Die Legenden von Intêrra - Hagen Alverich - E-Book

Die Legenden von Intêrra E-Book

Hagen Alverich

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Beschreibung

Wenn aus Trauer geborener Hass das Schicksal aller bestimmt... Der Novize Taron steht kurz vor dem Ende seiner Priesterausbildung. Doch ein Großteil der Priesterschaft Yewabors ist gegen seine Ernennung. Noch verheerender werden ihre Stimmen, nachdem Taron ein faszinierendes Medaillon erhält und eigenartige Dinge um ihn geschehen. Könnte Taron einer der verhassten Magiebegabten sein? Und was hat es mit diesem Medaillon auf sich? Taron gerät in das Visier des Königs, welcher alle Begabten brandmarken lässt. Sein Wunsch, Priester zu werden, rückt in weite Ferne, stattdessen erstarkt sein Drang nach Freiheit. Begleitet von alten und neuen Gefährten, entrinnt Taron vorerst der Gefahr. Das spannendste Abenteuer seines Lebens beginnt, an dessen Ende sich Taron dem König und seinen Schergen stellen muss.

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Seitenzahl: 560

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Widmung

Dieses Werk widme ich einem Kind, welches nie das Licht der Welt erblicken durfte und mich doch dazu brachte, diesen Roman zu schreiben.

Unvergessen und geliebt.

Inhaltsverzeichnis

Prolog Der Doppelmond

Kapitel Die Geschichte der Götter

Kapitel Das Medaillon

Kapitel Esthîon

Kapitel Zurück zum Kloster

Kapitel Tarons Hoffnung

Kapitel Der Rat

Kapitel Die Anklage

Kapitel Übermacht

Kapitel Lavina und Barvo

Kapitel Das Urteil

Kapitel Die Reise beginnt

Kapitel Der Brief

Kapitel Gedankenverschleierung

Kapitel Der Wächter des Waldes

Kapitel Das Ende

Kapitel Ankunft in Donnerhall

Kapitel Ein Angebot

Kapitel Unerwartete Hilfe

Kapitel Die Offenbarung

Kapitel Das Gesicht in der Dunkelheit

Kapitel Die Explosion

Kapitel Die Verfolgung

Kapitel Elwarans Feuer

Kapitel Todfeind

Kapitel Aufeinandertreffen zweier Welten

Kapitel Esthîons Entscheidung

Kapitel Der Kreis schließt sich

Kapitel Ein neuer Freund

Kapitel Ein Zeichen der Stärke

Kapitel Verhandlungen und Opfer

Kapitel Die Zeremonie

Prolog Der Doppelmond

Esthîon starrte aus dem Fenster und sah, wie Tanus, der kleinere der beiden Monde, sich soeben vor seinen großen Bruder schob. Ein seltener Anblick. Die Welt wurde düsterer. Esthîon kniff die Augen zusammen. Ich muss schlafen, dachte er. Die Müdigkeit wollte sich einfach nicht einstellen. Esthîon hörte, wie der Wind sich durch die Ritze unter seiner Tür hindurchquetschte, und spürte ihn über sein Gesicht streicheln. Er öffnete erneut die Augen. Schwere Wolkenfetzen zogen vor die beiden Monde und ihr Leuchten erlosch.

Ein Schrei ertönte.

Esthîon horchte auf. Sein Blick ging zur hölzernen Tür, die schemenhaft im Dunkeln lag. Wer war das? Es hörte sich nach einem Mann an und war von Schmerz geprägt. Ein Knall, und ein zweiter Schrei. Eine Frau. Der Laut kam vom Flur. Esthîon sprang, mit nichts weiter als einem Nachthemd am Leib, aus dem Bett und riss die Tür auf. Der Gang war vom Fackelschein erhellt. Vor seinem Zimmer lag eine der Wachen. Es roch metallisch. Der steinerne Boden war voller Blut.

»Mutter, Vater!«, rief er.

Esthîon spürte Angst. Er rannte durch die Blutlache, glitt darauf fast aus. Die Zimmertür zu seinen Eltern stand offen. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was in dem Raum passierte. Eine dunkle Gestalt stand darin, mit dem Rücken zu ihm. Seine Mutter lag im Bett, die Laken rot eingefärbt. Jemand weinte. Esthîon schrie erschrocken auf.

Die Person in dem schwarzen Kapuzenmantel drehte sich langsam herum. Ihr linker Arm umschlang die Stirn von Esthîons Vater, ihre rechte Hand hielt ein Messer an dessen Hals. Schluchzend rannen Tränen dem König über die Wangen. Esthîon hatte noch nie zuvor dieses Geräusch von seinem Vater gehört. Sein Blick verschwamm. Die Gestalt lachte dunkel.

Verzweiflung stieg in Esthîon auf. »Nein!«, keuchte er und machte einen Schritt ins Zimmer.

Langsam zog der Mann die Klinge am Hals des Königs entlang. Sein Lachen wurde lauter. Blut schoss in hohem Bogen aus der Wunde. Der König röchelte. Der Mörder schleuderte den umfassten Kopf zur Seite und lief auf Esthîon zu.

Der Prinz erstarrte vor Panik. Er blickte in die tiefe Finsternis der Kapuze. Der Mann stieß ihn wie ein Kind nach hinten und rannte nach rechts in den Korridor. Esthîon knallte mit dem Rücken gegen den Türrahmen.

Der Aufprall hatte ihn wach gerüttelt. Esthîon schnellte nach vorne und griff den linken Arm des Mörders. »Du entkommst mir nicht!«, schrie er.

Der Mann drehte sich um. Esthîon spähte unter die Kapuze. Der Mörder vollführte mit seinem gegriffenen Arm eine kreisförmige Bewegung, warf Esthîon erneut zurück und rannte weiter.

Durch Esthîons Handgelenk zuckte ein stechender Schmerz. Er gewann sein Gleichgewicht wieder. Trauer, Wut und Angst hielten sich die Waage. Er nahm die Verfolgung auf. Esthîon war nur wenige Schritte hinter dem Mörder.

Die Gestalt rannte um eine Ecke, in einen Verbindungsweg zum Hauptgebäude der Burg. Der Prinz bog ab, doch die Gestalt war verschwunden, der Arkadengang leer.

Esthîon lehnte sich durch das bogenförmige Fenster. Niemand war zu sehen. Die Wolken trennten sich vom Doppelmond und färbten die Stadt in ein schummriges rötliches Licht.

Wo ist er hin? Wut gewann die Oberhand. Er schlug mit den Fäusten auf den Fenstersims.

»Verschließt die Tore! Verriegelt die Stadt!«, brüllte er in den Burghof, lauter als er je zuvor geschrien hatte.

Er hörte das Klappern gerüsteter Männer hinter sich. Esthîon wandte sich um, lehnte sich gegen eine der Säulen und ließ sich weinend an dieser hinabgleiten.

»Was ist passiert? Wer war das?«, fragte eine vertraute Stimme.

»Ein Mann mit einem schwarzen Kapuzenmantel«, antwortete der neue König Gonvalors und gab sich seiner Trauer hin.

1. Kapitel Die Geschichte der Götter

Aufopferung bedeutet Schöpfung. Schöpfung bedeutet Leben. Leben bedeutet Dankbarkeit. Ein Vers aus dem Buche Elysias.

Taron starrte auf das Blatt Pergament in seinen Händen und überflog die dort von ihm verfassten Zeilen. Er klammerte sich an das Blatt, dessen Ränder bereits zerknittert waren. Der Schweiß perlte von seinen Händen. Taron rief sich selbst zur Ruhe, schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus.

Ich muss nur diesen einen Vortrag gut über die Bühne bringen, dann bin ich endlich Priester, dachte Taron. Es war bereits der zweite Versuch, den hinter ihm sitzenden Hohepriester Selvarin von seinen Fähigkeiten zu überzeugen.

»…Taron wird euch nun die göttliche Entstehungsgeschichte näherbringen.« Halvors Stimme riss Taron aus seinen Gedanken. Die vier jungen Novizen drehten sich mit erwartungsvollen Blicken zu ihm. Taron spürte einen Druck in seiner Brust.

Du schaffst das, sprach er sich selbst Mut zu.

Er stand auf, strich seine graublaue Robe glatt und begab sich nach vorn zum Lehrerpult. Halvor kam Taron entgegen und nickte ihm lächelnd zu. Der Novize erwiderte die Geste. Das Lächeln gab ihm Mut und Taron richtete sich sogleich ein wenig auf.

Am Pult angekommen schaute Taron sich die vor ihm sitzenden Jungen an. Vor gut zehn Jahren hatte er selbst auf ihren Plätzen gesessen und den älteren Novizen und Priestern gelauscht. Nun ist es meine Aufgabe, die Lehren der göttlichen Schriften zu vermitteln.

»Guten Tag, Novizen«, sagte Taron.

»Guten Tag, Taron«, erwiderten sie den Gruß.

»Wie angekündigt, werde ich euch die Geschichte von Elysia und ihren ersten Göttern berichten«, sagte er etwas zu schnell, nahm sein Blatt zur Hand und atmete noch einmal tief durch.

»Am Anfang von Allem gab es nichts als die Leere, ein Konstrukt ohne Zeit, ohne Substanz und ohne Existenz. Ein Impuls durchfuhr dieses Nichts, wie ein Funkenschlag in der Finsternis. Zuerst war es nicht mehr als ein schwaches Glimmen, doch es gewann an Kraft und am Ende breitete es sich immer schneller aus, wurde größer und mächtiger und mit einem Mal war die Leere verschwunden.

Die erste aller Welten war geboren, die Welt der Götter, wir nennen sie das Elysium. Ein Ort himmlischer und paradiesischer als alles Erdenkliche, dazu rein und makellos, wie nur Licht es sein kann. In dieser Welt erwachte die Schöpferin allen Seins, Elysia. Ihre Kräfte waren unermesslich und weit jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Nur durch ein Fingerschnippen entstanden Welten und Kreaturen. Für sie war es so einfach wie für Künstler das Malen, allerdings mit dem Unterschied, dass es Elysia vergönnt war, in ihren Kunstwerken zu wandeln. Wie viele Welten sie entstehen ließ und wieder verwarf, weiß niemand.

Trotz dieser Macht wallte in Elysia Einsamkeit auf, denn sie war allein. Keine ihrer erschaffenen Kreaturen kam ihr auch nur ansatzweise gleich, so legte sich ein Mantel der Trauer auf ihre Schultern. Elysia vernichtete die letzte von ihr erschaffene Welt und begann Geschöpfe zu erzeugen, welche im Elysium leben konnten und die Elysia ähnlicher waren als alles Vorangegangene. Ihr Kummer versiegte.

Elysia verspürte einen Hauch des Glücks, doch schnell merkte sie, dass ihren Kindern das Wichtigste fehlte - eine Seele. Wie sollte sie es schaffen, dies zu beheben?

Die Erkenntnis traf sie wie ein Hammerschlag. Es schien verrückt, aber es war die einzige Möglichkeit die ihr einfiel, um die Wesen ihrer anzugleichen. Sie fühlte tief in sich hinein und griff nach dem, was sie schon immer dort gespürt hatte. Es war immer da, immer ein Teil von ihr gewesen. Es hatte sie zur Göttin gemacht. Elysia entnahm es, wobei sie Trübsinn und Machtlosigkleit erwartete. Sie empfand jedoch nichts als wahre Liebe.

Von Angst erfüllt begann die Göttin ihre Seele zu zerteilen. Schmerzen blieben aus. Stattdessen nahm mit jedem weiteren Schnitt ihre Hoffnung zu. Es wird funktionieren, war sich Elysia sicher.

Für jedes der Wesen war ein Teil ihrer Seele vorgesehen.

Es war so weit, ein Gedanke reichte und jedes der zwölf Geschöpfe erhielt einen Splitter ihrer selbst. Ihre Kinder waren geboren und sie würde nicht mehr sein.

Elysia spürte wie sie schwächer wurde, wie ihre Schaffenskraft versiegte und ihre Gedanken abdrifteten.

Angst, Hoffnung, Schmerz und Liebe kämpften gegeneinander wie Sturmelementare. Nein, ich kann nicht verschwinden. Nicht einfach so, dachte sie und wurde schwächer und schwächer.

Sogleich erschien, ganz in ihrer Nähe, ein Bruchstück ihrer Seele. Freude flammte in ihr auf. Aber, wie kann das sein? Ich hatte doch für jedes meiner Kinder eine vorgesehen.

Eine liebreizende Stimme erklang in ihr. Nimm sie und lebe!

Elysia war zerrissen. Während ihre Kraft weiter abnahm, hörte sie wieder diese Stimme. Nimm sie, lebe! Kaum noch bei Sinnen griff sie nach dem Kleinod und sofort spürte sie, wie ein Teil ihrer Kraft zurückkehrte. Ihre Gedanken klarten auf, aber die Müdigkeit blieb. Was war nur geschehen? Woher kam dieses Fragment?, fragte sie sich.

Sie begab sich zu ihren Kindern. Alles schien so, wie es sein sollte. Sie waren zu Göttern geworden und Elysia zu ihrer Mutter. Nur eine fehlte, Amea.

Trauer keimte auf. Ihr hatte ich die erste Seele gegeben, wo ist sie? Amea hätte die Erste sein sollen, die Anführerin der neuen Götter. Elysia fragte ihre Kinder, wo ihre älteste Tochter sei. Keiner wusste es.

Elysia spürte, dass Amea noch lebte und so suchte sie die gesamte Götterwelt nach ihr ab. Vor der Seelenteilung hätte dies nur wenige Augenblicke gedauert, nun schien es ihr wie eine Ewigkeit.

Endlich fand sie ihre Tochter. Das innere Brodeln begann von Neuem. Amea war schwächer als alle anderen Götter. Sie war kleiner, zärtlicher und schien jünger. Elysia nahm sie in den Arm und fragte, ›Was hast du getan?‹

Ihre Tochter antwortete lächelnd, ›Ich habe uns gerettet.‹ Elysia umklammerte sie fester und weinte bittere Tränen der Trauer. Amea schlief ein und wachte nie wieder auf.

Währenddessen probierten ihre anderen Kinder die neu gewonnen Fähigkeiten«, Taron stockte. Er sah die erhobene Hand Selvarins. Die Novizen, welche gebannt gelauscht hatten, drehten sich zum Hohepriester.

»Taron, das reicht«, winkte er kopfschüttelnd ab. »Was sollte das?«

Die kleinen grauen Augen Selvarins schienen Taron zu durchbohren und zwangen ihn, zum Boden zu schauen. »Entschuldigt, Meister Selvarin, wenn ich einen Fehler gemacht habe«, stammelte Taron.

»Das Ganze ist zu weit entfernt von den göttlichen Schriften, wenn sich die Novizen das merken sollten, leben sie ganz und gar selbst in einer Traumwelt.«

»A-a-aber Ihr sagtet mir beim letzten Mal, ich solle nicht nur die Psalme rezitieren, sondern diese etwas ausschmücken.«

Selvarin schüttelte das glatt rasierte Haupt, wandte sich Halvor zu und legte ihm fast freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. »Manche haben die

Fähigkeiten zum Priester und andere nicht. Halvor, wie oft muss ich mir so etwas noch anhören, bis dein Schützling versteht, dass er nicht das Zeug dazu hat?« Die letzten Worte spuckte er förmlich aus und deutete mit dem Finger in Tarons Richtung.

Taron verspürte Zorn. Seine Hände verkrampften sich und zerknüllten das Blatt Pergament.

Halvor drehte sich langsam zu dem Hohepriester und streifte dabei die Hand des kleinen Mannes von seiner Schulter. »Ich finde, Taron hat die Entstehungsgeschichte ausgezeichnet vorgetragen.«

Ihre Blicke trafen sich, doch konnten sie nicht unterschiedlicher sein. Halvors Blick entsprach einem ruhigen, windstillen Bergsee, hingegen Selvarins Augen eher einem aufbrausenden Meer zum Doppelmond ähnelten, welches Taron von einem der Bilder kannte.

»Wenn du das so siehst, muss ich wohl doch an deiner Kompetenz zweifeln.«

Wie kann es Selvarin wagen, Halvor zu beleidigen? Taron knirschte mit den Zähnen und hielt sich doch zurück.

»Das ist Euer gutes Recht, jedoch ändert es wenig an Tarons hervorragender Leistung«, sagte Halvor lächelnd.

Selvarin schüttelte erneut den Kopf, hob die Hände und warf sie Halvor entgegen. »Ich kann deine Aussage in keiner Weise nachvollziehen. Vielleicht hast du zu lange mit ihm, seinesgleichen und Schlimmerem zu tun gehabt, wodurch dein Blick verklärt wurde.« Der Hohepriester drehte sich zu den Novizen um und sprach weiter. »Ihr vier dürft eure Sachen zusammenpacken, euer Mittagsmahl einnehmen und alles vergessen, was Taron sagte. Es wird euch in den nächsten Tagen ein vernünftiger Lehrer die Geschichte näherbringen.« Der Hohepriester grinste Taron an.

Die Worte und das süffisante Lächeln Selvarins lösten Wellen der Abneigung in Taron aus, sein Körper versteifte. Was würde jetzt noch kommen?

»Taron, dir werden einige besondere Aufgaben mit Sicherheit guttun. Soweit ich weiß, müssten die Ställe gereinigt werden, kümmere dich sofort darum! Wenn du damit fertig bist, muss die äußere Mauer ausgebessert werden. Das kannst du danach erledigen. Bei Aufgaben, die deinem Stand entsprechen, wirst du wohl am besten über dein Versagen nachdenken können.« Selvarin stand auf und ging.

Die jüngeren Novizen folgten ihm.

Taron war zu perplex, um dem Hohepriester etwas zu erwidern, daher nickte er, schaute Selvarin hinterher und atmete auf, als die goldgesäumte dunkelblaue Priesterrobe verschwunden war.

Dann drehte sich Taron zu Halvor, dieser hatte ebenfalls dem Oberhaupt des Klosters hinterhergeschaut und schüttelte nun leicht den Kopf. Er sah zu Taron und schenkte ihm ein Lächeln. Trotz dieses Gespräches hatten sich seine Lachfalten an den Augen nicht gelegt.

Taron fühlte sich wertlos. Er ging mit hängenden Schultern auf den Priester zu und setzte sich auf seinen Stuhl.

»Warum hast du ihm nicht die Stirn geboten?«, fragte Taron.

»Was hätte das gebracht?« Halvor schaute Taron erwartungsvoll an. »Es hätte nichts gebracht.«

»Aber die jungen Novizen, sie bekommen ein vollkommen falsches Bild von dir.«

Halvor schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie bekommen eher von unserem geschätzten Hohepriester genau das richtige Bild.«

Taron kratzte sich am Kinn, an dem der erste Bartflaum wuchs. »Wie schafft du es nur, bei solchen Gesprächen so ruhig zu bleiben?«

»Einfach nur viel Übung und gelegentliche Meditation.«

»Ich könnte gut eine Meditation gebrauchen.«

»Du warst aufgebracht?«

Taron nickte.

»Selvarins Verhalten hatte nichts mit deinem Vortrag zu tun, der war wirklich gut. Vielleicht sogar besser als vieles was er bisher in seinem Leben vorgetragen hat.«

»Danke.« Taron lächelte.

»Also, mach dir nicht so viele Gedanken. Beim nächsten Mal werden noch vier weitere Priester anwesend sein und die wirst du einfacher überzeugen können«, versprach Halvor.

Taron nickte. »Ich kann einfach nur nicht verstehen, warum er mich so hasst.«

»Er hasst nicht dich. Selvarin kann nur nicht ertragen, dass du genauso gut, wenn nicht gar besser als ein adlig geborener Priester bist.«

»Aber ich kann doch nichts für meine Herkunft.«

»Ich weiß und glaube mir, weder deine Herkunft noch Selvarin werden dich daran hindern Priester zu werden.« Halvor strich über das kurze braune Haar seines Schützlings.

Taron fühlte sich ein wenig besser und nickte.

»Gut, dann lass uns gehen.«

Sie standen auf, verließen das weiß gestrichene Zimmer und traten hinaus in den Korridor, dessen graue Steine lediglich durch ein paar flackernde Öllampen beleuchtet wurden.

»Taron, am besten du begibst dich sogleich zu den Ställen, wenn dich der Hohepriester jetzt beim Essen sieht, wäre das nicht gut.«

»Vermutlich hast du Recht.« Passend dazu machte Tarons Magen ein Geräusch, als würde er Felsen zermahlen.

»Ich werde dir etwas aufs Zimmer bringen lassen.«

»Dankeschön. Dann bis später.«

»Bis später.«

Halvor ging nach links zum Speisesaal, zum nördlichen Ende des Westtraktes. Die Ställe lagen im Ostflügel. Der schnellste Weg führte über den Innenhof, die nächstgelegene Tür dorthin befand sich rechts von ihm, in der Mitte des Westflügels.

Taron trat in den Hof, erblindete für einen Moment und bedeckte sein Gesicht, bis sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten. Es war kurz vor Mittag und der plötzliche Temperaturunterschied zauberte Taron einige Schweißperlen auf die Stirn. In dieser Hitze Ställe säubern. Das wird ein Spaß, dachte er, ging über den Hof, an dem Brunnen vorbei zu den Stallungen und machte sich ans Werk.

Es war bereits später Nachmittag, als Taron das Ausmisten beendete. Seine Hände waren übersät mit aufgeplatzten Blasen, er fühlte sich erschöpft und wollte nur noch Ruhe. So nahm er einen sauberen Eimer, ging zum Brunnen, füllte ihn mit Wasser und begab sich zum Gemeinschaftstrakt. Die Ausbesserung der Mauer muss bis morgen warten.

Bevor er an der Tür angelangte, öffnete sich diese. Heraus trat Korana. Korana war eine der wenigen im Kloster lebenden Priesterinnen und die Amme von Mira. Ihre Gesichtszüge standen stets unter Spannung, ihre braungrauen Haare waren an ihrem Hinterkopf zu einer Knolle gebunden. Es sah fast so aus, als würde der Knoten ihr Gesicht straff halten. Ihre Lippen waren ungewöhnlich hell und schmal. Sie war von schlanker Gestalt und etwas jünger als Halvor. Ihren Blick empfand Taron stets herablassend.

Korana ging an Taron vorbei, ohne ihn zu beachten.

Hinter Korana lief Mira. Er konnte ein Lächeln nicht verhindern. Mira war vierzehn und damit zwei Jahre jünger als Taron. Sie war etwa einen Kopf kleiner als er, hatte schulterlanges braunes, glattes Haar, ein ovales Gesicht und große runde Rehaugen. Sie lächelte Taron ebenfalls an und blieb auf seiner Höhe stehen. »Hallo Taron, alles in Ordnung?«, fragte sie.

Er sah an sich hinab, seine Kleidung musste ziemlich schäbig wirken. »Ja alles gut«, log er. Vor Korana wollte er keine Schwäche zeigen.

»Wirklich?«, Ihr Blick zeigte Zweifel.

»Ja wirklich.« Taron nickte.

»Mira, komm weg von ihm!«, forderte Korana.

»Wir wollten doch nur…«, begann Taron.

»Was wolltet ihr? Vielleicht gehst du dich erstmal waschen.« Korana zuckte mit den Kopf Richtung Garten. »Mira, komm.«

Taron wusste, dass jedwede Widerworte keinen Sinn hatten. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und sah zu Mira.

Sie schaute ein wenig wehleidig drein. »Bis bald«, formten ihre Lippen. Dann eilte sie ihrer Amme hinterher.

»Bis bald«, flüsterte Taron.

»Wie kannst du nur immer mit diesem Niederen sprechen?«, hörte Taron die Worte Koranas, als er das Gebäude betrat. Sie trafen ihn. Er war als Sohn eines Bauern in das Priesterkollektiv aufgenommen worden. So etwas geschah selten, denn es war eher den höher gestellten Kindern des Hochadels, also den Novaren oder Naveren vorbehalten, Priester zu werden. Vor dem Eintreffen Selvarins hatte seine Abstammung nie jemanden interessiert. Warum musste ausgerechnet er den Posten des Hohepriesters übernehmen? Das hatte sich Taron schon sehr oft gefragt.

Er schüttelte den Kopf und ging weiter die Treppe hinauf und zum südlichen Ende des Westflügels zu seinem Zimmer. Erleichtert hier zu sein, ließ er sich auf den Stuhl fallen. Sein Zimmer war klein, so wie alle anderen einzelnen Novizenzimmer. Es passten geradeso ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank und ein Tisch in den Raum. Auf dem Tisch stand ein Teller mit Brot, Schinken, Käse und Schmalz, daneben eine Tonkaraffe mit Becher. Sein Mittagessen. Jetzt spürte Taron erst, wie hungrig er war und begann gierig zu essen und zu trinken. Die Sonne hatte sich schon gegen Westen geneigt, als er fertig war. Bis zum Abendessen ist noch mindestens ein halber Strich Zeit.

Als er über die Mauer und das Getreidefeld hinweg in den Wald blickte, spürte er die Müdigkeit, die wie riesige Steine an seinen Augenlidern hing und sie nach unten zog. Das Essen zeigte Wirkung. Er zog seine Robe aus, legte sie über den Stuhl, nahm einen Lappen aus seinem Schrank, tauchte ihn in den Eimer mit Brunnenwasser und wusch sich. Ich brauche nur kurz Ruhe. Er legte sich in sein Bett und schlief sofort ein.

2. Kapitel Das Medaillon

Sonnenaufgang, Geburt, Seelenwandel. Jedweder Anfang liegt in Baldors Hand. Vers aus dem Buche Baldors

Taron begab sich vom Morgengebet zurück zu seinem Zimmer. Die gestrige Arbeit hatte ihm mehr abverlangt, als er gedacht hatte. Er war einfach eingeschlafen und nur einmal aufgewacht, als Halvor nach ihm gesehen hatte. Er spürte, jetzt noch mehr als gestern, jeden einzelnen Knochen. Doch außer dem Ausbessern der Außenmauer stand heute glücklicherweise nichts Anstrengendes an. Hoffentlich wird es so bleiben. Die Zeit bis zum Frühstück wollte er nun mit Lesen verbringen.

Fast an seinem Raum angelangt, ertönte die Stimme des obersten Priesters Remahas. »Taron. Warte!« Der Ton war freundlich, zu freundlich.

Er erstarrte, die übrigen Priester und Novizen auf dem Flur ebenfalls. Taron drehte sich um und schaute den buckligen Mann an. In Butter getränkte, strähnige graue Haare fielen ihm über die Augen.

»Guten Morgen, Priester Remahas.« Taron verbeugte sich.

»Wo warst du gestern Abend?« Der Priester drehte den Kopf, sodass sein Gesicht wie das einer Ratte wirkte.

Taron knirschte mit den Zähnen. Remahas spielte auf das Fernbleiben der Meditation an. Er ärgerte sich selbst darüber, sie verpasst zu haben. »Ich hatte geruht. Bitte entschuldigt mein Fehlen.«

»Ich werde Hohepriester Selvarin darüber in Kenntnis setzen.« Remahas grinste und entblößte zwei Reihen gelber Zähne.

»Natürlich.« Taron verbeugte sich und ging in sein Zimmer.

Taron hatte gehofft, dass Halvor ihn entschuldigt hatte. Dies war anscheinend nicht der Fall gewesen. Er legte sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Das würde Folgen haben. Er hatte den Gong zur Meditation einfach nicht gehört, obwohl der Ton sonst jeden aus dem Bett holte. Nun konnte er nichts mehr daran ändern.

Der besagte Gong ertönte wenig später. Diesmal rief er zum Frühstück. Taron begab sich in den Speisesaal, der die Verbindung zwischen dem West- und Nordtrakt des Klosters darstellte. Der Raum war etwa halb so groß wie der Tempel und bot dreizehn Tischen mit jeweils zwei Bänken Platz. An den Wänden waren zwei Fenster zum Innenhof und vier Fenster zum Außenbereich eingelassen.

Taron kam als einer der Letzten in den Saal und nahm an einem Tisch Platz, an dem einige jüngere Novizen saßen. Diese betrachteten ihn, als hätte er ihnen Kuhfladen auf die Teller gelegt. Taron war solche Blicke gewohnt und achtete nicht weiter auf sie. Die Gottesdienerinnen hatten zwei Tische für sich. An dem rechten erkannte er Miras Hinterkopf. Korana hatte sich an den Tisch des Hohepriesters begeben, welcher an der Ostseite des Saales stand. Halvor saß ebenfalls an diesem Tisch und war in ein Gespräch mit Oberst Remahas vertieft.

Taron verspürte Hunger. Auf allen Tischen standen die gleichen Speisen: Brot, Käse, Schinken, Schmalz und für jeden ein hartgekochtes Ei. Es durfte erst gegessen werden, wenn der Hohepriester begann. Daher starrten alle gebannt zu der Tafel, an der Selvarin saß. Als Ruhe einkehrte, nahm er sich ein Brot, nickte einmal und erklärte damit das Mahl für eröffnet.

Nachdem alle gegessen hatten, erhob sich Selvarin. Augenblicklich kehrte wieder Stille ein. Taron war angespannt, Selvarin würde nun Änderungen des Tagesablaufes bekannt geben. Eigentlich war Tarons Tag angenehm. Er starrte auf seinen leeren Teller und lauschte den Worten Selvarins.

»…zum Schluss Merak, Ulrad, Bur, Kiedan und Reverin, ihr findet euch bitte beim Getreidefeld ein.« Taron horchte auf, das waren die Novizen in seinem Alter. Warum bin ich nicht dabei?, fragte er sich. Sein Blick klebte weiter an dem Teller.

»Taron!«, erschallte sein Name und sogleich sank sein Kopf auf die Brust.

»Taron!«, wiederholte der Hohepriester.

Er sah zum Tisch Selvarins.

»Du begibst dich heute nach Eberthal, es müssen einige Dinge beschafft werden. Hier ist eine Liste.« Er hielt ein Stück Pergament in der Hand. Bereits aus der Entfernung konnte Taron erahnen, wie lang sie war. Das war es mit dem ruhigen Tag.

»Entschuldigt, Hohepriester Selvarin, Ihr hattet mir aufgetragen die Außenmauer auszubessern, ich bin damit leider noch nicht fertig.«

Selvarin schaute Taron durchdringend an. Seine Augen verengten sich. »Du fehlst unentschuldigt bei der allabendlichen Meditation und hast es noch nicht einmal vollbracht, deine Aufgaben zu erfüllen. Wenn du wieder da bist hast du sicherlich genug Zeit, dich um die Mauer zu kümmern.«

Halvor erhob sich von seinem Stuhl, »Geschätzter Hohepriester, eine Reise zu Fuß in die Stadt nimmt einen ganzen Tag in Anspruch. Ich bitte Euch, dies zu bedenken.«

Taron war dankbar für Halvors Worte. Aber im Inneren wusste er, dass sie nichts bewirken würden.

Selvarin schaute zu Halvor und schüttelte seinen tomatenfarbenen Kopf. »Vielleicht wenn ein alter Priester gemächlich dahinschlendert, Taron ist jung und ein kräftiger Bursche, von ihm erwarte ich, dass er zum Nachmittag wieder hier ist.« Zorn sprach aus seiner Stimme und ein gemeines Lächeln umspielte seine Lippen.

Halvor räusperte sich. »Ja, aber…«

»Ja, dann wäre das geklärt«, schnitt Selvarin ihm das Wort ab.

Halvor erwiderte nichts, seine Miene wirkte steinern.

Taron fühlte wie die Blicke der Novizen und Priester abwechselnd zu ihm und Selvarin wanderten. Nervös blickte Taron zum Hohepriester und rutschte auf seinem Platz hin und her. Er ballte seine Hände zu Fäusten, er wollte aufbegehren, öffnete bereits den Mund, doch es drang kein Wort heraus. Was soll ich schon sagen?

»Ich halte die Liste nicht umsonst hoch! Erwartest du, dass ich sie dir bringe?«, peitschte die Stimme des Hohepriesters.

Taron sprang förmlich von der Bank. »Nein, natürlich nicht, entschuldigt«, presste er hervor. Steif ging er zum Tisch Selvarins. Alle starrten ihn an. Taron war diese Aufmerksamkeit unbehaglich. Er versuchte, es sich aber nicht anmerken zu lassen. Besonders schmerzhaft war das Grinsen der älteren Novizen. Ihnen schien das Spektakel besonders gefallen zu haben.

Er nahm das Pergament entgegen, wobei der Hohepriester hämisch lächelte. Taron wankte zurück zu seinem Platz und setzte sich wieder.

Er überflog die Liste, sie war ellenlang. Das soll ich besorgen und zum Nachmittag wieder hier sein? Das schaffe ich nie.

»Damit ist das Frühstück beendet!«, sagte der Hohepriester und machte mit den Händen eine wischende Bewegung in Richtung aller.

Eine Welle ging durch die Gemeinschaft, welche jeden erfasste und den Speisesaal verlassen ließ.

Halvor trat an Tarons Seite, beugte sich zu ihm hinab und flüsterte. »Bevor du nach Eberthal gehst, warte im Innenhof auf mich.«

Taron nickte lediglich. Halvor eilte aus der Halle. Was er wohl von mir möchte? Taron trank seinen Becher Wasser aus und folgte den Letzten.

In seinem Zimmer besah er sich die Liste. Er sollteeinige Schreibwaren einkaufen, darunter Pergament, Tinte, Federkiele und leere Bücher, außerdem einige Kilogramm Eisenerz, geschmeidiges Leder, Gewürze, verschiedene Öle, Ton, mehrere Lagen Stoff und sogar Kohlen. Ich werde zwei Körbe brauchen, um alles wegzubekommen. Taron schaute aus seinem Fenster. Die Hoffnung, es würde ein angenehmer Tag werden, war dahin.

Er legte Reisekleider an, bestehend aus festen schwarzen Lederstiefeln, einer derben blaugrauen Tunika, die oberhalb der Knie endete und eine dazu passende Hose. Er öffnete eine Schublade seines Tisches, griff tief in die hintere rechte Ecke und entnahm seinen ledernen Geldbeutel. In diesem befanden sich neun Sternenstücke. Für einen Novizen ein gewaltiger Schatz. Taron verstaute den Beutel sicher an seinem Gürtel, nahm seinen Stab, verließ das Zimmer und ging über den Innenhof zum Zahlmeister. Dieser befand sich im nördlichen Flügel des Tempels neben der Küche.

Nachdem Taron Geld entsprechend der Liste erhalten hatte, begab er sich wieder in den Garten. Halvor war noch nicht zugegen, deshalb ging er zum Geräteraum bei den Ställen und nahm sich zwei Tragekörbe heraus. Die Körbe waren aus festen Weidenruten und hatten zwei Riemen, damit man sie auf dem Rücken tragen konnte. Er stellte sie neben die Bank, welche rechts der Stalltür stand, setzte sich auf diese und wartete.

Taron ärgerte sich über die Verzögerung. Bei den Dingen, die er holen musste, war jeder Teil eines Striches wichtig. Was mochte Halvor wohl wollen?, fragte sich Taron und drehte das Ende seines Stabes auf dem Boden. Er mochte das Gefühl des glatten Holzes, welches ihn fast an weichen Stoff erinnerte. Taron hatte Wochen damit zugebracht ihn zu schleifen und danach mehrfach mit besonderen Ölen bestrichen, was den Stab schützen sollte. Der Stab war etwas kürzer als Taron selbst und eigentlich hätte er schon einen Neuen anfertigen müssen. Jedoch hatte Halvor gesagt, dass es sinnvoll wäre damit zu warten, bis er wirklich ausgewachsen war.

Taron betrachtete die beiden Körbe und dann seinen Stab, ich werde dich wohl nicht mitnehmen können, dachte er etwas betrübt. Er wollte soeben aufstehen, um das lange Stück Holz zurück in sein Zimmer zu bringen, da öffnete sich die gegenüberliegende Tür.

Heraus trat Halvor, in die gleiche Reisekleidung gehüllt wie Taron mit dem Unterschied, dass Halvors Saum dunkelblau bestickt war. Taron lächelte. Halvor wird mich begleiten. Das letzte Mal war schon eine halbe Ewigkeit her.

Halvor erwiderte Tarons Grinsen, begab sich zu ihm und sagte. »Komm Taron, wir müssen aufbrechen, sonst wird es zu spät.«

Taron nickte und setzte sich einen der Körbe auf den Rücken, wobei er jeden einzelnen seiner müden Knochen spürte. Anschließend half der Novize Halvor beim Aufsetzen des anderen Korbes.

Selbst im leeren Zustand hatten sie ein beachtliches Gewicht und Taron wusste, wie schwer die Behälter gefüllt sein würden.

Sie begaben sich in Richtung Tempelgebäude.

»Hast du geahnt, dass ich mitkommen würde?«, fragte Halvor.

Taron schüttelte den Kopf.

»Und warum dann zwei Körbe?«

»Es ist diesmal sehr viel. Mit einem wäre ich wahrscheinlich nicht hingekommen.«

Halvor lachte. »Du hast wirklich Humor, ich hätte dich gerne mit zwei von denen gesehen. Du wärst morgen noch nicht hier gewesen.«

»Da magst du Recht haben.« Auch Taron musste lachen. »Ich bin froh, dass du mitkommst.«

»Das glaube ich dir.«

Taron öffnete seinem Ziehvater das Tempelportal. In dem großen zweigeschossigen Saal befanden sich mehrere Priester im stillen Gebet. Sie saßen vereinzelt auf den sechs der zwölf mal zwölf Fuß breiten Holzplatten, auf Decken oder Kissen.

Taron verspürte beim Betreten des Tempels eine gewisse Erhabenheit. Er schaute nach links an die Ostwand und nickte wie einem alten Freund der dort stehenden Statue zu.

Es war ein Abbild Neburs, dessen Haupt fast die Decke berührte. Der Erschaffer Intêrras schaute nach unten und schien jeden Gottesgläubigen im Auge zu haben, egal wo man sich im Tempel befand. Das Gottesbild hatte ein ebenmäßiges, schmales Gesicht. Der Oberkörper war kräftig, die Muskelstränge gut erkennbar. Die Arme waren schräg nach unten gestreckt mit den Handflächen nach oben, als wolle er alle seine Kinder in Empfang nehmen. Seine Beine steckten in einer einfachen Hose und endeten in nackten Füßen. Wobei die Statue aus einem einzigen großen, grauen Felsen gefertigt worden zu sein schien.

Vor der Statue stand ein steinerner, nach unten schmaler werdender Trog mit einem Loch im Boden, aus dem gemächlich Wasser floss, welches durch ein Röhrensystem wieder in den Brunnen im Innenhof gelangte. Mit dieser Vorrichtung wurde die Zeit gemessen. Ab dem Morgengebet wurde immer der entsprechenden Anzahl an Strichen bis zur Abendmeditation ein Gong geschlagen, welcher zwischen dem Trog und der Statue stand. So wussten stets alle Mitglieder Yewabors wie spät es war. Jede Nacht am Ende des zwölften Striches - der Stunde Onacras, dem Gott des Endes - versiegte der Wasserstrahl. Der darauf folgende Moment der Stille wurde die Zeit Elysias genannt. Es oblag lediglich zwei Priestern die Ehre, den Zeitmesser neu zu füllen und ihn an den zwei Stelltagen im Jahr wieder entsprechend zu justieren. Nach der Befüllung begann der Tag mit der Stunde Baldors, dem Gott des Lebens, von Neuem.

Auf diese Weise wurde fortlaufend jeder der dreizehn Götter durch die Benennung einer bestimmten Tageszeit geehrt. Sie befanden sich soeben am Ende des vierten Striches, der der Göttin Kelsey, der Führerin, gewidmet war. Als Nächstes würde die Stunde Neburs anbrechen. Diese Art der Zeitlesung hatte man von dem Jahreskalender übernommen, welcher in zwölf mal dreißig Tage und einmal fünf Tage untergliedert wurde und von den Priestern, Gelehrten und Königen aller Reiche seit Jahrhunderten für allgemein gültig erklärt worden war.

Vor dem Gong und dem Zeitmesser lag noch eine einzelne kleinere Platte, auf welcher zu den Gebeten und Meditationen der Hohepriester saß.

Taron und Halvor beteten im Stehen. Bitte Nebur, beschere uns eine sichere Reise und lass mich etwas Schönes für Mira finden, bat Taron. Dann gingen sie weiter durch die andere Tür, die nach draußen zum südlichen Tor von Yewabor und auf den Pfad zur Stadt Eberthal führte.

Ein langer Fußmarsch lag vor ihnen. Vor dem siebten Strich würden sie wohl kaum in der Stadt ankommen. Sie blickten auf das an den Tempel angrenzende Getreidefeld. Die Ähren hatten bereits die Hälfte ihrer vollen Größe erreicht und trugen einen Grünschimmer.

Zwei Priester und die fünf von Selvarin ausgewählten Novizen befanden sich in den Feldern. Taron wusste nur zu gut was sie taten und es war eine undankbare Aufgabe, Wühlratten jagen. Die Plage eines jeden Bauern. Große, dicke Ratten, die in Höhlen unter dem Feld lebten und die Wurzeln des Getreides oder die Pflanze selbst anfraßen. Wenn es zu viele wurden, konnten gefräßigen Biester eine gesamte Ernte zunichtemachen. Daher waren fast täglich Priester auf den Feldern, um dieses Ungeziefer zu beseitigen. Doch alle bekam man nie.

Yewabor war einst direkt an der Nordgrenze eines Waldes errichtet worden. Der Wald um den Tempel herum wurde nach und nach abgeholzt und musste dem Getreide weichen. Nördlich Yewabors befand sich ein Hügel, an dem Trauben angebaut wurden, um das Blut der Götter herzustellen. Rechts und links des Weines sah man grünes Gras, welches den Tieren im Kloster als Nahrung diente.

Taron und Halvor gingen den Hang hinab zum angrenzenden Wald. Sie tauchten ein in das Meer aus Nadel- und Laubbäumen.

Es wehte ein leichter Wind und die Sonne schien vom Himmel herab. Vielleicht wird es doch ein angenehmer Tag und sicherlich besser als der Vorangegangene.

Man spürte überall Bewegungen. Das Rascheln der Blätter verband sich mit dem Knacken im Unterholz und mit dem Spechtklopfen und Balzgesang der Vögel zu einem Konzert, welches nur der Wald komponieren konnte. Bald gesellte sich ein Bach zu dem Orchester, der fröhlich links des Wegesrandes dahin plätscherte. Der Bach, so wusste Taron, gelangte über viele Umwege schließlich in den großen Beledon, den größten Fluss Gonvalors.

»Worüber denkst du nach?«, fragte Halvor.

»Nur über den Lauf des Wassers und die gestrige Prüfung.« Taron deutete in die Richtung, aus der das Plätschern zu hören war.

»Taron, du bist ein guter Junge und Novize, vertraue deinem Herzen und du wirst dein Ziel erreichen«, ermutigte Halvor ihn.

Taron nickte leicht und flüsterte. »Und zu einem großen, mitreißenden Strom werden.«

»Möglicherweise.«

Der Weg schlängelte sich durch den Wald, bald verließ er den Bach und das Rauschen nahm ein ferneres Summen an. Sie überquerten einen hohen Hügel. Über dem Boden wucherten Wurzeln, die Taron und Halvor teilweise als Stufen dienten.

Nach dem kleinen Berg wurde der Weg wieder ebenerdiger. Beide atmeten schwerer und waren etwas verschwitzt. Die Muskeln in Tarons Beinen verhärteten sich allmählich. Sie beschlossen, eine Pause einzulegen und etwas zu trinken.

Taron vernahm ein fernes Donnern. »Hörst du das Halvor, der Bach.« Eigentlich ist er zu weit entfernt, als dass man ihn selbst bei günstigen Winden hören könnte, dachte Taron. »Er muss sich ein neues Bett gesucht haben.«

»Es hat in den letzten Wochen nicht so viel geregnet, dass er das vermocht hätte. Und es kommt näher.« Halvor sah in Richtung des vor ihnen liegenden Weges. Er wirkte angespannt. »Das sind Hufe. Taron, nimm deinen Stab!«

Angst und Aufregung machten sich in Taron breit. Wer sind die? Seine Nackenhaare sträubten sich. Es kam selten vor, dass sich Räuber hierher verirrten. Er nahm seinen Stab fest in die Hände und begab sich in die ihm vertraute Abwehrhaltung.

Ein Reiter auf einem braunen Pferd tauchte vor ihnen auf. Hinter ihm folgten weitere. Alle in Kettenhemden, nietenbesetzten ledernen Westen und schmucklosen, erdfarbenen Hosen gekleidet. Es war die königliche Schwadron. Sie trugen die typischen Beckenhauben, die das Gesicht frei ließen. Die Unterarme und Schienbeine wurden durch metallene Platten geschützt. An den Gürteln hingen Schwerter. Vier von ihnen hatten Bogen und Köcher bei sich und sieben jeweils einen Speer. Sie hielten im Halbkreis vor Taron und Halvor.

Tarons Angst wich Bewunderung und Ehrfurcht, er schaute zu Boden, um seinen Respekt zu zollen. Das sind die größten Krieger Gonvalors, wahre Helden.

Ein Mann trieb sein Pferd in die vordere Reihe der Reiter.

Taron spürte, wie er gemustert wurde. Ungewollt spannte sich sein Körper an, auch wenn er nie etwas gegen die Schwadron unternehmen würde.

»Lasst den beiden etwas Platz zum Atmen«, befahl der Herangerittene. »Ihr gehört zum Tempel Yewabor, nicht wahr?«

»Ganz recht, ich bin Priester Halvor und mein Begleiter ist der Novize Taron.«

Taron traute sich, seinen Kopf zu heben. Der Reiter nickte. Taron kam das Gesicht bekannt vor, irgendwie kamen ihm alle Gesichter unter den Helmen bekannt vor. Unregelmäßig suchten die Schwadronen den Tempel auf, manchmal um zu übernachten, eine Botschaft zu übermitteln oder um nach dem Rechten zu schauen. Der Redensführer hatte ein gleichmäßiges, straffes Gesicht mit blauen wachen Augen, seine Haare waren unter dem Helm versteckt, lediglich sein blonder Vollbart war zu sehen. Zudem schien er größer als Taron, breiter in den Schultern und etwa vierzig Jahre alt zu sein.

Das ist Imdrir Vallar, der Hammer des Königs, erkannte Taron.

»Auf dem Weg nach Yewabor oder in die Stadt?«

»Wir möchten nach Eberthal«, antwortete Halvor.

»Gut, dann noch einen schönen Tag.« Sein Pferd trabte an den beiden vorbei, dann schrie er. »Kommt, weiter Männer!« Sogleich setzte sich der Tross in Bewegung.

»Passt auf euch auf, der Weg vor euch kann tückisch sein«, rief Halvor hinterher.

Taron war sich nicht sicher, ob ihn jemand gehört hatte. Es drehte sich keiner um. Sie preschten durch den Wald und ließen nichts als aufgewirbelten Staub zurück.

Die Männer wissen, was sie tun. »Sehr beeindruckend«, schwelgte Taron.

»Beeindruckend und gefährlich. Lass uns weitergehen« sagte Halvor und schritt die Straße weiter.

»Ich wäre gerne einer von ihnen«, sagte Taron.

»Und Magische einfangen und vor den König zerren und vor allem, reiten?« Halvor grinste und runzelte gleichzeitig die Stirn.

Taron hatte noch nie jemand anderen absichtlich verletzt, und seine bisherigen Versuche auf einem Pferd zu sitzen, waren weniger von Erfolg gekrönt. Einmal hatte er probiert auf Largo, dem in Yewabor lebenden Pferd zu sitzen und es bitter bereut. Das Ross hatte ihn abgeworfen und er wäre fast totgetrampelt worden. Er hatte sich bei dem Sturz die Schulter ausgekugelt und manchmal schmerzte sie immer noch.

»Ich würde vermutlich keinen guten Krieger abgeben. Doch die Vorstellung, mutig und in voller Rüstung in den Kampf zu ziehen und für Recht und Ordnung zu sorgen, hat schon etwas.«

Halvor blieb stehen und schaute Taron in die Augen. Seine Hand berührte Tarons Schulter. »Der Traum mag schön sein. Nur sind die Schwadronen davon mittlerweile so weit entfernt. Ich erkenne nichts Glanzvolles mehr in ihrem Tun.« Halvor schüttelte sein Haupt.

Taron kannte die skeptische Haltung Halvors. »Gibt es denn keine Möglichkeit, wie du deine Zweifel gegenüber dem Königshaus überwinden könntest?«, fragte er.

»Nur, wenn das Unrecht, was im Reich geschieht, beendet wird und alle ohne Angst leben können. Nur glaube ich nicht, dass dies je geschehen wird.«

»Letztendlich versucht uns der König doch nur zu beschützen. Das ist doch etwas Gutes.«

»Nur die Art und Weise ist falsch. Es gab eine Zeit mit weniger Bewaffneten im Land, in der ich mich sicherer gefühlt habe als jetzt.« Halvors Blick schien verklärt und voll Trauer. »Komm, wir haben noch einen langen Weg vor uns.« Er setzte sich wieder in Bewegung.

Taron schaute hinterher und war verärgert. Sie hatten dieses Thema bereits häufiger angeschnitten und jedes Mal blockte Halvor nach kurzer Zeit ab. Es war die einzige Sache, welche sie nie bis zum Schluss ausdiskutieren konnten. Was hatte Halvor nur? Taron folgte dem Priester mit einigen Fuß Abstand.

Seine Umgebung hatte sich gewandelt. Ihm kam der Wald weniger grün vor, das Rascheln der Blätter weniger freundlich und das Zwitschern der Vögel nicht mehr ganz so klangvoll. Das Konzert des Waldes war verstummt.

Bald lichtete sich der Wald. An dessen Stelle trat ein Meer aus Getreideähren, in welchen wie kleine Schiffchen Bauernhäuser standen. In der Ferne konnte Taron die Stadt Eberthal erkennen, eine der östlichsten Städte Gonvalors. Sie war vom Wald aus etwa einen halben Strich entfernt. Die Bauern auf ihren Feldern grüßten Taron und Halvor, man war den Priestern generell wohlgesonnen.

Schritt für Schritt kamen das große hölzerne Tor und die Palisade näher, welche die Stadt umgab. Das Portal stand offen. Nur ein Mann, in leichtem Leder gerüstet, stand am Eingang. Heute war wenig Betriebsamkeit, sodass er sich entspannt an das Tor lehnte und seinen eigenen Gedanken nachhing. Erst als Taron und Halvor in sein Blickfeld kamen, regte sich der Gardist.

Er nickte ihnen zu und zeigte mit der ausgestreckten Hand in Richtung der Stadtmitte. Taron und Halvor erwiderten den Gruß und betraten die Stadt.

Die Häuser rechts und links des Weges waren einfache Holzhütten, nicht viel anders als die Häuser der Bauern. Die Dächer waren meist mit Stroh gedeckt. Taron und Halvor brauchten nicht lange, um den Marktplatz zu erreichen. Es war der einzige gepflasterte Bereich, an welchem drei steinerne Bauten standen. Geradezu ragte das Haus des Novaren Ulbra, dem Herrscher der Stadt und des umliegenden Landes. Es war ein langes Haus mit zwei Stockwerken und mit einem Schieferdach. Daneben befand sich die Schmiede, durch deren geschlossene Tür man hörte wie Hämmer in regelmäßigem Takt auf Metall niedersausten und das Erz aus Intêrras Leib in eine neue Form zwangen. Da gegenüber stand der Tempel. Ebenfalls aus Stein, von der Länge und Höhe entsprach es etwa dem Haus des Novaren. Auf dem Markt waren mehrere Stände mit Obst, Gemüse und so manchen Handwerksarbeiten aufgebaut.

»Ich werde zuerst in den Tempel gehen, ich möchte Priester Ilowan besuchen«, verkündete Halvor. »Du kannst schon die ersten Sachen besorgen, ich komme gleich nach.«

Taron nickte, wandte sich dem Markt zu und betrachtete ihn genauer. Vielleicht finde ich etwas Kleines für Mira. Für gewöhnlich hatte er ihr ein paar Blumen, Nüsse oder hübsche Steine vom Wegesrand aufgelesen, heute sollte es etwas Besonderes sein. Er wusste nur noch nicht genau was.

Einer der Stände bot gebratenes Fleisch auf Brot, ein anderer frisch gebackenen Kuchen, Pfannen mit verschiedenem Gemüse und vieles mehr. Taron lief das Wasser im Munde zusammen, doch wollte er mit dem Essen auf Halvor warten. Die meisten Händler kamen aus dem Novarion, es gab nur wenige von weiter her.

Auffallend war ein Stand mit Waren aus Lunærra, sie verkauften Felle und andere Gegenstände, die Taron aus der Entfernung nicht erkannte. Hinter dem Ladentisch standen ein Ork in abgetragener Lederkleidung und eine andere kleinere Gestalt mit einem schwarzen Stoffmantel. Ist das ein Ghul? Es war das erste Mal, dass Taron einen sah. Etwa halb so groß wie ein Mensch mit nackten Füßen, die fast wie Hände aussahen. Seine Haut war dunkelgrau und seine Ohren, Nase und Mund schienen kaum zu existieren. Die beiden Wesen unterhielten sich miteinander. Der Ghul hatte eine krächzende piepsige Stimme, während der Ork nur knapp und brummig antwortete. Taron verstand nicht, was die beiden sprachen. Sie sahen schließlich zu ihm, woraufhin er seinen Blick schnell abwandte und zu dem gegenüberliegenden Stand mit Schmuck sah.

Auf der Auslade befanden sich einige hübsche funkelnde Steinchen. Vielleicht wäre das etwas für Mira?, dachte Taron und ging näher heran. Es waren tatsächlich ein paar wahrhaftige Schmuckstücke dabei. Sicherlich viel zu teuer. Er schüttelte den Kopf. Erstmal die Pflicht erledigen.

Er ging weiter zu dem Schreibwarenladen, welcher sich zwischen dem Tempel und dem Haus des Novaren befand. Er öffnete die Tür und sogleich drang der Duft von Pergament und Büchern in Tarons Nase, es roch fast wie in der Klosterbibliothek, nur frischer. Er sog die Luft in vollen Zügen ein. Herrlich. Alle Wände waren mit Schränken versehen, in welchen alles lagerte, was man zum Schreiben benötigte. Zudem auch einige beschriebene Bücher mit wissenschaftlichen Texten oder Geschichten, die für das Klosterleben als ungeeignet verschrien waren. Ein Dutzend leere Bücher, mehrere Federkiele, drei kleine Fässer Tinte, Löschsand und einige Lagen Pergament landeten in seinem Korb. Taron kannte den Verkäufer bereits und bezahlte den angegebenen Preis.

Er ging zurück zum Tempel. Halvor trat durch das Tor, erspähte ihn und kam ihm entgegen.

»Was hast du bisher?«, fragte Halvor.

»Alles, was wir aus dem Schreibwarenladen brauchten.«

»Gut, dann lass uns erstmal essen.«

Tarons Nase führte die beiden zu einem Stand, an dem es nach Gebratenem roch. Sie nahmen eine Suppe mit Schweinebraten als Einlage. Das Essen war köstlich, eine willkommene Abwechslung zu den sonst eher eintönigen Klostermahlzeiten und so heiß, dass Taron sich bereits beim ersten Bissen den Mund verbrannte.

Anschließend kauften sie die restlichen auf der Liste stehenden Gegenstände. Taron hatte Freude daran, zusammen mit Halvor die Stände und Läden aufzusuchen und mit den Händlern ins Gespräch zu kommen. Die Verkäufer brachten ihm stets ein gewisses Maß an Respekt entgegen, was Taron in Yewabor weniger gewohnt war. Und manchmal konnte der Preis durch ein nettes Gespräch gesenkt werden, sodass sie das ein oder andere Sternenstück einsparten. Nach gut einem Strich hatten sie alles, was sie wollten.

Ihre Körbe hatten ordentlich an Gewicht zugelegt und Tarons Bein- und Rückenmuskeln spannten sich unangenehm unter der Last. Sie betrachteten noch einmal die Liste und überprüften, ob sie nichts vergessen hatten. Schließlich nickte Halvor. »Ja, wir haben alles.«

Taron nickte ebenfalls. »Gut, ich wollte etwas Kleines für Mira kaufen. Dort drüben gab es einen Stand mit hübschen Steinchen.«

»Du möchtest ihr Schmuck schenken?«, fragte Halvor und runzelte die Stirn.

»Ich bringe ihr doch immer etwas mit, wahrscheinlich ist es eh zu teuer, aber ich wollte noch einmal schauen.«

»Gut.« Halvor bedeutete Taron vorauszugehen, ein Grinsen zog sich von einem Ohr zum anderen.

Sie gingen zu dem Stand mit den Schmucksteinen. Taron sah noch einmal zu dem Ghul und dem Ork, beide schauten grimmig drein. Vermutlich haben sie mit ihren Fellen bisher weniger Erfolg gehabt, dachte Taron und wandte sich ab. Ihm war unbehaglich, die beiden Kreaturen Lunærras im Rücken zu wissen. Sie sehen nur anders aus, sagte Taron sich, stellte seinen Korb vorsichtig ab und betrachtete die Steinchen.

An dem Schmuckgeschäft stand ein großer, breit gebauter Mann neben dem Verkaufstisch, welcher sich mit dem Ladenbesitzer unterhielt. Er hatte an seinem Gürtel eine Holzkeule hängen, die vortrefflich geeignet schien, Langfingern entgegenzuwirken.

Taron besah sich die Steine. Sie waren sehr schön, in allen möglichen Farben und den verschiedensten Ausführungen erhältlich. Es gab Geschliffene, Ungeschliffene, als Armband, als Ketten oder Ohrringe und das Ganze noch in Metall eingefasst. Einige Edelsteine lagen ebenfalls aus. Ein wahres Vermögen.

Taron fühlte sich überfordert und rieb sich mit seiner Rechten den Hinterkopf.

»Oh junger Priester, Euer erlesener Geschmack hat Euch zu mir geführt, wie kann ich Euch dienen?«, fragte der Händler.

»Ich suche einen hübschen Stein…«

»Sicherlich für ein Mädchen?«, unterbrach ihn der Mann.

»Ganz recht.« Taron musterte den Händler, sein Lächeln schien aufgesetzt.

»Dann seid Ihr bei mir genau richtig. Was gefällt Euch denn?«

Taron sah sich auf dem Tisch um. Er griff nach einem türkisfarbenen Stein, welcher an einem Lederband befestigt war.

»Oh ja, ein wirklich erlesener Geschmack«, sprach der Händler und nickte.

»Wie viel kostet diese Kette?«

Der Händler breitete die Arme aus. »Für Euch mache ich einen guten Preis, fünfundzwanzig Sternenstücke.«

Taron schaute den Händler ungläubig an, das war mehr als doppelt so viel wie er besaß. Hinter Taron lachte jemand düster. Der Ork an dem anderen Stand schien sich über irgendetwas zu amüsieren.

Taron wandte sich wieder dem Händler zu. »So viel habe ich leider nicht, habt Ihr vielleicht etwas Günstigeres?«

Der Händler deutete an den linken Rand seines Tisches. Dort standen Schalen mit verschiedenfarbigen unbearbeiteten Steinen. »Diese kosten lediglich zwanzig Sternenstücke je Stein.« Der Händler lächelte, als wäre das Angebot ein Schnäppchen.

»Das ist sehr viel Geld.«

»Am Preis lässt sich sicherlich das ein oder andere noch machen.«

»Außerdem hätte ich gerne einen mit einem Loch oder einem Band, sodass man sich ihn umhängen kann«, entgegnete Taron. Er kannte die Preise von allen Gegenständen, die man für den Tempel benötigte, aber bei Schmuck war er überfragt. Ich kann das nicht bezahlen. Tarons Hand glitt zu seinem Geldbeutel und wog ihn.

»Die mit Lederband sind leider etwas teurer«, sagte der Händler und deutete auf jene, die Taron eher zusagten.

»Ein Halsabschneider«, brummte jemand hinter Taron.

»Und er bekommt es gar nicht mit«, piepste eine andere Stimme.

Taron drehte sich dem Ork und dem Ghul zu. Sein Blick kreuzte den des Orks. Er fühlte sich unsicher. Sollte ich ihm etwas erwidern? Nein.

»Ich und ein Halsabschneider, habt ihr überhaupt schon eines eurer Felle verkauft?«, echauffierte sich der Händler.

»Nein, aber nur weil diese Jahreszeit zu heiß für unsere Ware ist. Kann ja keiner ahnen, dass es in Lunærra angenehm kühl ist und einem hier die Brühe vom Pelz tropft«, warf der Ghul dem Händler entgegen, während sein Körper von einem nebelartigen Schatten umspielt wurde. Er beugte sich unter den Tisch, holte eine kleine Kiste hervor und kippte sie auf ein graues langhaariges Fell. Anschließend kletterte er auf den Tisch. »Schaut nur her, dies ist mal etwas anderer günstigerer Schmuck, wir haben einige Talismane und Medaillons«, piepste der Ghul und deutete auf den Schmuck.

Taron schaute noch einmal zu dem Händler.

»Ich kann meine Preise natürlich noch etwas senken. Wie wäre es mit achtzehn Sternenstücken?«

Taron schüttelte den Kopf und ging zu dem anderen Stand. »Weil Ihr mir sympathisch seid, bekommt Ihr ihn für sechzehn und noch ein Band dazu«, setzte der Händler nach.

»Tut mir leid, ich habe einfach nicht so viel.« Taron ging zu dem Ghul und betrachtete die auf den Fellen liegenden Gegenstände. Die Talismane waren sehr unterschiedlich, die meisten bestanden aus Knochen in verschiedensten Formen. Von welchen Wesen sie wohl stammen? Taron schüttelte den Kopf, eigentlich wollte er es nicht wissen. Einige Medaillons waren aus schwarzem Stein, welchen Taron zuvor noch nie gesehen hatte. Alle diese Gegenstände hatten Runen eingraviert, welche Taron unbekannt waren.

Er nahm einen der steinernen flachen Talismane und fühlte die geriffelte Oberfläche. Die Runen schienen wahllos auf dem Stein verteilt zu sein. Das ist es nicht, dachte er kopfschüttelnd und legte den Stein wieder zurück.

Sein Blick fiel auf ein anderes Schmuckstück. Ein Medaillon, welches zur Hälfte von einem großen schwarzen Talisman verdeckt war. Es bestand aus einem weißen Stein, der in einen bronzenen, daumenbreiten Ring eingebettet war. In dem rötlichen Metall waren vier Runen eingraviert. Sie wirkten anders, als jene auf den anderen Schmuckstücken. Er strich mit seinen Fingern über dessen Oberfläche, die Bronze war poliert, der Stein glatt und wirkte auf einmal leicht durchsichtig. Er schien das Licht der Sonne aufzunehmen und gleichzeitig zu spiegeln. Taron war fasziniert. Er hatte so etwas zuvor noch nie gesehen. Er blinzelte, doch der Stein behielt seine Eigenschaften. »Was steht da?«, fragte er, mehr zu sich selbst als zu den Händlern.

Der Ghul antwortete. »Das wissen wir leider nicht, er stammt nicht aus unserer Welt.«

»Wie viel soll er kosten?«

»Fünfzehn Sternenstücke.«

Fünfzehn ist zu viel, aber es ist immerhin eine Verhandlungsbasis. »Ich kann Euch vier geben«, entgegnete Taron immer noch auf das Medaillon blickend.

»Zwölf!«, entgegnete der Ghul.

»Sieben!«

»Neun, mein letztes Angebot!«

»Und ich bekomme dazu ein neues Lederband.«

»Gut, verkauft, weil Ihr mir sympathisch seid.«, der Ghul schnippte mit den Fingern, beendete damit die Verhandlung und schaute kurz zu dem anderen Händler. Ein breites, von schwarzem Rauch umspieltes Grinsen zeichnete sein Gesicht.

»Aber den wollte ich behalten«, herrschte der Ork.

»Wir sind Händler, du wirst ja wohl auf einen deiner Talismane verzichten können.«

»Aber er war neu und mit ihm hatte ich für jeden Tag im Monat einen.«

Erst jetzt begriff Taron, dass der Ghul soeben ein Medaillon des Orks verkauft hatte. Er löste schnell seinen Beutel vom Gürtel, überreichte dem Ghul die Sternenstücke und steckte sich den Talisman in die Hosentasche. Der Ork knurrte grimmig.

Taron spürte die von ihm ausgehende Bedrohung. Seine Nackenhaare stellten sich auf, er ging zu seinem Korb und schnallte ihn sich auf den Rücken. Eine unangenehme Spannung lag in der Luft, der er sich nicht weiter aussetzen wollte. Er nickte Halvor zu, welcher etwas abseits stand und gemeinsam gingen sie zurück in Richtung des Nordtores.

»Das hätte ins Auge gehen können«, sagte Halvor.

»Ich weiß, ich hatte nicht erwartet, dass der Ghul die Sachen seines Partners verkauft.«

Ein helles Kreischen sowie ein tiefes Brüllen drangen vom Marktplatz aus an ihre Ohren.

»Nebur sei Dank, dass alles nochmal gut gegangen ist. Könnte ich mir das Medaillon noch einmal anschauen?«, überging Halvor die Geräusche hinter ihnen.

Taron nickte und überreichte Halvor das Schmuckstück. »Kennst du diese Schriftzeichen?«, fragte er.

»Solche Runen werden eher im Norden oder in den Zwergenreichen verwendet glaube ich. Ein schönes Medaillon und vermutlich neun Sternenstücke wert. Da wird sich Mira freuen.«

Taron zögerte. »Ja, das hoffe ich.« Er nahm den Talisman wieder an sich und verstaute ihn in der Hosentasche.

Auf dem Rückweg redeten sie kaum. Das Gewicht des Korbes lastete schwer auf Tarons Schultern. Bevor sie den Wald erreichten, tat ihm alles weh. An der Waldgrenze machten sie das erste Mal Halt, tranken etwas und massierten sich durch ihre Stiefel die Füße. Es war eine Wohltat, die Tragekörbe nicht mehr spüren zu müssen und die Gliedmaßen in alle Richtungen auszustrecken. Taron legte sich ins Gras, ließ sich von der Sonne bescheinen und schloss die Augen. Die Matratze aus grünen Stängeln schmeichelte ihm und die Strahlen des Himmelskörpers hüllten ihn in eine warme Decke. Er stellte sich vor, beim Einatmen die Kraft seiner Umgebung, des Waldes, der Wiese und des Getreidefeldes aufzunehmen und beim Ausatmen seine Müdigkeit abzuschütteln. Eine einfache Art der Meditation, die rasch endete, als sich eine Wolke vor die Sonne schob.

Taron blinzelte und drehte seinen Kopf nach Süden. Unbehagen breitete sich in ihm aus. Diese Wolke war nur der erste Vorbote einer ganzen Wand, die sich hinter Eberthal gebildet hatte, aber nun unaufhaltsam nach Norden zog. Das kann ungemütlich werden.

Halvor war Tarons Blick gefolgt und schien das Gleiche zu denken. »Lass uns aufbrechen«, sagte der Priester, stand auf und platzierte seinen Korb auf dem Rücken. Taron folgte seinem Beispiel. Nachdem sie die ersten Schritte gegangen waren, grollte es bereits in der Ferne.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte Taron.

Der Wind frischte auf und ließ die Baumkronen über ihnen tanzen. Die Gewitter in Gonvalor waren heftig und tückisch. Sie konnten unvorhergesehen hereinbrechen, die Richtung ändern oder tagelang an einer Stelle bleiben. Verantwortlich für dieses Phänomen wurden häufig die Elementare gemacht, die mit den Stürmen reisen und sie befehligen sollen. Taron war sich nicht sicher, ob es sie wirklich gab, aber wenn, dann waren sie mit Sicherheit den Göttern näher als alle anderen Geschöpfe der drei Welten.

Der Priester legte ein gutes Tempo vor. Taron hatte Mühe, ihm zu folgen. Die durch die Rast vertriebenen Schmerzen kehrten zurück. Das wird ein harter Marsch.

Durch das Wüten des Geästes ertönte ein Donnerschlag, diesmal viel näher als zuvor. Ein Peitschenhieb, der Taron und Halvor weiter antrieb. Der Himmel war von einem grauen Schleier bedeckt und wurde durch gelegentliche Blitze erhellt. Das Grollen folgte immer schneller. Halvor drehte sich zu Taron. »Die Elementare treiben wohl ihre Spiele mit uns«, schrie er. »Wir müssen uns einen Unterschlupf suchen.«

»Ja, aber wo?«, entgegnete Taron. Sie waren dort, wo sie am Vormittag die Schwadron des Königs getroffen hatten. Hier kannte Taron keinen Unterstand. Halvor stand indessen da und hatte die Augen geschlossen. Ein weiteres Leuchten erhellte den Himmel. Halvor wirkte für den Moment wie eine Statue. Er öffnete die Augen wieder. »Es gibt eine Höhle.«

Er deutete den Hügel hinauf und rannte los. »Folg mir!«

Taron, fast vierzig Jahre jünger als der Priester, hatte Schwierigkeiten, ihn nicht zu verlieren. Sein gesamter Körper brannte bis hoch zu seinem Kopf. Laufen und Atmen, waren das Einzige, woran er dachte.

Sie hatten die Hälfte des Kamms erklommen, da schlugen die ersten Tropfen gepaart mit Hagelkörnern in Tarons Gesicht ein. Halvor wich vom Weg ab. Taron hoffte, dass sich Halvor richtig erinnerte. Sie sprangen über umgefallene, halb verfaulte Baumstümpfe hinweg und kämpften sich durch Gestrüpp und hüfthohe Farne, die sich an ihre Beine klammerten. Plötzlich sah Taron wenige Fuß hinter einem großen knorrigen Stamm das Dunkel eines Höhleneinganges auftauchen. Sie rannten hinein und waren in Sicherheit.

Gerade rechtzeitig, denn in dem Moment fiel ein faustgroßes Hagelkorn direkt vor den Eingang. Diesem folgten weitere.

Taron und Halvor setzten ihre Tragekörbe ab. Sie atmeten schwer und hatten rote Gesichter, von denen der Schweiß tropfte. Beide schauten sich das Schauspiel vor der Höhle an. Blitz und Donner folgten aufeinander wie Fangen spielende Geschwister. Der Himmel warf weiße Brocken der Erde entgegen und zerschlug dabei Blätter, Äste und Bäume. Taron war von Ehrfurcht erfüllt.

»Bei den Göttern«, flüsterte er.

Ein anderes Geräusch drang an ihre Ohren. Es war gleichbleibend und kein Wind oder widerhallender Donner. Der Laut kam aus der Höhle und manifestierte sich zu einem Knurren. Beide drehten sich um und blickten in ein Paar großer weißer Augen.

3. Kapitel Esthîon

Träume bleiben Träume bis zu ihrer Manifestation. In ihnen liegt der Wandel der Wirklichkeit. Vers aus dem Buche Ameas

Esthîon erwachte und setzte sich auf. Immer wieder derselbe Traum. Er fasste sich an den Kopf, welcher heftig pochte und schlug die Augen auf. Dunkelheit umfing ihn.

»Wache!«, rief er. Einer seiner Schwadronenkrieger öffnete die Tür, eine brennende Kerze in der linken Hand haltend. Hinter ihm schien das Licht von Fackeln. »Guten Morgen, König.« Er verbeugte sich, wobei sein Kettenhemd klirrte.

»Wie spät ist es?«

»Mittig der Stunde Ameas, mein Herr.«

Noch mehr als ein Strich bis die Sonne aufgeht. So viel Zeit habe ich nicht, dachte Esthîon und fasste sich an die Schläfe. »Bringt mir Licht.«

Der Mann nickte, trat ein. Bis auf den Helm trug er die volle Rüstung der Schwadron. Er stellte die Kerze auf einen Holztisch, welcher am Fenster des Zimmers stand und verließ den Raum wieder.

Der König stand auf, strich sich mit der Hand durchs schwarze verschwitzte Haar und setzte sich an den Tisch, auf welchem mehrere Lagen Pergament und verschiedene Kohlestifte lagen. Er nahm einen der Stifte und begann zu zeichnen. Bitte nicht verblassen. Esthîon schloss die Augen, um sich die Gesichtszüge der Person ins Gedächtnis zu rufen. Mit feinen Linien formte er das Kinn, diesmal war es eher spitz, die Lippen voll und die Nase klein. Mehr hatte er aus diesem Traum nicht holen können. Seine Erinnerungen waren auf das Blatt vor ihm geflossen und aus seinem Geist verschwunden.

Esthîon starrte auf das Pergament und sendete ein stummes Gebet an Amea, die Göttin aller Schlafenden, bitte lass mich noch einmal das Gesicht sehen. Amea schien seinem Wunsch nicht entsprechen zu wollen, vor seinem inneren Auge geschah nichts. Esthîon schaute aus dem Fenster und betrachtete die Sterne, welche am dunklen Firmament funkelten. Er erkannte den Stab Neburs, der sich aus mehreren in einer Linie stehenden Sternen bildete.

Schließlich nickte er. Sie wird wohl mit der Zeichnung zufrieden sein, denn das Gesicht des Mörders seiner Eltern kehrte nicht zurück. Ich muss über die Traummanifestation nochmal mit Hirena sprechen.

Er schrieb unten rechts auf das Blatt das aktuelle Datum, den 17. Tag im Monat Neburs, im 421. Jahr nach der Gründung Gonvalors, öffnete die unterste Schublade seines Tisches und nahm einen Stapel Pergament heraus. Esthîon verglich die bisher gefertigten Zeichnungen mit seiner jetzigen. Mittlerweile mussten es weit über hundert sein. Manche zeigten ein Gesicht im Profil, andere die Augen und wieder andere die Züge um den Mund. Keins der Bilder war identisch und doch waren alle ähnlich. Die älteren Bilder waren weniger präzise, dies hatte sich mit der Zeit geändert. Esthîon war sicher, irgendwann würde sich der Königsmörder in seinen Träumen offenbaren. Er legte das neue Portrait zu jenen, die ebenfalls Kinn und Mund zeigten und verstaute den Stapel in der Schublade.

Der König löschte die Kerze und legte sich ins Bett. Der Schlaf wollte sich jedoch nicht mehr einstellen. Verflucht seien diese Träume.

Er stand auf, als die ersten Sonnenstrahlen das dunkle Firmament küssten. Der König wusch sich, das kühle Nass vertrieb einen Teil seiner Müdigkeit. Er legte eine blaue Tunika mit goldbestickten Säumen, eine schwarze Hose und schwarze Lederstiefel an.

Vor seinem Gemach hielten zwei Schwadronenkrieger Wache, welche den König mit einer Verbeugung begrüßten. Nach dem Tod von Esthîons Eltern wurden diese Männer ausgebildet, um den Mörder zu finden. Vier der fünf Schwadronen ritten dabei auf der Suche nach dem Täter durch das Reich, während eine zum Schutz des Königs in der Hauptstadt verblieb.