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Band 6 der Dark Fantasy Bestseller: Markus Heitz erzählt die Legenden der gefürchteten Albae weiter Über dem Geborgenen Land erscheinen Albae in Flugmaschinen und stellen den Bewohnern ein Ultimatum: Entweder es erfolgt die Herausgabe eines wertvollen Steinsarkophags samt Dieb oder nichts und niemand ist mehr vor den Albae sicher. Allerdings weiß kaum jemand im Geborgenen Land etwas von dem Sarkophag und der Person, die ihn gestohlen hat. Außer den verhassten Ragana, Caphorias und Khitâburàs. Aber Caphorias sitzt isoliert im Gefängnis, und Khitâburàs ist die Drohung einerlei. Doch die kleine Albin Sajù will ihren Freund Caphorias aus dem Kerker befreien, und plötzlich stecken die drei mitten in der fieberhaften Suche nach dem Sarkophag. Gleichzeitig kommen die Albae, die in der Freien Stadt Brandenwall insgeheim unter den Menschen leben, nicht zur Ruhe. Denn einer der fremden Albae flüchtet sich vor den Augen der zwergischen Großincvizitoria hinter die Mauern. Daraufhin setzt sie alles in Bewegung, um die Stadt und letzte Zuflucht der heimischen Albae inmitten der Wirren dem Erdboden gleichzumachen. Wird es ihr gelingen? Auch unter den fremden Albae kippt die Stimmung. Unversehens entbrennt Zwist, ausgelöst durch einen gefundenen Schädel, der angeblich die Reliquie eines gottgleichen Infamen sein soll. Aber das macht es für das Geborgene Land nicht besser. Im Gegenteil … "Dunkles Erbe hat alles, was ein guter Fantasy-Roman braucht. Starke und düster-coole Helden, eine faszinierende und von Heitz toll ausgestattete Welt, und eine fesselnde, abenteuerliche Geschichte, die nicht mit Schauwerten geizt", schreibt denglers-buchkritik.de Weitere Romane aus der Reihe "Legenden der Albae": - Gerechter Zorn - Vernichtender Hass - Dunkle Pfade - Tobender Sturm - Dunkles Erbe
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Seitenzahl: 731
Veröffentlichungsjahr: 2025
Markus Heitz
Blutrote Himmel
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Über dem Geborgenen Land erscheinen Albae in Flugmaschinen und stellen den Bewohnern ein Ultimatum: Entweder es erfolgt die Herausgabe eines wertvollen Steinsarkophags samt Dieb oder nichts und niemand ist mehr vor den Albae sicher.
Allerdings weiß kaum jemand im Geborgenen Land etwas von dem Sarkophag und der Person, die ihn gestohlen hat. Außer den verhassten Ragana, Caphorias und Khitâburàs.
Aber Caphorias sitzt isoliert im Gefängnis, und Khitâburàs ist die Drohung einerlei.
Doch die kleine Albin Sajù will ihren Freund Caphorias aus dem Kerker befreien, und plötzlich stecken die drei mitten in der fieberhaften Suche nach dem Sarkophag.
Gleichzeitig kommen die Albae, die in der Freien Stadt Brandenwall insgeheim unter den Menschen leben, nicht zur Ruhe. Denn einer der fremden Albae flüchtet sich vor den Augen der zwergischen Großincvizitoria hinter die Mauern. Daraufhin setzt sie alles in Bewegung, um die Stadt und letzte Zuflucht der heimischen Albae inmitten der Wirren dem Erdboden gleichzumachen. Wird es ihr gelingen?
Doch unter den fremden Albae kippt die Stimmung. Unversehens entbrennt Zwist, ausgelöst durch einen gefundenen Schädel, der angeblich die Reliquie eines gottgleichen Infamen sein soll. Aber das macht es für das Geborgene Land nicht besser. Im Gegenteil …
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
BEGRIFFE
I. Das Buch der Dunkelheit
Dramatis Personae
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
KAPITEL VII
KAPITEL VIII
II. Das Buch der Freundschaft
Dramatis Personae
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
KAPITEL VII
III. Das Buch der Hoffnung
Dramatis Personae
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
KAPITEL VII
KAPITEL VIII
KAPITEL IX
Nachwort
ein Zyklus: ein Jahr
ein Umlauf: ein Tag
eine Sanduhr: eine volle Stunde
Sekunda: eine Sekunde
Minuta: eine Minute
Hora: eine Stunde
ein Teil der Unendlichkeit: zehn Zyklen
ein Moment der Unendlichkeit: ein Umlauf
ein Splitter der Unendlichkeit: eine Stunde
Avaris: Albae von hohem Stand und mit Reichtum, Kaufleute
Kashagòn: jene, die sich allein der Kampfkunst verschworen
Ocizûr: Handwerker mit eigenen Schulen und Hochschulen
Riphâlgis: Künstler, ergeben der Kunst in jeglicher Form
Shiimāl: Spezialisten für Viehzucht und Ackerbau
Wèlèron: einfache Krieger, Priester und Magieforschende
Brandenwall: Freie Stadt im Norden des Geborgenen Landes
Dsôn Khamateion: einstiges Reich der Albae im Braunen Gebirge
Enaiko: die Stadt des Wissens im Süden des Geborgenen Landes
Therlisôn: Wohnsiedlung der Meldrith
Tî Silândur: Elbenreich
Aasdieb: geflügelte Kreatur, die bei Hunger auch jagt, um Aas zu erschaffen
Amekh Modrá: Eigenbezeichnung des nachtblauen Orkvolks
Glitzermöwe: Möwe, deren Gefieder je nach Lichteinfall silbrig flimmert
Greifer: hundgroße Flugbestie
Kadahaie: gefürchtete Raubfische
Knochenmalmer: bärengroße Raubtiere
Meldrith: Person mit albischen und elbischen Vorfahren
Morratugor: Panzerechse
Parsoi Khi: magiesensitives Volk
Potri: Seeräubervolk
Ragana: Moorhexen
Skalla: maritimes Handels-, Söldner- und Fischervolk
Sneig: Raubbestien, leben bevorzugt in Gletschern
Srgāláh: humanoides Wesen mit Hundekopf
Vezenèsir: geisterhafte Klagegestalt
Adlata: Gehilfin
Ambasciar/-a: Botschafter/-in der Elben
Aprendisus/-a: Lehrling
Avitor/-a: Kommandant/-in einer Kriegswolke
Benàmoi: Offizier einer Kriegswolke
Cîanai/Cîanoi: Magierin/Magier der Albae
Custodis: Buchwächter in Sinân
Discipula: Schülerin, meistens in einer geistigen Ausbildung
Famula/-us: magisch begabter Mensch in Ausbildung
Fannān: albischer Großmeister der Künste
Fîndaii: Leibwache und Eliteeinheit der Kisâri
Ganyeios: Titel des Herrschers von Khamateion
Ingenius/-a: Erfinder/-in
Kisâri: Kaiserin der Elben
Magus/-a: Zauberer/-in
Mhûomà: höchste Ragana
Ochranor/-a: albische/-r Beschützer/-in, Bewahrer/-in
Phormadur/-a: Vorsteher/-in der Meldrith
Prêot/-a: Priester/-in der Infamen
Studiosus/-a: Student/-in
Sytràp: Offizier der Albae in Brandenwall
Tharka: Sondereinheit der Dritten für die erste Schlachtreihe
Ûfaro Custodis: höchster Buchwächter in Sinân
Zhussa: Zauberkundige der Albae
Ardelith: Sonnenblut
Bòmbos: Sprengbombe
Byrdingr: Langboot
Charasai Nûl, kurz Nûl: Kriegswolke, fliegende Festung
Ocularia: Augenglas, auch getönt
Pyrobolus: Brandbomben
Vómva: Bomben gefüllt mit Ardelith, Alchemie o. a. Substanzen
Das Buch der Dunkelheit
Polòtayn, Prêot
Hirogòn, Avitor der Feuertropfen
Lendaròn, Benàmoi der Feuertropfen
Heïfotor, Chemistos der Feuertropfen
Damanion, Prêot der Feuertropfen
Yintaïs, Avitora der Windklinge
Bolcàta, Prêota der Windklinge
Tumānsor, Navigator der Windklinge
Nomirôs, Avitor der Wolkenzorn
Juphalor, Avitor der Sturmstimme
Gubingor Stahlwoge aus dem Clan der Schnellschmieder vom Stamm der Ersten, Kapitän des Panzerschiffs Versenker
Bandila Lohenflug aus dem Clan der Axtmacher vom Stamm der Ersten, Ingenia
Labingar Flinkfasser aus dem Clan der Gutaugen vom Stamm der Ersten, betagter Gelehrter
Bigonbur Glutruch aus dem Clan der Kupferdrescher, Labingars Aprendisus
Gandalgund Eisengriff aus dem Clan der Stahldrücker, dritte Königstochter
Adelia, Maga & Herrscherin von Rhuta
Jowna, Flugmahrreiterin & eine Anführerin der Mahr-Einheit
Brassi, Alira, Djuro, Listar und Harkin; Brigantiner/-in & Flugmahrreiter/-in
Gubingor Stahlwoge aus dem Clan der Schnellschmieder vom Stamm der Ersten polterte die hölzernen Stufen abwärts, die ihn tiefer in den Schiffsrumpf der dümpelnden Versenker führten.
»Warum fahren wir nicht mehr?«, rief er aufgebracht. Er trug ein dünnes Gewand, an seinem Wehrgehänge baumelte eine Kurzaxt. Etwas anderes brauchte er an Bord seines Schiffs bei dieser Mission nicht. »Bei Elria und Vraccas! Erst brausen wir hopsend über die See wie geworfener flacher Kiesel – und nun? Nichts mehr!«
Im Zwischendeck ging er vorbei an den wartenden Ruderern, die bereits ihre Schwimmwesten aus zugeschnittenen Korkstücken angelegt hatten. Die leicht bekleideten Zwerginnen und Zwerge rechneten auf der Probefahrt des Panzerschiffs mit dem Schlimmsten. Die großen, schweren Riemen, die jeweils von fünfen bewegt wurden, waren eingezogen.
Gubingor sah die beunruhigten Blicke im Vorbeihasten. Sein mit Muscheln verzierter hellbrauner Bart schwang, die langen Haare trug er als verwegenen Knoten auf dem Kopf, da es recht warm war. »Schaut nicht, als hätte euch ein Ork in die Biersuppe geschissen«, rief er ihnen zu. »Wird halb so schlimm sein. Wir saufen nicht ab.«
Im Unterdeck eilte er an Kabinen, Vorrats- und Werkzeugkammern entlang, in denen es alles gab, was sie für eine Fahrt benötigten – die sie jedoch ungeplant etliche Seemeilen nach Süden geführt hatte. »Bandila! Was ist da los?«
Der Kapitän der Versenker erhielt keinerlei Antwort.
Dafür roch es nach heißem Metall und verbranntem Öl, warmer, ätzender Dampf quoll ihm in dicken Wolken entgegen.
Gubingors Ziel lag unmittelbar vor ihm, der sogenannte Maschinenraum, improvisiert und eilends am Heck eingerichtet, um den eigens ersonnenen Schraubenantrieb von Ingenius Xanomir in der Versenker auszuprobieren.
»Bandila?« Im Gehen langte er nach einem der bereitgestellten großen Sandeimer, um ein mögliches Feuer zu löschen, bevor es sich ausbreitete und das Schiff samt Besatzung gefährdete. Die Körnchen halfen gegen loderndes Öl, Wasser hingegen verschlimmerte es.
»Ja! Hier«, krächzte die Ingenia aus dem Dunst zurück und hustete erstickt.
»Was ist geschehen?« Gubingor trat in den künstlichen Nebel, der sich allmählich lichtete, und sah die Zwergin mit ihren beiden Hilfswerkern.
»Der ölgelagerte Magnetkreiselantrieb ist uns um die Ohren geflogen, nachdem die Federn des Zweifachuhrwerks sich erst aufspulten und ruckartig abwickelten«, erklärte Bandila, als wäre es das Selbstverständlichste, und hüstelte. Die dunkelhaarige Zwergin trug dicke Handschuhe und eine Lederschürze sowie eine Ocularia gegen fliegende Spänchen und Spritzer. Mit einem Lappen wedelte sie den Dampf zur offenen Tür hinaus. »Durch die Überdrehungen wurde das Öl kochend heiß und hat uns die Verkapselung gesprengt. Daher die immense Beschleunigung.« Sie warf die Locken zurück. »Bis nichts mehr ging.«
Gubingor sah auf den zerstörten Apparatus, an dem die Gehilfen der Ingenia mit Bolzenschneidern behutsam versuchten, die außer Rand und Band geratenen scharfen Metallbänder zu zerschneiden; in Spiralen, wirren Bahnen und Knoten hatten sie die kleine Kabine in Beschlag genommen. Auch sie hatten Schürze, Handschuhe und Schutzocularia angelegt.
Langsam stellte Gubingor den Sandeimer ab. »Ein Wunder, dass niemand von euch den Kopf verloren hat«, sagte er und kratzte sich im Nacken. »Gelobt sei Vraccas.«
Bandila tastete sich ab. »Jetzt, wo du es sagst.« Sie befühlte die Bordwand rund um die Stelle, wo die Antriebswelle am Heck hülsengefasst durch das Holz führte. »Trocken und heil geblieben«, meldete sie aufatmend. »Ich habe schon befürchtet, wir hätten den Rumpf beschädigt. Aber der Propeller ist verloren. Ist bei den viel zu hohen Umdrehungen mit einem hässlichen Geräusch abgerissen.« Sie fluchte leise. »Elria hilf! Xanomir und Kettenhart werden mir den Kopf abschlagen, wenn sie sehen, was mit ihrem neuartigen Öluhrwerksantrieb geschehen ist.«
»Hätten sie ihn besser konstruiert, wäre das nicht geschehen«, übernahm Gubingor ihre Verteidigung. »Ich muss einräumen: Die erreichte Geschwindigkeit war unglaublich. Obwohl die Versenker stark gepanzert und aus dickem Holz ist, haben wir mehr als zwanzig Knoten gemacht. Zwanzig! Üblicherweise fahren wir mit zehn. Wir hätten ein gegnerisches Schiff mit dem Rammsporn nicht nur durchbohrt, sondern in zwei Hälften auf den Grund geschickt.«
»Dafür geht’s nun mit Riemen und Segel zurück. Hier ist alles zerstört, irreparabel, und die Schraube ab und davon.« Bandila wischte sich dunkle Ölspritzer und Schweiß von der Stirn, die von der Ocularia nicht abgedeckt wurde. »Hat es uns sehr vom Kurs abgebracht?«
»Wir berechnen die Position noch. Das verklemmte Ruder katapultierte uns weit nach Süden.« Gubingor musste husten, der wabernde Dampf reizte seine Lunge, und die Muscheln im Bart klickerten gegeneinander. »Puh, schlimmer als missratener Tabak! Ihr drei, kommt mit hoch aufs Oberdeck und schnappt frische Luft. Lasst den ganzen aufgespulten verworrenen Kram und die Gehäuse erst mal abkühlen. Und atmet nicht so tief ein! Bei Vraccas, das riecht ungesund.«
Bandila nickte und schickte ihre Gehilfen zuerst raus, dann folgte sie zusammen mit dem Kapitän.
Gubingor war stolz auf die Versenker, ein Panzerschiff, das auf dem Oberdeck verteilt sechsunddreißig Schnellfeuerkatapulte, deren Bedienmannschaften und fünfzig Soldaten unter dem eisenverstärkten Schutzdach barg. Breite Klingen und Eisenspitzen auf der Schräge über den Köpfen verhinderten ein Entern.
Es war eine schwimmende Festung. Fast vierzig Schritt lang, der Rumpf mit Blechen verstärkt, je ein Rammsporn vorne und hinten, die unter der Wasseroberfläche lagen. Dennoch blieb die Versenker wendig, konnte über große Riemen von achtzig Ruderern und zwei Segeln angetrieben werden.
Der Apparatus, den Ingenius Xanomir in ähnlicher Form in sein Tauchboot eingebaut hatte, unterstützte das Fahren. Vergrößert, leistungsstärker, überarbeitet und mit schnell veränderbaren Geschwindigkeiten sollten Ruderer und Segel letztendlich gänzlich ersetzt werden, um nicht mehr abhängig vom Wind und Strömungen zu sein.
Das hatte diesmal nicht geklappt.
Diese Art Panzerschiffe wurde seit zwei, drei Zyklen zur vorgelagerten Verteidigung der Seefestung Wellentrotz eingesetzt. Ein blitzschneller Überraschungsangriff wie einst durch die Rote Flotte der Albae durfte nicht erneut gelingen. Bevor in Zukunft ein Feind an das steinerne Bollwerk und die Durchfahrt ins Geborgene Land herankam, musste er durch die Abfanglinien der vernichtenden schwimmenden Bastionen.
Die Katapulte waren verbesserte Konstruktionen der erbeuteten Albaewaffen aus Wracks der Roten Flotte. Ein Dutzend an jeder Seite, der Rest jeweils an Bug und Heck, und sie nutzten massive Bolzen, Säure- und Brandgeschosse.
Der stilisierte Zwerginnenkopf auf der Vorderseite vermochte flüssiges Feuer mehrere Schritt weit über ein feindliches Schiff zu speien oder giftigen Rauch abzusondern, der die Sicht des Gegners einschränkte und ihn in lähmende Dämpfe hüllte. Gubingor hatte die Galionsfigur liebevoll Giftula Übelbrech genannt.
Etliche kleine Öffnungen im Rumpf über der Wasserlinie dienten Bogenschützen als Schießscharten, wobei sie so konstruiert waren, dass man von außen nicht ins Innere blicken konnte. Gegnerische Geschosse prallten von der blechverstärkten Außenhaut ab, die auch Flammen trotzte.
Eine lange Fahrt hinaus aufs offene Meer hingegen war nicht vorgesehen und widersprach der flachkahnigen Konstruktion, die nichts gegen hohe Wellen aufbot. Der Abstecher der Versenker in weite Gewässer war ein Versehen.
Gubingor betrat das Oberdeck, über dem das schützende Dach wie ein Deckel mit schmalem Spalt lag. Eine frische, salzige Brise trieb ihm den Geruch von verbranntem Öl und heißem Metall aus der Nase und dem Sinn. Tief atmete er ein und aus.
Die Versenker dümpelte in den sanften Wogen, und die jeweils acht gigantischen Riemen auf jeder Seite lagen ruhig über dem Meer. Es brauchte zehn kräftige Arme, sie effektiv im Wasser zu bewegen. Das Panzerschiff blieb bei aller schweren Ausstattung agil und gut zu manövrieren.
»Der Propellerantrieb ist eine gute Sache.« Bandila trat neben ihn und blickte an der Bordwand hinab. Sie schüttelte die dunklen Locken auf, und einige metallische Spänchen klirrten aus den dicken Haaren auf die Bohlen. »Wir sparen damit achtzig Leute ein. Und das Segel würde es auch ersetzen. In einem Kampf ist das –«
»Sofern der Apparatus einen Umlauf funktioniert.« Gubingor sah besorgt nach Westen, wo sich schwarze Wolken auftürmten. Grübelnd spielte er mit Bart und den eingewobenen Muscheln. »Zunächst hat er uns in Schwierigkeiten gebracht. Wir müssen nach Wellentrotz zurück, bevor uns der Sturm einholt. Mit der Versenker kein leichtes Unterfangen. Könnte heftig werden.« Er zeigte zu den gespinstigen, umeinanderrollenden Gebilden hoch über ihnen, in denen erstes grelles Zucken erkennbar wurde. »Die großen Wogen werden uns sonst abwärts drücken. Unter die Oberfläche.«
»Ich werde Ingenius Xanomir sagen, dass wir mindestens die doppelte Größe des Antriebs benötigen.« Bandila beobachtete das aufziehende Unwetter besorgt. »Wir haben bei schwerer See zu wenig Schub, befürchte ich.« Die Zwergin ging zum Befehlsstand. Sie griff sich Papier und Federkiel, um sich Notizen zu machen.
»Kapitän!«, schallte der Ruf des Ausgucks aus dem Krähennest des Segelmasts über das schräge Flachdach herab. »Trümmerteile im Wasser, backbord voraus. Etwa dreihundert Schritt entfernt.«
»Überlebende?«, wollte Gubingor aufgeregt wissen.
»Noch unklar. Zu viel Holz und Segeltuch im Wasser. Könnte ein Byrdingr-Boot gewesen sein«, antwortete der Zwerg im Ausguck. »Vier Leichen. Und zwei Kadahaie.«
Gubingor trat zu Bandila und sichtete die Seekarte, worauf der zweite Steuermann der Versenker inzwischen ihre genaue Position bestimmt und markiert hatte. »Seltsam«, murmelte er in seinen Muschelzierbart. »Was haben die Skalla bei uns zu suchen?«
Die Ingenia machte ein fragendes Gesicht. »Ist das Meer nicht frei von Grenzen?«
»Oh, ein jeder mag es befahren. Aber die Skalla sind eigentlich nördlich beheimatet. Entweder das Byrdingr-Boot ist vom Kurs abgekommen oder …« Gubingor wusste keine andere Erklärung.
»Der Sturm hat sie vielleicht abgetrieben?« Bandila sah nicht vom Schreiben auf. Sie kritzelte kleine Skizzen vom Apparatus und den aufgetretenen Schwachstellen. Zahlen, Pfeile, Vermerke. »Fischer womöglich?«
»Nein. Das Unwetter zieht grad erst herauf. Das ist nicht sein Werk.« Gubingor zog sein Fernrohr, trat neben ein Geschütz und hielt durch den Spalt von hoher Bordwand und Dach Ausschau nach den gemeldeten Wrackstücken. »Und die Potri, die wir vorhin in zwanzig Seemeilen Entfernung sahen, waren es nicht. Diese verfluchten Seeräuber gehen anders vor.«
Zwischen den dahintreibenden, auf- und absteigenden Kadavern, die Bissspuren der Haie zeigten, machte Gubingor lose Elemente aus, die zu einem Schiff gehörten: Eimer, Fässer, ein paar Ausbesserungsplanken, Segelstücke und die Skalla-Flagge.
»Das Byrdingr muss einen schweren Rumpftreffer erlitten haben und wie ein Stein gesunken sein«, murmelte er.
»Wie kommst du darauf?« Bandila streute über die Tinte feinen Sand aus dem Tiegelchen, das auf dem Kartenpult stand, damit die feuchten Linien auf dem Papier schneller trockneten.
»Keine gebogenen Reste von Heck oder Bug, keine verbrannten Trümmer, kein gebrochener Mast. Das Byrdingr muss im Ganzen abgesoffen sein«, erklärte er seinen Schluss.
Durch die geschliffenen Linsen sah er, wie ein Leichnam gelegentlich zuckte und sich zu schütteln schien, als wollte er den Tod aus dem Körper jagen und sein Leben zurück. Aber es waren die scharfen Zähne der Kadahaie, die von unten schnappten, an dem Ertrunkenen zerrten und Brocken aus ihm herausrissen.
»Sicher, dass nicht doch die Seeräuber infrage kommen?«, gab Bandila zu bedenken.
»Die Potri nutzen eine andere Taktik.« Deutlich erkannte Gubingor Stiche und Schnitte in den ungerüsteten Leibern der Seeleute. Also wurden sie geentert, geplündert und danach versenkt? »Sie halten Abstand, seit sie erfasst haben, was wir sind.«
Gerade wollte der Kapitän das Fernrohr an die Ingenia reichen, die darum bat, einen Blick über die Havariestelle werfen zu dürfen, als er eine Bewegung in einem Fass ausmachte, das schräg mit der Öffnung nach oben im Meer schwamm. Haiflossenumkreist.
Eine schlanke, beringte Hand fuhr plötzlich heraus, und die gepflegten Finger zuckten, als versuchte die Person, mit letzter Kraft nach Beistand zu winken. Sonnenlicht brach sich in den geschliffenen Edelsteinen, blitzten und funkelten.
»Überlebender«, schallte es in diesem Moment aus dem Krähennest. »Im Fass, Kapitän!«
»Hab’s gesehen. Kurs nehmen, langsame Anfahrt«, befahl er seinem Steuermann. »Wir wollen die unglückliche Seele nicht zu den Haien schubsen.«
Die Anweisung gelangte mittels Sprechrohrleitung ins Mitteldeck zu den Ruderern. Knarrend setzten sich die sechzehn Riemen in Bewegung, und die Versenker schob sich behutsam an die Trümmer heran.
Derweil kletterten angeseilte Soldatinnen und Soldaten am Bug auf den breiten Rammspornansatz, um auf Wasserlinie zupacken zu können. Die Kadahaie wurden mit langen Lanzen vertrieben.
Weil das Herauszerren des Überlebenden zu unsicher war, vertäuten sie das treibende Fass in Gänze und ließen es über eine Winde mit dem Ladekran durch eine Dachluke aufs Oberdeck hieven. Da es sonst nur Leichen, Kadaver und nichts mehr zu retten gab, kehrte die Truppe an Bord zurück.
Danach nahm die Versenker Kurs in Richtung Heimathafen, um dem Sturm zu entfliehen, der sich bedrohlich näherte. Der Wind frischte auf, und die Wellen rollten höher heran.
Gubingor und Bandila begaben sich ans geborgene Fass, begleitet von einem halben Dutzend Bewaffneter und einem Medicus, der Tragesack und Ledertasche mit Behandlungsutensilien sowie Verbandmaterial bereithielt.
Man zog die hochgewachsene, schlanke Gestalt behutsam heraus.
Zum Vorschein kamen mit ihr eine weiße Fahne, eine gerissene Lederhülle zur Aufbewahrung von Nachrichten, aus der Wasser rann, ein verschlossenes, versiegeltes Metallkistchen und ein Dolch in einer aufwendig verzierten Schwarzholzhülle.
Die milchfarbene Kleidung des Geretteten wies keinerlei Stickereien auf. Dafür saßen viele Ringe und Ketten aus verschiedenen Edelmetallen um Hände und rund um dessen Hals.
Die spitzen Ohren unter den nassen schwarzen Haaren sah Gubingor sogleich. »Ein Elb«, stellte er verwundert fest. »Hier?«
»Oder Schlimmeres«, murmelte ein Krieger und zwang dem Geschwächten, der sich kaum rührte, grob mit Daumen und Zeigefinger ein Auge auf. »Zeig deine wahre Natur.«
Es war tiefschwarz wie unbeleuchtetes Meer in der Nacht.
Besorgte Rufe und lautes Fluchen hallten über das Oberdeck. Waffen wurden gezogen, bereitgehaltener Stahl klirrte.
»Halt!«, rief Bandila und streckte die Arme aufhaltend nach rechts und links. »Bei Vraccas, wartet! Seht ihr das nicht? Er trägt die weiße Fahne eines Unterhändlers bei sich.«
Gubingor lachte auf. »Was sollte ein Schwarzauge verhandeln wollen?« Er versetzte dem Alb einen leichten Tritt zwischen die Rippen, woraufhin dieser aufstöhnte. »Eine List, um sein Leben zu bewahren! Ich wette, er ist dem Untergang von Dsôn Khamateion entkommen und schleicht seither durch die Reiche.« Noch ein Tritt, und noch ein Laut des Leidens. »Flüchten wollte er aus dem Geborgenen Land! Hat sich irgendwie bis ans Meer durchgeschlagen und die armen Schweine aus Skalla gezwungen, ihn mitzunehmen.«
»Findest du nicht, dass es dennoch seltsam ist? Er ist … extrem bleich.« Bandila zog die Stofflagen der hellen Kleidung vorsichtig auseinander. »Vielleicht hat er …?«
An unbedeckten Stellen des Armes kamen kunstvolle, bunte Tätowierungen zum Vorschein, welche die mondweiße Haut umschlossen wie ein Gewand. Sie reichten bis an die Schlüsselbeine und bedeckten sicherlich seinen kompletten Körper. Hals, Antlitz und Hände waren ausgenommen.
»Bei Vraccas! Das habe ich noch nie gesehen«, entfuhr es der Ingenia. »Wie dünn die Stiche gesetzt sind. Als wären sie mit einer haarfeinen Nadel eingebracht worden. Und die Farben! Sie … sie leuchten regelrecht.« Bandila nahm eine Vergrößerungslupe aus ihrer Gürtelwerkzeugtasche und betrachtete das Werk. »Ich kann mich irren, aber … die Intensität rührt von gemahlenem Edelstein, den sie der Tinte zugesetzt haben. Glitzern wie von einem Brillanten.«
»Hast du überhaupt schon mal einen Alb gesehen?«, konterte Gubingor und spuckte auf den Geretteten, der sich langsam zur Seite drehte, um nach seinem Retter und Schinder in einer Gestalt zu schauen. »Sei’s drum. Er mag meinetwegen ein Unterhändler für sich selbst sein. Wir tun ihm nichts und werfen ihn zurück in die See, wo wir ihn fanden. Elria soll entscheiden, ob er Haikost wird oder nicht. Dann bleiben meine Planken auch sauber von seinem verfluchten Blut.«
Die Kriegerinnen und Krieger stimmten leise murmelnd zu, einige lachten zufrieden. Die Ersten verstauten die gezogenen Äxte an ihren Wehrgehängen und machten Schritte auf den Liegenden zu, um den Befehl des Kapitäns zu befolgen.
»Nein, wartet, ihr Seebärte«, versuchte es Bandila noch einmal. »Untersucht wenigstens …«
»Ho! Bist du neuerdings die Kapitänin der Versenker?«, fuhr Gubingor sie an.
Da kniete die Ingenia bereits neben dem geschwächten Alb und wühlte in seinen Sachen. »Nur, um sicherzugehen. Es könnte uns Aufschluss geben, wer das Schwarzauge ist.«
Bandila öffnete die gerissene Lederhülle. Aber das Salzwasser hatte die vielen Schriftstücke darin unbrauchbar gemacht. Im mit Wachs abgedichteten Metallkistchen kamen finger- bis handlange rätselhafte Röhrchen mit flüssigen und pulverigen Substanzen zum Vorschein. Sowie ein konkav gebogener Handspiegel, dessen reflektierende Seite aus einzelnen Plättchen bestand; an der Außenseite saßen winzige Tasten.
»Was ist das alles?« Bandila hob ein handflächenkleines Körbchen aus der Kiste, an dem vier Schnüre und ein Stofftuch befestigt waren, danach weitere Utensilien, deren Sinn sich ihr nicht erschloss. »Warum sollte der Alb auf der Flucht das mit sich herumschleppen?« Sie sah in die bärtigen und beflaumten Gesichter, bis ihr Blick auf Gubingor ruhte. »Weiß jemand, zu was das gut ist?«
Einhelliges Kopfschütteln.
»Wenn interessiert’s?« Der Kapitän nickte seinen Leuten zu. »Packt das Schwarzauge und gebt ihn dem Meer zurück. Und sagt den Kadahaien …«
»Unterredung«, murmelte der Alb plötzlich und hob beide leeren, offenen Handflächen zum Zeichen seiner Friedfertigkeit. Er sprach das Standardzwergisch mit einem eigentümlichen Zungenschlag. »Mit eurem König. Unterredung.«
Bandila deutete triumphierend auf die weiße Kleidung und die Fahne. »Was habe ich gesagt? Ein Unterhändler.«
»Verrate, wie deine Botschaft lautet. Und ich überlege, ob sie es wert ist, von König Gandalgir Eisengriff aus dem Clan der Stahldrücker vernommen zu werden.« Gubingor bedeutete seinen Leuten, den Alb auf die Knie zu wuchten. »Doch zuallererst: In wessen Namen sprichst du, Schwarzauge?«
Rasch war der Gerettete in eine aufrechtere Position gezwungen und sah zwischen den pendelnden schwarzen Haarsträhnen zum Papierbrei, der neben der geöffneten, geborstenen Lederhülle auf den Planken lag. »Darauf hätte alles gestanden«, antwortete er schwach.
»Kapitän«, rief der Ausguck. »Die Potri haben Vollzeug gesetzt. Sie gehen auf Abfangkurs zu unserer Route.«
Gubingor fluchte. »Diese gierigen Seegurkenlutscher!«
»Aber sie haben keinerlei Aussicht, gegen das Panzerschiff zu bestehen«, sagte Bandila. »Oder doch?«
»Nein. Aber sie werden uns Zeit kosten. Entkommen können wir ihnen nicht, also müssen wir uns ihnen stellen und sie schlagen.« Gubingor zeigte zu den heranrasenden finsteren Wolkentürmen, die umeinander wälzten und tief im Innern blitzten und funkelten. »Wir geraten mitten ins Unwetter. Eine harte Prüfung, die uns Elria sendet.«
»Samusin. Nicht Elria«, widersprach der Alb und lächelte im Versuch, einnehmend zu wirken, was die schwarzen Augen konterkarierten. Einzelne Härchen malten Linien auf das fahle Gesicht und erinnerten an Wutlinien. Wie Sprünge auf der perfekten Maske. »Der Gott der Winde und des Ausgleichs steht meinem Volk näher als deinem. Ist es nicht seltsam, dass die Kinder des Schmieds in Gefilden sind, für die ihr Gott nicht zuständig ist?«
»Und Samusin eilt dir zu Hilfe? Dann sag ihm, er soll besser weniger pusten und wehen. Sonst wirst du zum zweiten Mal im Meer landen. Mit uns.« Gubingor pochte gegen seine Axt am Gürtel. »Und das überlebst du nicht, Schwarzauge. Bete rasch!«
»Noch zehn Seemeilen, Kapitän«, meldete das Krähennest. »Die Potri kommen schnell näher.«
»Mein Name ist Polòtayn«, sprach der Alb ruhig. »Ich bin ein Bote, ein Unterhändler von höchstem Rang.« Er legte die ringgeschmückten Hände in den Schoß, während er auf die Fersen zurücksank. Mit einer raschen Kopfbewegung schüttelte er sein Haar auf den Rücken. »Die Skalla sollten mich zur Festung Wellentrotz bringen. Aber sie wandten sich gegen mich.«
»Ich habe die Wunden an den Leichen gesehen. Du hast sie abgeschlachtet«, stellte Gubingor fest.
»Mich gewehrt, Kapitän. Meine Unendlichkeit verteidigt. Zwei von ihnen schlugen ein Loch in den Rumpf und versenkten das Schiff, in der Hoffnung, dass ich mit auf den Grund gezogen werde. Und sterbe wie sie. Auch wenn deren aller Tod meinen Namen trug«, erklärte Polòtayn besonnen. »Es wird Elrias Wille gewesen sein, dass ihr mich findet. So kann ich meinen Auftrag doch noch erfüllen.«
»Du hast nicht verraten, für wen du angeblich verhandeln möchtest«, hakte Gubingor nach. »Deinen Namen haben wir erfahren. Doch für wen erhebst du deine Stimme?«
»Für wen? Nun, ich darf dir vorerst eröffnen, ihr haltet großen Schaden vom Geborgenen Land ab. Sofern ich mit eurem König sprechen kann.« Polòtayn hob leicht den Kopf. Wohin er genau sah, war wegen der schwarzen Augen nicht ersichtlich.
»Das ist alles, was du vorbringst?« Für Gubingor schien er die düsteren Wolken zu betrachten. »Noch hast du mich nicht überzeugt«, brummelte er und rieb sich über den Bart, spielte nachdenklich mit einer eingeflochtenen Muschel. Er sah über die Schulter zu seinem ersten Steuermann. »Die Versenker kampfbereit machen. Schwerste Geschütze vorbereiten, Brandgeschosse laden. Jagen wir den Seeräubern Angst ein. Vielleicht lassen sie sich durch eine Warnsalve abhalten. Und maximale Schlagzahl vorlegen. Wir müssen vor dem Sturm bleiben.«
»Zu Befehl, Kapitän«, kam die prompte Antwort.
Im Unterdeck tönten die Anweisungen. Die langen Riemen fuhren in enormer Taktung hoch und runter, die breiten Blätter stachen in die Wogen und beschleunigten die Fahrt des Panzerschiffs.
Klirrend wurden die Harpunen mit den vorbereiteten Feuerspitzen aus den Munitionskammern nach oben getragen und in die reichweitenstärksten Katapulte geschoben.
Gubingor ließ jeden Fetzen Segel setzen. Die Versenker erreichte nochmals ein, zwei Knoten mehr.
Doch das feindliche Schiff zog in größerer Entfernung an ihnen vorbei.
»Sie machen ein Sperrnetz bereit«, rief der Zwerg aus dem Ausguck. »Ich kann sehen, wie sie es an Deck ausbreiten.«
»Was ist das?«, fragte Bandila alarmiert.
»Grobmaschige Netze mit Schwimmblasen, in denen sich Ruder und Riemen verfangen. Erwischt es uns, verlieren wir an Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit.« Gubingor sah zu Polòtayn. »Ich frage dich zum letzten Mal, bevor ich dich über Bord werfe, Schwarzauge: Für wen spielst du den Unterhändler? Was ist dein Begehr von meinem König?«
»Es ist nur für seine Ohren bestimmt.« Der Alb erhob sich umsichtig, sah über die Bordwand und zeigte zu den segelnden Potri. »Wenn es mir gelingt, dass Samusin ein Wunder sendet, das die Seeräuber beseitigt, und wir dem Unwetter entkommen – wirst du mich dann ins Rote Gebirge bringen? Ohne Umschweife?«
»Ho, das nenne ich Überzeugungskraft für Götter! Schwatzt mit Samusin und wickelt ihn ein.« Gubingor und die Umstehenden lachten, während Bandila verwundert die Brauen zusammenzog. »Ist dein Gebet so stark?«
Die Ingenia neigte sich, umgeben von der herablassenden Heiterkeit der Besatzung, zum Kapitän. »Sei’s drum. Gelingt es ihm, kommen wir heil nach Hause. Die Wellen sind spürbar höher geworden als vorhin«, raunte sie ihm besorgt zu. »Andernfalls sterben wir im Unwetter. Gemeinsam mit dem Schwarzauge. Davon haben wir nichts.«
Gubingor versetzte dem Gefangenen den dritten Tritt, der ihn zurück auf die Knie zwang. »Wirke dein Wunder. Geschieht nichts, stirbst du, bevor der Sturm uns erreicht.« Er legte eine Hand auf den Stiel seiner Axt. »Du verstehst?«
»Ich verstehe.« Polòtayn nahm vorsichtig das merkwürdige gebogene Spiegelkistchen und rutschte auf Knien in Richtung der Sonne, die noch nicht von den Wolken verschlungen worden war.
Unter den zuckenden Fingerkuppen des Albs, die über den Rahmen glitten, bewegten sich zu Gubingors und Bandilas Verwunderung die einzelnen Segmente. Diese brachen leise klickend die Lichtstrahlen, konzentrierten sie und warfen sie hinauf zu den schwarzen Unwettergespinsten.
Wie zur Antwort blitzte und schimmerte es darin.
»Nun weiß Samusin, wo ich bin«, verkündete Polòtayn und senkte den rätselhaft konstruierten Handspiegel.
»Du hast ihm zugeblinzelt, ja? Mit diesem Ding? Und das soll Samusin sehen und ihn gar scheren?« Gubingor lachte ihn aus. »Ihr Schwarzaugen! Seid so arrogant zu glauben, dass sich der Gott der Winde –«
»Kapitän«, tönte es aufgeregt vom Ausguck. »Da! Im Unwetter!«
Die Köpfe der Zwerginnen und Zwerge drehten sich. Alle schauten unter dem Dach hinaus zu den rotierenden, schwarzen Wolken, die über den Potri standen.
Am Rand löste sich ein dunkler Tropfen aus der Unwetterfront, als wäre finsteres Kondenswasser entstanden. Er fiel lautlos abwärts und traf den Heckaufbau des gegnerischen Schiffs, durchschlug das hölzerne Kastell, auf dem Bogenschützen und Enterkommando standen.
»Was bei …?«, setzte Gubingor verblüfft an.
Nach einem Herzschlag vergingen die Potri in einem gewaltigen Lichtblitz. Gleich darauf hallte die Detonation ohrenbetäubend laut zu ihnen herüber, zusammen mit einem spürbaren Luftzug, der das Segel der Versenker für zwei, drei Augenblicke gegen die Windrichtung blähte und die Fahrt abbremste.
Vor Verwunderung, Schreck und Überraschung riefen die Zwerginnen und Zwerge über und unter Deck durcheinander.
Der Gleichtakt der Riemenschläge missriet für etliche Herzschläge, bevor sich die Ruderer gefangen und zurück in den Rhythmus gefunden hatten. Das Segel füllte sich in die ursprüngliche Richtung, und das Panzerschiff nahm die verlorene Geschwindigkeit erneut auf.
»Was bei Tion?«, entfuhr es Gubingor fassungslos.
»Vraccas, beschütze uns«, raunte Bandila und sah zum Alb, der sich nicht gerührt hatte. »Welche unheilige Macht sahen wir eben?«
»Wir benötigten ein Wunder. Und wir bekamen eines.« Polòtayn erlaubte sich ein wissendes Lächeln, das durch die schwarzen Augen nichts von seiner Unheimlichkeit verlor. »Samusin schuf Ausgleich, Kapitän.«
»Legt das Schwarzauge in Ketten und sperrt es in einem freien Lagerraum ein!«, befahl Gubingor seinen Leuten. »In Wellentrotz entscheiden wir, was mit ihm passieren soll.«
»Das ist nicht nötig.« Polòtayn erhob sich und ließ die Arme locker herabhängen. »Es gibt keinen Grund, mich zu fesseln.«
»Du bist ein Schwarzauge. Mehr Gründe brauche ich nicht«, hielt der Kapitän dagegen.
Polòtayn deutete zum Sturm, der in gleichem Abstand zu ihnen blieb und folgte. »Samusin weiß, wo ich bin. Tut mir etwas an, behandelt mich schlecht, unterbrecht mich in meinem Tun, und er wird Vergeltung auf euch regnen lassen wie auf die Potri.« Er hob das gekrümmte Spiegelkästchen. »Auf Sämtliches, was euch lieb und teuer ist. Obwohl es nicht das ist, weswegen ich ausgeschickt wurde. Ich trachte nicht nach dem Untergang deines Volkes.«
Gubingor senkte den Kopf, sein Blick wurde wütend. »Meinetwegen. Keine Fesseln. Ich verstehe jetzt, warum dich die Skalla umbringen wollten.« Mit einem Wink hielt er seine Besatzung zurück. »Aber benimm dich. Du wirst nichts anfassen oder …«
»Ich bin Gast der Versenker und achte dein Wort.« Polòtayn deutete eine Verbeugung an und öffnete ein verborgenes Kästchen im größeren Behältnis, um eine fingerkleine Sanduhr herauszunehmen, deren drehbare Glasröhre auf einem Amulett aufgebracht war. Mit einer goldenen Kette legte er sich den Zeitmesser um und setzte die Körnchen in Gang, die ölträge abwärtstroffen. »Samusin erwartet mein Lichtgebet nach Ablauf der Uhr. Erreicht es ihn nicht …« Der Alb deutete auf die rauchenden, teils brennenden Trümmer des vernichteten Potri-Schiffs. »Eine Kabine wäre gut, damit ich mich säubern und umziehen kann.«
»Haben wir nicht. Wir sind auch bald in Wellentrotz«, schnarrte Gubingor und sah zu Bandila. »Du, Schwarzauge, wirst ihr erklären, welche Utensilien du mit dir führst. Und wie es dir gelingt, die Wolken weinen zu lassen, deren Tränen die Schiffe zerstören.«
»Oh, das war Samusins Gunst«, beharrte Polòtayn liebenswürdig.
»Niemals! Aber das finden wir heraus. Noch bevor wir vor Anker gehen.« Gubingor wandte sich um, ließ Bandila und Polòtayn stehen.
Die Ingenia betrachtete den Alb.
Und er lächelte sie an. Wie ein hübscher, böser Geist.
Polòtayn hatte es sich in seinem weiten weißen Gewand mit dem Untergang der Sonne auf dem schrägen Schutzdach der Versenker bequem gemacht, indem er kurzerhand Planken aus der Schiffszimmerei über die Eisenspitzen und darauf weiche Kissen gelegt hatte.
Dort saß er und betrachtete bei verdünntem rotem Wein, robustem Roggenbrot und verschiedenen Obstsorten sowie mildem Käse den Vorhafen, in dem Gubingor das flach gebaute, blechverstärkte und waffenstarrende Schiff vertäut hatte. Ein paar Kerzen warteten darauf, von ihm entzündet zu werden, sobald die Sonne den Sternen wich. Für etwas Behaglichkeit an einem wenig behaglichen Ort.
Dem Alb war es untersagt worden, von Bord zu gehen. Und daran hielt er sich, auch wenn es ihm ein Leichtes gewesen wäre, seinen schwimmenden Kerker zu verlassen. Daher machte er das Beste aus seiner halben Gefangenschaft.
Am Kai liefen des Öfteren Zwergenkinder vorbei und bestaunten ihn, kicherten und lachten. Mal riefen sie Beleidigungen, mal forderten sie ihn neckend auf, Dunkelheit über sie zu werfen oder Angst in die Seele zu pflanzen, wie es sein Volk vermochte. Sie selbst seien dagegen gefeit, tönten die Mädchen und Jungen.
Aber Polòtayn tat nichts von alldem. Es gäbe Gubingor und den Ersten einen Vorwand, ihm etwas anzutun. Ein Unterhändler zeigte Respekt vor denjenigen, mit denen er sprach. Oder die er erpresste.
Neben dem Schneidbrett mit den Leckereien lagen in einer auseinandergefalteten Tasche, wie sie Feldschere für ihre chirurgischen Instrumente nutzten, das handliche Spiegelgerät sowie die Funkenreibe griffbereit. Die Ölsanduhr war bald abgelaufen, und dann erwartete Samusin sein Signal in der Dämmerung.
Polòtayn hatte Bandila freimütig sein persönliches Hab und Gut erklärt. Aber sie hatte wenig verstanden, auch wenn sie genickt und das Gegenteil behauptet hatte. Als Ingenia, die sich mit Apparaten, Antrieben und Mechanik beschäftigte, kannte sie nicht einmal Ölsand, der auf winzige, eingeschmolzene Magnete im Glas reagierte. Damit lief die Zeit beständig, exakt und immer gleich ab. Weder ein Sturz noch Erschütterung wirkten sich darauf aus, außer das Glas ging zu Bruch.
Gelegentlich reihte Polòtayn mit Tintenstift und Papier einige Worte auf, die ihm in den Sinn kamen, während er die Eindrücke von Wellentrotz aufsog.
Skizzen halfen ihm dabei, die Erinnerungen zu einem späteren Moment besser abrufen zu können. Er ging fest davon aus, sowohl das Reich der Ersten als auch das Geborgene Land wieder zu verlassen. Lebendig.
Denn mein ganz eigener Samusin wacht über mich. Polòtayn nahm einen Schluck vom Gesöff, das die Unterirdischen ihm als Wein angepriesen hatten. Nicht einmal sauerster Traubensaft, in den man Essig geschüttet hatte, kam dem nahe, was er nun angewidert schluckte. Er wollte einen guten Eindruck machen und seine Unerschütterlichkeit beweisen, ganz gleich ob dieser Trunk ein Scherz oder eine Prüfung seiner Gastgeber war.
Die Festung Wellentrotz lag auf einer kleinen Landzunge. Nach dem Überfall der Roten Flotte hatten die Unterirdischen die Reste der alten, zerstörten Bauwerke als Fundamente genutzt. Die neuen dickwandigen Gebäude mit noch mehr Türmen darauf, mehr Geschützen darin und allerlei Fallen auf dem Meeresgrund machten eine Einnahme beinahe unmöglich.
Außer man goss fassweise Sonnenblut darüber aus, wie die Unterirdischen die alchemistische Substanz nannten, und löste das Gemäuer auf. Sie besaßen nun selbst die Paste, die Metall untrennbar verschweißte und Stein schmolz wie Wachs. Gestohlen aus den Wracks der Roten Flotte.
Gubingor hatte Polòtayn stolz die Katapulte der Versenker gezeigt, die einem albischen Grundmodell entsprangen, das die Unterirdischen fortentwickelt hatten. Kleine Diebe.
Die Ersten hatten die Tore zum Geborgenen Land zu Beginn des Zyklus nach dem Ende der schweren Winterstürme geöffnet, und der Handel florierte wie vor dem Einbruch des meilenlangen Kanaltunnels, der durch das Rote Gebirge ins Binnenmeer führte.
Im ringförmigen Kaibereich legten die Gefährte aus dem Jenseitigen Land an. Ladung und Besatzung wurden auf eventuelle ansteckende Krankheiten und Parasiten in den Schiffen untersucht. Erst dann zog man die Handelsschiffe in die Durchlassschleuse, wo Zoll, Passiergebühren und Treidelgeld bezahlt werden mussten.
Polòtayn hatte beobachtet, dass kein Fremder von Bord durfte. Nicht einmal zu den im Kreis angelegten Dockgebäuden des Hafens, wo Unterirdische die Waren für den Eigenbedarf der Festung umschlugen. Wer keine gestanzte silberne Erlaubnisplakette vorweisen konnte, wurde verhaftet. Gefangene wie ich.
Der Alb hob das Papier auf dem Klemmbrett auf. Der Tintenstift, dessen hintere Hohlkammer eine Reserve der schwarzen Flüssigkeit barg, zeichnete in seinen Fingern mit schnellen Strichen.
Polòtayn bannte die Fensterfronten in der aufragenden Steilwand auf das Blatt. Er nahm an, dass dahinter unzählige Behausungen für die Unterirdischen lagen. Die ausgemeißelten Wohnungen stellte er sich wie behagliche Höhlen vor, mit Steinmetzkunst verziert und einem bezaubernden Blick zur schier endlosen See. Dazu die Wolken und Sonne im raschen Wechsel, mal Stürme und Unwetter, die den Bewohnern nichts anhaben konnten. Als Unterirdischer kann man es gut aushalten.
An den Klippenaußenseiten gab es wenige steile Treppen, ein paar Leitern und Gehsteige von Fenster zu Fenster sowie einen einzigen Aufzug. Er war vermutlich für Notfälle gedacht, um bei einem Einsturz oder Brand in der Behausung ins Freie zu entkommen.
In den Fenstern erwachten indes Lampen und Lichter zum Leben, während die sommerliche Dämmerung hereinbrach. Es wirkte auf Polòtayn, als würden ihn unzählige leuchtende Augen des Roten Gebirges auf dem Dach der Versenker argwöhnisch beobachten. In seiner Heimat war seine Kleidung transparent, um zu verdeutlichen, wer und was er war. Einzig sein Gemächt wurde durch eine schwarze Schamkapsel verdeckt. Aber im Geborgenen Land verzichtete er auf diese Zurschaustellung.
Nach und nach wurden die Arbeiten am befestigten Ufer, auf den Schiffen und im Hafen eingestellt. Aus einem der offenen Kontorgebäude drang mehrstimmiger Gesang und flog durch das abendliche Idyll.
Dafür, dass es aus Kehlen von Unterirdischen stammte, hatte es eine beachtliche Melodik. Der Kehlgesang rundete es auf ungewöhnliche Weise ab, und doch fehlte dem Alb die Tiefe. Die Besonderheit. Das Anrührende, was einem Lied innewohnen musste. Sie bemühen sich redlich.
Da machte Polòtayn auf dem Kai eine zehnköpfige Delegation aus, bestehend aus Kriegerinnen und Kriegern, einer Unterirdischen mit dem königlichen Wappen der Eisengriffs am Gewand, das über ihrer Lederrüstung lag, sowie einem betagten Gelehrten, dessen junger Aprendisus allerhand schwere Taschen und einen Tragesack schleppte. Abgerundet wurde die Gruppe von Gubingor und Bandila.
»Da nahen Wissen, Drohung und Diplomatie«, stellte Polòtayn amüsiert fest. Er legte Tintenstift und Papier zur Seite, um sich von seinem provisorischen Lager zu erheben und vor den Ankömmlingen zu verbeugen. »Wer wird wohl das lauteste Wort von den dreien führen?«
»Was hast du eben gesagt?«, verlangte eine der Wachen in der Allgemeinsprache zu wissen. Sie hielt wie zwei weitere eine schwere Kugelschleuder in Händen; die Mündung zielte unverblümt auf den Alb. Die übrigen kamen mit Äxten und Großschilden daher.
»Ich entbot euch meinen Gruß«, log Polòtayn mit seinem gewinnendsten Lächeln. »Er scheint nicht laut genug gewesen zu sein.«
»Zu Tion mit ihm! Hört ihr das? Das Schwarzauge spricht Zwergisch«, rief der betagte Gelehrte, dessen hüftlange grausilberne Haare mit drei Spangen in einem dicken Zopf gebändigt wurden. »Und er ist wahrlich bleich wie der Mond, ohne eine Leiche zu sein. Oder ein Untoter.«
»Das sagte ich vorhin.« Gubingor rollte mit den Augen. »Er ist auch kein Wiedergänger. Unser Schiffsmedicus fühlte seinen Herzschlag.«
Die waffenstarrende Gruppe blieb vor der breiten Zugangsbrücke auf die Versenker und unterhalb des Albs stehen. Ein optischer Misston im abendlichen Idyll.
»Wir wissen, was du bei uns möchtest«, zeterte der Gelehrte sogleich los und stützte sich mit den schwieligen Händen auf den Gehstock, dessen Ende und Griff aus Eisen geschmiedet war. Er hatte auf eine Rüstung verzichtet und stattdessen ein Ledergewand angelegt, an dem etliche goldene, silberne und platingemachte Ehrenabzeichen befestigt waren. Sein schütterer Bart reichte bis an die Gürtelschnalle. »Also, sperr die spitzen Ohren auf, und –«
»Einen Augenblick, Labingar«, bat ihn die vollgerüstete Zwergin und richtete sich an Polòtayn. Als Waffe führte sie zwei Wurfäxte mit sich. »Ich bin Gandalgund, dritte Tochter von König Gandalgir Eisengriff aus dem Clan der Stahldrücker.« In den schulterlangen, dunkelbraunen Haaren saßen goldeiserne Schmuckkämme. »Das sind Labingar Flinkfasser aus dem Clan der Gutaugen, unser bester Geschichtsgelehrter, und sein junger Aprendisus Bigonbur Glutruch aus dem Clan der Kupferdrescher. Mein Vater sandte mich, um mit dir zu sprechen.«
»Ich freue mich, dass du die Unterredung der Drohung vorziehst. So mancher lernte nichts aus der Vergangenheit, auch wenn er sich im Wissen darüber für einen Magister hält.« Polòtayn deutete anbietend auf das gemütliche Dach. »Kommt gerne alle herauf. Ich habe verdünnten Wein, etwas zu essen und –«
»Nein.« Labingar stieß ungehalten mit dem Eisenstock auf. »Sehe ich aus wie eine Bergziege?«
»Ich darf das Schiff nicht verlassen«, merkte Polòtayn an. »Daher brauchen wir eine Lösung.«
Kapitän Gubingor pfiff und kreiselte mit dem linken Zeigefinger in der Luft.
Daraufhin senkte ein Ladekran, der seine letzten Fässer aus einem benachbarten Schiff gehievt und ins Kontor gehoben hatte, seine Plattform geschmeidig vor der bunten Truppe ab.
Nacheinander bestiegen die Zwerginnen und Zwerge die hölzerne Ebene, ließen sich furchtlos aufwärts tragen. Der Ausleger schwenkte herum, bis sie sich auf gleicher Höhe mit dem Alb befanden. Die Läufe der Schusswaffen blieben auf ihn gerichtet. Die Großschilde bildeten einen angedeuteten Wall.
»Das ist schlau gelöst.« Polòtayn setzte sich langsam zurück auf seine Kissen und deutete anbietend über sein Mahl. »Langt zu.«
Niemand ging darauf ein, obwohl das Essen von den Ersten stammte. Als hätte die Nähe zu dem Alb die Speisen ungenießbar gemacht. Oder sie befürchten einen Giftanschlag.
Stattdessen nahm Gandalgund ein Schreiben aus der Gürteltasche. »Inzwischen erreichten uns Nachrichten aus dem Blauen und dem Schwarzen Gebirge. Sie besagen, dass deren Kundschafter vor den Außentoren, die zur Sommerzeit geöffnet werden sollen, keinerlei Gefahren vorfanden.«
»Abgesehen von Belagerungsvorbereitungen der Blutgrollorks im Osten«, ergänzte Labingar, wobei zwei Goldzähne den Alb anblitzten. »Sie sind wohl in größter Eile aufgegeben worden. Warum, das war nicht herauszufinden.«
»Gut für euch. Oder etwa nicht?« Polòtayn nippte am essigsauren Wein, ohne sein Antlitz zu verziehen. Was gäbe er für eine kräftigrote Bluttraube mit einem Schuss Goldlikör darin.
»Es ist gut. Und zugleich rätselhaft. Die Feinde und Bestien, die so lange darauf warteten, dass sich die Durchgänge öffneten, zogen sich zurück und haben das Geborgene Land sich selbst überlassen. Etwas verjagte sie«, führte die Königstochter aus. »Die Späher fanden stattdessen identische Botschaften an sämtlichen Toren, verfasst auf Zwergisch, aber nicht von zwergischer Hand.«
»Ich weiß«, sagte Polòtayn freundlich und steckte sich rasch ein Stückchen Käse in den Mund, um die Säure auf Zunge und Gaumen niederzuringen. »Ihr werdet bald Nachrichten aus dem Braunen und dem Grauen Gebirge erhalten, dass auch sie meine Zeilen erhielten.«
»Deine? Du willst das gewesen sein? Hat dich Gubingor nicht aus dem Wasser gefischt? Warst du nicht an Bord einer Byrdingr der Skalla?« Labingar lehnte sich sehr weit vor. Sein Aprendisus mit dem langen gewellten braunen Haar und dem ausrasiert-gewagten Bartschnitt hielt ihn rasch am Arm, damit er das Gleichgewicht behielt. »Du bist ein Lügner, Schwarzauge! Wen mag das verwundern?«
Gandalgund betrachtete den Alb abwägend, der leichte, dunkle Bartflaum machte das rundliche Gesicht schmaler. »Dann wirst du wissen, was da geschrieben steht?«
»Selbstverständlich. Ich befand mich auf dem Weg zu euch, zu den Ersten, um die Botschaft zu übermitteln. Und mich zu zeigen. Als Unterhändler. Zwecks steten Austausches.« Er lächelte. »Damit ihr ein wohlwollendes Antlitz zu den enthaltenen Bitten habt.«
»Du nennst die Zeilen eine Bitte?«, vergewisserte sich Gubingor ungläubig.
»Also? Was steht da geschrieben?«, verlangte Gandalgund. »Liefere uns einen Beweis.«
»Dass meinem Reich ein wertvoller Steinsarkophag gestohlen wurde. Von einem dreisten Dieb, den das Geborgene Land unter dem Namen Mòndarcai kennt«, gab Polòtayn den Sinn des Schreibens wieder. »Wir wollen wissen, wo sich Dieb und Behältnis befinden, und verlangen die Herausgabe bis zum Ende des Zyklus.«
Die Königstochter nickte zustimmend. »Was gab es als Dreingabe vor die Tore?«
»Dies.« Er deutete auf das kleine Körbchen mit der angebundenen Stoffhülle darüber, das neben seinen Notizen lag. »Und ein Tiegelchen mit dem, was ihr Sonnenblut nennt. Deines verlor ich leider beim Schiffbruch.«
»Schön. Es stimmt. Wir sinnieren seither, welcher Art Hinweis dieses Dingelchen sein soll. Außerdem kennen wir im Roten Gebirge keinen Mòndarcai. Er wäre niemals durch die geschlossenen Durchgänge gelangt«, monierte Labingar. »Verschwinde und sag das deinen Leuten.«
»Tötete er nicht einen mächtigen Flugdrachen, der das Geborgene Land als sein Eigentum betrachtete? Ich denke schon, dass auch ihr seinen Namen und von seinen Taten hörtet. Gekleidet in eine Teilrüstung aus runenverziertem Tionium und ausgestattet mit einem magischen Speer, die beide nicht die seinen waren«, gab Polòtayn gelassen zurück. »Sondern Aiphatòn gehörten, dem Shintoìt, dem Sohn der Unauslöschlichen. Das Geborgene Land wird sich sehr gut an die Zeiten von Nagsar und Nagsor Inàste erinnern. Mit ihrem Gebeinturm aus den Knochen der unendlichen Zahl von Toten. Ein Alb wie Mòndarcai, mit solcher Macht und als Reiter eines Geschuppten, wird Mittel und Wege gefunden haben, den Sarkophag auf diese Seite der Gebirge zu bringen.«
Es trat eine Stille auf der Plattform ein, die nichts weniger als ein Eingeständnis bedeutete.
»Was befindet sich darin?«, wollte Bandila wissen.
»Eine Reliquie, die meinem Reich sehr viel bedeutet. So viel, dass wir bereit sind, alles zu tun, sie zurückzuerlangen.« Polòtayn wählte eine süße Schluchtenfeige, die mit ihren vielen kleinen Körnchen im Mund knisterte.
Gandalgund atmete tief ein. »Du meinst damit einen Angriff?«
»Wegen verschimmelten Knochen und behauenem Stein?« Labingar lachte abfällig. »Ihr Schwarzaugen. Herablassend und anmaßend zugleich.«
»Ich hatte gehofft, dass die Kinder des Schmieds den Wert von behauenem Stein erkennen und zu schätzen wissen.« Polòtayn behielt sein Lächeln bei. »Es sind die einbalsamierten Überreste eines Helden, wie es keinen zweiten geben wird. Mehr müsst ihr nicht erfahren.«
»Bei Vraccas! Ich war blind«, entfuhr es Bandila in diesem Moment. Sie zeigte auf das Körbchen mit dem ausgeschnittenen Stoffstück an Schnüren. »Das ist das verkleinerte Modell einer Himmelswunschlaterne! Wie manche im Geborgenen Land sie aufsteigen lassen.«
»Ein Kinderspielzeug?« Gandalgund schien verdutzt.
Polòtayn deutete Applaus an. Er nahm das Körbchen zur Hand, setzte eine kleine Kerze auf die Plattform und entzündete sie mühelos mit seinem Funkenwerfer.
»Der Hinweis war vielleicht zu einfach«, sagte er unterdessen und wartete, bis sich genügend warme Luft in der Hülle gesammelt hatte, die das Gefährt in den Abendhimmel trug. »Stellt euch vor, unter der kleinen Plattform hinge ein Fässchen mit Sonnenblut. Sobald die Flamme erlischt und die Laterne abstürzt …«
»Geht das Fass zu Bruch und schmilzt den Stein, den es trifft«, raunte Bandila.
»Was soll das bedeuten?«, murrte Gubingor und verfolgte den tanzend-treibenden Flug der schwebenden Lampe mit Blicken.
»Dass die Schwarzaugen uns weismachen wollen, dass sie genug von beidem besitzen, um die Berge rings ums Geborgene Land zu schmelzen. Wie Wachs im Feuer.« Labingar hob den Stock drohend. »Das habt ihr niemals! Außerdem ist unser Gestein widerständig!«
»Es ist ein Hinweis, dass die Gesetze der Abschottung und des kontrollierten Einlasses mit ein paar vergrößerten Exemplaren« – Polòtayn zeigte zum davonfliegenden Leuchten – »aufgehoben sind. Wir brennen uns Einlass nach Ablauf der Frist.« Er aß noch einen Bissen vom Käse, der besser mundete, als er roch. »Und ja: Wo immer uns danach ist.«
Die Unterirdischen lachten schallend.
»Auf deinem Zeichenbrett mag das nach einem guten Plan aussehen. Aber unsere Späher auf den Bergrücken werden diese weithin sichtbaren Spielzeuge entdecken und mit unseren Lenkdrachen behutsam auf den Boden herabziehen. Ohne dass ein Spritzer des Sonnenbluts auf unsere heiligen Gebirge gelangt«, erwiderte Gandalgund ruhig. »Das ist keine Drohung, die uns schreckt.«
»Vergesst den Beistand Samusins nicht«, konterte Polòtayn. »Er trug mich mit seiner Macht von Tor zu Tor. Und die Versenker in den sicheren Hafen. Ich bin auserkoren.«
»Es wird einen Grund geben, warum er dich nicht jenseits unserer Tore brachte«, sagte Gubingor verächtlich. »Wärst du im Binnenland aufgetaucht, hätten dich unsere Krieger in Fetzchen geschlagen.«
»Wir überfallen euch nicht, nur weil sich unser Eigentum bei euch befindet, ohne dass ihr davon wusstet.« Polòtayn sah die Himmelslaterne zu einem schimmernden Punkt am Abendhimmel werden. »Ihr seid nicht die Diebe.«
»Wir lernten die Albae anders kennen. Vom Umgang mit uns und vom Tonfall her«, erhob Gandalgund das Wort. »Woher die ungewohnte Zurückhaltung?«
»Höflichkeit. Wir streben weder nach Eroberung noch nach einem Krieg«, erklärte Polòtayn. »Wir wollen zurückhaben, was uns wichtig, was uns heilig ist. Das kann jedes Volk im Geborgenen Land nachvollziehen. Menschen, Zwerge, Elben, Meldrith, ihr alle habt etwas, das von solch großem Wert ist, dass ihr bereit wärt, Bestes und Schlimmstes zu tun, um es zu bewahren.«
»Eure Höflichkeit endet jedoch am Ende des Zyklus«, stellte Gubingor nüchtern fest. »Warum?«
»Auch das mag euch nicht belasten«, wich Polòtayn aus.
»Vielleicht verstehen wir es dann noch besser«, entgegnete Bandila.
»Sagen wir: Für bestimmte Riten ist die Anwesenheit der Reliquie unabdingbar. Entscheidend. Und diese Riten wiederum sind für mein Reich wichtig. Womöglich lebenswichtig.« Polòtayn beließ es dabei. »Es sollte deutlich geworden sein, dass wir bereit sind, die Gebirge um das Geborgene Land auf der Suche nach Sarkophag und Dieb niederzuschmelzen und die Reiche umzupflügen. Buchstäblich. Ganz gleich, wer oder was uns entgegensteht.«
Die Unterirdischen auf der schwebenden Lastenplattform tauschten rasche Blicke.
Gandalgund schwieg. Sie dachte erkennbar über das Vernommene nach. »Nun gut. Wir wissen, wer du bist. Was du hier bei uns willst und was du suchst«, setzte sie nach einer Weile an. »Was wir nicht wissen: Welches Reich ist deine Heimat?«
»Jenes, aus dem sich die Albae zurück ins Geborgene Land geschlichen haben?« Labingar preschte so vehement vor, dass sein Aprendisus wieder zupacken musste. »Mit Tücke und alchemistischen Mitteln, um die Augen im Sonnenschein weiß zu färben?«
Polòtayn neigte leicht das Haupt, und die langen schwarzen Haare rutschten nach vorne; der Wind spielte mit einzelnen Strähnen. »Wir wissen, dass es Albae in Dsôn Khamateion gab, bevor eine vereinte Streitmacht des Geborgenen Landes und deren eigene Drachen sie vernichteten. Und von weiteren meiner Art, die im Verborgenen leben.«
»Du meinst nicht zufällig die Schwarzaugen in Brandenwall?«, erkundigte sich Labingar lauernd. »Vernähmen wir dies aus deinem Mund, hätten wir den Beweis, um die Stadt endlich in Schutt und Asche zu legen.« Er pochte mehrmals mit dem Stock auf, als wollte er darunter etwas zu Mus machen. Das Holz der Plattform erhielt tiefe Kerben.
»Es wäre allenfalls eine Behauptung, die mir nicht zustünde.« Polòtayn legte eine Hand auf die Brust. »Wir haben weder mit den einen noch mit den anderen zu schaffen. Unsere Kultur entstand unabhängig von ihnen.«
»Das ist keine echte Antwort auf meine Frage«, erwiderte Gandalgund.
Polòtayn zog sein Gewand an den Armen nach oben und zeigte seine tätowierte Haut. »Saht ihr jemals einen Alb wie mich?«
»Nein. Unsere Jüngeren haben keinen einzigen gesehen. Tion und Inàste haben euch nicht gegen uns beschützt«, warf Labingar zufrieden ein und lachte. »Wir haben gewonnen!«
»Wir folgen Pfaden, die uns eher zu euren Freunden machen als zu Feinden. Und wir leben weit, weit im Süden. Aber das soll nicht Gegenstand unserer Unterredung sein.« Polòtayn warf ein Lächeln in die Runde. Er ließ dem Gelehrten seinen verkündeten Triumph, ohne sich zu harschen Worten verleiten zu lassen. Haltung, Ruhe, Unterhandel. »Ich kam voller Hochachtung zu euch. Und –«
»Wer regiert deine Heimat?«, unterbrach ihn Gandalgund.
Polòtayn behielt die Freundlichkeit auf seinem Antlitz, auch wenn sich etwas Drohendes, Warnendes daruntermischte. »Betet, dass ihr niemals unter diese Augen treten müsst. Man sandte aus gutem Grund mich.«
Auf dem rundlichen Gesicht der Königstochter spiegelte sich Unzufriedenheit wider. »Du lässt uns nur wissen, was dir nützt. Hast deine Forderungen überbracht, deine angedeuteten Drohungen sachte zu unseren Füßen platziert. Und nun erwartest du, dass die Bewohner des Geborgenen Landes ausschwärmen, um dir Sarkophag und Dieb ausfindig zu machen?«
»Du hast es erfasst, Gandalgund.«
»Und doch gibt es nicht mehr als deine Worte hier und die Botschaften an den Toren«, setzte sie hinzu.
»Vergiss das Ende des Potri-Schiffs nicht. Vor den Augen von Gubingor und Bandila«, erinnerte Polòtayn sie genüsslich. »Samusin schleuderte einen vernichtenden Tropfen seiner Wut, und der Rumpf wurde davon zerrissen.« Er pochte mit dem Fuß auf sein Lager. »Dasselbe wäre übrigens mit der Versenker geschehen. Samusins Macht lässt das größte Schiff in Spänchen auf den Meeresgrund sinken.« Er zeigte über die Gebäude des Hafens und die Festungsbauten. »Nichts hiervon hält ihm stand. Das bleibt euch allen erspart, wenn wir den Sarkophag und den dreisten Entführer erhalten.«
»Zu Tion noch eins! Was soll dieser Unfug, dass ein Schwarzauge unmittelbar mit einem Gott …« Labingar suchte das richtige Wort.
Polòtayn hob helfend die gekrümmte Handspiegelvorrichtung. »Spricht. Hiermit. Er gab es mir.«
»Ich denke« – der betagte Gelehrte zeigte mit dem metallenen Stockende auf ihn –, »dass es ein Trick ist. Magie. Trug. Etwas, das uns glauben machen soll, Samusins Gunst läge auf dir. Ihr Schwarzaugen seid Meister der Täuschung.«
»Frage Gubingor und Bandila. Sie sahen, was der Gott tat. Er rettete sie und mich.«
Kapitän und Ingenia nickten zögerlich, als sei es ihnen unangenehm, die Worte zu bestätigen.
»Du sagtest ihnen, dass du deinem Gott in regelmäßigen Abständen Botschaften senden musst. Sonst wendet er sich gegen uns. Trifft das zu?«, hakte Gandalgund nach.
»Ja. Die Signale, die Zeitabstände variieren und sind nicht von irgendjemandem nachzuahmen, sollte dir oder deinem Gelehrten etwas Derartiges in den Sinn kommen. Der Gott erkennt den Unterschied und würde sich rächen. Voller Wut.« Polòtayn strich über die Ölsanduhr, die um seinen Hals auf dem Amulett hing.
»Deine Aufmachung … sie … sie erinnert mich an etwas.« Labingar winkte seinen Aprendisus ungeduldig zu sich. »Her zu mir, Bigonbur!«
Buch um Schriftrolle um Steintafel räumte der alte Unterirdische aus Taschen und Tragesäcken, warf sie achtlos auf den hölzernen Untergrund der schwebenden Plattform – bis er mit einem zufriedenen Grunzen fündig wurde.
»Wusste ich es doch! Schon einmal kamen Elben zu uns, weiß gewandet wie du, taten großspurig, überlegen und göttlich«, verkündete er und wedelte mit einem gesiegelten Pergament. »Doch sie waren das Übel, steht geschrieben. Trachteten nach Bösem. Nun haben wir ein Schwarzauge vor uns, das behauptet, es wolle nur zwei Dinge. Geraubte Dinge. Also Gerechtigkeit. Bist du wirklich so harmlos?«
»So ist es, weiser Labingar.« Polòtayn neigte den Kopf. »Aber ich bin kein Elb.«
Mit dem Untergang der Sonne spürte er das Ziehen in den Augen. Das Schwarz darin verlor sich, wurde zu Weiß und lenkte die Aufmerksamkeit auf die eigentliche Farbe rund um die Pupille.
Grün.
Leuchtend wie frisches Frühlingsgras in der Sonne, schimmernd wie ein Smaragd vor hellem Feuer, wie eine Bahn im Regenbogen. Oszillierend und makellos.
Zugleich changierten die eingebrachten Linien in seiner Haut, und die Farben intensivierten sich, als würden sie aus seinem Innern beleuchtet. Ein Schimmern legte sich auf die ungezierten, bleichen Hautstellen und erhöhte die gesamte Erscheinung des Albs.
Die Unterirdischen wichen bis auf eine Wache, Gandalgund und Gubingor einen halben Schritt zurück; die Plattform am Kran geriet ins Schwingen. Verwunderte Laute flogen ihnen unwillkürlich über die Lippen. Die Schilde hoben sich abwehrend.
»Bei Vraccas«, raunte Bandila und wandte überwältigt den Blick ab.
Labingar stampfte mit dem Stock auf. »Lass das, Schwarzauge!«, herrschte er ihn an. »Das ist schändliche Magie! Ich vermag es zu spüren! Du bist nicht besser als die Bastarde aus Dsôn und Brandenwall.«
»Ich sagte nie, ich sei besser.« Polòtayn setzte sich zurück auf das Lager. »Ich bin anders.«
»Glaubt ihm kein Wort!«, rief der Gelehrte seinen Begleiterinnen und Begleitern zu. Er wies seinen Aprendisus an, die Tätowierungen auf der Haut des Albs abzumalen. »Er spielt mit unserem Verstand. Untersuchen wir ihn. Lasst uns seine Magie ergründen. Nehmen wir ihm seine Utensilien weg, und ich prophezeie euch: Es wird nichts geschehen! Gar nichts!«
Gandalgund runzelte die Stirn und wandte sich zu ihm um. »Bist du dir sicher?«
»Ja.«
»Weil er nicht begreift, dass ich mit göttlichem Segen reise. Weil er es nicht glauben will«, warf Polòtayn in einem übergeduldigen Tonfall ein, als wollte er einem Schwachsinnigen zum hundertsten Male etwas erklären. »Zwingt mich nicht dazu, Samusin um eine Demonstration seiner Macht zu bitten. Wellentrotz könnte im Meer versinken. Bis auf die Grundfesten ausgelöscht. Dagegen war die Heimsuchung durch die Rote Flotte nichts. Überhaupt nichts!« Er griff nach dem handlichen Spiegelkonstrukt.
»Wie soll das Signalisieren vonstattengehen?«, fragte Gubingor. »Die Sonne ist versunken, und das restliche Licht genügt dir niemals, um …«
Polòtayn entzündete mit dem Funkenwerfer die Signallaterne, die er in weiser Voraussicht mit an Deck genommen hatte. Er klappte die einzelnen Blenden umeinander, bis der Strahl gebündelt durch das geschliffene Glas in seinen Handspiegel fiel. Grell und dünn wie ein Stück leuchtendes Garn schoss das gleißende Licht scheinbar ins Nirgendwo des Nachthimmels.
Polòtayn betätigte die eingelassenen Tasten am Rahmen, um die reflektierenden kleinen Stückchen zu bewegen und Unterbrechungen in das schnurgerade Leuchten zu bringen.
»Ihr wolltet unbedingt eine Zurschaustellung von Samusins Gunst und Macht«, stellte Polòtayn bedauernd fest. »Damit ihr meiner Botschaft und meinem Auftrag Glauben schenken könnt. Ihr sollt sie erhalten.«
Gandalgund reckte die Hand. »Nein! Warte«, rief sie erschrocken. »Niemand soll zu Schaden kommen!«
Der Strahl flackerte nervös, vervielfältigte sich, wurde wieder zu einem und flog hinauf bis zu den Gestirnen, raunte und flüsterte mit ihnen, als wäre er ihresgleichen.
Doch es geschah – nichts.
»Samusin hat entschieden. Ihr bleibt verschont.« Polòtayn packte den Signalspiegel weg und lächelte. »Aber bald werdet ihr von seiner unbändigen Macht vernehmen.«
»Ich gehe und berichte meinem Vater, was wir besprochen haben«, sagte die Königstochter ohne Erleichterung in der Stimme. »Du bleibst an Bord der Versenker, bis Entscheidungen getroffen wurden.«
Gubingor bedeutete dem Kranführer, die Lastenplattform mit ihnen darauf auf den Kai zurückzusetzen.
Polòtayn nickte. »Und lasst es gerne die übrigen Reiche des Geborgenen Landes wissen: Ihr habt noch einen halben Zyklus.« Er nahm das Zeichnen wieder auf.
Ohne Reue für das Kommende.
Hirogònstieg über die Kettenleiter abwärts in den unteren, dritten Ring der Charasai Nûl, der Kriegswolke, die den Namen Feuertropfen führte. Dort befanden sich die Geschütze und Feldlaboratorien unter schützenden Zeltbahnen. Halbrunde Drahtgeflechte spannten den imprägnierten Stoff gegen Wind und Wetter und bildeten einen umlaufenden künstlichen Tunnel.
Wie alle an Bord der Nûl trug der glatt rasierte Alb mit den langen, blonden Haaren ein eng anliegendes, einteiliges Kleidungsstück in Schwarz, das bis auf ein paar Ziernähte und sein Rangabzeichen schlicht war. Polsterungen saßen an Ellbogen und Knie, um Taille und Brust verliefen Lederriemen als Koppel, mit der man sich an Halteleinen einhaken konnte. Die Haare waren zu einem Knoten am Hinterkopf gebunden, damit sie im allgegenwärtigen Wind nicht flogen. Funktionalität schlug alles. Für Eitelkeit war am Boden Platz, doch nicht in der Luft.
Die dritte Ebene hatte im äußeren Durchmesser fünfhundert Schritt und war zwanzig breit, der Habitatring für Truppen, Handwerker und Gelehrte darüber maß dreihundert und die obere Ebene einhundert. Dort lagen die Halterungen für Befeuerungsstoffe und Brenner, welche die Luft in der Traghülle erwärmten und die Nûl samt ihrer immensen Last zum Schweben brachte. Sowie die Brücke, auf der sich die Benàmoi, die Navigatoren und der Ausguck befanden.
Die meisten Bauteile bestanden aus federleichtem Drachenbein, die Traghülle aus gegerbter Haut von Geschuppten, die sich widerständig genug gegen die heiße Luft im Innern und gegen die Elemente von außen zeigte. Die Knochenelemente waren von den besten Künstlerinnen und Künstlern beschnitzt worden. Keine Farbe, kein Lack, da beides zu schwer wog.
»Ist alles vorbereitet?«, wollte Hirogòn von Heïfotor wissen, der als Chemistos die Zusammensetzung der Substanzen prüfte, die in große, kesselähnliche Behältnisse geschichtet wurden. Nicht eine Unze durfte von der Rezeptur abgewichen werden, sonst käme es zu spontanen Reaktionen, Flammen und Detonationen, die zum Verlust der Ebene oder gar zum Ende der Kriegswolke führen konnten.
»Jawohl, Avitor.« Heïfotor, der seine fingerlangen weißen Haare nicht bändigen musste, salutierte. Über seinem Einteiler trug er eine Lederschürze, die von Hals bis Knöchel reichte, am Ledergürtel hingen Werkzeuge und Lappen griffbereit. »Wir haben ein Dutzend Pyrobolus, zwei Dutzend Bòmbos und fünf Vómva vorbereitet.«
»Gut. Das wird ausreichen.« Hirogòn trat an den Abwurfschacht und warf einen Blick hinab auf die unter ihm dahingleitende Landschaft.
Viertausend Schritt bis zum Boden.
Rhuta blühte und strotzte vor sattem Grün, die Bäume und Felder standen in vollem Saft. Die Ernte von Getreide, Obst und Gemüse würde im Herbst üppig ausfallen.
»Wir fahren schnell«, stellte Hirogòn zufrieden fest. »Der Ostwind hat uns dank der gespannten Segel und dem Einsatz der Lenkdrachen bei Nacht gut geschoben. In weniger als einer Hora haben wir unser Ziel erreicht. Die Navigatoren leisteten gute Arbeit.«
»Das haben wir ebenso. Ihr werdet es bald mit eigenen Augen sehen, Avitor«, sagte Heïfotor stolz und wischte sich die schmutzigen Finger an einem alkoholgetränkten Lappen ab. »Es ist gewagt, die Fahrt bei helllichtem Tag zu machen.«
»Man wird uns von unten nicht sehen. Es sei denn, man hält Ausschau nach uns, Chemistos. Aber da niemand erahnt, dass wir kommen, droht keine Gefahr.«
Um für das Auge am Boden mit dem Himmel zu verschmelzen, besaß die lautlose Nûl unterschiedlich gefärbte Tarnseidenleinwände, die passend zur Himmelsfarbe unter die Ebenen gespannt wurden. Alles, was sie dann noch verriet, war ihr Schatten in der Landschaft.
Ihr bester Schutz vor Angriffen war die enorme Höhe, in der sie fuhr. Außer fliegenden Kreaturen, wie Drachen oder Greifen, reichte nichts zu ihr hinauf. Und gegen diese Gefahren führte sie genügend Geschütze mit sich.
Eine letzte Unwägbarkeit blieb – aber die würde bald vergangen sein. Es gab eine Schwachstelle, die Hirogòn auszunutzen gedachte.
»Es bleibt bei reinen Abwürfen, oder entsenden wir Springer?«, erkundigte sich Heïfotor. »Ich könnte rasch einige Handbòmbos vorbereiten. Es dürfte etwas für uns zu holen sein.«
»Was meint Ihr, Chemistos?«
»Tief im Gewölbe sollen unglaubliche Schätze gelagert sein. Einmalige! Unter Umständen Dinge, die einen Bezug zu unseren Gründern haben, Avitor«, sprach Heïfotor geheimnistuerisch, als brächte es Unglück, seine Vermutung laut auszusprechen.
Hirogòn richtete sich auf und legte die Arme auf den Rücken. »Reliquien der Infamen? Dort?«