Die letzte Nacht - Matthias Kehle - E-Book

Die letzte Nacht E-Book

Matthias Kehle

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Beschreibung

Die meist knappen Texte des mehrfach ausgezeichneten Karlsruher Schriftstellers Matthias Kehle

Das E-Book Die letzte Nacht wird angeboten von Lindemanns und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Karlsruhe, Kunst, Alpineast, Erfahrungen, Erinnerung

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Matthias Kehle

Die letzte Nacht

Erzählungen

Türkische Musik

„Wenn du Hundefleisch gegessen hast, machen Köter einen Bogen um dich“, erzählt mein Onkel Willi, „und zwar wochenlang.“

Ich sehe ihn vor mir, wie er mit seinem gewaltigen Bauch quer über die Wiese des Freibads lief, ihn nach oben hob und wieder nach unten fallen ließ. Er machte einen Schritt, lüpfte die Kugel mit Muskelkraft zehn, zwanzig Zentimeter in seinem Körper hoch, und beim nächsten Schritt plumpste sie wieder nach unten.

„Das gab eine gute Suppe“, erzählt er weiter von der Kriegsgefangenschaft. Wilhelm war in Straßburg in einem Lazarett untergebracht, in einem Hilfscorps, einer Arbeitsmannschaft für die französische Armee. „Wir haben eine Weile für eine Ärztin malocht, haben ihr Quartier sauber gemacht, den Boden geschrubbt und die Klamotten gewaschen.“

Die Kinder im Schwimmbad starrten meinem Onkel auf den überdimensionierten Ranzen. Er habe einen Fußball verschluckt, verkündete er einem Fünfjährigen mit blauer Plastikschaufel in der Hand. Der erschreckte sich vor dem hüpfenden Monstrum und fing an zu weinen.

„Die alte Schachtel hatte einen Hund. Aber nicht lange. Es war ein schöner Spitz, der vielleicht zwanzig Kilo auf die Waage brachte. Mensch, bis das Vieh hinüber war!“, lacht Onkel Willi, „mit einem Prügel haben wir auf ihn eingedroschen, und gejault hat der!“

Es sei alles dagewesen, erzählt Wilhelm, Not habe keine geherrscht. In der Kaserne gab es ein Lagergebäude, in dem sie sich bedienen konnten. „Für Kriegsgefangene gibt es keine Schlösser.“ Sogar ein Radio hatten sie, obwohl die Franzosen allen die Rundfunkgeräte abgenommen hatten. „Die meisten Radios im Lager funktionierten nicht, aber die besten standen bei uns im Quartier. Einer ist immer Elektriker.“ Was fehlte, besorgten sie sich. Wer einen Draht organisieren könne und ein wenig clever sei, bekomme jedes Schloss geknackt. „Ein Schneider ist auch immer dabei. Eines Tages hat die ganze Mannschaft weiße Hemden getragen aus Betttüchern des Städtischen Krankenhauses in Karlsruhe. Der Schneider hat Schnittmuster gezeichnet, die restlichen Gefangenen haben wie die Weltmeister genäht.“

Wie er den kleinen Jungen wieder beruhigte, war sein Geheimnis. Ich konnte ihn von meinem Liegeplatz aus nicht verstehen. Mit einem Mal stand der Junge da und lachte meinem Onkel ins Gesicht. Meine Mutter wühlte in ihrer Tasche und suchte die orangefarbenen Schwimmflügel, während ich an einer der Gummiblüten ihrer Bademütze zog, um sie abzulösen.

„Für einen Hund brauchst du nichts, außer einem Kochtopf, und den kann man auch organisieren“, sagt mein Onkel und erzählt von den Kitteln der Gefangenen, an denen ein Haken angenäht war. Daran hing der Fressnapf, eine billige Blechbüchse, ein Fünflitereimerchen, befestigt mit einem Draht. „Darin hast du gekocht, darin hast du gewaschen.“

Wilhelms Bauch schwebte in Kopfhöhe des Jungen. Dem lief der Rotz, aber er lachte. Wenn Wilhelm über die Wiese stolzierte, sein Fußballbauch auf- und abhüpfte, musste er alle zwanzig Schritte eine Pause einlegen, um sich die Badehose wieder nach oben zu ziehen. Mein Vater kam vom Schwimmbecken zurück und ließ sich von meiner Mutter eine trockene Badehose geben. Er verschwand in der Umkleidekabine, die mitten auf der Wiese stand, eine kreisrunde spanische Wand aus schwerem Tuch, nach oben hin geschlossen, von Vaters Beinen sah man die unteren zwanzig Zentimeter. Er kam zurück und warf die nasse Badehose zum Trocknen auf den Sonnenschirm.

„Eigentlich war es ein Lazarett für Geschlechtskranke“, erinnert sich Wilhelm, „teilweise umfunktioniert zu einem Armeeverpflegungslager.“ Weil deutsche Gefangene nicht über den Rhein durften, war Willi mit seinen Kameraden an die Französische Armee und an das Krankenhaus übergeben worden. Im April Fünfundvierzig, einen Monat vor Kriegsende, wurden sie noch erwischt.

Ich ging gerne mit meinem Onkel Willi schwimmen. Wenn beide Familien im Schwimmbad waren, durften nie alle gemeinsam ins Wasser. Mindestens einer musste auf die Sachen aufpassen, auf die Kühltaschen, den Sonnenschirm und die Handtücher, die unseren Liegeplatz markierten. „Wertvoll ist ja nichts, nicht mal die Armbanduhren“, sagte meine Mutter, „aber wenn etwas wegkommt, ist es ärgerlich. Der Teufel ist ein Eichhörnchen.“

„Die haben alle türkische Musik am Frack gehabt, die Kerle“, erzählt Onkel Willi weiter, „Tripper, Schanker, Syphillis, das Gießkännchen verbogen. Mit türkischer Musik bist du scharf wie eine Rasierklinge, und einige sind nachts immer in die Stadt abgehauen. Obwohl die Kaserne von einer Mauer umgeben und diese mit Stacheldraht gesichert war.“ Wenn der Wachmann mit seiner MP vorne war, konnte man hinten raus, vorausgesetzt, man war schnell genug.

Willi packte seine weiße Gummibademütze mit dem breiten schwarzen Streifen in der Mitte, ich sprang auf, folgte ihm, und sogleich rollte der Fußball in die Höhe, plumpste nach unten, hob sich erneut und stürzte wieder ab, bis Willi kurz stehenblieb, um die braune Hose mit ihrem orangefarbenen Muster hochzuziehen.

„Ein paar Tage später standen die Mütter mit ihren Töchtern auf dem Kasernenhof, tausend Kranke mussten vor ihnen antreten, bis es hieß: Der war’s! Der Täter bekam erst eine Tracht Prügel, anschließend dreißig Tage Einzelhaft. Zum Fressen gab’s Runkelrüben mit Salzwasser.“

Auf dem Weg zum Schwimmbecken schaute mein Onkel den Frauen nach. „Du darfst nicht nach ihnen pfeifen so wie die Italiener“, sagte er, „das mögen nicht mal die hässlichsten Frauen.“ Ich sollte es mir unbedingt merken, bis ich groß sei.

Weil ich nicht gerne über den heißen Asphaltweg ging, der am Kinderspielplatz begann und bis zum Wasserbecken führte, hob mich mein Onkel auf seine Schultern. „Ich kenne jemand, der so groß ist, dass er dir jetzt auf den Kopf spucken könnte,“ sagte er. Ich hoffte, nie so groß zu werden, denn wenn ich ein solcher Riese wäre, würde ich die Geldstücke auf der Straße nicht mehr sehen. Ich sammelte sie in einer speziellen Spardose, in der ich nur meine Fundstücke verwahrte. Mit diesem Geld wollte ich mir einmal etwas Besonderes kaufen, den Plüschhasen im Spielwarenladen vielleicht, der 37 Mark kostete. Als ich Onkel Willi davon erzählte, während ich auf seinen Schultern saß, meinte er, ich könnte ja eine rote Binse kaufen. Ich schwieg.

Ob ich überhaupt wisse, was das sei? Es sei nämlich etwas Ähnliches wie Horbelen. Weil ich wusste, dass mein Onkel die unsinnigsten Sachen erfand und er außerdem einmal zu meiner Mutter gesagt hatte, sie sei eine rote Binse, antwortete ich ihm nicht. „Wenn du weiterhin so still bist“, sagte er kurz vor dem Becken, „dann muss ich deiner Mutter Meldung machen, dass du krank bist.“

Einmal ging Wilhelm während seiner Kriegsgefangenschaft mit zwei Kumpels baden.

„Ab durch das Hintergelände der Kaserne und an den Stallungen vorbei, rein in die Ill,“ erinnert er sich. „Von der medizinischen Abteilung haben wir uns ein Suspensorium besorgt.“

Detailreich beschrieb mein Onkel eine Art gehäkelter Unterhose, die sehr stramm anliegt, um die männlichen Geschlechtsteile fest zu umschließen.

„Wenn du türkische Musik hast und alles hängt herunter, tut das nämlich höllisch weh.“

Dummerweise, so erzählt Onkel Wilhelm, sah man damit aus wie eine Madonna durchs Wasser gezogen. Und dummerweise fehlten beim Appell drei Mann. Die Wachmannschaft bestand auch dummerweise aus Marokkanern, die sehr schnell wussten, wo die Kameraden sich vergnügten. „Komm, komm Kamerad, haben sie gerufen und uns aus der Ill gescheucht, und zwar nicht hinten rein in die Kaserne, sondern die ganze Straße lang. Der Käpt’n stand da und hat sich den Bauch gehalten.“

Wir standen am Beckenrand für die Erwachsenen, ich wollte weiter zum Kinderbecken.

„Heute gehst du mit mir da rein!“, sagte mein Onkel.

Ich brüllte, schrie und fuchtelte, ich zuckte mit den Beinen, doch Onkel Willi verklemmte meine Füße fest unter seine Arme. „Nein“, schrie ich und zog das „i“ so laut ich konnte in die Länge, ich fühlte, wie mein Herz raste und mein Kopf heiß wurde.

„In deinem Alter muss man schwimmen lernen“, sagte er, schnappte sich plötzlich meine dünnen Arme, lüpfte mich vor seine Beine, stellte mich direkt an den Beckenrand und hob mich wieder nach oben.

Ich zappelte, brachte ihn dabei aber nur wenig ins Schwanken. Er setzte mich wieder ab und hob mich erneut in die Luft, dreimal, viermal, fünfmal, bevor er mich langsam ins Wasser senkte.

Er ließ mich los, und obwohl ich Angst hatte, sofort zu versinken, Wasser in meine Nase und meinen Hals zu bekommen, kriegte ich den Beckenrand zu fassen. Ich war erleichtert und atmete schnell, als mein Onkel direkt neben mir ins Wasser sprang. Die Druckwelle, die sein Bauch auslöste, riss mich vom Beckenrand.

Französische Kriegsgefangene brachten immer Eheringe mit, egal ob sie verheiratet waren oder nicht. Mein Onkel doziert: „Der 22er-Franc hatte nämlich einen hohen Goldanteil, und nachdem die deutschen Gefangenen frei gelassen waren, gab es in ganz Frankreich keine mehr. Du erhitzt die Münze, legst sie auf einen Stein, in dem ein Loch ist und treibst sie, bis ein Hütchen daraus geworden ist. Anschließend stumpfst du sie wieder, damit sie dicker wird, sägst und polierst sie, fertig.“

Ich ging nicht unter, denn ich ruderte mit den Armen, wie ich es bei den Erwachsenen gesehen hatte. Onkel Willi blieb unter der Wasseroberfläche verschwunden. Ich patschte in Richtung Beckenrand. Er war nirgends zu sehen. Ich zählte einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig und glaubte fast, dass er tatsächlich einen Fußball verschluckt hatte, nun die Luft aufbrauchte und nachher als schlanker Mann delfinartig über die Wasseroberfläche hinausschießen und losprusten würde. Ich hangelte mich am Beckenrand entlang, bis zu den Sprossen, um aus dem Wasser zu steigen. Gerade als ich nach der Stange greifen wollte, katapultierte Onkel Willi direkt hinter mir nach oben und packte mich an beiden Armen. Er atmete schwer und schnell, als Erstes sah ich seinen Fußballbauch.

Irgendjemand hatte damals nach Kriegsende behauptet, Onkel Willi sei bei der SS gewesen, weshalb er einmal ins Straßburger Stammlager verlegt und zu einem SS-Kommando gebracht worden war. Der Bereich war rot eingezäunt, jeden Morgen wurden die SS-Leute geholt.

„Aufräumkommando, Munition aus dem ganzen Elsass. Jeden Tag kamen ein paar weniger zurück“, sagt Wilhelm lakonisch.

In den alten Kasematten – Straßburg war eine Festung – wurde alles Kriegsgut gesammelt, das übrig war, zum Beispiel 115er-Haubitzengranaten. Eine wog 48 Kilogramm, der hintere Teil wurde abgeschraubt. Je hundert Stück wurden in einem Sprengloch gestapelt, das die SS-Leute vorher gegraben hatten. Anschließend platzierte man unter dem Haufen einen Zünder, die Gefangenen verließen das Loch, und das Ganze wurde gesprengt.

„Damit die Granaten besser und gleichmäßiger herunterrutschen, haben die Buben mit Wasser eine Art Rutschbahn gebaut und sie rückwärts heruntergelassen. Und wenn sie den Rappel hatten, ließen sie die Granaten vorwärts rutschen, es waren ja keine Zünder dran. Je nachdem, wie sie unten aufkamen, gingen sie doch los. Die dort unten haben keinen Hunger mehr gehabt. Von denen wurde nichts mehr gefunden.“ Wilhelm sagt, er habe am zweiten Tag Krach gemacht, damit er dort wieder wegkam.

Ich brüllte und hatte Angst.

„Du musst einfach nur die Arme bewegen wie ich auch“, sagte Willi. Er stand auf dem Grund, und plötzlich spürte ich seine Hand unter dem Bauch. Während ich mit den Armen ruderte, bewegte er sich mit mir durchs Wasser. Ich hörte auf zu schreien und konzentrierte mich darauf, mit den Armen und Beinen abwechselnd Schwimmbewegungen zu machen und nicht gleichzeitig, weil man das nicht durfte. Als Onkel Willi mich losließ, zappelte ich in Richtung Sprossen.

„Na also, du kannst schwimmen“, rief er, ohne mir zu folgen. Ich hatte Wasser in den Ohren und hörte ihn nur dumpf. Hastig floh ich aus dem Becken, meine kleinen Füße hinterließen sechs oder acht Abdrücke, die sich auf dem heißen Boden schnell verflüchtigten. Während ich abwechselnd hinter mich blickte und meine Spuren wahrnahm, kontrollierte ich, ob Onkel Willi mir folgte. Er war zwischen den vielen bunten Köpfen im Schwimmbecken verschwunden, doch plötzlich winkte er mir von der gegenüberliegenden Seite zu.

„Im Lager ging es uns blendend,“, erinnert sich Onkel Wilhelm „nachts haben wir im Privatquartier, in einer Scheuer, geschlafen. Irgendwo mussten wir ja nächtigen.“ Ein altes Männchen – mit 57 Jahren als Soldat eingezogen – wurde zu ihnen gesteckt. „Der alte Depp haut nachts aus der Scheuer ab, klaut dem Bauer einen Kittel, eine Mütze und ein paar Schuhe und marschiert los. Am nächsten Morgen fiel auf, dass er verschwunden war, mittags rückten die Franzmänner mit Maschinengewehren aus und abends brachten sie ihn. Zwei Mann hoben ihn zwischen Prellbock und Kuhpuffer. Der hat nicht mehr geschrien.“

Ich schlenderte zu unserem Liegeplatz. Überall roch es nach Sonnenmilch, wie die orangefarbenen Blüten der großen Pflanzen im Treppenhaus, die an Fasching an einem langen Stängel über die Blätter ragten. Meine Eltern und meine Tante bewachten das Gelände. Der Sonnenschirm lag auf dem Boden, mein Vater kam mit einer Bademütze voll Wasser. Er goss es vorsichtig in das Erdloch, in welchem der Schirmständer steckte. Als die Bademütze leer war, nahm er den Ständer, drückte ihn mit all seiner Kraft tief in den Boden und bekam dabei einen roten Kopf. Ich setzte mich auf Onkel Willis Decke. Daneben, auf der Kühlbox, lag seine Armbanduhr. Sie war bestimmt hundert Jahre alt, dachte ich, aber sie schien nicht richtig zu gehen. Ich schaute einige Sekunden aufs Ziffernblatt. Kein Zeiger bewegte sich, und das Datum war auch falsch. Plötzlich stand Onkel Willi neben mir. Er war riesig, ich fühlte mich ertappt. „Das ist die Uhr meines Vaters, also deines Großvaters“, sagte er und warf die nasse Badehose auf den Sonnenschirm. „Als Gustav gestorben war, hat Minna sie ihm abgenommen und jeden Tag frisch aufgezogen.“ Sie sei noch exakt einen Monat weiter gelaufen. Am gleichen Tag, einen Monat nach Großvaters Tod jedoch, sei sie kurz vor Mitternacht stehengeblieben und kein Uhrmacher habe sie jemals wieder reparieren können, kein Fachmann habe je herausgefunden, was kaputt gegangen war.

„Und euer Sohn“, sagte Onkel Willi zu meinen Eltern, „hat heute Schwimmen gelernt.“

Diaabend

Als Zwölfjähriger verliebte ich mich in ein Bild. Genauer gesagt in das Bild eines Mädchens auf einem Dia. Mein Vater besaß eine große Dia-Sammlung, vielleicht zweitausend Stück, auf denen die ganze Familiengeschichte festgehalten war und die an langen Diaabenden diskutiert wurde. Mutter und Vater frisch verlobt in Venedig, am Strand von Jesolo samt Leuchtturm und Segelschiffen, Vaters Geburtstag mit Weinflaschen und Bahlsen-Club-Salzgebäck auf dem Tisch, mein dürrer Großvater mit seinem Hitler-Schnauzbart, wie er vor seinem Geburtshaus in Schaffhausen steht. Das Gebäude sollte kurz darauf abgerissen werden und war schon von Holzstangen umgeben, welche die Abmessungen des neuen Gebäudes, eines Supermarktes, markierten. Das jedenfalls erzählte meine Mutter während eines Diaabends. Bilder von Gräbern alter Tanten, die 1892 oder 1904 geboren worden waren, und dutzende Aufnahmen von meiner Schwester und mir als Baby, im Kindergarten und mit Schultüte. Wie ich mit einem Holzhämmerchen auf Klötze einschlage, wie meine Schwester einen Spielzeugtelefonhörer aus rotem Plastik ans Ohr hält oder wie sie um die Stange des Sonnenschirms tanzt.

Wie alle Kinder wurden wir ungeduldig, wenn mein Vater meine Schwester und mich neben einem blühenden Strauch postierte und uns befahl, bewegungslos zu verharren, worauf er mindestens zwei Minuten lang seine Voigtländer einstellte. Am liebsten waren ihm deshalb jene Fotos, bei denen er mit Stativ und in aller Ruhe arbeiten konnte, wie er bei den Diaabenden sagte, Fotografien etwa von Mutters Wachsblume, Hibiskus oder Gloxinie.

Ich erinnere mich auch, dass er an einem Heiligabend das Stativ vor dem Christbaum aufbaute, die Kamera festschraubte, eine silberne Christbaumkugel anhauchte und gründlich polierte, um anschließend die verzerrte Spiegelung seiner selbst aufzunehmen.