onkel mit einem »Grüß dich, Anna« aus dem Haus trat, senkte sie rasch den Blick und murmelte verschüchtert: »Ich Tollpatsch bin auf der Kellertreppe ausgerutscht und gestürzt«, beantwortete sie schließlich peinlich berührt Claras Frage.

»Du Arme«, sagte diese mitleidsvoll. »Was ist das für ein Brief, den du eingeworfen hast?«

»Schorsch und ich werden übermorgen leider doch nicht zur Feier kommen können«, sagte Anna unwillig und wirkte, als wäre sie vor Scham am liebsten im Boden versunken. »Er hat für den Bürgermeister zu tun, und ich muss auf den Kleinen aufpassen.«

Franz kam näher und sah mit liebevollem Lächeln auf den schlafenden Säugling, um den sich im März eine Weile seine Haushälterin gekümmert hatte.

Clara bedauerte die Absage der einst so engen Freundin, zumal es nicht das erste Mal war, dass Anna eine Verabredung abblies, seit ihrer Heirat war es öfter vorgekommen. Sich nun die Silberhochzeit der früheren Nachbarn entgehen zu lassen, passte allerdings überhaupt nicht zu Anna. Und man merkte an der Art, wie sie Claras Blick auswich, dass ihr die Absage unangenehm war. »Oh, das tut mir aber leid, meine Eltern hätten euch sicher gern dabeigehabt.«

»Ich komme einfach so mal mit dem Kleinen vorbei und stoße mit Louise und Michael an«, behauptete Anna. »Ich muss dann auch schon weiter. Sonst macht sich Schorsch noch Sorgen.«

Clara war irritiert und auch ein wenig verletzt darüber, dass sich ihre Freundin so unnahbar gab. »Gut, ich richte es den Eltern aus. Sag du deinem Mann schöne Grüße.«

Als Anna nun mit dem Kinderwagen davonging, fiel Clara auf, dass Franz der jungen Frau noch besorgter nachsah als sie selbst.

»Den Blick kenne ich, Onkele«, raunte sie ihm zu. »Du denkst bestimmt dasselbe wie ich.«

Er sah sie fragend an. »Was denken wir denn?«

»Dass Annas blaues Auge nicht von einem Treppensturz stammt«, antwortete Clara ernst.

Franz nickte. »Da kann ich dir aus ärztlicher Sicht nur recht geben.«

Mit leiser Stimme sprach seine Nichte eine schon länger gehegte Befürchtung aus. »Glaubst du, ihr Schorsch verprügelt sie ganz schlimm?«

»Das kannst du sicher eher beurteilen, du bist ja mit ihr befreundet«, entgegnete der Arzt.

Ihr Vater Michael käme Gott sei Dank niemals auf die Idee, der Mutter auch nur ein Haar zu krümmen, da war sich Clara völlig sicher. Er liebte Louise auch wegen ihres klugen Kopfes und hatte oft betont, dass es sich immer lohne, auf die Einfälle seiner Gattin zu hören, und seien sie auch noch so eigenwillig.

Einige der Bauern im Dorf hatten ihre Frauen hingegen bereits in Claras Beisein geohrfeigt – doch Annas blaues Auge ließ darauf schließen, dass Schorsch sie weitaus brutaler verprügelte. »Vor anderen Leuten ist er nett zu ihr und dem Kleinen. Aber seit einer Weile zieht Anna sich immer mehr zurück, sagt fast alle Treffen ab. Manchmal wirkt sie regelrecht verängstigt. Ich habe sie auch schon gefragt, ob etwas nicht stimmt.«

»Und?«

»Sie hat es darauf geschoben, dass seit drei Monaten das Findelkind bei ihnen lebt.«

»Der kleine Victor ist so zauberhaft, ich habe seine Gegenwart nie als Belastung empfunden«, meinte Franz. »Außerdem haben die beiden so lange vergeblich versucht, eigenen Nachwuchs zu bekommen. Du darfst es nicht weitersagen, Clärle, aber ich denke, dieser Georg Brökel ist ein recht eitler Mann. Es liegt nämlich an ihm, dass sie keine Kinder bekommen haben. Ich habe ihn zu einem Spezialisten in Tübingen geschickt, der fand dann heraus, dass mit ihm was nicht stimmt. Schorsch hat Anna aber gezwungen, zu erzählen, es sei ihr Körper, der eine Schwangerschaft verhindert – sein Vater bedrängt ihn nämlich ständig, endlich für einen Stammhalter zu sorgen. Mit so einem Findling gibt Schorschs Vater sich nie zufrieden.«

»Ich habe keinerlei Zweifel, dass Anna gut für Victor sorgen wird«, meinte Clara. »Und Schorsch geht ja zumindest fleißig arbeiten. Ich hoffe bloß, dass er den Kleinen nicht übermäßig schlagen wird. Er war mit der Adoption ja nur einverstanden, nachdem Anna mit Engelszungen auf ihn eingeredet hat.«

»Außerdem musste ich mehrfach versichern, dass dieses Findelkind keinerlei ausländisches Blut in sich hat«, verriet Franz. »Sonst wäre eine Adoption für ihn nie infrage gekommen.«

»Kann man das denn überhaupt sicher wissen – ohne die leiblichen Eltern zu kennen?«, wunderte sich Clara.

»Natürlich nicht«, entgegnete Franz. »Ich konnte trotzdem mit bestem Gewissen sagen, dass an dem Kind nichts Undeutsches ist – weil der Natur unsere Ländergrenzen sowieso völlig egal sind. Den deutschen Körper gibt es nicht.«

»Ich habe so ein schlechtes Gewissen«, gestand Clara. »Anna hat damals gezweifelt, ob sie Georgs Werben erhören soll. Und ich habe ihr zugeraten. Ich befürchte, meine Menschenkenntnis ist miserabel.«

»Mach dir keine Vorwürfe! Schorsch ist ein Choleriker, und die verstehen es oft bestens, zeitweise sehr liebevoll zu wirken.« Franz furchte besorgt die Stirn. »Gerade deshalb müsste man überprüfen, ob das Wohl des kleinen Buben in Gefahr ist.«

»Vielleicht sollte ich Anna einen unangekündigten Besuch abstatten. Dann könnte ich mir einen unverfälschten Eindruck von ihrem Heim verschaffen«, schlug Clara vor.

»Gute Idee«, fand Franz, »je früher, desto besser. Noch ist die Adoption ja nicht rechtskräftig, aber als Schreiber beim Bollinger Bürgermeister bekommt Georg Brökel das sicher schneller als üblich über die Bühne.«

»Stimmt. Ich gehe gleich morgen am frühen Nachmittag mal vorbei. Da wird ihr Göttergatte noch in der Amtsstube sein. Ich habe noch ein paar Versucherle von den Pralinen übrig, die können Anna und ich kosten und dabei schwätzen. Wie früher, als sie noch unsere Nachbarin war.«

Die Sonne brannte heiß vom Himmel, als sich Clara tags drauf auf den Weg ins drei Kilometer entfernte Bollingen machte, um ihrer Freundin den geplanten Überraschungsbesuch abzustatten. Am Ortsausgang kam sie wieder am Spukhaus vorbei. Jetzt um die Mittagszeit fand Clara das Gebäude gar nicht so unheimlich. Vielmehr strahlten seine teilweise mit Moos und Efeu zugewachsenen Mauern die Zuversicht aus, dass manches sowohl einem verheerenden Feuer als auch der Zeit trotzen konnte. Vielleicht würde das Haus eines Tages ja sogar instand gesetzt werden und wieder mit Leben erfüllt sein?

Auch Bollingen, dem Clara sich nach einer guten halben Stunde Fußmarsch näherte, wurde von einem verfallenen Gebäude bewacht. Auf dem hohen Schlossberg am Rande des Kiesentales südwestlich des Örtchens befanden sich Geländespuren und Reste von zwei schmalen Halsgräben einer hochmittelalterlichen Burg. Clara hatte dort als Kind mit ihren Geschwistern Ritter und Burgfräulein gespielt. Im Heimatkundeunterricht war ihnen beigebracht worden, dass es sich dabei um den einstigen Stammsitz des Patriziergeschlechts Roth von Schreckenstein handelte. Eine Zeit lang hatten die Göttle-Sprösslinge sich deshalb die Schreckensteiner genannt.

Wie so oft war auch dabei ihre Spielkameradin Anna an ihrer Seite gewesen. Clara würde nicht zulassen, dass ihre Freundschaft derart litt!

Inzwischen hatte sie das Häuschen in der Nähe der St.-Stephanus-Kirche erreicht, in dem Georg und Anna Brökel lebten.

Sie trat vor die Eingangstür und hörte von innen, wie Anna beruhigend auf das schreiende Kind einredete. Als Clara jedoch angeklopft hatte, öffnete zu ihrer Enttäuschung nicht ihre Freundin, sondern deren Ehemann Schorsch, ein drahtiger Mann mit breiten Schultern und weizenblondem Seitenscheitel.

Er sah sie befremdet an. »Clara, was führt dich hierher?«

»Ich … ich war in der Gegend und wollte mich ein bisschen mit Anna unterhalten«, stammelte sie. Wieso war er nicht auf Arbeit? »Ich wollte nicht stören.«

»Sie hat keine Zeit«, entgegnete er gereizt. »Victor zahnt wohl ungewöhnlich früh, da braucht er viel Fürsorge.«

»Ähm … also gut. Aber vielleicht …«, setzte sie an, da fiel er ihr auch schon ins Wort: »Ich richte ihr aus, dass du da warst. Anna kann sich ja bei Gelegenheit melden, wenn sie in Tomerdingen ist. Dir noch einen schönen Tag.«

»Euch auch …«

Weiter kam sie nicht, da hatte er ihr die Tür bereits vor der Nase zugeknallt.

Nach der ersten Verwirrung wurde Clara wütend darüber, derart abgewimmelt worden zu sein. Sie beschloss, nicht so schnell aufzugeben – sie wollte herausfinden, wie es um die Ehe der beiden stand. Im Garten gab es eine Stelle, wo sie von innen nicht zu sehen war, man jedoch hören könnte, was in der Kinderstube gesprochen wurde.

»Weshalb hast du sie weggeschickt?«, war Annas Stimme zu vernehmen.

»Aus demselben Grund, aus dem ich dir verbiete, morgen auf diese Silberhochzeit zu gehen. Du wolltest dieses Kind. Deshalb wirst du dich auch darum kümmern – und zwar so, dass noch genug Zeit bleibt, für mein Wohlbefinden zu sorgen.«

»Aber ich kann meine Freunde doch nicht völlig vergraulen«, gab seine Frau verzweifelt zu bedenken.

»Das hättest du dir vorher überlegen müssen«, brüllte er so zornig, dass Clara Angst um Anna bekam. »Erst das ständige Gebrüll von dem Balg und dann noch dein Gejammer, das ertrag ich nicht. Hör auf damit, sonst setzt es wieder was!«

Also doch! Clara stieß entrüstet die Luft aus.

»Und jetzt sorg dafür, dass der Kleine still ist, mir platzt gleich der Kopf!«, hörte sie ihn bellen. »Ich mache drei Kreuze, wenn die Handwerker im Rathaus fertig sind und ich wieder ohne das unentwegte Geplärr schaffen kann.«

Jetzt war das Zuschlagen einer Tür zu vernehmen – und danach Annas leises Schluchzen.

Clara wusste, dass es keinen Sinn hatte, erneut zu versuchen, ins Hausinnere zu gelangen, um die Freundin zu trösten. Würde Schorsch sie dabei erwischen, hätte die Ärmste gewiss noch mehr zu leiden. Sie beschloss, mit ihrem Onkel über die schwierige Lage zu sprechen. Vielleicht wusste er Rat.

»Beata!«

Clara stieß einen erfreuten Schrei aus, als sie wenig später bei ihrer Ankunft am elterlichen Gehöft eine junge Nonne erblickte, die mit ihrem kleinen Köfferchen von einem Fuhrwerk stieg und sich beim Kutscher bedankte.

Als die Frau im Habit sich umdrehte, war sich Clara vollends sicher: Es handelte sich in der Tat um die älteste, nunmehr sechsundzwanzigjährige Göttle-Tochter Mathilde Balbine. Seit ihrem achtzehnten Lebensjahr war sie Franziskanerin im Kloster Heiligenbronn im Schwarzwald und wurde Schwester Beata genannt. Dass auch sie zur Silberhochzeit anreisen würde, hatte Clara nicht zu hoffen gewagt.

»Clärle«, rief die Nonne lächelnd, da war die Jüngere auch schon bei ihr und drückte sie an sich. »Wie schön, dass du gekommen bist. Die Eltern werden jubeln vor Freude.«

»Unsere Schwester Oberin war sofort einverstanden«, berichtete Beata. »Es geschehen noch Zeichen und Wunder.«

Die erstgeborene Tochter der Göttles war freiwillig einem Konvent beigetreten, der sich um blinde und schwerhörige Kinder kümmerte, eine Aufgabe, die Beata sehr liebte. Die äußerst gläubigen Eltern hatten nachgehakt, ob sie auch ganz sicher sei, diesen Weg gehen zu wollen – und waren dann sehr stolz über den Entschluss der Tochter gewesen. Nach den ersten Monaten hatte Beata kurz gezweifelt und war ausgebüxt, doch dann war ihr Heimweh nach den Mitschwestern und ihren Zöglingen so groß geworden, dass sie wieder ins Kloster zurückgekehrt war – und dieses Mal endgültig.

»Komm, ich trage deinen Koffer«, bot Clara nun an, und die beiden Schwestern gingen auf das Haus zu.

»Es wird gewiss sehr voll werden bei der Feier«, mutmaßte Beata lächelnd.

»Ja, ich glaub, Mutter und Vater haben sehr viele eingeladen. Ich habe gar keinen Überblick mehr, wer kommt«, entgegnete Clara, und dann verdunkelte sich ihr Gesichtsausdruck. »Ich weiß allerdings, wer sicher nicht dabei sein wird.«

Beata sah sie fragend an. »Wer denn?«

»Unsere alte Freundin Anna.«

»Wieso das nicht?«

Und so erzählte Clara von Annas Absage, dem blauen Auge und dem vorhin belauschten Gespräch.

Beata wusste um die Situation bei den Brökels und blickte sehr ernst drein. »Ich habe Neuigkeiten, die Annas Situation komplett ändern könnten.«

»Wieso das?«

»Ich weiß jetzt, wer die Eltern des kleinen Victor sind«, verkündete die Nonne.

Clara sah ihre Schwester ungläubig an.

3. Kapitel

Wenig später saßen die beiden Göttle-Schwestern mit ihrer Mutter und deren älterem Bruder Franz in der geschlossenen Gaststube des Wirtshauses. Louise war ganz außer sich gewesen über das unerwartete Wiedersehen mit ihrer Erstgeborenen.

Jetzt lauschte auch sie mit ernster Miene, als Beata von der Herkunft des kleinen Victor zu erzählen begann: »Erinnert ihr euch noch an meine Mitschwester Elisabeth?«

»Natürlich«, sagte Clara. Die lebenslustige und dralle junge Frau stammte ebenfalls aus Tomerdingen und war ein Jahr vor Beata Nonne in Heiligenbronn geworden. »Sie hat dich doch damals erst auf die Idee gebracht, ins Kloster zu gehen.«

»Genau. Im März ist Elisabeth für einige Tage ausgerissen. Nach ihrer Rückkehr hat sie behauptet, sie habe eine kranke Tante in Ulm besucht.«

»Und das hat nicht gestimmt?«, mutmaßte Onkel Franz.

Seine älteste Nichte schüttelte den Kopf. »Nein, sie war in Wirklichkeit dort, um ein Kind zu entbinden.«

»Was?«, stieß Clara hervor. »Aber wie …? Habt ihr im Kloster gewusst, dass sie … guter Hoffnung ist?«

»Nein. Es ist ja bei uns Christusbräuten nicht gerade an der Tagesordnung. Wir dachten, Elisabeth hat einfach noch mehr zugenommen.«

»Dann ist der kleine Victor … das Kind einer Nonne«, wiederholte Clara verblüfft. So oft hatte sie sich vorgestellt, was das wohl für ein Mensch war, der einen hilflosen Säugling einfach aussetzte. Eine Mitschwester Beatas wäre ihr dabei niemals in den Sinn gekommen. »Aber wer ist der Vater?«

»Elisabeth hat der Mutter Oberin letzte Woche alles gestanden. Ein Maurer aus Frankreich hat sie voriges Jahr umworben, er war bei Arbeiten am Kloster eingesetzt. Sein Name ist René Bourgeois. Im Juni hat er sie dann verführt, und sie hat sich mit ihm der Sünde hingegeben.«

Clara fragte sich, was für eine Strafe einer Nonne nach einem solchen Bruch ihres Keuschheitsgelübdes drohte. Ob sie derart befleckt überhaupt im Kloster bleiben durfte?

Beata fuhr mit ihrer Erzählung fort. »Sie hat es bitter bereut und wollte ihn nicht mehr wiedersehen – obwohl sie sehr verliebt in ihn war. Er hat vor Sehnsucht angeblich Höllenqualen ausgestanden und ist deshalb nach Ulm, um dort eine Anstellung zu finden – damit er sie nicht mehr jeden Tag sehen und leiden musste. Er hatte wohl gehofft, sie gebe für ihn ihr Leben im Konvent auf, und war sehr enttäuscht, als sie sich geweigert hat. Er fand das umso schlimmer, weil sie ja genauso verliebt war. Dass sie ein Kind erwartet, hat sie wohl erst vier Monate vor der Geburt bemerkt. Sie wollte sich dann auf die Suche nach René machen und fand heraus, dass er an der Ulmer Straßenbahn mitgearbeitet hatte. Doch die war schon fertiggestellt – und er in seine Heimat zurückgekehrt.«

»Hat der Kerle denn erfahra, dass er Vater gworda isch?«, erkundigte sich Louise.

Wieder schüttelte ihre Erstgeborene den Kopf. »Elisabeth hatte keine Möglichkeit, in Frankreich nach ihm suchen zu lassen. Der Arbeitgeber auf der Baustelle wusste nur, dass René irgendwo aus den Ardennen stammt, eine genaue Heimatanschrift hatte er nicht von ihm. Das ist natürlich viel zu ungenau, um ihn zu finden. Elisabeth hat ihr Kind dann heimlich bei irgendeinem Kurpfuscher in Ulm entbunden.«

»Und warum hat sie den Bub dann ausgerechnet hier in Tomerdingen abgestellt?«, wollte Onkel Franz wissen.

»Sie kannte unseren Pfarrer Weber ja aus ihrer Jugend, hat sich noch daran erinnert, wie fürsorglich er Kindern gegenüber immer gewesen ist«, antwortete Beata.

»Was bedeutet das jetzt für Anna?«, fragte Clara voll Sorge um ihre Freundin. »Wird diese Elisabeth das Kloster verlassen und sich Victor zurückholen?«

»Das kann sie nicht.« Beatas Stimme stockte, und in ihren Augen schimmerte es feucht. »Als sie der Mutter Oberin alles gestanden hat, lag Elisabeth auf dem Sterbebett. Durch die Entbindung bei dem Kurpfuscher war sie sehr krank geworden, wir haben sie vorigen Dienstag beerdigt.«

Franz, Louise und Clara sahen sich betreten an. Was für eine tragische Geschichte!

»Darf Anna den Kleinen denn trotzdem adoptieren?«, brach Clara schließlich das Schweigen. »Man weiß ja jetzt, dass irgendwo ein lebender Vater existiert.«

»Die Mutter Oberin möchte den Bischof überzeugen, eine Suche in Auftrag zu geben. Aber so groß sein Einfluss auch ist, viel Hoffnung gibt es nicht, diesen Herrn Bourgeois zu finden.«

»Trotzdem wird die arme Anna ab jetzt in schrecklicher Unsicherheit leben«, meinte Clara. »Wenn er doch noch auftaucht, kann er ihr den Bub doch jederzeit wieder wegnehmen.«

»Es könnte auch Gefahr von anderer Seite drohen«, gab Dr. Franz Merkle zu bedenken. »Georg Brökel war es doch so wichtig, dass Victor auf keinen Fall ausländisches Blut in sich hat. Wenn er von der Herkunft des Vaters erfährt, bläst er die Adoption bestimmt doch noch ab.«

»Zuzutrauen wäre es ihm«, bestätigte Clara voller Bitterkeit. »Wir müssen auf jeden Fall zuerst mit Anna sprechen. Bloß ob man sie allein erwischt? Zurzeit wird im Bollinger Rathaus gebaut, deshalb arbeitet Schorsch zu Hause.«

»Aber dienstags ist er immer mit den Männern von den Deutschlandfreunden im Hahnen in Dornstadt, Karten spielen«, wusste ihre Mutter Louise vom dortigen Wirt.

Clara nickte entschlossen. »Gut, wenn sich vorher keine Möglichkeit bietet, werde ich Anna am Dienstagabend warnen.«

Am Tag der Silberhochzeit von Michael und Louise Göttle herrschte im heimatlichen Tomerdingen wahres Kaiserwetter. Schon im Morgengrauen hatte Clara prüfend aus dem Zimmerfenster gesehen. Dabei hatte sie die Nachbarn Markert, das waren Annas Eltern, beobachtet, wie sie nach altem Brauch heimlich einen Kranz mit der Zahl Fünfundzwanzig an der Haustür der Göttles aufhängten. Später würden Freunde und Bekannte des Jubelpaares zur Beschwörung weiteren Eheglücks silbernes Besteck aus dem Fenster werfen, auch das war in der Gegend Tradition.

Die Eltern hatten die Wirtschaft bereits um elf Uhr vormittags geöffnet, und es herrschte ein stetes Kommen und Gehen von Gratulanten, Onkel Franz war natürlich der erste gewesen. Clara und ihre beiden älteren Schwestern Beata und Marie nahmen Mutter Louise an diesem Tag sämtliche Arbeiten in Küche und Wirtsstube ab, sodass sie sich ganz den Gästen widmen konnte. Auch ihr Gatte Michael hatte den Rücken frei, da ihr ältester Sohn Marcus sich mit Knecht Korbinian um die Tiere kümmerte. Schon gegen ein Uhr nachmittags hatte der Land- und Gastwirt mit so vielen Gratulanten angestoßen, dass er recht fröhlich war und etwas lauter sprach als sonst. Für gewöhnlich war ja eher seine Frau Louise die Wortführerin. Claras jüngere Schwestern mussten an diesem Festtag nicht mithelfen. Das siebenjährige Nesthäkle Josephine, die von allen nur Jósephe mit Betonung auf dem »o« genannt wurde, steckte jedem Gast ein Blümchen ins Haar, auch der gutmütige Pfarrer Weber ließ es über sich ergehen. Die fünfzehnjährige Amalie wollte sich das Sonntagskleid nicht verschmutzen und betonte immer wieder, dass sie deshalb unmöglich aushelfen könne, und heute ließ man ihr das ausnahmsweise durchgehen. Die Geschickteste war sie ohnehin nicht. Die Fünfzehnjährige war mal wieder voller Verzweiflung auf der Suche nach ihrem Tagebuch, das der Mittelpunkt ihres Lebens zu sein schien. Ansonsten hielt sie sich selbst für den außergewöhnlichsten Mittelpunkt der Welt, was, wie Clara sich noch erinnerte, in diesem Alter durchaus gewöhnlich war. Deshalb gab es für Amalie nicht den geringsten Zweifel an der Tatsache, dass jedes noch so kleine Ereignis ihres Lebens von allerhöchster Bedeutung war und festgehalten werden musste.

»Für den Jüngling im Alter zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren ist die erste Zigarre ein erstrebenswertes Ziel – mit allen gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln«, meinte Onkel Franz jetzt. »Ein Mädle in dem Alter sehnt sich nach längeren Kleidern, der Anrede ›Sie‹ und – nach einem Tagebuch!«

Clara schmunzelte. Amalies Journal war ein einfaches schwarzes Notizbüchle mit kariertem Papier. Der seidig glänzende Umschlag war aus einem Material, das Wachstaffet genannt wurde. Das wusste die gesamte Familie, da Amalie schon von jedem verlangt hatte, sich an der verzweifelten Suche zu beteiligen, wenn sie es einmal mehr verlegt hatte.

»Ja, in dem Alter hält man alles für niederschreibenswert«, erinnerte sich der freundliche Kolonialwarenhändler Karl Gaissmaier aus Ulm, ein alter Freund von Claras Onkel und Abnehmer der elterlichen Kartoffeln, Mohrrüben, Beeren, Nüsse, Obst und vielem mehr. Der wohlhabende Kaufmann hatte dem Jubiläumspaar einen Geschenkkorb mit allerlei Köstlichkeiten mitgebracht. Darin erspähte Clara Cognac sowie Käse aus Frankreich, Südfrüchte und zu ihrer besonderen Faszination belgische Schokolade, die bestimmt himmlisch schmeckte! Sie würde die Eltern bitten müssen, davon kosten zu dürfen. Der freundliche Mittvierziger mit dem Schnauzbart stand mit einem Glas Sekt bei ihrem Onkel Franz, und gemeinsam beobachteten sie mit mildem Lächeln die hagere Amalie, die immer hysterischer nach ihrem Tagebuch suchte.

»Das mag daran liegen, dass wir in dem Alter so viele Dinge zum ersten Mal erleben und tun. Da fühlt sich jeder wie ein Pionier«, fuhr Gaissmaier fort.

»Ich habe ihr das Tagebuch vorige Weihnachten geschenkt. Sie war ganz außer sich vor Freude, weil es ein kleines Vorhängeschloss mit einem goldenen Schlüssel hat«, erzählte Franz. »›Göttlich, Onkele, ganz famos göttlich!‹, das waren ihre Worte. Sie hat es an einer abgedankten Kneiferschnur von mir befestigt und trägt es jetzt um den Hals.«

»Der Schlüssel ist mir schon aufgefallen. Ich habe mich gefragt, wofür er wohl sein mag«, entgegnete Gaissmaier schmunzelnd.

»Der ging schon am Weihnachtsabend das erste Mal verloren. Und seither passiert es ihr ständig«, berichtete Clara.

Der Onkel nickte mit leidgeprüftem Gesichtsausdruck. »Wie oft Amalie nach diesem vermaledeiten Tagebuchschlüssel sucht – das spottet jeder Beschreibung. Es gibt bald kein Fauteuil und keinen Schrank mehr im ganzen Haus, worunter sie nicht mit dem halben Leib gesteckt hat. Sie fährt bis an die Ellbogen in die Polsterung der Lehnsessel und wühlt dadrin wie ein Schatzgräber.«

Clara schmunzelte. »Es liegt aber nicht immer nur an ihrer Schusseligkeit. Meine Brüder Marcus und Anton spielen ihr oft übel mit«, räumte sie zu Amalies Verteidigung ein.

In der Tat schlichen die beiden des Öfteren hinter die Besitzerin, wenn sie darin schrieb, sahen ihr über die Schulter zu und lasen dann laut und mit übertrieben gefühlvoller Betonung daraus vor, wobei es ihnen königliches Vergnügen zu bereiten schien, wenn Amalie sie daraufhin wie eine Wildkatze ansprang und vergeblich versuchte, ihnen die Augen auszukratzen. Doch damit nicht genug. »Sie stehlen und verstecken den Schlüssel und das Buch unaufhörlich. Gemeinerweise lassen sie sich dann oft Lösegeld in Form von Essbarem geben, bevor sie’s wieder herausrücken.«

»Ja, das hat ihr leidgeprüftes und oft geschröpftes Onkele auch mitbekommen«, bestätigte Franz grinsend.

Clara und Karl Gaissmaier lachten.