Die letzte Jüdin von Würzburg - Roman Rausch - E-Book

Die letzte Jüdin von Würzburg E-Book

Roman Rausch

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Beschreibung

Spionin am Löwenhof. Straßburg 1349: Als eine der wenigen aus der jüdischen Gemeinde entkommt die junge Jaelle lebend einem Pest-Pogrom. In Männerkleidern rettet sie sich nach Würzburg, wo sie den Berater des Bischofs kennenlernt, den mächtigen Michael de Leone. Der findet Gefallen an dem jungen "Johan" und nimmt ihn in seine Dienste. Rabbi Moshe, Haupt der jüdischen Gemeinde, wittert eine Chance. Mit Jaelle hätte er Augen und Ohren an den Entscheidungen des Bischofshofs. Er ahnt: Dort wird ein ungeheurer Komplott gegen die Juden geschmiedet. Widerstrebend lässt sich Jaelle auf den gefährlichen Auftrag ein, eigentlich hat sie anderes im Sinn. In Würzburg sollen ihre letzten Verwandten leben. Sie macht sich auf die Suche. Und deckt ein sorgsam gehütetes Geheimnis auf. Ein bewegender Schicksalsroman über den Mord an den Würzburger Juden.

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Roman Rausch

Die letzte Jüdin von Würzburg

Historischer Roman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. KapitelEpilogAnmerkungen & DanksagungEmpfehlungen
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Prolog

Seine Hand zittert, als er die Feder übers Pergament führt.

Ein Tropfen löst sich vom Kiel, fällt schmatzend aufs leere Blatt, ausgerechnet dorthin, wo er beginnen wollte.

Diese kleine, schwarze Perle auf unschuldigem Grund schimmert schön. Der flackernde Schein der Kerze spiegelt sich auf der Oberfläche, verkehrt alles ins Gegenteil.

Nichts ist so, wie es scheint.

Er hat sein ganzes Leben nicht anderes gemacht, als diese dünnen Häute mit allerlei Wahrheiten zu füllen. Später auch mit Lügen. Um genau zu sein: seit jener Nacht im April nur noch mit Lügen. Sie waren die größten aller Wahrheiten.

Damit ist jetzt Schluss. Seine Zeit verrinnt, unaufhaltsam strebt sie dem Ende entgegen. Er sammelt Kraft, zwingt die andere Hand zur Hilfe, die kaum ruhiger ist als ihr Gegenstück. Gemeinsam ersticken sie den Aufruhr in seinem Körper. Er setzt den Kiel erneut an. Ab jetzt nur noch die Wahrheit.

Womit würde er beginnen? Wie lautet der erste Satz?

Das Schreiben schöner Worte war noch nie seine Stärke gewesen. Sein Metier waren Gesetze, Verordnungen, Verträge und Schuldverschreibungen. Da machte ihm keiner was vor.

Wie man überhaupt schreibt, kunstvoll Buchstabe an Buchstabe setzt, Wörter und Sätze auf diese wunderbare Weise entstehen lässt, die den Lauf der Welt verändern können, das hat er hier gelernt, in Neumünster, seiner Wiege und letztlich auch seinem Totenbett. Der große Karl hatte schon seine Schützlinge hierhergeschickt, um die Kunst des Schreibens zu erlernen. Hier war das Zentrum der Gelehrsamkeit mit seinen reichen Bibliotheken und seinen berühmten Lehrern. Albertus Magnus hat hier studiert und gelehrt, Kaiser Barbarossa, der weder lesen noch schreiben konnte, wurde auf die Sprünge geholfen. Er ließ das Reich aufblühen wie kein Zweiter. Von Würzburg aus ging sein gewaltiger Geist in die Welt hinaus – zu Pergament gebracht von Schreibern und Denkern aus Neumünster.

Er seufzt. Wo sollte er beginnen, um zu erklären, wie es zur Katastrophe hatte kommen können? Und wichtiger: Was sollte nun geschehen? Das war die eigentliche Geschichte.

Halte dich an die alten Meister.

Ein guter Ratschlag. Seliger Hugo von Trimberg, deinem «Renner» gehört meine ganze Liebe und Wertschätzung, auch du, großer, unerreichter Konrad von Würzburg, warst mir eine große Freude … doch ich muss weiter zurück.

Omnis homo mendax. Der Mensch lügt.

Ehrwürdiger Augustinus, du wusstest, dass es kein Heil außerhalb der Wahrheit gibt. Nur die blanke Wahrheit zählt, selbst wenn ein Königreich dadurch fallen sollte.

Doch bedenke, Augustinus, hattest du je einen Pilatus zum Herrn, hintertrieben und falsch, der dich zur Lüge verdammte?

Was hättest du getan?

Er hustet halb erstickt, schnappt nach Luft, spürt die Kälte in seinen vergifteten Lungen. Blut tritt hervor, zieht einen zähen Faden bis zum Steinboden. Hatte ihn die Pest endlich erwischt? Er lacht röchelnd. Das wäre der Witz der Geschichte.

Er wischt das Blut mit dem Ärmel seiner Kutte von Lippe und Kinn. Er muss sich beeilen, er hat nicht mehr viel Zeit. Die Geschichte muss aufgeschrieben werden, bevor die Wahrheit mit ihr stirbt.

Wie lautet der erste Satz?

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1

Straßburg, im Februar 1349

Efraim, Sohn des Balthasar aus dem Haus der Kalonymos, derer von Lucca», wiederholte der alte Itzhak, «die wiederum auf den Isaak von Jaffa zurückgehen, dessen Vater der Jehuda war, Sohn des Samuel. Wann verstehst du das endlich, Medele?»

Das Dokument war alt, die Schrift an manchen Stellen kaum noch zu entziffern, und doch gehörte der Stammbaum zum Wertvollsten, was die Familie besaß, zumindest nach Itzhaks Dafürhalten. Jeder in der Familie musste den Stammbaum fehlerfrei aufsagen können. Wer das nicht konnte, drohte dem Vergessen anheimzufallen und damit dem Verlust seiner selbst.

Jaelle, Tochter des Itzhak von Straßburg, der der Sohn des Eleasar und der Nurit war, raufte sich die langen schwarzen Haare, die wie Ranken ihr hübsches Gesicht umrahmten.

«Wie soll ich mir denn all die Namen merken, Vater? Wozu soll das gut sein?»

Sie stand auf und räumte den Teller mit dem Honiggebäck ab, das ihr Batya, die Bäckersfrau, zum Geburtstag gebracht hatte.

Itzhak seufzte, schüttelte verständnislos den Kopf.

«Wer nicht weiß, woher er kommt, weiß nicht, wohin er geht. Und damit weiß er auch nicht, wer er ist. Warum willst du das nicht verstehen?»

«Weil ich an den Ahnen nicht interessiert bin, Vater. Sie sind tot. Aber ich lebe. Mein ganzes Leben liegt vor mir …»

«Medele, Medele. Mit dir wird es noch mal ein schlimmes Ende nehmen.»

Er beugte sich wieder über die alte Schriftrolle, ging mit dem Finger Zeile für Zeile durch, las und murmelte die Namen seiner Ahnen wie schon Tausende Male zuvor.

Heute war Jaelle siebzehn Jahre alt geworden. Sie hatte sich für diesen Tag alles andere gewünscht, als den Stammbaum der Familie auswendig zu lernen. Stattdessen wäre sie lieber mit Daniel, dem Kutscher, tanzen gegangen oder hätte das Angebot von Amos, dem Schmied, angenommen, ein paar Schritte mit ihm zu gehen und über seine Gefühle zu ihr zu sprechen.

Vielleicht war es dafür noch nicht zu spät. Sie musste Itzhak irgendwie um den Finger wickeln.

«Väterchen …»

Er blickte nicht auf, las weiter.

«Ja?»

Sie stellte sich hinter ihn, legte die Arme um ihn und flüsterte ihm ins Ohr.

«Väterchen …»

Itzhak seufzte.

«Ja, Medele, was willst du? Siehst du nicht, dass ich lese?»

«Es ist so ein schöner Abend …»

«Es ist Februar und es ist kalt.»

«… ich könnte noch etwas frische Luft gebrauchen.»

«Dann öffne das Fenster.»

«Aber draußen ist es schöner.»

«Du kannst nicht rausgehen.»

«Warum nicht?»

«Irgendetwas geht in der Stadt vor. Wir müssen vorsichtig sein, jetzt, da der Swarber nicht mehr da ist und uns beschützt.»

Peter Swarber, Ammannmeister und damit mächtigster Mann in Rat und Stadt, war geflohen, nachdem er von den Fleischern und Kürschnern der gemeinsamen Sache mit den Juden beschuldigt worden war.

Ein neuer Meister war gewählt worden, und niemand wusste, auf welcher Seite er stand. War er mehr den moderaten Kräften im Rat zugetan, oder war er nur ein vorgeschobener Erfüllungsgehilfe der mächtigen Patrizierfamilien, der Müllenheims und der Zorns, die mit allen Mitteln ihre alte Macht zurückgewinnen wollten?

Solange das nicht klar war, war es besser, sich ruhig zu verhalten. Zumal der lächerliche Vorwurf der Brunnenvergiftung durch die Stadt geisterte. Kein Jude sollte daher sein Schicksal herausfordern und sich nachts in der Nähe eines Brunnens sehen lassen, schon gar nicht, nachdem Swarber einige zum Schutz der Juden hatte verschließen lassen.

«Aber Vater …»

«Genug. Wenn du frische Luft brauchst, geh ans Fenster.»

Jaelle stampfte wütend auf.

«Das ist ungerecht!»

«Es ist, wie es ist. Und nun setz dich und wiederhole: Efraim, Sohn des Balthasar aus dem Haus der Kalonymos …»

Mit der Zurechtweisung kam der Ärger zurück, den sie noch am Morgen empfunden hatte.

«Warum hast du Amos abgewiesen?»

Der junge Schmied, der bald die Werkstatt des Vaters übernehmen würde und nach einer geeigneten Ehefrau Ausschau hielt, war am Morgen mit ein paar Blumen in der Hand vor der Tür aufgetaucht, wünschte sie Jaelle zu überreichen und mit ihr einen schönen Geburtstag zu verbringen. Itzhak hingegen hatte mit so viel Dreistigkeit nichts zu schaffen, wies ihm mitsamt den Blumen einen guten Heimweg und befahl Jaelle, den Abwasch zu erledigen, damit sie sich endlich dem Schreiben widmen konnte.

Jaelle hatte Amos lange nachgesehen, wie er gesenkten Haupts die Straße hinuntergegangen war und Blume um Blume aus seiner starken Hand gleiten ließ. Da gärte es in ihr wie selten zuvor. Am liebsten hätte sie alles stehen- und liegengelassen, um ihm nachzulaufen …

Sie seufzte. Itzhak brauchte ihre Hilfe beim Verfassen eines Schriftstücks, das Rabbi Menachem dringend erwartete. Die Augen ihres Vaters waren nicht mehr die besten, und seine Hand zitterte, sodass er keinen Federkiel mehr halten konnte. Das Schreiben war nun ihre Aufgabe geworden, während Itzhak diktierte. Sie hatte eine schöne Handschrift, eines Meisters würdig, und alle in der Gemeinde lobten sie dafür.

«Amos ist kein Mann für dich», sagte Itzhak kühl und hob dabei einen Finger, wie es ein Rabbi bei seinen Schülern tat, wenn er sie belehrte. «Was nicht heißt, dass er ein schlechter Mann ist, ganz im Gegenteil, aber er ist der falsche für dich.»

Schon wieder diese Ausrede.

«Es ist jedes Mal das Gleiche. Niemand ist gut für mich. Sag mir, Vater, welcher Mann ist denn gut genug für deine einzige Tochter, die in diesem Haus noch verkümmert wie eine Blume ohne Wasser und Sonne?»

Sie stemmte die Hände in die schmalen Hüften. Sie würde nicht eher beigeben, bis er ihr eine zufriedenstellende Antwort gegeben hatte. Sie war jetzt siebzehn, eine Frau mit allem, was dazugehörte. Sie hatte ein Recht zu erfahren, welche Pläne er mit ihr hatte.

«Ich werde es wissen, wenn die Zeit gekommen ist.»

Er erhob sich mühsam vom Tisch, als laste die gesamte Verantwortung auf ihm, was auch stimmte, nachdem seine treue Rahel im letzten Herbst gestorben war. Möge sie in Frieden ruhen. Er schlurfte hinüber zum Bett, obwohl es noch nicht Schlafenszeit war.

«Ich werde mich ein wenig ausruhen. Solange kannst du schon mal mit der Urkunde für Rabbi Menachem beginnen.»

«Aber …»

Sie rang um Worte, die sie ihm seit den Morgenstunden an den Kopf werfen wollte. Beim Anblick des alten Mannes jedoch, wie er nur noch schleppend durch den Tag kam, verpuffte der Zorn. Sie war seine Tochter und hatte zu gehorchen. Wenn Gott, der Allmächtige, einen anderen Plan für sie hatte, dann würde sie es schon merken. Doch sollte er sich dafür nicht mehr lange Zeit lassen. Sie stand in der Blüte ihres Lebens, morgen schon könnte Amos einer anderen Blumen schenken.

Schon bald hörte sie Itzhak friedlich schlafen. Im Kamin knisterte das Feuer, und der Abend wäre wie jeder andere zuvor ereignislos in die Nacht übergegangen, wenn sie nicht zum Fenster gegangen wäre, um die Sterne zu befragen, wie ihr weiterer Lebensweg aussehen würde. Doch die Sterne, die ihr sonst ein treuer Gefährte durch die Eintönigkeit ihres Daseins waren, blieben hinter einem dichten Schleier verborgen. Auch das noch.

Ein Hund kam die Judengasse heraufgerannt, jaulend, sein Fell schwarz verbrannt. Ihm folgte ein schreiendes Kind, Ismael, Sohn des Gemeindevorstehers Rabbi Menachem.

«Sie kommen! Sie kommen!»

Kaum war er am Fenster vorbei, wurde es wieder ruhig. Der Bengel erlaubte sich wieder einen seiner üblen Scherze, dachte Jaelle, aber das änderte sich, als ein Reiter auftauchte. In der Hand schwang er ein Schwert.

«Brunnenvergifter, kommt heraus!»

Ihm folgten zwei Männer. Sie stürmten in das Haus von Aaron, dem Fleischer, und für einen Moment glaubte Jaelle, das Herz würde ihr stehenbleiben. Waren das nicht die Söhne von Meister Reinhard, Bruno und Stephan?

Sie öffnete das Fenster, wollte sehen, was da vor sich ging, und sah, dass da noch viele mehr die Straße heraufkamen.

«Was soll der Lärm?»

Itzhak schaute mit verschlafenen Augen an Jaelle vorbei hinaus auf die Straße. Dort erkannte er Bürger mit Prügeln, Stangen und Mistgabeln bewaffnet, Nachbarn und auch Freunde, die schreiend und johlend Juden vor sich hertrieben, in Richtung des nahen Stadttors. Dahinter befand sich das Flussufer der Ill … und der Friedhof der Juden.

«Was geschieht da, Vater?»

Jaelle starrte ungläubig auf die verrückt gewordenen Bürger und die blutenden und humpelnden Brüder und Schwestern.

«Schnell, wir müssen fliehen!»

Es gab keine Zeit zu verlieren. Das Pendel war umgeschlagen. Der neue Rat hatte sie aufgegeben. Jetzt zählte jede Minute.

«Jaelle! Komm!»

Itzhak klemmte sich auf dem Weg zur Hintertür alles unter die Arme, was er zu greifen bekam – die Schmuckschatulle, ein Geldsäckchen, die Haggada seines Großvaters, den Gebetsmantel und den Gebetsriemen, den Hut … und die Schriftrollen mit den Ahnen.

Aus dem Haus gegenüber kamen Aarons Töchter gerannt, Hannah und Miriam, im Nachthemd, noch halbe Kinder, ihnen hinterher Bruno und Stephan. Sie lachten triumphierend, als sie die beiden Nachbarskinder niederschlugen.

«Wer zuerst?», rief Bruno seinem Bruder zu.

Er knöpfte sich die Hose auf.

«Ich die Schwarzhaarige, du die Dünne.»

«Komm jetzt endlich», hörte Jaelle Itzhak rufen.

Doch Jaelle war wie zu Eis erstarrt. Das waren Bruno und Stephan, die ihr noch vor ein paar Tagen auf der Straße nachgestellt hatten. Sie waren um sie herumgesprungen wie übermütige Welpen.

Wohin des Weges, schöne Jaelle? Schenk mir ein Lächeln, Jaelle.

Und jetzt das. Tiere waren sie, tollwütige Hunde.

Es dauerte nicht lange.

Eine unbändige Wut erfasste Jaelle, drängte sie nach draußen, um diesen beiden Teufeln Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Hätte sie nur ein Schwert zur Hand … Tränen traten ihr in die Augen.

Bruno, der Ältere der beiden, zog die Hose hoch.

«Lass sie. Wir haben noch einiges vor.»

«Was meinst du?», fragte Stephan.

Bruno grinste hinterhältig, hob langsam den Arm und zeigte zu Jaelle herüber.

«Ja-e-elle.»

Sie glaubte, das Herz würde ihr stehenbleiben.

Eine Hand packte sie an der Schulter.

«Medele, wo bleibst du denn?!»

Itzhak rüttelte an ihr, so wie er es immer tat, wenn sie sich im Spiel der Wolken verloren hatte.

«Wir müssen fliehen. Jetzt!»

Er schloss das Fenster, zog sie mit sich, an der Treppe vorbei, durch die Hintertür auf den kleinen Hof. Hinter ihr barst die Eingangstür, einer rannte die Treppe hoch, der andere in die gute Stube.

«Ja-e-elle? Wo bist du?»

Es war Brunos verlogene, honigsüße Stimme. Sie würde sie nie wieder vergessen.

Der Hinterhof war erhellt vom Schein eines flackernden Feuers. Hier war niemand. Sie konnten es wagen.

«Wohin, Vater?»

«Hier entlang.»

Er ging voran, den schmalen Weg zwischen den Häusern hindurch, geradewegs auf das Haus von Daniel zu. In seinen Armen nur nutzloses Zeugs – der Hut, die Haggada, der Gebetsmantel und diese verdammten Schriftrollen …

Bei allen Propheten, wenn sie die Nacht heil überstanden, dann würde sie sie vor Itzhaks Augen verbrennen. Hatte der Alte nun völlig den Verstand verloren? Was er und Jaelle jetzt brauchten, waren Waffen, um sich zu verteidigen, und keine nutzlosen Aufzählungen von verstorbenen Familienmitgliedern. Geld würde auch helfen, aber Waffen wären überzeugender. Vielleicht hatte Daniel welche, der Kutscher, der immer alles wusste, jedes Gerücht und jede Gefahr kannte. Nur dieses Mal schien ihn sein Glück verlassen zu haben. Auch er war überrascht worden, hatte aber schnell reagiert. Vor seinem Haus stand ein mit Tuch überspannter Karren, davor zwei Rösser und er auf dem Kutschbock.

«Steigt hinten auf!», rief er ihnen zu. «Schnell, wir müssen vor ihnen am Tor sein!»

«Was ist mit dem Tor?», fragte Jaelle, während sie Itzhak mit seinen sperrigen Schriftrollen auf den Wagen schob.

«Sie wollen uns aus der Stadt vertreiben, sagen sie. Aber ich traue ihnen nicht.»

Er gab den Rössern die Peitsche. Die Kutsche zog an, und Jaelle hatte alle Mühe, sich auf die Ladefläche zu ziehen.

Dort saßen bereits Adam und Batya, das Bäckerehepaar, daneben Jakob und Thikva, sie handelten mit Eiern und Milch und was man sonst noch bei den Bauern erwerben konnte, und Amos, der Schmied. Er packte Itzhak mit der einen und Jaelle mit der anderen Hand. In einer Bewegung waren sie unter dem schützenden Dach des Karrens. Jaelle fiel ihm in die Arme. Sie roch seinen Schweiß und den bissigen Geschmack von Ruß und Eisen, das er noch vor ein paar Minuten geschmiedet hatte. So nah war sie ihm bisher noch nicht gekommen. Sie wagte es nicht aufzublicken, spürte den Schlag seines Herzens an ihrer Wange, schmeckte die unverhoffte Nähe eines Mannes.

«Bleibt unten», rief Daniel nach hinten.

Der Karren holperte über das Pflaster, geradewegs auf das Stadttor zu. Wenn sie es hindurch schafften und anschließend über die Ill und den Rhein, dann waren sie in Sicherheit.

«Wer da?!», rief eine feste Männerstimme.

«Ich bin’s, Daniel. Hab eine Fuhre hinüber nach Kehl.»

«Daniel?» In der Stimme lag Verwunderung. «Was machst du hier? Zu dieser Zeit?»

«Eine Fuhre Mehl für Meister Hegeler. Oder willst du mir nicht glauben?»

Er lachte schallend, als wär’s das Natürlichste auf der Welt. Seine Hand tastete nach hinten, fand Batya, die ihm wie verabredet ein Säckchen in die Hand drückte.

«Hier der Zoll», sagte er und warf es dem Wachmann zu, «und der für die Rückfahrt gleich mit. Ach, was sag ich, ist auch noch was für deine gute Anna dabei und deinen Sohn. Hörte, ihr wollt ihn in die Lehre zu Meister Hagen nach Colmar schicken. Da kann er eine Wegzehr gut gebrauchen. Und jetzt lass mich endlich passieren, bevor sich der alte Fährmann zur Ruhe begibt.»

Schweigen. Aus der Ferne schwappten die Schreie der Freunde und das Gejohle der Bürger herüber. Jaelle kauerte in den Armen von Amos, betete, dass die Wache das Geld nehmen und sie ungehindert passieren lassen würde.

«Hab Dank für dein Geld», sagte die Wache, «aber ich muss trotzdem sehen, was du da unter der Plane versteckst.» Er lachte überflüssigerweise. «Neuer Befehl des Kommandanten. Die Juden sollen aus der Stadt gewiesen werden. Da darf keiner entkommen.»

«Ich bin doch auch einer.»

«Ach, Daniel. Mit dir ist’s was anderes. Bist ja nur zur Hälfte einer. Der Vater Christ, die Mutter … na ja, Schwamm drüber.»

«Dann mach mal, was du nicht lassen kannst», antwortete Daniel und stieg ab. «Kann’s dir nicht verdenken. Verdammtes Judenpack.» Er spuckte aus.

Um Himmels willen, was machte Daniel da? Jaelle presste sich in Amos’ Arme. Batya und Thikva fuhr ebenfalls der Schrecken in die Glieder. Amos machte sich bereit, mit seiner eisernen Faust zuzuschlagen, sobald die Wache den Kopf hereinstrecken würde, und Itzhak, was machte dieser verrückte, alte Itzhak? Er erhob sich, stellte sich schützend vor die anderen.

«Vater!», zischte Jaelle, «was machst du da? Komm zurück.»

Der Alte war nicht zu halten. Er reichte Jaelle die Schriftrollen. «Bewahr sie gut.»

Jaelle dachte nicht im Leben daran.

«Du bleibst hier!»

Der Disput blieb nicht ungehört. Die Wache schreckte zurück und zog das Schwert.

«Wer ist da auf dem Wagen? Komm …»

Der Befehl erstickte in einem Röcheln. Jaelle sah im Schein der Fackeln, wie der Wachmann auf die Knie sackte, hinter ihm Daniel mit dem Messer in der Hand. Bevor er ganz zu Boden ging, packte er ihn und hob ihn hoch auf die Ladefläche.

«Fasst mit an!»

Amos reagierte zuerst. Seine breite Pranke ergriff ihn und zog ihn ebenso problemlos herein wie zuvor Itzhak und Jaelle. Der alte Mann schreckte zurück, die Frauen auch.

«Was hast du getan?»

«Es ging nicht anders», antwortete Daniel knapp. «Und jetzt seid still. Wir müssen noch durchs Tor.»

Er ging wieder vor, am Kutschbock vorbei, verschwand im Dunkel. Richtig, der zweite Wachmann, schoss es Jaelle durch den Kopf. An den Stadttoren waren immer zwei Wachleute, wenn nicht noch mehr. Wie wollte Daniel an ihm vorbeikommen?

«Heda», hörte sie ihn rufen, «mach das Tor auf.»

So leicht sollte es ihm nicht gelingen.

«Volkmar», rief der zweite Wachmann, «wo steckst du? Darf er passieren?»

«Komm her und sieh selbst nach.»

Was auch immer Daniel im Sinn hatte, Amos wollte nicht darauf warten.

«Wo willst du hin?», fragte Jaelle.

«Daniel helfen. Was sonst?»

Er stieg über den toten Wachmann und schlich sich im Schutz des Karrens nach vorne. Adam und Jakob konnten nun nicht länger tatenlos zusehen. Auch sie stiegen ab und folgten Amos. Zurück blieben der alte Itzhak, Batya, Thikva, Jaelle und ein toter Wachmann. Sein Blut war überall. Jaelle spürte es an den Händen, es war klebrig, warm und eklig. Sie wischte es an ihrem Kleid ab.

«Jaelle», sagte Itzhak, «komm her.»

Sie rückte zu ihm.

«Was ist, Vater?»

Er nahm ihre Hände in seine, hielt sie, wie er es schon in Kindertagen gemacht hatte, wenn sie traurig war und Trost brauchte.

«Hör mir nun gut zu.»

Jaelle nickte zögerlich. Wenn er in diesem Ton begann, war nichts Gutes zu erwarten.

«Was auch immer heute Nacht geschieht, nimm diese alten Schriftrollen und rette sie vor der Vernichtung.»

Noch bevor Jaelle gegen diese Unsinnigkeit protestieren konnte, fuhr er fort.

«Reise mit ihnen rheinabwärts. Meide die Stadt Speyer. Dort töten sie uns. Auch Worms ist nicht mehr länger sicher.»

Jaelle nickte zögernd.

«Das Feuer, das uns heute Nacht die Heimat genommen hat, wird morgen am ganzen Rhein brennen. Auf Worms folgt Mainz. Meide auch diese Stadt. Der Rhein ist nicht länger unser Zuhause. Flieh nach Würzburg, diese Stadt liegt weitab.»

«Aber ich kenne niemanden dort.»

«Einer wird dich erkennen, wenn er die Schriftrollen sieht. Ein entfernter Verwandter, aber dennoch von deinem Fleisch und Blut. Er wird dir Schutz gewähren.»

Efraim, Sohn des Balthasar aus dem Haus der Kalonymos …

Jaelle ging ein Licht auf. Deswegen sollte sie also den Stammbaum der Familie auswendig lernen. In der Not war die Familie das Einzige, worauf man sich verlassen konnte.

«Welchen Namen trägt er?»

Von irgendwoher erklang eine Glocke, und wenn Jaelle ihren Klang richtig deutete, war es das Alarmglöckchen des Stadttores. Das änderte die Situation grundlegend. Andere Wachleute und aufgeschreckte Bürger liefen herbei, um zu sehen, was den Alarm ausgelöst hatte. Jaelle sah ihre Schatten an der Plane.

Ein erstes, fremdes Gesicht schaute zu ihnen herein. Beleuchtet wurde es von einer Fackel, die der Mann hereinhielt. Sein Blick fiel auf die Frauen, dann auf den Wachmann und damit auf das Blut.

«Hierher», schrie er zur Seite, «sie sind hier!»

Er setzte bereits den Fuß auf die Ladefläche, als der Karren anzog und er nach hinten stürzte. Jaelle fuhr herum. Daniel saß wieder auf dem Kutschbock.

«Haltet euch fest», rief er ihnen zu.

Die Zügel klatschten auf den Rücken der Rösser. Jaelle suchte Halt an den Sparren, Itzhak hingegen war wie gelähmt. Er schaute an ihr vorbei, hinüber zu Batya und Thikva, die auf das Feuer einschlugen, das die Fackel entzündet hatte. Sie lag in einem Weidenkorb, der ihr offenbar gute Nahrung lieferte. Das Feuer zu löschen wäre bei einem stillstehenden Karren wohl kein Problem gewesen. So aber wurden Batya und Thikva durch die rasante Fahrt hin- und hergeworfen. Selbst Jaelle konnte sie nicht greifen. Stattdessen sah sie, wie sie das Stadttor passierten. Amos hielt es offen, während Adam und Jakob mit bloßen Händen gegen die Wachen kämpften. Sie hatten keine Chance. Mit nur wenigen Hieben gingen sie zu Boden. Dann nahmen sie sich Amos vor.

«Daniel», schrie Jaelle, «warte!»

Aber Daniel antwortete nicht. Etwas brach, der Karren rutschte zur Seite weg und wurde von den Rössern mitgerissen. Der Korb mit dem Feuer ergoss sich über Jaelle und die anderen.

Sie spürte die Flammen in ihrem Haar knistern …

 

Ein Schmerz durchbohrte ihren Arm. Sie schlug die Augen auf, sah die Fratze einer Frau, spürte ihre Hände unter ihrer Bluse, in den Taschen, im Schritt. «Kein Geld, kein Schmuck. Verdammtes Luder.»

Sie ließ von ihr ab, machte sich über den nächsten Körper her,

Es war Itzhak, blutüberströmt. Die Augen starr und leer. Jaelle griff nach ihm, fand aber nur den Tod.

Schreie. Wehklagen. Am Ufer stand ein Holzhaus, das gestern noch nicht da war. Mit Spießen und Stangen stießen sie sie hinein – Kinder, Frauen, Männer. Tote Leiber wurden ihnen hinterhergeworfen. Die Tür ging zu. Ringsum legten sie Feuer. Es wuchs schnell und hoch.

«Es sind zu viele. Wir brauchen mehr Holz.»

Dann packte sie jemand, riss sie fort. Sie spürte nichts, auch nicht das eiskalte Wasser, das über ihrem Kopf zusammenschlug.

Anfänglich war da noch ein Schnappen nach Luft, ein Reflex, schließlich das Würgen. Das war das Schlimmste. Es sollte nicht lange dauern. Der Körper ergab sich, es kehrte Ruhe ein und Frieden. Sie sank. Es war überstanden.

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2

Zuerst hörte sie ein Murmeln, dann einzelne Worte. Sie öffnete die Augen, sah Sterne, den Mond, der hinter einer Wolke verschwand. Es war friedlich still. Nur das Schlackern eines Segels. Dann Schritte. Ein Gesicht über ihr, unrasiert, schlechte Zähne, vom Hals hing ein Band mit dem Gekreuzigten auf sie herunter.

«Sie wacht auf.»

«Hol ihr was Warmes zu trinken.»

«Der Judensau?»

«Sei still, du Dummkopf, und tu, was ich dir sage.»

Er knurrte widerwillig.

«Zurück ins Wasser sollten wir sie werfen, die elende Brunnenvergifterin.»

Er spuckte ihr ins Gesicht und stapfte davon. Die Planken knarrten unter seinen Schritten. Von irgendwoher rief eine Eule.

Jaelle drehte den Kopf zur Seite. Ein Stich fuhr ihr ins Genick.

«Ruhig.»

Ein anderes Gesicht erschien über ihr. Ein Mann mit Vollbart, eine Kappe auf dem Kopf, rundes Gesicht, treue Augen. Er stützte sie mit der einen Hand, mit der anderen führte er den Becher an ihren Mund.

«Hier, trink.»

Der Trank war warm. Er durchströmte ihren unterkühlten Körper, hauchte ihr neues Leben ein, er stieg ihr aber auch umgehend zu Kopf, wie es erhitzter Wein tat.

«Langsam, verschluck dich nicht.»

Ihr Hals war ausgedörrt, sie hätte einen ganzen Krug trinken können.

«Das reicht.»

Vorsichtig legte er ihren Kopf wieder ab.

«Wie geht es dir?»

Jaelle wollte nicht länger liegen. Sie setzte sich auf, er stützte ihr den Rücken.

«Besser.»

Sie sah einen Kessel, in dem ein kleines Feuer loderte, den Mast des Schiffes, das schlackernde Segel und den Knecht, der das Ruder übernommen hatte. Er starrte sie hasserfüllt an.

«Wo bin ich?»

«Ich bin Master Leonhard, der Kapitän dieses Schiffs. Mach dir keine Sorgen. Hier bist du sicher.»

Sicher?

Um alles in der Welt, wo war Itzhak? Ihr Kopf flog herum. Ein stechender Schmerz fuhr ihr in den Hals.

«Beweg dich nicht. Du bist verletzt.»

«Wo ist Itzhak?»

«Wer ist das?»

«Mein Vater.»

Er seufzte.

«Alle sind tot.»

Ihr Aufschrei gellte in die Nacht. Etwas in den Bäumen entlang des Flusses flatterte auf, flog im weiten Bogen davon.

«Das Jüngste Gericht ist über sie hereingebrochen.» Er schlug das Kreuzzeichen. «Tausend, wenn nicht mehr, sind gestorben. Glaube mir, du bist die Einzige, die überlebt hat. Ein Wunder.»

Der Knecht war anderer Meinung. Er spuckte angewidert aus.

«Dreckiges Judenvieh. Ersäufen sollten wir sie. Das wäre gerecht.»

«Halt endlich deinen Rand!»

Der Schmerz schnitt ihr ins Herz. Sie bäumte sich auf, wollte schreien, doch mehr als ein Schluchzen vermochte ihre Kehle nicht hervorzubringen. Leonhard nahm sie in den Arm.

«Beruhige dich. Du hast überlebt, nur das zählt.»

Wieder entfuhr ihr ein Schrei, ein Protest gegen diese unsinnige Behauptung. Nichts zählte, wenn Itzhak tot war.

Er fuhr ihr sanft übers Haar, das viel von der ehemaligen Pracht eingebüßt hatte, seitdem der brennende Korb auf sie gestürzt war.

«Amos? Hat Amos …?»

Sie löste sich aus seinen Armen, starrte ihn ungeduldig an.

Ein Kopfschütteln.

«Niemand.»

«Woher wollt Ihr das wissen?!»

Er seufzte.

«Weil ich es gesehen habe. Sie haben sie am Ufer zusammengetrieben. Das Holzhaus stand bereit. Wer nicht darin verbrannte, wurde erschlagen. Die Leichen warfen sie in den Fluss. So büßte jeder für seine Schuld.»

«Welche Schuld?!»

Sie rückte von ihm weg.

«Verfluchte Brunnenvergifter seid ihr!», schrie der Knecht herüber. «Soll euch die Pest holen!»

«Wir sind keine Brunnenvergifter!»

«Jeder weiß, dass ihr das Gift in die Brunnen getan habt, um uns mit der Pest zu töten.»

«So ein Unsinn. Warum sollten wir das getan haben? Es sind auch unsere Brunnen.»

«Weil euch die Niedertracht angeboren ist, verdammtes Judenpack. Hat es nicht gereicht, den Heiland ans Kreuz zu schlagen, unsere heiligen Hostien zu schänden … unschuldige Kinder zu töten?»

Jaelle schüttelte den Kopf.

«Das hat niemand von uns je getan.»

«Lüg nicht. Der Jude aus Savoyen hat’s gestanden.»

«Unter der Folter.»

«Ist sein Geständnis deswegen weniger wahr?»

Leonhard ging dazwischen. «Hört auf zu streiten.»

Der Knecht spuckte in den Fluss, Jaelle wandte sich ab. Es war zwecklos. Gegen diese Lügen halfen keine Argumente.

Sie kannte die Gerüchte. Aber warum sollten Juden so etwas tun? Das war doch verrückt. Sie lebten mit den Gojim, den Andersgläubigen, Haus an Haus, trieben Handel mit ihnen, atmeten dieselbe Luft und tranken dasselbe Wasser. Auch Juden starben an dieser furchtbaren Krankheit. Wieso sprach darüber niemand? Nur von den guten Christenmenschen war die Rede – von denen bisher aber kein einziger in Straßburg an der Pest gestorben war. Die Seuche war noch nicht einmal in die Nähe von Straßburg gekommen, und dennoch mussten die Juden dafür herhalten.

«Hier, deck dich damit zu», sagte Leonhard. Er reichte ihr eine Decke. «Bete zu deinem Gott, dass dieser Wahnsinn endlich ein Ende hat.»

Er ging ans Ruder und schickte seinen Knecht schlafen. Jaelle blieb an ihrem Platz, zwischen Weinfässern und Heu, unter freiem Himmel. Ihr Gesicht schmerzte, sie konnte die Schwellung an Augen und den Lippen spüren. Am Hals und am Rücken fühlte sie noch die Hände und die Füße, die sie geschlagen und getreten hatten. Doch dieser Schmerz war nichts im Vergleich zum Verlust von Itzhak, Amos und all den anderen. Sie deckte sich zu, weinte und schluchzte, still, damit sie niemand hören konnte. Dieser abscheuliche Knecht würde sie bei nächster Gelegenheit über Bord werfen, und diesem heuchlerischen Kapitän war auch nicht zu trauen.

So büßte jeder für seine Schuld. Welche Schuld?

Sie segelten durch die Nacht, der kalte Wind blies stetig und kroch durch die warme Decke und ihre Kleidung. Apropos Kleidung: Sie trug nicht länger die Kleidung einer Frau, sondern Hosen und ein Wams. Der Kapitän musste sie entkleidet haben, nachdem er sie aus dem Wasser gefischt hatte. Oder schlimmer: Dieser furchtbare Kerl hatte es getan. Es schauderte ihr bei dem Gedanken. Wenn nur Itzhak nichts davon erfuhr …

Das Herz schien ihr stillzustehen bei dem Gedanken an seinen Tod. Sie atmete schwer, versuchte den aufsteigenden Drang zu unterdrücken, sich auf dem Boden zu wälzen, sich die Kleider vom Leib zu reißen und lauthals loszuheulen.

Gott sei deiner Seele gnädig.

 

«Wohin fährst du?»

Jaelle schlug die Augen auf. Über die niedrige Reling des Kahns hinweg sah sie einen Oberländer mit der zum Heck hin ansteigenden Dreiecksform. Er wurde von Pferden flussaufwärts gezogen. Das Seil mochte hundert Meter lang sein. Ein kleines und ein großes Beiboot eskortierten das Schiff. An Deck stand ein Mann, und Knechte saßen an den Rudern.

«Wein nach Köln», rief Leonhard hinüber, «und du?»

«Tuch und Pelze für Basel.»

Die Unterhaltung währte nur kurz. Die Strömung trug Leonhards Schiff schnell weiter.

«Gehab dich wohl.»

Jaelle streifte die Decke ab, die sie leidlich warm gehalten hatte. Jeder Knochen tat ihr weh, besonders der rechte Arm und die rechte Wange, als hätte sie die Nacht nur auf dieser einen Seite verbracht. Doch die größte Überraschung erwartete sie, als sie sich über Bord lehnte und ihr Spiegelbild im grauen Wasser des Rheins sah. Wo waren ihre wunderschönen, schwarzen langen Haare geblieben? Das, was sie da anstarrte, war ein zerzaustes Büschel ihrer ehemals üppigen Mähne, das an einem Ohr bis auf die Kopfhaut gestutzt worden war. Und das, was sie unter ihrem rechten Auge erkannte, bestürzte sie nicht weniger. Eine dunkel unterlaufene Schwellung erstreckte sich bis hin zur Nase, an deren Löchern noch verkrustetes Blut klebte. Gottlob, die Zähne waren noch alle da. Die Lippe war dick angeschwollen.

«Du hattest Glück im Unglück.»

Jaelle blickte über die Schulter zurück. Leonhard reichte ihr einen Becher mit dampfendem Wein und einen Ranken Brot.

«Die Wunden werden heilen, und die Haare wachsen nach.»

Sie schlug das Frühstück aus, nicht weil sie keinen Hunger und Durst hatte, nein, sie wollte bei klarem Verstand bleiben. Außerdem war der Wein sicher nicht aus koscher geernteten Trauben gemacht. Hätte Itzhak sie letzte Nacht gesehen, als sie diesen Wein getrunken hat, er hätte sie … Aber, was sollte das noch? Itzhak war tot.

«Habt Dank, aber ich will nichts.»

«Du musst wieder zu Kräften kommen.»

Sie verlor die Geduld.

«Habt Ihr nicht gehört?!»

Leonhard schreckte zurück. Er steckte das Brot in die Tasche seines Wamses, ging an ihr vorbei zum Bug des Schiffs und schaute auf den Rhein, auf die Strömung, die sie konstant voranbrachte. Speyer war in Sichtweite. Die Spitzen des Doms begrüßten sie.

«Es tut mir leid», sagte Jaelle. «Ich wollte Euch nicht …»

«Schon gut. Du hast viel mitgemacht. Ich verstehe das.»

Tat er das wirklich?

«Ihr wart sehr anständig zu mir. Ich habe Euch noch gar nicht gedankt.»

«Nicht nötig.»

Sie stellte sich an seine Seite.

«Wieso tut Ihr das für mich?»

Leonhard schlürfte den warmen Wein und schaute weit voraus, als fände er die Antwort auf den Feldern und den sanft ansteigenden Hängen entlang des Rheins.

«Ich war in Basel und in Freiburg. Ich habe gesehen, was deinesgleichen dort widerfahren ist. Mit einigen habe ich Handel getrieben, bei anderen stand ich in der Schuld. So ein Schiff ist teuer, und nicht immer bekomme ich den gerechten Lohn für meine Arbeit. Als ich wieder einmal Gefahr lief, alles zu verlieren, und niemand mir helfen wollte, bekam ich ausgerechnet von einem Juden die Hand gereicht. Meckelin war sein Name, ein alter Geldjude. Er gab mir, was ich brauchte, und ich zahlte es ihm Heller für Heller zurück. Nicht alles … bei Gott, nicht alles.» Er schlürfte den Wein. «Wahrscheinlich hätte ich ihm nie alles zurückzahlen können, schon gar nicht mit den Zinsen, aber dann kam jene Nacht vor vier Wochen. Sie sollte das Problem lösen. Ich habe es vom Schiff aus verfolgt. Alles … wie sie sie gefangen nahmen und einsperrten. Dann das Feuer … die Schreie …»

«Und, was habt Ihr getan?»

«Bei allen Heiligen und Märtyrern, die aufs Kreuz geschworen haben … nichts. Ich stand einfach da und schaute zu, ohne einen Finger krummzumachen. Ich sah sie brennen. Auch Meckelin … mit meinem Schuldschein.»

Jaelle trat einen Schritt zurück, unfähig zu verstehen, wieso er sich nicht für den einzigen Menschen eingesetzt hatte, der ihn vor dem Ruin gerettet hatte.

«Was hätte ich tun sollen? Mit ihm ins Feuer gehen?»

«Ihn beschützen, bevor es zu spät war.»

«Das Volk war rasend. Sie hätten auch mich getötet.»

So ein Unsinn. Er war seine Schulden losgeworden, nichts weiter. Jaelle hatte genug gehört.

«Ich will Eure Ausflüchte nicht hören.» Sie warf die Decke von den Schultern. «Lasst mich von Bord.»

Er seufzte.

«Hier ist keine Landestelle. Du musst bis Speyer warten.»

Speyer. Eine der drei großen Städte der Aschkenasim – der Frommen, die am Rhein lebten. Aber das war früher einmal. Speyer war nicht länger eine Stadt, in der ein Jude ungefährdet leben konnte. Itzhaks Worte fielen ihr ein. Meide Speyer. Dort töten sie uns.

«Du solltest in Speyer nicht von Bord gehen», sagte Leonhard. «Kein Jude ist dort mehr sicher.» Als hätte sie eine Bestätigung gebraucht. «So wie im ganzen Land nicht mehr. Es wäre besser, wenn du dich weder als Jüdin noch als Frau zu erkennen gibst. Die Zeiten sind unruhig. Ich kann dich bis nach Köln mitnehmen. Ich kenne jemand …»

Würzburg hatte Itzhak gesagt. Nur, wie kam sie dorthin?

«Kennt Ihr die Stadt Würzburg?»

«Sicher, eine wohlhabende Stadt östlich von Mainz und Frankfurt.»

«Dort will ich hin.»

«Wie willst du das anstellen? Es sind mehrere Tagesreisen. Du hast kein Geld, du bist alleine … und du bist eine Frau. Es wäre dein Tod.»

«Es muss einen Weg geben.»

Leonhard dachte nach.

«Vielleicht gibt es den … und zwar mit dem Schiff, entlang des Mains. Das wäre sicherer. Aber dennoch: Ein Schiff ist keine Garantie. Schon gar nicht für eine Frau … und Jüdin.»

Jaelle hatte die passende Antwort darauf..

«Habt Ihr eine Schere?»

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3

Um Selbstbeherrschung bemüht, trat Michael de Leone aus dem stattlichen Haus dieses lombardischen Halsabschneiders. Der Himmel über dem Rheinufer in Mainz, wo die Schiffe gelöscht und wieder beladen wurden, war schwer und grau, der beißende Wind schnitt ihm in die Augen. Er zog den Mantel enger. Es war einer jener Tage, an denen man die Hoffnung verlor, dass noch einmal die Sonne scheinen würde.

«Fünfundzwanzig Prozent auf zwei Jahre. Und wenn nicht rechtzeitig zurückgezahlt wird, schlägt er noch fünfzig Prozent auf. Wahrlich, das ist frech.»

Michael de Leone war ein schlanker und aufrechter Mann. Er glaubte fest an Gesetz und Ordnung, ohne sie herrschte Willkür und damit das Chaos. Er war auch ein eleganter Mann, aber nicht übertrieben eitel wie andere Vertreter seines Standes, die der neuesten Mode nachrannten und allenthalben wie Pfauen herumstolzierten, nein, er kleidete sich zurückhaltend, sodass er kaum jemandem auffiel.

In seiner Funktion als Protonotar, als Leiter der bischöflichen Kanzlei und damit rechte Hand Seiner bischöflichen Gnaden Albrecht II. von Hohenlohe, war das nicht weiter verwunderlich. Eine vornehme Distanz wurde von ihm erwartet, denn er trat als des Bischofs Stellvertreter auf, wenn er in seinem Auftrag unterwegs war. Michael de Leone war der zweite Mann im Bistum, er galt als rechtschaffen, integer und vor allem diskret.

Was jedoch nicht selbstverständlich war, zumindest nicht in diesen unruhigen Zeiten, in denen Hass, Bestechlichkeit und Niedertracht bis in die päpstlichen und königlichen Kreise gediehen, war Michaels unerschütterliche Loyalität zu seinem Bischof.

Albrechts Vorgänger Otto von Wolfskeel hatte den jungen Leone zu Beginn seiner Amtszeit in seine Regierung geholt, obwohl andere Kandidaten weit mehr politische Erfahrung aufweisen konnten als der zurückhaltende, aber intelligente Spross einer wohlhabenden Patrizierfamilie, die erst vor kurzem aus Mainz in die Bischofsstadt am Main gekommen war.

Denn als seinerzeit der vakante Bischofsstuhl neu zu besetzen war, bestimmte der Papst einen Favoriten, Otto, der Kaiser aber – der mit dem Papst in Unfrieden lebte – einen anderen, auswärtigen Anwärter. Michael war von Anfang an auf Ottos Seite, und somit auf der päpstlichen, was für ihn als kaiserlichen Notar nicht ungefährlich war.

Nach der Amtszeit Ottos wiederholte sich der Vorgang. Wieder wurden zwei Kandidaten ins Rennen geschickt, dieses Mal verständigten sich Kaiser und Papst sogar auf ein und denselben Kandidaten und votierten gegen den Favoriten des Würzburger Domkapitels – Albrecht von Hohenlohe, dessen Familie zu den einflussreichsten des Landes gehörte. Michael wusste früh, auf wessen Seite er sich in diesen unübersichtlichen Zeiten zu schlagen hatte. Nicht auf die des Kaisers und des Papstes, die weit entfernt von Würzburg lebten und selbst damit kämpften, ihren eigenen Wirkungskreis zu behaupten, sondern auf die Seite des lokalen Fürsten. Das hatte nichts mit Opportunismus zu tun, sondern mit gesundem Menschenverstand.

In diesem Sinn war er nach Mainz gereist, um für seinen hochverschuldeten Bischof Albrecht einen Kredit bei den örtlichen Geldverleihern aufzunehmen. Die Verhandlungen hatten wider Erwarten nicht lange gedauert. Die Konditionen waren unannehmbar, nach christlichen Maßstäben eigentlich eine Sünde. Zinsen für verliehenes Kapital zu fordern war unsittlich und durch päpstliches Gesetz verboten – mit einer Ausnahme: Juden durften Zinsen verlangen.

Und es gab noch eine weitere Ausnahme: Die Lombarden wickelten entlang des Rheins Geldgeschäfte im großen Stil ab, wozu die ansässigen Geldwechsler nicht in der Lage waren. Sie hielten mit ihrem Geld den Handel am Laufen, selbst Könige wie Edward III. von England standen in ihrer Schuld. Sie hatten unter anderem seinen Krieg mit Frankreich finanziert – allerdings verschluckten sich die beiden Geldhäuser Peruzzi und Bardi an dem vermeintlich großen Fisch. Edward konnte die Kredite nicht zurückzahlen, vielleicht wollte er es auch nicht. Wer würde schon gegen den mächtigen König von England vorgehen können?

Nun, England war nicht Würzburg, wobei die Summe, um die es hier ging, nicht unerheblich war. Sie hätte ausgereicht, um ein über beide Ohren verschuldetes Fürstentum für die nächste Zeit über Wasser zu halten.

Michael schaute sich um, unschlüssig, ob er nicht beim Bischof von Mainz vorstellig werden sollte, um diese lombardische Verbrecherbande in den Kerker werfen zu lassen. Aber das war eine schlechte Idee. Mit dem Mainzer Erzbischof Gerhard war sein Vater Conrad in Rechtsstreitigkeiten verwickelt gewesen. Die waren zwar inzwischen beigelegt und der Bischof ein anderer, doch die Erinnerung an den untreuen Conrad lebte fort. Es war besser, an dieser alten Wunde nicht zu kratzen.

«Wohin jetzt?», fragte sein Diener Berthold, unschlüssig, ob er dem Kutscher Bescheid geben sollte, die Rückfahrt nach Würzburg vorzubereiten.

Michael zögerte. Es gab da natürlich noch eine Option – die Juden drüben in der Schustergasse und am Flachsmarkt. Die wären hocherfreut, dem einflussreichen Bischof von Würzburg aus der Bredouille zu helfen. Gerade jetzt, wo an allen Ecken und Enden des Reichs die Feuer loderten und man händeringend nach Schutzherren Ausschau hielt. Da wäre der Zinssatz kein Thema, denn die Lombarden arbeiteten sich von Norden her Stadt um Stadt nach Süden vor, um das gesamte Geldgeschäft in ihre Hand zu bringen.

Aber mit Juden machte Michael keine Geschäfte. Niemals. Sie waren der Anfang vom Ende. Außerdem hätte er das ehemalige Haus seiner Eltern passieren müssen. Eigentlich keine große Sache, aber der Schmerz um das verlorene Eigentum war noch immer präsent, selbst bei ihm, dem Zweitgeborenen, der ohnehin keinen Anspruch auf die Besitztümer gehabt hatte. Zudem hätte man ihn als einen de Leone erkennen können. Das wollte er nicht. Der Ruf der Familie war ihm heilig.

Die Entscheidung um das weitere Vorgehen traf letztlich nicht er, sondern eine Marktfrau an ihrem Gemüsestand, deren Gezeter seine Aufmerksamkeit anzog. Zwischen den Bretterbuden, inmitten von verrottenden Abfällen, stand ein Mädchen mit zerzausten Haaren. Sie starrte ins Nichts, mit einer eiternden Wunde, wo einst eine kleine Hand gewesen war. Ihre Mutter war nicht zu sehen, die sie vor den schwerbeladenen Ochsenkarren hätte bewahren können, die auf dem gefrorenen Matsch von einer Fahrrille in die andere rutschten und keinen Deut auf das kleine Hindernis achteten.

Das Entsetzen war der alten Marktfrau ins Gesicht geschrieben, als sie die verdächtigen, dunklen Blasen am Arm des Mädchens sah.

«Verschwinde. Los, geh weg.»

Sie wagte es nicht, dem Kind näher als eine Armlänge zu kommen.

Die Kleine reagierte nicht, guckte weiter geradeaus, schien mehr tot als lebendig.

Der Alten platzte der Kragen. Sie nahm einen Reisigbesen und bugsierte sie unsanft davon, mit dem Ergebnis, dass die Kleine stürzte. Blut vermischte sich mit dem Dreck der Straße. Ein verdächtiges Krankheitsbild.

Die Alte schrie: «Die Pest! Mein Gott, sie hat die Pest!»

Im Nu stoben die Leute auseinander, hielten sich die Armbeugen vor Mund und Nase, stürzten übereinander, wenige blieben stehen und schauten, ob die Alte wirklich wusste, wovon sie da sprach. Einzig die Ratten scherten sich nicht darum. Sie hatten den verlockenden Moder achtlos weggeworfener Schweinsdärme in der Nase und strebten mit erstaunlicher Gewandtheit zwischen all den aufgeregten Beinen, ratternden Rädern und vergifteten Ködern hindurch.

Auf die Entfernung hin konnte Michael nicht sagen, ob das Mädchen tatsächlich die verräterischen Merkmale der Pest aufwies. Zweifel waren jedoch angebracht. Bislang war kein einziger Fall aus Mainz oder dem Umland berichtet worden. Die Chancen standen also gut, dass dieses jämmerliche Ding Opfer einer nichtsnutzigen und panischen Vettel war.

«Geh und schau, was da los ist», befahl Michael seinem Diener.

Der war alles andere als begeistert.

«Aber, Herr, habt Ihr nicht gehört? Dieser kleine Teufel hat die Pest.»

«Ich sehe nur ein bedauernswertes, von seinen Eltern verlassenes Kind. Unsere Gnaden wird wissen wollen, ob vor seiner Haustür das Ende der Welt angebrochen ist. Und nun geh endlich.»

Widerwillig machte sich Berthold auf den Weg. In kleinen Schritten tastete er sich vor. Die Schaulustigen bildeten eine Gasse. In ihrem Kreis harrte das kleine Ding auf Rettung, auf eine Mutter oder einen Vater, der es auf den Arm nahm und mit ihm diesen Ort verließ. Doch da kam niemand, der sich für das kleine Leben interessierte, nur Berthold, der einen Zweig vom Boden nahm und das junge Ding anstupste. Die Kleine ließ es geschehen, kommentarlos, regungslos, verloren. Ein Murren ging durch die Reihen, einige schlugen das Kreuzzeichen.

Unbeeindruckt von dem Vorfall an den Marktständen, kam ein junger Mann um die Ecke. Er trug für die Jahreszeit auffallend dünne Beinkleider, auch das geflickte Wams hätte eher in den Frühling gepasst als zu diesem klammen Februartag. Seine halblangen, schwarzen Haare hingen ihm auf der einen Seite bis zum Hals, auf der anderen bedeckten sie nicht einmal das Ohr. Das eigentlich hübsche Gesicht war ebenmäßig, der Blick ausdrucksstark und die Nase ein wenig verspielt. Allerdings schien er in eine Prügelei geraten zu sein, die ihm ein blaues Auge eingebracht hatte, auch eine aufgesprungene Lippe.

Trotz allem besaß er eine eigenwillige Eleganz, wie sie Michael seit seinen Studienjahren in Italien nicht mehr gesehen hatte. Damals, vor mehr als zwanzig Jahren in Bologna, wo er Rechtswissenschaften, die Notariatskunst und auch ein wenig Medizin studiert hatte, hatte es sie zuhauf gegeben, diese lebensfrohen Sprösslinge adliger Abstammung, die keinen Gedanken an die Zukunft verschwendeten und das süße italienische Leben in vollen Zügen genossen. Auch er war mal einer von ihnen gewesen, ein sorgloser Patriziersohn mit einem gut gefüllten Säckel und der Sorglosigkeit einer vorbestimmten Karriere in Diensten eines mächtigen Herrn.

Der Jüngling widmete dem Geschehen nur einen kurzen Blick. Viel mehr war er an den Booten und Schiffen interessiert, die am Ufer ihre Ladungen löschten. Er fragte die Schiffsführer reihum, erhielt aber jedes Mal ein Kopfschütteln.

Irgendetwas war an ihm, das Michaels Aufmerksamkeit fesselte. War es seine eigenwillige, fast schon weibische Erscheinung, oder war es sein unerschütterlicher Mut, sich von Zurückweisungen nicht aufhalten zu lassen? Er konnte es nicht benennen.

«Mir scheint, niemand will Euch rechte Auskunft geben. Kann ich helfen?»

Die direkte Ansprache brachte den Jüngling in Verlegenheit. Er errötete.

«Habt Dank, edler Herr, ich suche eine Reisemöglichkeit.»

«Wo wollt Ihr hin?»

«Mainaufwärts, in die Stadt Würzburg.»

Michael schmunzelte.

«Was führt Euch dorthin?»

«Ein Onkel lebt dort.»

«Sagt, wie heißt er? Vielleicht kenne ich ihn.»

Allzu neugierige Fragen schmeckten dem jungen Mann wohl nicht. Er wechselte die Tonart.

«Er ist nicht von Eurem Stand.»

Michael schaute an sich hinunter. Der mit Pelz besetzte Mantel, die gefütterten Handschuhe aus feinem Hirschleder und die dunkelbraunen rindsledernen Schuhe waren tatsächlich etwas anderes als das abgetragene Wams und die löchrigen Filzstiefel dieses Handwerksburschen.

«Da mögt Ihr recht haben», erwiderte Michael. «Wenn Ihr wollt, kann ich Euch mitnehmen. Zuvor habe ich aber noch Geschäfte zu erledigen. Wenn Ihr Euch ein wenig geduldet …»

Irgendwie schien dem Jüngling das nicht recht zu sein, denn er blickte hinüber zu den Marktständen, wo die Stimmen lauter und unversöhnlicher wurden. Das Kind weinte, stand hilflos und ausgeliefert der Menge gegenüber. Es würde nicht mehr lange dauern, bis …

«Verzeiht, Herr.»

Er hielt geradewegs auf Berthold zu, der dem Mädchen noch immer nicht näher als eine Stocklänge gekommen war. Die ersten Stimmen forderten, die elende Pestbeule auf direktem Weg in den Rhein zu werfen. Sollten sich die Wasserratten an ihr gütlich tun. Den Fischern war das hingegen nicht recht, sie schlugen eine andere Lösung vor.

«Schlagt sie tot! Verbrennt sie!»

Der Jüngling ließ sich von dem Aufruhr nicht beeindrucken. Energisch ging er dazwischen.

«Habt Ihr den Verstand verloren?! Das ist ein Kind.»

Er kniete sich vor ihm nieder und legte die Hand auf seine Wange.

«Sag, wo sind deine Eltern?»

Die Kleine antwortete nicht.

Dann nahm er den Arm mit der abgeschlagenen Hand, begutachtete die eiternde Wunde.

«Was ist mit deiner Hand geschehen?»

Michael beobachtete aufmerksam, wie unerschrocken dieser junge Mann christliche Nächstenliebe praktizierte, während das räudige Volk, und auch sein Diener Berthold, der Abend für Abend zur heiligen Mutter Maria betete, dieser verlorenen Seele keine Barmherzigkeit zuteilwerden ließ.

Er sah ihn das Kind hochnehmen und durch den Matsch auf ihn zugehen.

«Ich nehme Euer Angebot dankend an. Lasst uns fahren.»

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4

Das Mädchen hätte die holprige Fahrt in der Kutsche sicherlich nicht überlebt. Nachdem Michael den ersten Schreck überwunden hatte, plötzlich mit einem zweifelhaft infizierten Kind in einer engen Kutsche konfrontiert zu sein, befahl er dem Kutscher, ins nahegelegene Altmünster-Kloster zu fahren, das vor über sechshundert Jahren von der aus Würzburg stammenden Bilihild gegründet worden war. Die kräuterkundigen Ordensfrauen würden sich gut um das arme Kind kümmern, dessen war er sich sicher, und nachdem auch Johan – so hatte sich der Jüngling ihm inzwischen vorgestellt – davon überzeugt war, brachen sie die lange Reise nach Würzburg endlich an.

Dieser vornehme und gebildete Herr, der sich ihr als Michael de Leone vorstellte, war auffallend interessiert an ihr, nein, an Johan natürlich, der seinen Onkel in Würzburg besuchen wollte. Jaelle musste die Scharade vom jungen Handwerksburschen aufrechterhalten, solange sie in seiner Kutsche saß.

«Nun sag schon», fragte Leone, «wer ist dein Onkel? Vielleicht kenne ich ihn.»

Jaelle tat es mit einem verlegenen Lächeln ab, senkte die Stimme.

«Ihr kennt ihn nicht, edler Herr. Glaubt mir, er ist ein einfacher und stiller Mann, der kein Aufheben um seine Person macht.»

Sie zog das weitgeschnittene Wams zurecht und auch die Gugel, eine Kapuze mit Schulterteil, damit sein neugieriger Blick ihr Geheimnis nicht lüften konnte. Der Schmutz, den sie seit der Schiffsfahrt im Gesicht trug, sollte das Übrige tun.

«Ist dir kalt?», fragte er.

«Ein wenig, ja.»

Er reichte ihr eine Decke.

«Halte dich damit warm.»

Jaelle wickelte sich ein, nicht allein der Tarnung wegen, es war kalt, und der Wind kroch durch die Ritzen.

«Wo bist du zu Hause?»

Dieser seltsame Mann ließ nicht locker. Er war ihr unheimlich mit seinen neugierigen Fragen.

«Am Rhein, Herr. In Kehl.»

Der Ort sollte unverfänglich sein, außerdem kannte sie sich dort aus.

«Gleich gegenüber von Straßburg», sagte er, noch immer auf eine kurzweilige Konversation aus, «eine schöne und reiche Stadt.»

Sie nickte, zwang sich ein Lächeln ab. Verfluchtes Straßburg.

«Dabei kommst du mir gar nicht so gewöhnlich vor …»

Sie blickte auf.

«Was meint Ihr, Herr?»

«Für einen Handwerksburschen hast du erstaunlich feine Hände.»

Als Bäckerlehrling hatte sie sich ausgegeben, spontan, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Von Batya, der Bäckersfrau, wusste sie ja einiges, sie hatte ihr geholfen, die Listen zu führen, auf denen festgehalten wurde, von wem sie Mehl gekauft und wie viel Brot sie am Ende des Tages verkauft hatten. Verträge hatte sie aufgesetzt, Bittschreiben an den Gemeindevorsteher erstellt, um ein Darlehen für den Ausbau der Backstube zu erhalten …

«Lasst Euch davon nicht täuschen», antwortete sie, «ich bin geschickt, besonders mit dem süßen Gebäck.» Und sollte ihn das nicht restlos überzeugen, dann dies: «Außerdem führe ich die Bücher.»

«Du kannst rechnen?»

«Sicher.»

«Und auch schreiben?»

«Ja, Herr.»

Michael richtete sich auf.

«Zeig mir deine Hände.»

Sie erschrak. «Was wollt Ihr?»

«Deine Hände sehen.»

«Warum?»

«Weil ich es nicht glauben kann.»

Er wies auf ihre Kleidung, das schmutzige Gesicht und die Wunden an Mund und Augen, die sie wenig ansehnlich machten. Eigentlich sah sie aus, als wäre sie in eine Keilerei verwickelt gewesen – was ja auch irgendwie zutraf. «Du musst dich nicht schämen. Auch ich bin aus manchem Zwist als Verlierer hervorgegangen.»

So hielt sie ihm zögernd die Hände hin. Er nahm sie, kehrte sie um und betrachtete sie.

«Wahrlich, diese Hände sind für alles andere gemacht, nur nicht fürs Säckeschleppen. Und schlagen solltest du dich damit auch nicht.»

Sie zog sie wieder zurück, schaute zum Fenster hinaus.

«Wo Stolz ist, da ist auch Schmach», sagte er.

Das war ein Vers aus den Sprüchen Salomos … Wer war dieser Mann?

Die Reise in der Kutsche war anstrengend, ein Schiff zu nehmen wäre die bessere Entscheidung gewesen. Aber so erfuhr sie auch einiges über die Stadt, in die sie Itzhak geschickt hatte.

Lange war das Bistum eines der größten und reichsten im ganzen Land. Barbarossa, der Rotbart, heiratete hier und wählte Würzburg zu seiner Kaiserstadt, zumindest eine Zeitlang.

Der Wein war das Gold der Stadt. Er wurde nach Thüringen und Sachsen, gar bis nach England geliefert, wo er seinen berühmten Konkurrenten, den Elsässer, ausstach.

Doch seit einigen Jahren ging es bergab mit der Stadt, obwohl viel Geld im Umlauf war. Die Bürger widersetzten sich zunehmend der Bevormundung durch den Bischof. Sie hatten versucht, seine Burg zu stürmen, waren aber blutig gescheitert. Seitdem herrschte Unfrieden in der Stadt, und jeder, der sich nicht für die eine oder andere Seite entschied, war verdächtig.

 

Die Fahrt ging über die kaiserliche Krönungsstadt Frankfurt, durch das neu befestigte Aschaffenburg, geradewegs in den dunklen und furchteinflößenden Spessart hinein, wo man jeden Moment damit rechnen musste, von einer Horde ausgehungerter Wegelagerer ausgeraubt zu werden, bis sich die Wälder endlich lichteten und sie auf das liebliche Maintal mit dem herrschaftlichen Würzburg blickten, an dessen Ufer das mächtige Burgschloss von Albrecht von Hohenlohe über die gut befestigte Stadt zu ihren Füßen wachte.

Laut Leones Schätzung sollten sich zwischen sieben- und achttausend Menschen in ihr aufhalten, der Handel und das Handwerk blühten, die studierte Geistlichkeit von Neumünster und des Doms genoss hohes Ansehen, unter anderem für ihre ausgezeichneten Schreibschulen, und auch sonst sei in der Stadt zurzeit alles friedlich – was bei dem seit Jahren andauernden Streit zwischen Bischof und der nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung strebenden Bürgerschaft nicht selbstverständlich war. Dieser Frieden sei nur ein Waffenstillstand und würde sich bei nächster Gelegenheit neu beweisen müssen.

«Und wie geht man mit den Juden um?»

Die Frage brannte Jaelle auf den Nägeln. Lebten sie in Frieden, oder mussten sie die Verfolgung fürchten?

Leone antwortete nicht darauf. Er wich aus, sprach stattdessen von Bologna, wo er die glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht hatte, von seinem geliebten Neffen Jacob und dessen frisch angetrauter Anna, seinem Heim, dem fürstlichen Löwenhof, den das junge Brautpaar alsbald erben sollte, und von tausend Dingen mehr, die sie nicht interessierten.

Was war mit den Juden?

Ja, es gab welche, gestand er schließlich ein. Inmitten der Stadt lebten sie, an einem Sumpf, den sie inzwischen trockengelegt hatten. Zwei Synagogen nannten sie ihr Eigen und eine berühmte Talmudschule, deren beste Zeit allerdings vorüber war. Die Bürger von Würzburg lebten mit ihnen mehr schlecht als recht zusammen, man traue den Juden nicht, und der im Reich aufkommende Vorwurf der Brunnenvergiftung mache das angespannte Verhältnis auch nicht leichter. Sie seien ein Dorn im Fleisch.

Wurden sie verfolgt?

Leone verneinte, hustete, und das nicht zum ersten Mal. Seit sie in Mainz in die Kutsche gestiegen waren, plagte ihn ein Hustenreiz, der nicht allein von einer akuten Erkältung zu stammen schien. Die Krankheit saß tiefer.

«Würzburg!», rief der Diener vom Kutschbock herunter.

Die Kutsche passierte das Tor, ohne von den Wachen aufgehalten zu werden. Im Vorbeifahren sah Jaelle in ihre Augen, wie sie neugierig, aber mit Respekt zu erkennen suchten, wer sich in der Kutsche befand. Leone nickte ihnen wohlwollend zu. Der Weg ging bergab, wurde holprig, und der Geruch von gebratenem Fisch wehte herein.

«Bist du hungrig?», fragte Leone.

Sie schüttelte den Kopf. Natürlich war sie hungrig, aber das hatte ihn nicht zu interessieren. Zuvor musste sie aus dieser Kutsche raus und sich auf die Suche nach ihrer unbekannten Verwandtschaft begeben.

Das Pergament mit der Ahnenreihe war verlorengegangen. So blieb nur, die Brüder und Schwestern zu finden und sie nach den Verwandten von Itzhak aus Straßburg zu fragen. Einen Rabbi oder einen Schriftgelehrten, der das Gedenken an die Verstorbenen ähnlich hochhielt, wie Itzhak es getan hatte, würde es in dieser Stadt sicherlich geben. Schließlich hatten sie zwei Synagogen und eine Schule, eine Jeschiwa, wie es im Jüdischen hieß.

Vornehme Handwerkshäuser zogen an ihr vorbei, auf der Straße hin zum mächtigen Dom wurde gehandelt und gefeilscht, wie sie es in Straßburg nicht besser taten. Sie passierten eine weitere Kirche, aus der Gelehrte mit Schriftrollen unter dem Arm kamen, die in einem Haus mit bischöflichem Wappen verschwanden, bis sie einen herrschaftlichen Hof erreichten, an dessen Fassade eine prächtige Löwenfigur mit einem Jungtier zu ihren Füßen angebracht war.

«Wir sind da», sagte Leone.

Berthold öffnete die Kutschtür, Diener eilten herbei, um ihrem Herrn zu Befehl zu sein.

«Richtet ein Mahl her, wir haben einen Gast.»

«Habt Dank, Herr, für Euer Angebot, aber ich will meinen Onkel nicht länger warten lassen. Er macht sich bestimmt Sorgen.»

«Schade», antwortete er enttäuscht, «aber wenn du es dir anders überlegst …»

Er zeigte auf das herrschaftliche Haus und verschwand dann im großen Eingangstor. Zurück blieb Jaelle, unsicher, ob sie der Aufforderung doch folgen sollte. Es war spät und kalt, und sie war hungrig, erschöpft und müde. Sie hatte es drei Tage an seiner Seite ausgehalten, eine Stunde länger würde ihr nicht schaden.

«Nun komm schon, Bursche», forderte Berthold sie unmissverständlich auf, «er wird dir den Kopf schon nicht abreißen.»

Er schob sie durchs Tor. Dahinter öffnete sich ein Garten mit einem Brunnen. Eine Handvoll Kinder spielten Moberle. Dabei musste ein kurzes Stöckchen vom Rand des Brunnens so weit wie möglich geschlagen werden. Zwei alte Männer schauten ihnen dabei zu, schickten sich an, den Kindern beizubringen, wie man es besser machte.

«Hier hinauf.»

Berthold ging voran. Vom Erdgeschoss, wo sich offenbar die Stuben der Bediensteten befanden, führte eine Treppe hoch in einen herrschaftlichen Raum mit einem Kamin und einer Reihe kleinerer Fenster, die dennoch viel Licht spendeten. Ein prächtiger Schreibtisch mit einem Berg an Schriftrollen stand unter einem goldglänzenden Gemälde, das einen Mann mit einer Laute und ein Burgfräulein zeigte. Über die lange Seite des Raums erstreckte sich ein Regal, vom Boden bis zur Decke, aus dunklem, aber fein gearbeitetem Holz, darin Schriftrolle an Schriftrolle, schwere Folianten, daneben Siegelstempel, Urkunden, unbeschriebene Pergamentbögen, Federkiele und dergleichen mehr.

Um den Kamin gruppierten sich gepolsterte Scherenstühle, davor ein kleiner Tisch mit Verzierungen, auf dem eine Karaffe mit bunten Gläsern stand. Der Boden war bedeckt mit Teppichen, wie Jaelle sie bisher nur bei Rabbi Menachem und dem reichen Kaufmann Jaakov gesehen hatte, mit ausschweifenden Ornamenten, goldenen Fäden und edler Seide.

Dieser Raum war wahrlich eines Herrschers würdig. König Salomo und auch der alte Itzhak wären beim Anblick der vielen Schriftrollen vermutlich vor Verzückung auf die Knie gesunken. Wo war sie da nur reingeraten?

Während Berthold sich auf direktem Weg zum Kamin begab und Feuer machte, streifte Leone Mantel, Handschuhe und Mütze ab.

«Habt Dank für Eure Einladung», sagte Jaelle, «ich will Euch aber keine Umstände machen.»

«Unsinn», erwiderte er und gab der Magd, die an der Tür stand, ein Zeichen, zwei Gedecke aufzutragen.

Neben ihr stand ein Mann mit zerfurchtem Gesicht, hager, fast schon spitz, oberhalb der Stirnglatze graues Haar, mit einer gebogenen Nase und dünnen, in den Winkeln herabhängenden Lippen. Seine buschigen Augenbrauen hätten ihn ein wenig freundlicher wirken lassen, wenn sich darunter nicht dunkle Höhlen befunden hätten, aus denen sie zwei misstrauische Augen aufs Korn nahmen.

«Gyselher», sprach Leone ihn an, «die Abschrift ist fertig geworden?»

Der Grimm kam näher, reichte ihm die Schriftrolle.

«Ja, Herr. Gerade noch.»

Seine Augen blieben aber an Jaelle haften.

«Was meinst du damit?»

«Das Fieber geht um. Bonifatius, Reinherr und drei andere Schreiber liegen krank zu Bett. In den nächsten Tagen ist nicht mit ihnen zu rechnen.»

Leone verkniff sich einen Kommentar. Er stöberte zwischen den Schriftrollen nach etwas, das Jaelle als ein Paar Lesegläser erkannte, die in ein vergoldetes Gestell eingearbeitet waren. Mit der Schriftrolle in der Hand ging er hinüber zum Fenster, hielt sie ins Licht und ging mit den Lesegläsern vor den Augen Zeile für Zeile nach möglichen Fehlern durch.

«Ich habe nach einem Arzt schicken lassen», fuhr Gyselher fort. «Er kocht Heilkräuter für die anderen auf, die noch nicht erkrankt sind.»

«Gut.»

Das sagte er nur nebenbei, seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich dem Pergament, und das Ergebnis war alles andere als zufriedenstellend. Er ließ das Schriftstück nach wenigen Zeilen zu Boden gleiten, als sei es auf den Schlag wertlos geworden.

«Reinherrs zittrige Hand ist nicht mehr zu übersehen, beim besten Willen nicht. Und Bonifatius», er seufzte, «wird auch nicht jünger. Wir brauchen dringend Ersatz.»

Gyselher nickte leicht, so, als hätte er es schon längst gewusst.

«Geh hinüber ins Neumünster und schau, welche Fortschritte die Schüler machen. Aber nimm nur die Besten.»

Gyselher bewegte sich kein bisschen.

«Ist bereits geschehen, Herr. Wer nicht bettlägrig ist, den habe ich zur Arbeit herangezogen. Dennoch: Sie ruinieren selbst das feinste Pergament mit ihren tropfenden Rotznasen.»