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Zwischen Selbstbestimmung und Etikette findet eine junge Marzipan-Bäckerin im Lübeck der 20er-Jahre ihren Weg.
Lieblich-süß mit zartem Mandelaroma und einem Hauch von Rosenwasser – Marzipan! Es ist aber nicht nur die köstliche Masse mit Biss, die Dora Hoyler 1921 nach Lübeck lockt. Seit ihr Vater die Familie verschuldet in der schwäbischen Heimat zurückgelassen hat, ist die norddeutsche Hansestadt auch Doras letzte Hoffnung auf Arbeit. Sie erhält eine Anstellung im Süßwarenladen ihrer Tante und lernt dort kunstvolle Kreationen aus Marzipan zu formen. Ihr Talent versetzt ganz Lübeck in Aufruhr und erregt bald auch die Aufmerksamkeit von Johann Herden, dem Erben einer bekannten Marzipan-Dynastie. Dora verliebt sich in ihn, doch das Zuhause der wohlhabenden Fabrikantenfamilie – das malerische Schlösschen oberhalb der Trave – entpuppt sich als Hort dunkler Geheimnisse …
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Seitenzahl: 556
Veröffentlichungsjahr: 2021
Buch
Lieblich-süß mit zartem Mandelaroma und einem Hauch von Rosenwasser – Marzipan! Es ist aber nicht nur die köstliche Masse mit Biss, die Dora Hoyler 1921 nach Lübeck lockt. Seit ihr Vater die Familie verschuldet in der schwäbischen Heimat zurückgelassen hat, ist die norddeutsche Hansestadt auch Doras letzte Hoffnung auf Arbeit. Sie erhält eine Anstellung im Süßwarenladen ihrer Tante und lernt dort kunstvolle Kreationen aus Marzipan zu formen. Ihr Talent versetzt ganz Lübeck in Aufruhr und erregt bald auch die Aufmerksamkeit von Johann Herden, dem Erben einer bekannten Marzipan-Dynastie. Dora verliebt sich in ihn, doch das Zuhause der wohlhabenden Fabrikantenfamilie – das malerische Schlösschen oberhalb der Trave – entpuppt sich als Hort dunkler Geheimnisse …
Autorin
Romy Herold ist das Pseudonym der Autoren Eva-Maria Bast und Jørn Precht.
Eva-Maria Bast ist Journalistin, Autorin mehrerer Sachbücher, Krimis und zeitgeschichtlicher Romane sowie die Chefredakteurin der Zeitschrift »Women’s History«. Für ihre Arbeiten erhielt sie diverse Auszeichnungen, darunter den Deutschen Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Jørn Precht ist Professor für Storytelling an der Stuttgarter Hochschule der Medien sowie mehrfach preisgekrönter Drehbuchautor für Kino- und Fernsehproduktionen. Er hat zahlreiche Sachbücher und historische Romane verfasst, sein Erstling »Das Geheimnis des Dr. Alzheimer« wurde mit dem Literaturpreis HOMER prämiert.
Als Duo schreiben Eva-Maria Bast und Jørn Precht seit einigen Jahren sehr erfolgreich historische Familiensagas und eroberten mehrfach die SPIEGEL-Bestsellerliste.
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Romy Herold
Das MarzipanSchlösschen
Roman
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Redaktion: René Stein
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DN · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-26563-2V001
www.blanvalet.de
Im Süßwarengeschäft Einar Christoffersen
Dora Hoyler (* 4. Februar 1904 in Notzingen), Verkäuferin
Hedwig Hoyler, geborene Jensen (* 24. Mai 1884 in Lübeck), Näherin, Doras Mutter
Mads Einar George Lindegaard Christoffersen (* 15. Mai 1883 in Kolding), Süßwarenhändler, Doras Onkel
Ingeline »Iny« Christoffersen, geborene Jensen (* 10. Mai 1881 in Lübeck), Süßwarenhändlerin, Doras Tante
Babette Christoffersen (* 27. März 1902 in Lübeck), Kontoristin, Tochter von Iny und Einar, Doras Cousine
Siegfried »Siggi« Christoffersen, geborener Andresen (* 11. August 1903 in Lübeck), Adoptivsohn von Iny und Einar, Konditor
Im Marzipan-Schlösschen
Hubert Herden (* 6. Mai 1872 in Lübeck), Marzipanfabrikant, der Patriarch
Johann Claudius Herden (* 1. August 1897 in Lübeck), Student der Nationalökonomie, designierter Nachfolger
Felix Nikolaus Herden (* 14. Juli 1899 in Lübeck), Jurastudent, Johanns Bruder
Natalie Herden, geborene Frey (* 11. Mai 1878 in Altona), Stiefmutter von Johann und Felix
Lucie Krull (* 7. Juni 1904 in Schleswig), Stubenmädchen
Gesa Lührs (* 31. Oktober 1880 in Lübeck), Köchin
Ottilie Rautenberg (* 3. Januar 1870 in Frankfurt am Main), Hausdame
In den Lübecker Marzipan-Werken Hubert Herden
Jakob Kröger (* 16. August 1862 in Lübeck), Leiter der Marzipanfabrik
Armin Kröger (* 11. November 1893 in Lübeck), Jakobs Sohn, Formschneider und Bildhauer
In der Künstlerkneipe Zur Börse
Johann Friedrich Heinrich »Fritz« Eulert (* 31. Dezember 1883 in Lübeck-Siems), Wirt, genannt Fiete
Frieda Wilhelmine Martha »Fiete« Krugel (* 5. Februar 1898 in Lübeck), Schauspielerin
Hans-Peter »Hansi« Mainzberg (* 28. Februar 1895 in Thorn), Schauspieler, Bariton
Ernst »Zylindermann« Albert (* 21. Mai 1859 in Cöthen), Theaterschauspieler und Biologe
Antonio »Tonio« Martens (* 1. Juni 1897 in Lübeck), Kellner im Lübecker Hotel International
Professor Otto Anthes (* 7. Oktober 1867 in Michelbach an der Aar), Pädagoge und Schriftsteller
Im Kinderheim
Lieselotte »Lilo« Jannasch (* 12. August 1873 in Gnadenfrei, Landkreis Reichenbach, Provinz Schlesien), Krankenschwester
Wilhelm Jannasch (* 8. April 1888 in Gnadenfrei, Landkreis Reichenbach, Provinz Schlesien), evangelisch-lutherischer Hauptpastor der Lübeckischen Aegidienkirche, Vorstand des Kinderheims, Lilos Neffe
Dr. Julius Hans Carl Erich Degner (* 30. Januar 1885 in Stralsund), Facharzt für Innere Krankheiten
Dr. Mathilde Gertrud Degner, geborene Severin (* 10. Dezember 1878 in Lübeck), Fachärztin für Kinderkrankheiten, Dr. Erich Degners Frau
Weitere Personen
Anna Magdalena »Marlene« Kleinert, geborene Sutor (* 22. Juli 1878 in Regensburg), Inhaberin Detektiv- und Auskunftsbüro
Ida Boy-Ed, geborene Ida Cornelia Ernestina Ed, (* 17. April 1852 in Bergedorf), Schriftstellerin und Salonière
Gerhard »Gägge« Hoyler (* 27. November 1883 in Notzingen), Papierfabrikmaschinist, Schiffsheizer, Doras Vater
Bernhard Bernstein (* 6. Juni 1882 in Schwetz), Kaufhausbesitzer in Kirchheim unter Teck
Hulda Bernstein, geborene Jutkowski (* 4. September 1883 in Gnesen), seine Frau
Uwe Tiedemann (* 24. November 1880 in Altona), Grossist für Südfrüchte, Nüsse und Mandeln
Charlotte Andresen (* 4. Mai 1886 in Lübeck), Siggis Mutter, Musiklehrerin
Georg Rudolf Reinhold Kalkbrenner (* 20. Dezember 1875 in Dammer), Finanzsenator Lübecks, Charlottes Verlobter
Hein Petersen (* 11. Juli 1897 in Lübeck), Student der Nationalökonomie
Paul Sommerlath (* 11. September 1893 in Hannover), Polizeileutnant
Gertrud Siemers (* 12. April 1895 in Lübeck), Kunstmalerin
Hans Daniels (* 6. Juni 1905 in Lübeck), Schüler mit deutschvölkischer Gesinnung
Lieblich-süß und leicht bitter zugleich, zartes Mandelaroma, ein Hauch von Rosenwasser … Mit geschlossenen Augen ließ die zehnjährige Dora Hoyler die weiche Masse sanft auf der Zunge zergehen. Wie aufregend neuartig das schmeckte – und wie köstlich!
Nach diesem Genusserlebnis sah das blond gelockte Mädchen in das erwartungsvolle Gesicht seiner Tante Ingeline Christoffersen, die alle nur Iny nannten. Obwohl sie bereits jenseits der dreißig war, hatte die etwas mollige Süßwarenverkäuferin sich ihren mädchenhaften Charme bewahrt. Sie wirkte fast wie ein Beifall heischendes Kind, als sie nun drängelte: »Sag schon! Magst du ihn?«
»Mehr davon!«, bat Dora schwärmerisch. »Er ist wunderbar!«
Iny reichte ihrer Nichte lächelnd ein weiteres Stück Marzipan, und die schob es sich sogleich in den Mund.
»Nicht zu fassen, dass du ihn nicht kanntest«, meinte Iny. »Du hast wirklich etwas verpasst.«
Heute war der 28. Juli 1914 und der Tag, an dem Dora zum ersten Mal in ihrem Leben jene Köstlichkeit probierte, die aus Mandeln hergestellt wurde. In ihrem Heimatdorf am Fuße der Schwäbischen Alb gab es so etwas nicht. Das Mädchen war wie verzaubert vom Geschmack des gelblichen Breis, der sich von den übrigen süßen Naschereien hier im Laden ihrer Tante an der Lübecker Holstenstraße unterschied: »Der Marzipan schmeckt nicht sooo süß, aber ich weiß nicht, wie genau.«
»Das liegt daran, dass die Masse zum größten Teil aus blanchierten und geschälten Mandeln besteht, und deshalb ist er leicht bitter. Nur die Hälfte darf aus Zucker bestehen«, erklärte die Tante. »Der hier enthält sogar neun Zehntel Mandelmasse und nur ein Zehntel Zucker. Deshalb ist er so gelblich. Je weißer der Marzipan, desto mehr Zucker enthält er.«
»Ist er eine ganz neue Erfindung von euch?«, fragte Dora.
Ihre Tante lachte. »Nein, diese Leckerei genießen die Menschen schon seit vielen Jahrhunderten. Obwohl Mandeln im Mittelalter sehr teuer waren, gab es Marzipan angeblich schon damals. Vor gut fünfhundert Jahren ging in Venedig eine schlimme Hungersnot zu Ende. Die Bewohner haben damals aus Dankbarkeit dem Heiligen Markus ein Brot aus Mandeln geweiht: das marci panis – Brot des Markus. So erzählt man es sich wenigstens.«
»Da gibt es aber auch andere Legenden«, mischte sich mit seiner rauen Stimme Onkel Einar in das Gespräch, Inys Mann. Der blonde Zuckerbäcker war Anfang dreißig und stammte ursprünglich aus Kolding in Dänemark; jetzt war er gerade damit beschäftigt, frische, herrlich duftende Krapfen in die Körbe hinter der Verkaufstheke zu legen. »Demnach stammt Marzipan nicht aus Italien, sondern aus Persien. Er hat sich sowohl ins ferne Indien verbreitet als auch gen Westen. Im Mittelalter brachten ihn die Araber nach Europa, zunächst führte der Weg über Spanien. Da wurde er recht beliebt. Der Mazapán de Toledo ist auch heute noch eine der berühmtesten Sorten überhaupt. Aber viele Länder haben ihre eigene Marzipan-Stadt. Heute ist er wirklich in aller Welt bekannt.«
»Außer in Notzingen«, entgegnete Dora lächelnd, die mit ihren Eltern in einer Bauerngemeinde gut dreißig Kilometer südöstlich von Stuttgart wohnte, wo nicht mehr als tausend Seelen lebten. Beim Bäcker in Kirchheim unter Teck, der nächstgelegenen größeren Stadt, hatte Dora bisher noch keinen Marzipan entdeckt. Das mochte jedoch daran liegen, dass ihr Vater Gerhard als einfacher Arbeiter in einer Kunstdruck-Papierfabrik nicht viel Geld verdiente und sich die Familie außer Brot kaum Gebäck leisten konnte – und sogar das buk ihre Mutter oft selbst im Backhäusle ihres Dorfes. Doras Reise mit ihrer Mutter in deren Heimatstadt Lübeck war nur möglich, weil ihr Vater ein stattliches Sümmchen beim Kartenspiel gewonnen hatte. Gerhard hatte sie seiner Gattin Hedwig zum dreißigsten Geburtstag geschenkt. Er musste natürlich in der Papierfabrik schaffen, da hatte zu ihrer großen Freude Dora die Mutter begleiten dürfen. Der erste Teil der Zugfahrt hatte den gesamten gestrigen Tag in Anspruch genommen. Mutter und Tochter Hoyler waren schließlich in einer Pension in Göttingen eingekehrt, bevor es heute früh weiter nach Lübeck zu Hedwigs Schwester und deren Mann ging. Im Augenblick war Doras Mutter unterwegs, um ihre Nichte Babette von der Schule abzuholen, Hedwig wollte das Mädchen überraschen. Als nun ein gleißender Blitz den Laden erhellte und unmittelbar darauf ein erschreckend lauter Donnerschlag ertönte, sah Dora besorgt durch das Schaufenster hinaus auf die Holstenstraße.
»Hoffentlich kommen Babette und Mama bald«, sagte sie. »Bestimmt fängt es gleich an zu regnen.«
Ihr Blick begegnete dem eines strohblonden Jungen in ihrem Alter, der draußen stand und sehnsüchtig auf die Süßwaren im Schaufenster sowie in den Bonbongläsern im Ladeninneren starrte. Er wirkte abgemagert, und seine Kleidung ließ keinen Zweifel daran, dass er sich wahrscheinlich keine der Leckereien hier leisten konnte. Es schien, als fühle er sich von Dora ertappt, denn obwohl sie ihm freundlich lächelnd zuwinkte, verschwand er rasch aus ihrem Sichtfeld. Just in diesem Augenblick begann es draußen wie aus Eimern zu gießen, doch zu ihrer Erleichterung sah sie nun zwei Gestalten mit Regenschirmen auf den Laden zuhasten. Dora eilte zur Tür und riss sie auf, um ihre Mutter und das braunhaarige Mädchen hereinzulassen. »Mama! Babette!«, rief sie erfreut.
Die strahlende Tochter der Christoffersens fiel ihrer Cousine um den Hals. »Dora, was für eine schöne Überraschung, und wie hübsch du geworden bist.«
Dieses Kompliment traf aber auch auf Babette zu. Das erste Mal hatte Dora ihre Base gesehen, als sie mit deren Mutter zu Besuch nach Schwaben gekommen war. Damals war Babette noch eine etwas pummelige Neunjährige gewesen, erinnerte sich Dora, was ihrer Begeisterung für die fröhliche Cousine jedoch keinen Abbruch getan hatte. Die beiden Mädchen waren auf Anhieb ein Herz und eine Seele gewesen und hatten einander in den letzten drei Jahren häufig geschrieben. Es war ihr schwergefallen, der Brieffreundin nichts von dem bevorstehenden Besuch in Lübeck zu verraten.
»Babettes verdutztes Gesicht, als sie mich vorhin vor der Schule erkannt hat – wunderbar«, berichtete die Mutter. Sie war eine hübsche Frau und hatte ihre Haare zu einem Knoten zusammengebunden. Von ihr stammte die Idee, ihre Nichte lieber zu überraschen. Hedwig Hoyler schüttelte sich kichernd und klappte ihren tropfenden Regenschirm zusammen. »Wat ’n Schietwedder!«
Dora liebte es, wenn ihre Mutter in ihren Heimatdialekt verfiel, das Plattdeutsche. Zu Hause in Notzingen hätte sie freilich niemand verstanden, dort wurde breites Schwäbisch »g’schwätzt«.
Erneut krachte draußen der Donner, und Babette stieß einen erschrockenen Schrei aus, denn der gleichzeitig erfolgte Blitz erhellte eine Gestalt im Eingangsbereich. Erst jetzt bemerkten die Anwesenden, dass ein etwa zehnjähriger Junge hinter den beiden Frauen in den Laden gehuscht war. Er hatte sich seinerseits erschrocken, verharrte mit Angst in seinen Augen nahe bei der Tür. Dora erkannte in ihm jenen Bub, der eben noch vor dem Schaufenster herumgelungert hatte.
»Womit kann man dir denn helfen?«, bellte Einar Christoffersen, und der Kleine zuckte ängstlich zusammen.
Verschüchtert deutete er auf ein großes Glas mit Sahnebonbons darin.
Iny drängelte sich an ihrem hochgewachsenen Gatten vorbei und wandte sich wesentlich freundlicher an den kleinen Kunden: »Wie viele möchte der junge Herr denn haben?«
»Z… zwei«, stotterte der Junge kaum hörbar und legte ihr mehrere Münzen hin.
Iny packte ihm drei statt zwei Bonbons ein und sagte: »Draußen regnet es ja gerade so furchtbar, hättest du da kurz Zeit, von unserem neuen Marzipan zu probieren? Meine Nichte hat ihn schon für gut befunden, aber zwei Meinungen sind natürlich besser als eine.«
Dora ahnte, dass ihre gutmütige Tante dem offenbar verarmten Jungen etwas Gutes tun wollte.
»I… i… i…« Der Knabe brachte den nächsten Satz nicht heraus und deutete schließlich hilflos auf seine Hosentasche.
»Er meint, er hat kein Geld dafür«, sprach Dora ihre Vermutung aus, um ihn von seinem Stottern zu erlösen.
Der Junge nickte ihr dankbar zu.
»Ach, die Stückchen sind natürlich kostenlos«, stellte Iny rasch klar und reichte ihm eines, das er sich sogleich in den Mund schob.
Onkel Einar schüttelte, grinsend über die Gutmütigkeit seiner Frau, den Kopf und verschwand wieder in seiner Backstube.
Iny sah ihren jungen Kunden fragend an. »Gut?«
Der Knabe nickte anerkennend. »S-s-sehr gut.«
Das Glöckchen an der Ladentür bimmelte, und ein Mann mit Hut, aber ohne Regenschirm trat ein. Er war bis auf die Haut durchnässt und tropfte den gekachelten Fußboden voll.
»Moin«, sagte er.
Dora wunderte sich nicht über seine Wortwahl, sie wusste von ihrer Mutter, dass der plattdeutsche Gruß nicht »guten Morgen« bedeutete, sondern im Norden auch nachmittags und sogar am Abend verwendet wurde.
»Sie wünschen?«, fragte Iny.
»Das da«, knurrte der Fremde, in dessen Gesicht Dora nun eine Narbe bemerkte, die quer über seine linke Wange verlief. Er deutete auf ein Plunderteilchen in der Auslage der Verkaufstheke.
Dora fiel auf, dass der Junge den drahtigen Mann mit zusammengekniffenen Augen beobachtete. Als der Fremde sich bewegte, trat der Knabe einen Schritt zurück. Wachsam, ganz so, als habe er ein gefährliches Raubtier vor sich. Ob er den Kunden wohl kannte? Im Gegensatz zu ihrer Cousine Babette, die ihr in Briefen gestanden hatte, Romanzen zu verschlingen, liebte Dora Detektivgeschichten. Der alte Bauer Mettang, bei dem sie mit ihren Eltern lebte, ließ sie seine Bücher lesen, obwohl ihr Vater gemahnt hatte, sie seien nichts für Frauenzimmer – und erst recht nichts für eine Zehnjährige. Doch Dora las sie stets mit glühenden Wangen. Davon angeregt, beobachtete sie Menschen sehr genau und fand den Kunden und die Reaktion des Knaben auf ihn verdächtig.
»Darf es sonst noch was sein?«, fragte Iny, die dem Mann inzwischen sein süßes Stückchen eingepackt hatte.
Der Fremde schüttelte den Kopf.
Dora hatte sich indes dem bleichen Jungen genähert und fragte flüsternd: »Kennst du ihn?«
Er nickte ängstlich. »R-Räuber!«, wisperte er.
Sie erstarrte. Man musste die Tante warnen! Doch zu spät: Iny hatte die Kasse bereits geöffnet, um für den Fremden das Wechselgeld auf den von ihm gereichten Fünfmarkschein herauszunehmen, da beugte er sich plötzlich ruckartig zu ihr vor und stieß Doras Tante grob nach hinten. Er griff sich ein ganzes Bündel Geldscheine und stürmte aus dem Laden. Der Junge nahm sofort beherzt die Verfolgung auf. Dora raffte ihren Rock und eilte beiden spontan hinterher, ungeachtet des Regens.
»Dora, Vorsicht, der ist gefährlich«, warnte Babette, stürzte dann jedoch ebenfalls aus dem Laden.
Der Räuber flüchtete mit dem Geld durch den nachlassenden Regen in Richtung Holstentor. Während ihm der Knabe dicht auf den Fersen war, ärgerte sich Dora darüber, dass es sich mit Mädchenkleidung so viel schlechter rennen ließ als mit Jungsklamotten.
»Stehen bleiben!«, rief sie möglichst laut, um die wenigen Passanten auf sie aufmerksam zu machen. So hatte sie es einst in einem Detektivroman gelesen. »Haltet den Dieb!«
Plötzlich war der Kleine verschwunden, und sie eilte dem Räuber allein hinterher. Da tauchte neben ihr ihre ebenfalls rennende Cousine auf.
»Der ist einfach zu schnell«, keuchte Babette außer Atem.
Doch der Junge hatte offenbar eine Abkürzung genommen, denn plötzlich tauchte er vor dem Mann auf – und stellte ihm ein Bein, sodass der Flüchtende ins Straucheln geriet und zu Boden stürzte. Zu dritt umzingelten die Kinder den auf den regennassen Pflastersteinen liegenden Dieb, zum Glück kam in diesem Augenblick ein Schutzmann mit Pickelhaube, Schnauzbart und stattlichem Bauchumfang hinzu. Er war wohl durch Doras Geschrei auf die wilde Verfolgungsjagd aufmerksam geworden.
»Was ist denn hier los?«, verlangte er zu wissen.
»Dieser Mann hat Geld bei meiner Tante gestohlen«, haspelte Dora.
»Süßwaren Christoffersen«, ergänzte Babette.
»Das ist eine infame Lüge«, behauptete der Dieb und rappelte sich auf.
Dora sah, dass seine Hosenbeine an den Knien aufgerissen waren.
»Die Kinder sagen die Wahrheit, Herr Wachtmeister«, mischte sich nun Tante Iny ein, die ihnen nur mit größter Mühe hinterhergekommen und völlig aus der Puste war.
Zusammen mit einem herbeigeeilten Kollegen hielt der Polizist den Mann fest und zwang ihn zur Herausgabe der Scheine.
»Das ist mein eigenes, die lügen«, insistierte er, als der Wachtmeister Iny Christoffersen das Geld zurückgegeben hatte.
»Darüber unterhalten wir uns auf dem Revier«, sagte der jüngere der beiden Schutzmänner und führte den Räuber ab.
Der ältere Wachtmeister sah indes den etwas verlotterten Knaben misstrauisch an. »Und du? Gehörst du zu dem Kerl?«
Der Kleine schüttelte ängstlich den Kopf. »N… n…«
»Nein, er gehört zu uns«, rief Dora rasch. »Nicht wahr, Tante Iny?«
»Ja, Wachtmeister Seiler, der Lütte ist Kunde«, bestätigte Iny. »Probiert bei uns gerade die Ware von unserem neuen Lieferanten von Marzipanrohmasse. Niederegger war uns auf Dauer zu teuer, und Herden ist laut Kundenmeinung genauso lecker. Wie geht es denn dem Herrn Vater?«
»Wieder besser«, berichtete der Wachtmeister. »Der schlimme Husten ist vorbei, seine Kutsche rollt wieder. Aber große Sorgen macht er sich um unsere Zukunft.«
»Wegen dieses Attentats in Sarajewo?«, mutmaßte Iny.
Der Gendarm nickte ernst. »Neulich musste er einen hohen Marine-Offizier kutschieren. Der hat ihm verraten, dass es in jedem Fall Krieg geben wird.«
Dora bemerkte, wie entsetzt ihre Tante wirkte, und das machte auch ihr Angst.
»Mit Russland?«, fragte Iny beklommen.
»Ich befürchte, Frankreich und England werden ebenfalls gegen uns Partei ergreifen«, meinte der Uniformierte.
Auf dem Weg zurück in die Wunderwelt des Zuckerwerks schwiegen die Süßwarenverkäuferin und die drei Kinder betreten. Krieg …
»Oh du lieber Augustin, alles ist hin. Geld ist hin …«
Die siebzehnjährige Verkäuferin Dora war gerade dabei, das Schaufenster mit neuen Hüten zu dekorieren, und konnte nicht umhin mitzusummen, während eine Spieldose im hinteren Bereich des Kaufhauses Bernstein das alte Kinderlied klimperte.
Da hallte ein wütender Schrei durch die Verkaufsräume: »Huldaaaa!«
Dora seufzte. Wenn Bernhard Bernstein, bei dem sie in Lohn und Brot stand, derart zornig nach seiner Frau rief, drohte ein weiterer Streit der Eheleute, bei denen sie seit dem Kriegsende vor knapp drei Jahren angestellt war. Dora mochte die beiden sehr: Besonders von der Ehefrau Hulda Bernstein, einer dunkelhaarigen Schönheit Ende dreißig, war sie begeistert. Diese half trotz ihres zehnjährigen Sohnes und der achtjährigen Tochter tatkräftig im Laden mit. Sie war tüchtig, elegant und großzügig gegenüber Dora. Aufgrund von Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung in ihrem preußischen Heimatort Schwetz war die Familie Bernstein nach Kirchheim unter Teck geflohen, kurz nachdem die Tochter zur Welt gekommen war. Dort hatten sie hier in der Max-Eyth-Straße 12 im Februar 1914 ihr »Kaufhaus für Aussteuerwäsche, Gardinen, Damen-, Herren- und Kinderbekleidung sowie Damenwäsche« eröffnet. Oberhalb der Verkaufsräume befand sich die Wohnung der vierköpfigen Familie. Doch obwohl die Geschäfte anfangs gut gegangen waren und die Bernsteins noch immer ein eigenes Pferd mitsamt Wagen besaßen, hatte das Kaufhaus in der Nähe des Kirchheimer Schlosses nun schon länger mit ausbleibender Kundschaft zu kämpfen. Der Große Krieg, der das Geschäft ohnehin arg gebeutelt hatte, war verloren worden. Das Deutsche Reich litt unter dem Schmachvertrag von Versailles, war gezwungen, Unsummen von Reparationen an die Alliierten zu zahlen, und die Bevölkerung musste den Gürtel enger schnallen. Jeder überlegte sich doppelt und dreifach, ob er wirklich neue Kleidung kaufen sollte. Dora hatte bei den Bernsteins zum Weihnachtsgeschäft 1918 eine Anstellung gefunden; und mit jedem Stück, das sie an den Mann oder die Frau brachte, trug die junge Verkäuferin zur Bewahrung ihres eigenen Arbeitsplatzes bei.
Am heutigen Mittwoch, dem 7. September 1921, hatte den gesamten Vormittag über noch kein einziger Kunde den Laden betreten, und Bernhard Bernstein war einmal mehr sehr gereizt. Dora folgte Hulda nach hinten ins Lager. Vielleicht konnte sie ihren Chef ja beschwichtigen und verhindern, dass der zu befürchtende Streit des Paares ausartete.
»Was ist denn los?«, fragte Hulda, als sie im Lager angekommen waren.
»Wieso hast du dir fünf von diesen Zigarrenschachteln aufschwatzen lassen?«, verlangte ihr Gatte zu wissen. »Sie sind schlecht verarbeitet. Und das Schlimmste …« Er riss eines der fünf Holzkistchen auf – erneut erklang das Lied vom lieben Augustin. Bernstein sah seine Frau mit gefurchter Stirn und vorwurfsvollem Blick an. »Alles ist hin, Geld ist hin …«, zitierte er und fügte bissig hinzu: »Na, wenn das unsere Kundschaft nicht augenblicklich den Krieg vergessen lässt und sie veranlasst, den Laden leer zu kaufen, dann weiß ich auch nicht.«
»Im lieben Augustin geht es darum, dass man mit Humor selbst die schlimmsten Verluste übersteht«, entgegnete Hulda trotzig. »Das kannst du natürlich nicht nachvollziehen.«
Wütend drückte ihr Arbeitgeber nun Dora den Holzkasten in die Hand, wobei der Deckel klappernd zufiel, und das Lied verstummte.
»Was sagen Sie denn dazu, Dorle? Diese Bimmelkiste bekommen nicht mal Sie verkauft, was?«, unterstellte er. »Wir nagen bald am Hungertuch, und meine werte Gattin kauft Ladenhüter! Dafür zahlt uns niemand auch nur eine einzige Mark.«
»Unfug!«, meinte seine Frau. »Die gehen für sechs Mark das Stück weg, im Sonderangebot vielleicht fünf.«
Die Bernsteins waren so vertieft in ihr Gezänk, dass sie das Glöckchen an der Ladentür überhört hatten.
»Huhu, ist jemand da?«, rief eine Männerstimme.
Dora trat sofort beflissen in den Verkaufsbereich, wo ein dicklicher Kunde im teuren Lodenmantel stand. »Guten Tag, gnädiger Herr, womit kann ich Ihnen dienen?«, fragte Dora freundlich lächelnd.
Inzwischen war auch das Ehepaar Bernstein aus dem Hinterzimmer getreten.
»Ich brauche ein Stück Himmelsseife für eine Dame«, erklärte der Kunde und blickte dabei neugierig auf das Holzschächtelchen in der Hand der Verkäuferin. »Das ist ja hübsch. Ein Pralinenkästchen?«
Hulda Bernstein warf ihrem Gatten einen triumphierenden Blick zu, der daraufhin das Gesicht verzog.
Dora nutzte ihre Chance. »Oh ja, ein Kästchen für Pralinen, Bonbons, Marzipan und andere Leckereien.«
Sie sah es sehnsüchtig in den Augen des Kunden glitzern, der sich nun mit noch mehr Interesse in Richtung des Kästchens beugte.
»Und das Beste kommt noch«, kündigte Dora an. »Wenn man diesen Schatz öffnet, spielt er eine hübsche Melodie …«
In dem Moment, als das Lied vom lieben Augustin ertönte, wusste Dora, dass sie einen Fehler gemacht hatte, die Musik so hervorzuheben. Ihr Gegenüber verzog angewidert das Gesicht.
»Oh nein, das ist ja furchtbar«, befand der untersetzte Herr und wich zurück. »Ich will doch nicht jedes Mal den Augustin hören, wenn ich mir eine Winzigkeit gönne.«
Nun war es Bernhard Bernstein, der eine siegesgewisse Miene aufsetzte. »Sag ich’s doch«, knurrte er seiner Ehefrau zu.
Doch so schnell gab Dora nicht auf. »Das dachte ich zuerst auch«, sagte sie zu dem Kunden. »Aber die Erfinder dieser Kostbarkeit müssen sich etwas dabei gedacht haben. Ich weiß nicht, ob die Herren der Schöpfung das auch kennen, aber ich übertreibe es manchmal ein wenig mit den Süßigkeiten. Erst will ich nur ein Stückchen essen, und das schmeckt auch stets ganz köstlich. Aber dann greife ich ohne nachzudenken immer wieder danach. Und ehe man sich’s versieht, nimmt man zu. Das ging meiner armen Tante so. Aber dabei ist es nicht geblieben. Bald setzten die ersten Zipperlein ein, und jetzt sitzt sie mehr beim Onkel Doktor als zu Hause im gemütlichen Sessel.«
»Ach, wie ich das kenne«, seufzte der rundliche Kunde.
Dora nickte eifrig. »Und da hilft uns dieses kleine Wunderwerk von Ihrem Kaufhaus Bernstein.« Sie begann leise zur Melodie des geöffneten Kästchens zu singen: »Denk daran, ein Stückchen reicht, Stückchen reicht …«
»Das nehme ich«, sagte der Herr und riss es ihr aus der Hand. »Was soll es denn kosten?«
Bernhard Bernstein öffnete schon den Mund, um sich einzumischen, doch seine junge Verkäuferin kam ihm zuvor: »Nur fünf Mark, heruntergesetzt von sechs. Ein echtes Schnäppchen.«
Kurz darauf verließ der Kunde hochzufrieden das Kaufhaus – mit der Himmelsseife für seine Liebste und der zur Pralinenschachtel erklärten Zigarrenkiste mit eingebauter Spieluhr für sich selbst.
»Tja, mit der richtigen Verkäuferin wohl doch kein Ladenhüter«, kommentierte Hulda Bernstein schmunzelnd und wandte sich an Dora: »Unglaublich, wie gut du dich in die Kundschaft hineinversetzen kannst.«
»Das hat das Dorle von mir gelernt«, vermeldete ihr Gatte selbstbewusst. »Den Kunden stets zu behandeln wie ein rohes Ei.«
»Na, die schlägst du ja am liebsten in die Pfanne«, erwiderte seine Frau und zwinkerte Dora zu.
***
Nach Ladenschluss wartete auf Dora noch der anstrengende Heimweg mit dem Rad nach Notzingen. Zwischen jenem Bauerndorf und der Stadt Kirchheim lag der sogenannte Würstlesberg, und der Weg war so steil, dass sie ihr Velo den Hügel hinaufschieben musste. In Gedanken war sie noch ganz bei den düsteren Worten, mit denen ihr Arbeitgeber Bernhard Bernstein sie vorhin in den Feierabend geschickt hatte. »Wenn das so weitergeht, weiß ich nicht, wie lange wir uns noch halten können.«
Nach Doras Erfolg, für gutes Geld die Zigarrenschachtel verkauft zu haben, hatten am Nachmittag nur zwei weitere Kundinnen den Weg in das Geschäft gefunden und lediglich billige Kleinigkeiten erstanden.
Schließlich war Dora auf dem Gipfel des Würstlesbergs angekommen und sah in das von Eichenwäldern umrahmte Tal, in dem das verschlafene Dorf Notzingen lag. Sie bestieg ihr Rad wieder und fuhr den Hügel hinab. Ihre Laune besserte sich immer mehr, je näher sie dem Hof von Bauer Mettang kam, bei dem ihr Vater drei kleine Kammern für sie gemietet hatte. Immerhin konnte es ja sein, dass der Briefträger sehnsüchtig erwartete Post aus Lübeck gebracht hatte.
Schließlich erreichte sie das Gehöft, stellte ihr Fahrrad in der Scheune ab und stürmte in die kleine Wohnstube, wo ihre Mutter saß und nähte. Das hereinfallende Licht der Abendsonne ließ den blonden Haarknoten der grazilen Mittdreißigerin golden leuchten.
»Und?«, fragte Dora außer Atem.
Ihre Mutter nickte lächelnd und deutete auf das Büfett. Dort lag er – ein Umschlag mit der Adresse in der schön geschwungenen Schrift ihrer Cousine Babette.
Dora nahm den Brief und lächelte ihn an wie einen wertvollen Schatz. Sie würde ihn nicht gleich hier lesen, sondern nach dem Abendessen an ihrem Lieblingsplatz am Waldrand, mit Blick auf ein malerisches Tal, das den ihrer Meinung nach bestens passenden Namen Himmelreich trug.
In diesem Moment kam ihr Vater Gerhard in die Wohnstube. Der dürre Mann mit dem Oberlippenbärtchen schwitzte und hatte verdächtig glasige Augen. »Guten Abend, meine schöne Lieblingstochter«, sagte er, und an seiner verwaschenen Aussprache erkannte Dora, dass er nicht mehr ganz nüchtern war – wie so oft, seit er vor fast drei Jahren von der Marine zurückgekehrt war. Die jahrelange Angst ums eigene Überleben sowie die in den Schlachten zur See und beim Matrosenaufstand 1918 getöteten Kameraden verfolgten ihn noch immer in seinen Träumen, oft hörte Dora ihn nachts schreien. Das Lächeln des Betrunkenen geriet zur Grimasse. »Hast du heute wieder gut verkauft?«
Sie schüttelte den Kopf. »So viele kommen zurzeit leider nicht.«
»Dafür kannst du ja nichts. Liegt am Schandfrieden von Versailles. Die Feinde pressen uns aus wie eine Zitrone«, meinte ihr Vater. Er stützte sich am Büfett ab und stieß dabei, von ihm unbemerkt, eines der zahlreichen Wachsfigürchen hinunter, die dort standen. »Puh, muss mich kurz aufs Ohr legen. Es dreht sich ein bisschen im Kopf.«
Während er zur Holzbank ging, hob seine Tochter das Figürchen – gut erkennbar ein Reh – auf und stellte es zu den übrigen. Es gab Hasen, Kühe, Pferde, Käfer, Eichhörnchen – alle aus Kerzenwachs. Einen Großteil davon hatte Dora während des Krieges geformt, in Sorge um ihren Vater. Doch da nach seiner Rückkehr seine Freude am Kartenspiel zur Besessenheit geworden war und er oft nächtelang verschwand, waren auch in jüngerer Zeit noch einige Wachsfigürchen zur Sammlung hinzugekommen.
Der Vater begann nun auf der Holzbank zu schnarchen, Hedwig erhob sich von der Nähmaschine und bedeutete ihrer Tochter, ihr in die Küche zu folgen. Dort schenkte sie Dora ein Glas Milch ein und schmierte ihr ein Wurstbrot.
»So ist er schon den ganzen Tag«, berichtete sie im Flüsterton. »Er war schon um halb drei aus der Fabrik zurück.«
»Aber bekommt er da keinen Ärger?«, fragte Dora besorgt. »Die Schicht geht doch eigentlich viel länger.«
»Neulich kam er schon mal genauso früh heim«, erzählte Hedwig. »Und genauso angetrunken. Ich kann nur hoffen, dass er seine Arbeit nicht längst verloren hat.«
Dora spürte, wie sich ihr Magen vor Angst zusammenkrampfte. »Das wäre ja schrecklich. Die Bernsteins wissen auch nicht, wie lange sie mich noch beschäftigen können.«
Hedwig sah beklommen aus dem Fenster in die untergehende Sonne. »Von meinem Lohn als Näherin könnte nicht mal einer von uns dreien überleben.«
Schließlich kehrte die Mutter an ihre Nähmaschine zurück, und Dora machte sich wie so oft mit ihrem Wurstbrot und dem Brief ihrer Cousine auf den Weg zum Himmelreich, dem idyllischen Tal an der Grenze zum Nachbarort Wellingen.
Selbst hier, außerhalb des Ortskerns, wehte bisweilen ein wenig Stallgeruch herüber. Die Vögel zwitscherten, Grillen zirpten, und der vertraute Glockenklang der Jakobuskirche war zu hören. Sie setzte sich auf einen gefällten Baum am Wegesrand und sah in das Tal, in der Ferne thronten die drei Kaiserberge.
Ihr fiel ein Gedicht von Adam Mettang ein, dem Großvater des Bauern, bei dem sie und ihre Familie lebten:
Dort in der himmelblauen Ferne der Kaiserberg,
der Staufen winkt,
auch der Rechberg, Stuifen seh’n wir gerne,
doch sind vom Nebel sie umringt.
Der alte Adam war ein vielseitiger Mensch gewesen: ein Landwirt und Brandmeister, der Gedichte schrieb. Er hatte mit Dora Hausaufgaben gemacht, ihr viel über die Geschichte ihrer Heimat erzählt und zur Konfirmation den ersten Detektivroman geschenkt. Dem waren viele weitere gefolgt. »’s erschte Buch ischt d’ Bibel. Ond seitdem goht’s in jedr G’schicht om d’ Liebe oder om d’r Tod – oder om elle zwoi. Aber d’ Heilige Schrift secht ons, am Schluss isch d’ Liebe stärker wie d’r Tod.« So schön hatte der Herr Pfarrer in der Kirche das niemals zusammengefasst, fand Dora. Als der alte Adam kurz vor Kriegsende im Alter von dreiundsechzig Jahren gestorben war, hatte sie sehr um ihn getrauert. Hier im Schwabenland lebten außer ihren Eltern keine leiblichen Familienmitglieder. Das erste Mal waren sich Doras Vater und Mutter im Sommer 1900 in Lübeck begegnet. Gerhard Hoyler, der von jeher von der Seefahrt geträumt hatte, war damals zur feierlichen Eröffnung des Elb-Trave-Kanals durch Kaiser Wilhelm in den Norden des Reichs gereist. Die beiden verliebten sich, und Hedwig folgte Gägge, wie sein Spitzname lautete, in dessen schwäbische Heimat, wo sie nach drei Jahren schwanger wurde. Die Großeltern väterlicherseits waren schon kurz nach Doras Geburt gestorben. Lübeck blieb ein Sehnsuchtsort für das Mädchen, und die Briefe ihrer Cousine waren immer wie ein kleiner Ausflug dorthin.
Aber auch jene heile Welt war vom Krieg in Mitleidenschaft gezogen worden. Babette und ihre Mutter hatten einen Schicksalsschlag zu beklagen: Tante Inys Mann Einar war im Sommer 1914 mit dem Regiment 162 »Lübeck« an die Front beordert und zwei Jahre später in Verdun schwer verletzt worden. Erst nach einem Dreivierteljahr im Lazarett war er nach Hause zurückgekehrt, aber arbeiten konnte er seither nur noch selten. Zum Glück hatte er schon gleich nach seiner Rückkehr den kleinen stotternden Jungen als Lehrling in der Bäckerei angestellt – aus Dankbarkeit für seine Hilfe, den Räuber zu schnappen. Siegfried Andresen, eine Vollwaise, war so dem Kinderheim und dem dortigen brutalen Aufseher sowie den älteren Jungen entkommen, die ihn ebenfalls oft malträtiert hatten. In seiner Zeit bei den Christoffersens hatte er laut Babettes Schilderungen immer besser zu sprechen gelernt. Dank des Jungen, den die Familie Siggi nannte, musste Tante Iny trotz ihres gebrechlichen Mannes den Laden nicht aufgeben. Einar und sie hatten ihn schließlich sogar adoptiert. »Dann bist du genauso abgesichert wie unsere Tochter, falls uns mal was zustoßen sollte«, hatte Onkel Einar erklärt. Voller Stolz führte Siggi seither den Namen Christoffersen und lebte fortan bei Babettes Familie.
Nun begann Dora, den jüngsten Brief ihrer Cousine zu lesen:
Lübeck, den 28. August 1921
Liebe Dora,
der Sommer nähert sich dem Ende, und noch immer ist es so warm, dass man am Strand von Travemünde in der Ostsee baden kann. Ach, wenn Du nur wieder einmal hier bei uns sein könntest. Es ist so schade, dass beim letzten Mal die Zeit nicht reichte, Dir das Meer zu zeigen. Eines Tages holen wir es nach, das verspreche ich Dir hoch und heilig!
Ich selbst habe in unserer kleinen Stadt letzten Monat einen Riesenschrecken erlebt, den ich so schnell nicht vergessen werde und von dem ich Dir unbedingt schreiben muss. Damals kam ich mit dem Fahrrad in unserer Depenau vorbei, das ist eine Straße hier in der Altstadt, da stand eine nicht enden wollende Reihe von Särgen! Ich sah einen Mann mit einer Kamera, der mir erzählte, dass in unserem beschaulichen Lübeck ein Gruselfilm gedreht wird! Der Hauptdarsteller heißt scheinbar wirklich Schreck mit Nachnamen. Na, wenn das nicht passt! Ja, so kommt mal wieder die weite Welt in unser beschauliches Lübeck – und manchmal sogar in unseren kleinen Laden! Leider hast Du zwei ganz und gar überwältigende Besucher verpasst. Der erste war geradezu königlich – aber der zweite hat mein Herz noch viel mehr zum Rasen gebracht!
Vor zwei Wochen war niemand Geringerer in unserem Süßwarenladen zu Besuch als Johann Köpff, Erbe des berühmtesten Marzipanherstellers Niederegger höchstpersönlich und einst Hoflieferant Seiner Majestät Kaiser Wilhelms. Er hatte sich wohl ein wenig erkältet und wollte eines von Muttis berühmten Hustenbonbons probieren. Zum Glück hat er nicht bemerkt, dass wir schon vor dem Krieg anderen Marzipan ins Sortiment genommen haben. Er war freundlich und zuvorkommend. Du kannst Dir ja vorstellen, wie aufgeregt Mutti, Siggi und ich waren, dass jemand wie Köpff von unseren Bonbons gehört hatte.
All das ist aber gar nichts gegen das, was ich gestern empfand. Da kam nämlich ein anderer Johann in unser Geschäft, auch Erbe einer Marzipanfabrik. Die Firma Hubert Herden, von der wir seit Deinem letzten Besuch hier unseren Marzipan beziehen, gibt es erst seit 1904, und der Erbe Johann Herden ist mit seinen vierundzwanzig gute dreißig Jahre jünger als Herr Köpff. Ach, und wie gut er aussieht! Ich habe noch nie einen schöneren Mann gesehen. Hochgewachsen und stark ist er. Er hat sich doch tatsächlich herabgelassen, mit mir zu sprechen, sogar gescherzt haben wir. Humor hat er, und er liebt es, was Mutti und Siggi aus seinem Marzipan zaubern. Er hat versprochen, wieder einmal bei uns vorbeizuschauen. Seither blicke ich ständig sehnsüchtig zur Ladentür. Wenn Du nur hier wärest! Du kannst die Leute so gut einschätzen, Du wüsstest bestimmt, ob Johann auch ein wenig für mich schwärmt, wenn er uns wieder besucht. Ach, Dora, mit jedem Tag vermisse ich Dich mehr. Ich bete dafür, dass Deine Bernsteins endlich ganz, ganz viele Kunden bekommen. Irgendwann sind die deutschen Kriegsschulden bezahlt, und es wird aufwärtsgehen. Dann werdet ihr wieder hierherreisen, Du und Tante Hedwig. Meine Mutter vermisst ihre Schwester nämlich auch ganz fürchterlich.
Ich denke jeden Tag an Dich, meine liebe Dora.
Deine Cousine
Babette
Sorgfältig faltete Dora den Brief zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. Die Zuneigung ihrer Cousine rührte sie. Sie erhob sich und sah in das Tal, aus dessen Wiesen der Nebel aufstieg und über dem nun der Mond leuchtete. Entschlossen sprach sie aus, was sie dachte: »Ja, liebe Babette, eines Tages komme ich wieder zu euch nach Lübeck.«
Das Rasseln des Weckers riss Dora aus ihren Träumen. Sie fühlte sich unausgeschlafen und öffnete nur unwillig die verquollenen Augen. Der Gedanke, sich bald auf den Weg zur Arbeit machen zu müssen, behagte ihr so gar nicht. Bis halb zwei Uhr hatte sie gestern Nacht mit ihrer Mutter noch vergeblich auf die Rückkehr ihres Vaters gewartet. Seit drei Tagen hatte er sich nicht mehr zu Hause blicken lassen. Vier neue Tierfigürchen aus Wachs standen deshalb auf dem Büfett. Dora erhob sich aus ihrem Bett und ging in die Küche, wo Hedwig bereits vor ihrer Nähmaschine saß, in derselben Position und mit demselben besorgten Blick wie gestern Nacht. Dora fragte sich, ob sie überhaupt geschlafen hatte.
»Ist er wieder nicht nach Hause gekommen?«
Ihre Mutter schüttelte mit bitterer Miene den Kopf. »Ich werde nachher zur Papierfabrik fahren und ihn abfangen«, kündigte sie an. »Er hat diese Woche ja Frühschicht.«
Kurz darauf radelte Dora, in trübe Gedanken versunken, nach Kirchheim. Sie teilte mit ihrer Mutter die Sorge, dass ihr Vater in irgendwelchen Spelunken versumpft war und gar nicht mehr zur Arbeit ging.
Als sie schließlich das Kaufhaus Bernstein betrat und die Mienen ihrer Arbeitgeber sah, wusste sie, dass auch hier der Haussegen schief zu hängen schien.
»Guten Morgen«, sagte sie und fügte vorsichtig hinzu: »Ist etwas geschehen?«
Herr Bernstein setzte zu sprechen an, bekam jedoch kein Wort heraus. Er verschwand wortlos im Lager, und seine Frau Hulda ging traurig auf ihre junge Verkäuferin zu.
»Ach, Dorle«, sagte sie mit belegter Stimme. »Der Vermieter will die Pacht für den Laden erhöhen.«
»Oh nein«, murmelte Dora betroffen. Auch das noch! Wo doch ohnehin zu wenig Kunden kamen. »Wird es viel teurer?«
Hulda nickte. »Wir wissen nicht, ob wir dich nach dem Jahreswechsel noch behalten können. Es …« Ihre Stimme stockte. »Es tut mir sehr leid. Wenn du dich nach etwas Neuem umschauen möchtest …«
Dora wurde von leichtem Schwindel erfasst. Ohne Anstellung – wie bedrohlich sich das anhörte! »Gewiss«, war das einzige Wort, das sie hervorbrachte.
»Natürlich dürfen wir trotzdem nicht aufgeben«, meinte Hulda tröstend. »Lass uns einfach hoffen, dass heute mehr Kunden kommen als in den letzten Tagen. Und wer weiß? Vielleicht sorgt ein großartiges Weihnachtsgeschäft ja doch noch für ein Wunder.«
Aber auf den erhofften Kundenansturm warteten die Bernsteins und ihre junge Verkäuferin im Laufe des Tages einmal mehr vergebens. Lediglich ein Herrenhemd sowie einen Schlips brachte Dora an den Mann; und Bernhard Bernstein verkaufte ein Paar Hosenträger. Dementsprechend schwang sich Dora abends mit noch mehr Sorgen auf ihr Fahrrad als am Vormittag. Zu allem Übel zog nun auch noch ein Unwetter auf, aber Dora schaffte es unbeschadet in die elterliche Wohnung auf dem Hof der Mettangs.
Als sie in die kleine Wohnstube kam, saß ihre Mutter mit rot geweintem Gesicht an ihrer Nähmaschine, neben sich ein Brief.
»Ich war in der Fabrik. Man hat ihn schon vor zwei Wochen entlassen – er war wiederholt betrunken am Arbeitsplatz«, bestätigte ihre Mutter Doras schlimmste Befürchtungen. »Zuletzt ging durch seine Schuld eine teure Maschine kaputt.« Sie reichte ihr mit feuchten Augen den Brief vom Tisch. »Der kam heute – mit der Post.«
Dora riss entsetzt die Hände vor den Mund. »Oh nein.« Dann ergriff sie das Schreiben mit zitternden Fingern und las:
Hamburg, im September 1921
Meine liebste Hedwig, liebes Dorle,
es fällt mir unsagbar schwer, diese Zeilen zu schreiben. Aber die Sehnsucht nach der Seefahrt, nach der Kameradschaft, die wir selbst in den schlimmsten Gefechten an Bord genossen, all das fehlt mir zu sehr, und die Arbeit an der Papierwalze macht mich schwermütig, in der Fabrik bin ich lebendig begraben. Ich hoffe, ihr könnt mir eines Tages verzeihen, aber vielleicht ist es auch besser für euch, wenn ihr mich los seid.
Ich werde euch nicht vergessen!
Euer Gägge/Papa
Dora spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Ihr Vater ließ sie einfach im Stich! Im Augenblick war sie zwar eher schockiert und zornig als traurig, dennoch hinderte ein Kloß im Hals sie zunächst am Sprechen. »Und wovon …«, dann stockte sie. Wovon sollten sie und ihre Mutter künftig leben?
Plötzlich zuckte diese vor Schreck zusammen und unterdrückte mit Mühe einen Schrei. Dora folgte ihrem Blick in Richtung Fenster und erschauderte ebenfalls: Eine hässliche Fratze mit zahlreichen Lücken im gelben Gebiss starrte in die Stube. Dann verschwand der Mann wieder.
»Wer war das denn?«, stieß ihre Mutter gerade keuchend hervor, da wurde die Türglocke betätigt.
»Sollen wir diesem Kerl öffnen?«, flüsterte ihre Tochter.
Nun begann der Fremde gegen die Türe zu poltern.
»Wir fragen lieber, was er will, bevor er die Mettangs stört«, meinte die Mutter, und Dora folgte ihr mit einem unguten Gefühl zum Eingang der kleinen Wohnung. Sie öffnete nur einen Spalt breit, Dora hielt sich hinter ihr.
»Ja?«, fragte Hedwig.
Der Fremde bleckte seine schlechten Zähne zu einem Grinsen, und Dora bemerkte, dass sein linkes Auge blind zu sein schien.
»Wo ist Gerhard Hoyler?«, verlangte er mit erstaunlich hoher Stimme zu wissen. Plötzlich tauchten neben ihm zwei weitere Männer auf. Ein großer dicker mit dunklem Schnauzbart und ein verschlagen aussehender Schwarzhaariger mit wettergegerbter Haut. Dora fröstelte, diese Kerle waren gefährlich, daran gab es keinen Zweifel.
»Meinen Gatten finden Sie hier nicht mehr, er hat sich aus dem Staub gemacht«, sagte Hedwig, und ihre Tochter bemerkte, dass sie sich vergeblich um eine möglichst feste Stimme bemühte. »Er will wieder zur See fahren.«
»Sie erlauben, dass wir uns davon selbst überzeugen, werte Frau Hoyler«, sagte der Halbblinde mit seiner unangenehm weinerlich klingenden Stimme und gab seinen beiden Begleitern ein Zeichen.
Sie stießen die Tür auf und Hedwig grob zur Seite, der Braungebrannte packte Dora am Arm und zog sie mit sich in die Wohnstube. Der dicke Schnauzbartträger riss die Türen zu beiden Schlafkammern auf und sah sich um.
»Das dürfen Sie nicht!«, rief Dora entrüstet.
Die Männer beachteten sie gar nicht.
»Ist wirklich nicht hier«, konstatierte der Dicke.
Der Anführer hatte indes den Brief neben der Nähmaschine entdeckt und las ihn zur Empörung der Frauen ungefragt durch. Immerhin, sagte sich Dora, würde er ihnen jetzt glauben, dass Gerhard abgehauen war.
»Es tut uns ja wirklich sehr leid, dass wir Sie zu so später Stunde belästigen müssen, werte Frau Hoyler«, behauptete der Halbblinde. »Aber Ihr geflohener Mann schuldet uns hundertzwanzig Mark.«
Als er die Summe nannte, stieß Dora vor Entsetzen einen Seufzer aus. Das durfte nicht wahr sein! Ihr Vater hatte sie ruiniert!
»Und wie heißt es so schön? Spielschulden sind Ehrenschulden! Aber da Ihr Herr Gemahl sich nun ja leider schnöde aus dem Staub gemacht hat, bleibt uns nichts anderes übrig, als das Geld von Ihnen zu kassieren.« Er klang bei seiner Drohung auf widerliche Weise süßlich und säuselnd.
»Ich habe so viel aber nicht«, rief Hedwig wahrheitsgemäß. »Gehen Sie jetzt bitte!«
»Wie viel Sie haben, davon überzeugen wir uns dann doch lieber selbst«, gurrte der Halbblinde und gab seinen Begleitern erneut ein Zeichen, woraufhin sie sämtliche Schränke durchwühlten, Schubladen herausrissen und Kleidung und Papiere rücksichtslos zu Boden warfen.
»Was fällt Ihnen ein?«, schrie Dora außer sich.
»Lassen Sie das!«, rief die Mutter.
Schließlich standen die drei Männer wieder in der engen Wohnstube.
»Tja, sieht so aus, als sei wirklich kein Zaster hier«, knurrte der Braungebrannte.
»Das ist natürlich äußerst bedauerlich«, befand der Befehlshaber und starrte Hedwig an. »Nun, Sie erwecken den Eindruck, als könnten Sie mit Ihrer Nähmaschine hier Geld verdienen, Madame. Nur würde das zu lang dauern. Aber Ihr hübsches Töchterchen – exquisit.«
Er streichelte Dora über die Wange, die angewidert zurückwich.
»Sie hätte das Geld im Nullkommanichts zusammen. Wir könnten sie ein paar Freunden vorstellen. Die würden sich gewiss großzügig ihr gegenüber zeigen.« Der Halbblinde näherte sich Doras Gesicht, sodass sie seinen schlechten Atem roch. »Na, was meinst du, Kind, möchtest du uns begleiten und deiner armen Mutter aus der Patsche helfen?«
Er packte sie mit erschreckender Kraft am Arm und presste sie gegen die Wand. Ihre Mutter stieß einen wütenden Schrei aus und wollte ihrer Tochter zur Hilfe eilen, doch der Wettergegerbte hielt Hedwig derart grob umklammert, dass Dora in Panik geriet. Ihr wurde klar, dass diese Männer willens und in der Lage waren, alles mit ihnen anzustellen.
Plötzlich ertönte aus Richtung der Wohnungstür in breitem Schwäbisch eine scharfe Frauenstimme. »Lasset des Mädle los!«, fauchte die kräftige Gattin von Bauer Mettang junior. Sie hatte eine Mistgabel in der Hand und richtete sie beim Hereinkommen drohend auf die drei Männer. Als der Übergewichtige einen Schritt auf sie zutrat, stieß sie die Forke in seine Richtung, und er wich erschrocken zurück. »Hauet ab von hier! Aber zackich!«
Die beiden Eindringlinge sahen ihren Anführer fragend an, und der nickte. Zu Doras Erleichterung gingen sie nun endlich Richtung Wohnungstür.
Bevor er mit seinen Handlangern das Haus verließ, drehte sich der Halbblinde noch einmal um. »Wenn Ihr Mann sich meldet, richten Sie ihm aus, dass wir nächsten Mittwoch wiederkommen. Falls wir dann nicht unser Geld kriegen, nehmen wir uns Ihr zauberhaftes Töchterchen. Und sollten Sie auf die Idee kommen, beide nicht da zu sein, könnte es sein, dass der gemütliche Hof hier einem grässlichen Brand zum Opfer fällt, wer weiß, wer weiß …«
Als die Schuldeneintreiber endlich gegangen waren, mochte sich bei den drei zurückgelassenen Frauen keine rechte Erleichterung einstellen. Die Drohung hing wie ein düsterer, alles erstickender Schatten im Raum.
Schließlich brach Hedwig das betretene Schweigen und wandte sich an Frau Mettang: »Es tut mir so leid, dass Sie in diese grässliche Geschichte hineingezogen wurden.«
Die Bauersfrau nickte ernst. »Ihr Mann wird nicht zurückkommen, stimmt’s?«
»Ich glaube nicht. Mit dem Herzen ist er wohl nie aus dem Krieg heimgekehrt. Die Seefahrerei …«, murmelte Doras Mutter.
»Ich hab mir schon so was gedacht, als er vor zwei Wochen zum dritten Mal den Mietzins hat anschreiben lassen«, sagte Frau Mettang.
Hedwig und ihre Tochter sahen sie bestürzt an. »Was? Wir sind drei Monate im Rückstand?«
»So ist es leider, ja.«
Dora war verzweifelt, genau wie ihre Mutter. Wo sollten sie nur dreihundert Mark für die Spiel- und Mietschulden hernehmen? Und von ihrer möglichen Kündigung hatte sie noch nichts erzählt. Was ihr jedoch noch mehr Angst einjagte als drohende Armut und Obdachlosigkeit, war die Andeutung des Einäugigen. Sie konnte nur erahnen, was er damit meinte, sie solle seinen »Freunden gefällig« sein. Mit einem Mal war ihr Zuhause kein sicherer Ort mehr.
***
Bin unterwegs, ich werde mich kümmern. Bis heute Abend. Pass auf dich auf! Mama
Nach einer unruhigen Nacht voller Albträume, in der sie immer wieder aufgewacht war, entdeckte Dora am frühen Morgen auf dem Tisch in der Wohnstube die Nachricht ihrer Mutter.
Als sie den Raum betreten hatte, war ihr Rex entgegengekommen, der Wachhund der Familie Mettang. Offenbar hatte ihre Mutter das Tier in die Stube geholt, damit es Dora vor den Kerlen beschützen konnte. Jetzt lag er friedlich zu ihren Füßen.
»Ach, Rex, wenn du wüsstest, was hier gestern passiert ist«, sagte Dora seufzend. Der Schäferhund sah wachsam auf.
Frau Mettang hatte ihnen vor ihrem Fortgehen versichert, sie werde sich bezüglich des Mietzinses noch gedulden, sie sollten zunächst besser versuchen, das Geld für die zwielichtigen Gestalten zusammenzubekommen. Dora hatte Hedwig dann schweren Herzens auch noch gebeichtet, dass sie ihre Stellung im Kaufhaus Bernstein zu verlieren drohte. Sie hatte vor ihrer Mutter noch nie Geheimnisse gehabt, und in dieser schwierigen Lage, so fand sie, mussten die beiden erst recht zusammenhalten.
Auf dem Weg zur Arbeit sah sich Dora ständig misstrauisch um. Obwohl ihnen die Häscher ihres Vaters bis nächsten Mittwoch Zeit gegeben hatten, war ihr trotzdem mulmig zumute. Vielleicht wollten die Kerle sie ja bereits früher entführen, wenn sie nicht damit rechnete.
Zumindest im Kaufhaus kam sie heute nicht zum Grübeln, denn gleich nach der Öffnung stürmte eine Reisegruppe aus dem Bayerischen das Ladenlokal. Und auch den Rest des Vormittags über war immer zumindest ein Kunde im Geschäft. Kurz vor der Mittagspause gab es eine weitere freudige Überraschung. Ihre Mutter tauchte auf und fragte, ob Dora ihre Mittagspause mit ihr verbringen wolle. Ihr entspanntes Lächeln weckte in der Tochter die Hoffnung, dass sie gute Nachrichten hatte.
Da Bernhard Bernstein wegen der vielen Kunden am Vormittag bester Stimmung war, erlaubte er seiner Verkäuferin, früher in die Pause zu gehen, um Hedwig Hoyler nicht länger warten zu lassen.
Als Dora mit ihr aus dem Kaufhaus trat, bemerkte die junge Frau, dass sich das Wetter der guten Laune ihrer Mutter angepasst zu haben schien. Nach einem Regenschauer am Vormittag zeigte sich jetzt wieder Blau am Himmel. Das malerische Kirchheim mit seinen hübschen Fachwerkhäusern wirkte im Sonnenschein wie frisch gewaschen. Die roten Dächer, die Wetterfahnen und Gartenzäune, die Gebüsche und Bäume auf der Stadtmauer glitzerten und funkelten. Unter den Kastanien des Walls, auf der dritten Ruhebank rechts von der Post, ließ sich Dora neben ihrer Mutter nieder.
»Herr Bernstein war ja bester Laune«, stellte Hedwig fest.
»Ja, heute Morgen war ausnahmsweise Hochbetrieb«, erklärte Dora.
»Nun, selbst wenn das in nächster Zeit so bleibt – ab der kommenden Woche wird er ohne dich auskommen müssen«, verkündete ihre Mutter mit geheimnisvollem Lächeln.
»Wieso das?«, wunderte sich Dora und sah sie neugierig an.
Hedwig deutete auf das Postamt. »Ich habe gerade mit meiner Schwester telegrafiert. Bei ihr laufen die Geschäfte bestens, und sie brauchen dringend eine Aushilfe – noch vor dem bevorstehenden Weihnachtsgeschäft. Auch Babette kann deine Ankunft kaum erwarten – und fängt wohl im Moment schon an, dir eine Dachkammer einzurichten.«
Babette, die gute Babette! Endlich keimte neue Hoffnung in Dora auf. Allein der Gedanke an die Lieben im schönen Lübeck erinnerte an sorglosere Tage.
»Aber die Schulden …«
»Ich habe meinen Ehering versetzt«, erklärte die Mutter. »Nachdem dein Vater das ›in guten wie in schlechten Tagen‹ sowieso mit Füßen getreten hat, wird mir der liebe Gott den Frevel verzeihen. Damit bezahle ich am Mittwoch diese Kerle. Aber du wirst dann nicht mehr hier sein – nur für den Fall, dass sie trotz der Rückzahlung auf dumme Gedanken kommen.«
»Und was ist mit dem Mietzins?«
»Die Mettangs lassen mich bis Ende des Jahres in der billigeren Gesindekammer wohnen«, berichtete die Mutter. »So kann ich das Geld langsam abstottern. In der Zwischenzeit sucht mir deine Tante Iny Arbeit als Näherin in Lübeck. Vielleicht verbringen wir dann schon alle Weihnachten zusammen, wer weiß?«
Dora fiel ihrer Mutter vor Freude um den Hals. Sie fühlte sich mit einem Mal, als sei sie der Hölle entflohen und auf dem Weg in ein süßes Paradies. All die Ängste der jüngeren Zeit schienen der Erfüllung ihres größten Traumes Platz zu machen. Lübeck! Das Wort schmeckte nach Familie, Geborgenheit – und natürlich nach köstlichem Marzipan!
Dora sah aus dem Zugfenster in die vorbeifliegende Landschaft hinaus, die inzwischen abgeflacht war und einem weiten Horizont Platz gemacht hatte. Nach einem tränenreichen Abschied von der Mutter hatte die Reise gestern in den Hügeln des Schwabenlandes begonnen. Am späten Abend war sie dann für eine Zwischenübernachtung in einer Pension in Hannover abgestiegen. »Was haben Sie denn da drin?«, hatte der alte Pensionswirt sich gewundert, als sie mit ihrem schweren Koffer angekommen war. »Ziegelsteine?«
Doch es waren weder Steine noch eine Ansammlung von Kleidung, die das Gepäckstück so schwer machten. Vielmehr hatte Dora all die Bücher mitgenommen, die ihr im Lauf der Jahre vom alten Mettang geschenkt worden waren – ihre größten Schätze!
Am Vormittag stieg sie schließlich in Hamburg letztmalig um und teilte sich von dort an das Abteil mit einer untersetzten, grau-blond gelockten Dame, deren Köfferchen wesentlich leichter aussah als ihr eigenes. Ihr fiel auf, dass die Mitreisende ängstlich wirkte, bei jedem lauteren Geräusch, bei jedem Schwanken des Waggons zuckte sie erschrocken zusammen.
Dora beschloss, die Frau ein wenig abzulenken. »Darf ich Ihnen ein Konfekt anbieten?«, fragte sie freundlich lächelnd.
Die Tüte mit Pralinen war ein Abschiedsgeschenk des Ehepaars Bernstein. Obwohl sie sich Doras Mitarbeit im Grunde ja nicht mehr leisten konnten, waren sie über ihren plötzlichen Entschluss doch traurig gewesen.
Doras Abteilgenossin blickte zunächst misstrauisch auf die Tüte mit Süßigkeiten, doch schließlich erlag sie deren verlockendem Aussehen. Sie nahm sich ein hellbraunes Stückchen mit einer Mandel darauf und probierte.
»Köstlich«, befand sie, und ihr Gesichtsausdruck entspannte sich augenblicklich. »Vielen Dank, junges Fräulein.«
»Sind Sie auch auf dem Weg nach Lübeck?«, erkundigte sich Dora und biss ihrerseits von einer Praline ab.
Die Dame nickte und antwortete mit leicht schlesischem Einschlag: »Ich soll im Kinderheim als Krankenschwester beginnen. Mein Neffe ist durt Pastor, er hat mich dazu überredet.«
In diesem Augenblick schaukelte der über die Schienen ratternde Zug ganz besonders, und die Frau stöhnte erschrocken auf.
»Sie fahren nicht so oft mit der Eisenbahn?«, fragte Dora vorsichtig.
»Nein, ich bin aus meinem gemietlichen Gnadenfrei in Schlesien noch nie rausgekumma«, bestätigte die Krankenschwester. »Eigentlich war ich mit meiner Arbeit als Nachtschwester auch zufrieden. Aber mein Neffe will, dass sein Tantla in seiner Nähe ist. Können ja so schlecht allein sein, die Mannsbilder. Freiwillig hätt ich mich bestimmt nicht ei da Zug gesetzt.«
»Ach, ich genieße es eigentlich, man sieht so viel«, meinte Dora.
»Mir macht das Angst, der Schwager von meiner Nachbarin ist nämlich auf dem Weg nach Prag gesturba, vor zwee Jahren, bei einem schlimmen Zugunglück am Bahnhof Kranowitz, bei der deutschen Grenze. Een Gieterzug ist in die neikracht! In den Waggons haben’s angeblich Alkohol geschmuggelt. Da ist Feuer ausgebrochen, und der Fusel hat die Flammen gefittert, die sind mir nichts, dir nichts überall hin. Zwee Dutzend Opfer hat es gegan.«
»Das ist natürlich schrecklich«, pflichtete Dora ihr bei, »aber ich bin mir recht sicher, dass wir keinen geschmuggelten Alkohol an Bord haben, unser Zug erreicht die Grenze des Reichs ja nicht.«
»Ach, ich bin einfach ein Angsthase«, gab die Schlesierin zu. »Was machen Sie denn in Libeck?«
»Ich fange bei der Familie von meinem Onkel Einar als Verkäuferin an – im Süßwarenkontor an der Holstenbrücke. Die Stadt ist wunderschön, und im Laden gibt es alle Leckereien, die Sie sich nur vorstellen können. Bonbons, Zuckerstangen, Lakritze und Marzipan. Außerdem gibt es Marmelade und frische Früchte und ein eigenes Backstübchen. Es riecht immer ganz himmlisch dort.«
Auf ihre euphorischen Schilderungen hin sah Dora die Nachtschwester zum ersten Mal seit Antritt der gemeinsamen Zugfahrt lächeln. »Das hört sich ganz wunderbar an. Wenn mir im Waisenhaus einmal die Nerven durchgien, schau ich bei Ihna vorbei und genn mir een paar Leckereien«, sagte sie und reichte Dora die Hand. »Ich heiße übrigens Lieselotte Jannasch, aber alle nennen mich Schwester Lilo.«
»Freut mich, Schwester Lilo. Mein Name ist Dora Hoyler«, sagte sie, während sie die Rechte der Dame sanft drückte. »Daheim im Schwabenland nennt man mich Dorle, im Norden sagt das aber niemand.«
»Ich finde, Dora klingt scheener«, meinte Schwester Lilo. »Sie sind ja keen kleenes Kind mehr, sondern eine scheene junge Frau.«
»Danke«, entgegnete Dora geschmeichelt.
Merklich weniger ängstlich als zuvor sah Lilo Jannasch nun mit ihr aus dem Abteilfenster.
»Bei Ihnen in Schwaben ist es bergiger, nicht wahr?«, vergewisserte sich die Krankenschwester.
»Ja, und hier im Norden gibt es viel mehr Häuser aus Ziegelsteinen«, stellte Dora fest.
Lilo nickte. »Mein Neffe hat mir erzählt, dass die Ziegel am Holstentor sogar glänzen.«
»Das stimmt, sie sind glasiert«, wusste Dora noch von ihrem ersten Besuch in Lübeck. Als Zehnjährige war sie aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen: Das wohl berühmteste Stadttor des Reichs hatte vor ihr in der Abendsonne geglitzert, als sei es mit lauter kleinen Diamanten besetzt.
»Na, dann bin ich mal gespannt«, erklärte Lilo. »Mein Neffe schwärmt ja dauernd von der Stadt. Aber das ist für einen Pastor wohl nicht weiter verwunderlich – immerhin hat Libeck ja angeblich gleich sieben Kirchtierme.«
»Das stimmt«, bestätigte Dora lächelnd und zeigte aus dem Fenster. »Sehen Sie, der Bahnhof, wir sind gleich da.«
»Halleluja«, stieß Schwester Lilo dankbar hervor. »Dann haben wir es ja fast geschafft.«
Dora hatte ihr verschwiegen, dass auch im Bahnhof noch Zugunglücke geschehen konnten. Laut ihrer Tante Iny war im Mai 1908 ein Zug mit mehreren Loks und fast sechzig schwer beladenen Güterwagen im Lübecker Hauptbahnhof entgleist. Auch wenn es weder Tote noch Verwundete gegeben hatte, die Geschichte würde Schwester Lilos Angst aber wohl dennoch sehr schüren.
Doch diesmal ging bei der Einfahrt in den Bahnhof alles glatt. Dora und die Krankenschwester stiegen gemeinsam aus ihrem Waggon und sahen sich im Gewimmel der Menschen auf dem Gleis um. Schließlich tauchte aus dem Dampf der Lokomotive ein etwa dreißigjähriger Priester mit Kinnbart auf. »Da ist mein Neffe«, freute sich Lilo und reichte der Jüngeren zum Abschied die Hand. »Ich kumm bei Ihna im Süßwarengeschäft vorbei, Fräulein Hoyler, versprochen!« Dann eilte sie dem Pastor entgegen.
Schließlich kam eine schöne junge Dame mit kunstvoll gewelltem braunem Haar und einem weißen Hut winkend auf Dora zu. Sie musste zweimal hinschauen, um ihre zur Frau gereifte Cousine zu erkennen.
»Babette!«, rief sie, stürzte ihr die letzten Schritte entgegen und dann in die Arme.
»Ich dachte schon, die Zeit vergeht nie. Es war so eine Freude, als deine Mutter die gute Neuigkeit telegrafiert hat«, plapperte Doras Base drauflos.
Nun tauchte hinter ihr ein blonder junger Mann auf. Er war etwas kleiner als Babette, schlank, aber muskulös, hatte ein hübsches Gesicht und ein gewinnendes Lächeln. »Das ist unser Siggi, der beste Zuckerbäcker im Land.«
»Fr-freut mich«, sagte der inzwischen achtzehnjährige einstige Waisenjunge, dessen Stottern sich, wie von Babette in ihren Briefen mitgeteilt, ein wenig gebessert hatte. Von dem schmächtigen Jungen, als den Dora ihn kennengelernt hatte, war ohnehin nicht mehr viel übrig.
»Du bist ja ein richtiger Mann geworden«, sagte sie. »Babette hat geschrieben, du bringst älteren Waisenkindern das Boxen bei?«
Siggi nickte stolz. »J-ja den den Jungs vom Heim in der Schildstraße, das war die Idee von unserem Pastor. E-einer von Inys Kunden lässt uns in einer alten Lagerhalle üben, gleich hier in der Nähe vom Bahnhof«, erklärte er. »Da können die Kerls sich austoben, und danach sind sie friedlicher.«
»Ich finde es großartig, dass du das machst«, befand Dora anerkennend.
Der junge Konditor nickte verlegen. »Ich wäre froh gewesen, wenn mir das damals im Waisenhaus an der Mauer jemand beigebracht hätte. Da-Darf ich deinen Koffer nehmen?«
»Oh, der ist aber sehr schwer, selbst für einen Boxlehrer«, gab Dora zu bedenken.
»Macht nichts, mein Fahrrad hat einen Anhänger«, beruhigte Siggi sie.
Die Lübecker Bahnstationsanlage war ein sogenannter Reiterbahnhof, bei dem das Empfangsgebäude wie eine Brücke quer über den Gleisanlagen lag. Dora ging mit Babette und Siggi über eine breite Holztreppe auf den Personensteg hinauf, der über insgesamt zehn Gleise mit vier Bahnsteigen zum Ausgang führte.
Als sie vor der lang gezogenen, rot geklinkerten Bahnsteighalle angekommen waren, verstaute der Jungbäcker Doras Koffer wie angekündigt in seinem Fahrradanhänger.
»Fahr ruhig schon voraus, Siggi«, schlug Babette vor, während sie nach dem Lenker ihres eigenen Rads griff.
Dann wandte sie sich an ihre Cousine: »Ich dachte, ich schiebe meins, wir gehen zu Fuß und können ein wenig plaudern.«
»Dann b-bringe ich den Koffer schon hoch«, kündigte der junge Zuckerbäcker an und bestieg sein Rad.
Dora bedankte sich, und sie machten sich auf in Richtung Innenstadt.
»Ich hoffe, deine Kammer gefällt dir, ich habe sie selbst eingerichtet«, erzählte ihr Babette. »Es gibt auch ein Bücherregal – mit Platz für deine alten Wälzer. Und ich habe dir ein paar von meinen hingestellt. Die solltest du unbedingt lesen. Sooo romantisch …«
Dora schmunzelte. »Ist denn dein Schwarm inzwischen nochmal in den Laden gekommen?«
Babette schüttelte enttäuscht den Kopf. »Leider nein. Jedes Mal, wenn die Ladenglocke bimmelt, denke ich, es könnte Johann Herden sein. Lange machen meine Nerven das nicht mehr mit. Vielleicht bringst du mir ja Glück, und er taucht endlich wieder auf.«
»Ich wünsche es dir«, sagte Dora, während sie auf der reich verzierten äußeren Holstenbrücke den Stadtgraben mit acht Statuen aus Sandstein – vier männliche und vier weibliche sowie vier Vasen – überquerten. 1907 war der Bahnhof verlegt worden, doch es hatte bald so viel Verkehr gegeben, dass die Brücke durch eine breitere ersetzt werden musste. Die Skulpturen aus dem achtzehnten Jahrhundert hatte man zum Glück belassen.
»Wegen der Figuren nennt man sie im Volksmund Puppenbrücke«, berichtete Babette.
Dora konnte nicht umhin zu schmunzeln, weil ihr eine der Figuren den nackten Hintern entgegenstreckte.
Die Cousine bemerkte ihren Blick und erklärte: »Das ist der Merkur. In der Schule haben wir die Verse von Emanuel Geibel auswendig gelernt:
Zu Lübeck auf der Brücken,
da steht der Gott Merkur.
Er zeigt in allen Stücken
olympische Natur.
Er kannte keine Hemden
in seiner Götterruh,
drum kehrt er allen Fremden
den blanken Podex zu.«
Dora kicherte, und sie gingen auf das imposante Holstentor zu. Die glasierten roten und schwarzen Ziegel der beiden Türme und des Mittelbaus schimmerten einmal mehr in der Sonne, und Dora dachte lächelnd an ihr Gespräch mit Schwester Lilo.
»Aber jetzt erzähl du!«, bat Babette. »Du hast auf deiner Postkarte einen Überfall erwähnt?«