Die letzte Sendung lief um zehn - Günter Wendt - E-Book

Die letzte Sendung lief um zehn E-Book

Günter Wendt

0,0

Beschreibung

Ein Radiomoderator wird während einer Livesendung auf Helgoland ermordet. Hauptkommissar Kollerup übernimmt die Ermittlungen und findet auf der Hochseeinsel ein Geflecht aus Intrigen und Feindschaften vor. Alle Hinweise führen zu einem Hamburger Millionär, der auf der Insel kein Unbekannter ist. Bereits vor zehn Jahren hat er versucht, ein Projekt zu verwirklichen, dass die Insel seitdem spaltet: Hauptinsel und Düne zu verbinden, um auf dem neu gewonnen Land ein Luxusressort zu errichten. Doch hat er wirklich etwas mit dem Mord zu tun?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 258

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Günter Wendt
Die letzte Sendung lief um zehn
Ein Helgoland-Krimi
Nordseeküsten-Krimi

Inhaltsverzeichnis

Die letzte Sendung lief um zehn

Fährschiff »MS Helgoland«, Donnerstag, 11 Uhr

Helgoland-Oberland, Donnerstag, 11:30 Uhr

Flughafen Hamburg-Fuhlsbüttel, Donnerstag, 11 Uhr

Helgoland-Düne, Donnerstag, 12 Uhr

Helgoland-Oberland, Kneipe »Sandlöper«, Donnerstag, 15 Uhr

Helgoland-Unterland, Restaurant im Hotel »Atoll«, Donnerstag, 14 Uhr

Konferenzraum

Helgoland-Oberland, Donnerstag, 16 Uhr

Helgoland-Oberland, Kneipe »Sandlöper«, Donnerstag, 16 Uhr

Helgoland-Oberland, Eingang zur Bunkeranlage, 20 Uhr

Hotel »Atoll«, Donnerstag, 20 Uhr

Helgoland-Oberland, Pension »Knieper«, Freitag, 5 Uhr

Helgoland-Unterland, Börteboot-Anleger, Freitag, 9 Uhr

Helgoland-Oberland, Studiogebäude, Freitag, 11:45 Uhr

Helgoland-Unterland, Börteboot-Anleger, Freitag, 17 Uhr

Helgoland-Oberland, Studiogebäude, Freitag, 22 Uhr

Helgoland-Oberland, Sonnabend, 5 Uhr

Nordsee, Polizeiboot »Sylt«, Sonnabend, 6:30 Uhr

Helgoland, Sonnabend, 8 Uhr

Der Tatort, Sonnabend, 8:30 Uhr

Gartenlatein

Fazit, Sonnabend, 10:30 Uhr

Helgoland-Oberland, Sonnabend, 11:30 Uhr

Polizeistation Helgoland, Sonnabend, 11 Uhr

Faxes Welt, Sonnabend, 13 Uhr

Helgoland-Oberland, Kneipe »Sandlöper«, Sonnabend, 24 Uhr

Der Tag nach dem Mord

Kolles Erfolg

Die Flucht

Kolles Chance

Aha

Jule

Alexander

Letzter Akt, erster Aufzug

Letzter Akt, letzter Aufzug

Nachwort

Personen der Handlung

Danksagung

Impressum

Orientierungsmarken

Inhaltsverzeichnis

Fährschiff »MS Helgoland«, Donnerstag, 11 Uhr

Das Fährschiff »MS Helgoland« schnitt durch das Wasser der ruhigen Nordsee wie ein Messer durch die Sahnehaube einer »Toten Tante«. Auf der Brücke kämpften der Kapitän Hauke Hansen und seine Crew mit der Müdigkeit. Einige spielten »Stein-Schere-Papier«, andere saßen an einem Tisch und vergnügten sich mit »Schiffe versenken«.
Aus den Lautsprechern dudelte seichte Loungemusik. »Highway to Hell«, gesungen von einer rauchigen Frauenstimme, untermalt mit jazzigem Pianogeklimper. Hansen mochte solche Tage. Stahlblauer Himmel, ruhige See und eine Sicht, wie man sie nur selten auf der Nordsee hat. Alles lief automatisch ab. Der Kurs wurde vom Autopiloten überwacht und je nach Wind und Strömung angepasst. Der Wetterbericht sah für die nächsten Tage ruhiges und sonniges Winterwetter mit fast frühlingshaften Temperaturen voraus. Also optimale Bedingungen für einen Kurzurlaub auf Helgoland im März.
Sein erster Offizier Ove Ohlsen stand mit einem Fernglas in den Händen an den Fenstern der Brücke und murmelte in Richtung seines Chefs: »Käpt’n? Könnten wir vielleicht etwas schneller fahren?« Ihm war langweilig.
»Klar doch!« Hansen erhöhte die Geschwindigkeit. Merkt man gar nicht, dachte er und beschleunigte das Schiff um weitere fünf Knoten. Jetzt fuhren sie mit Höchstgeschwindigkeit. Der Bug hob sich etwas, wurde aber einen Moment später durch die Stabilisatoren des Schiffes ausgeglichen, sodass die MS Helgoland wieder horizontal im Wasser lag.
Hansen lehnte sich im bequemen Sessel am Pult zurück und dachte an die gute, alte Zeit, als es noch Arbeit bedeutete, ein Schiff durch die Nordsee zu steuern. Heute erledigte alles die Automatik. Manchmal ertappte er sich beim Gedanken, die Stabilisatoren einfach auszuschalten. Durfte er aber nicht. Wir wollen ja nicht, dass dem Gast das Bier überschwappt, sagte sein Chef immer. Wehmütig dachte er an den Gründer der Reederei. Cassen Eils. Ein Urtyp eines Kapitäns, der damals noch mit 80 Jahren eigenhändig seine Fair Lady nach Helgoland gesteuert hatte. Ohne Autopilot, ohne GPS, nur mit Kompass und Seekarte.
Er sah auf die Uhr. Sie hatten noch etwa 30 Minuten bis Helgoland. Dann würden 600 Passagiere im Südhafen der Felseninsel ausgespuckt werden, die mit ihren ratternden Rollkoffern die mittägliche Ruhe der Insel zerstören würden.
»Helgoland«, murmelte der Erste Offizier Ohlsen. Hansen seufzte innerlich und sah seinen Kollegen an. »Nee«, scherzte er und fuhr fort; »Unmöglich, ist DAS Helgoland?« Er nahm einen Schluck aus seinem Kaffeebecher und deutete damit in die Ferne voraus.
»Atlantis?«, fragte Ohlsen und riss seine Augen auf. »Die Antwort liegt irgendwo da draußen!«, deklamierte Hansen mit tiefer Stimme. Beide lachten dröhnend, und einige der im Hintergrund herumdaddelnden Kollegen sahen kurz zu ihnen rüber, schüttelten ihren Kopf. Ohlsen und der Käpt’n waren beide Fans von Science-Fiction-Filmen und -serien. »Die beiden Trekkies« wurden sie unter Kollegen genannt. Bei jeder Gelegenheit ließen sie in Gesprächen untereinander Dialoge einfließen, die man als Insider eben so draufhat. Beliebt waren Sprüche wie »Setzen Sie einen Kurs nach Helgoland! Und dann Warp Zwei!«, oder wenn er über Funk mit dem Hafenmeister reden wollte, sagte Hansen immer: »Einen Kanal zur Zentrale. Auf den Schirm!« Sogar ein »Holodeck« gab es. Das war die Lounge der »Skybar« mit ihren drehbaren Sesseln, die an riesigen Panoramafenstern standen.
Hansen stand auf und reckte sich. »Ich hau mich kurz aufs Ohr«, sagte er und an Ohlsen gerichtet: »Sie haben die Brücke, Ohlsen.«
Während auf der Brücke die Mannschaft die tägliche Routine voll im Griff hatte, versuchten die Angestellten in allen Passagierbereichen, die chaotische Lage unter Kontrolle zu bringen. Die Fahrzeit betrug wie immer etwa 70 Minuten, aber auch wie immer hatte man das Gefühl, dass nur verdurstende und verhungernde Menschen an Bord waren.
Sünje Nommensen hetzte zwischen den Passagieren mit zwei Tabletts schmutzigen Geschirrs und rief ständig »Vorsicht bitte … Darf ich mal … Danke sehr!« Warum können moderne Erwachsene nicht knapp über eine Stunde ohne Berge von Pommes mit Schnitzel aushalten? Einen Kaffee oder Tee würde sie ja noch verstehen, aber Kartoffelsalat mit Würstchen um kurz nach 11 Uhr? Hallo? Gab es nichts zum Frühstück zu Hause? Sünje hielt in ihren Gedanken kurz inne, als das Motorengeräusch sich veränderte und das Schiff in Fahrtrichtung sich leicht hob, dann aber wieder normal im Wasser lag. Aha, will Hauke wieder Wasserski fahren? Sie grinste innerlich. Draußen war das Wasser fast spiegelglatt, und wahrscheinlich langweilten sich die Jungs auf der Brücke.
»Meine Damen und Herren, sehr verehrte Fahrgäste …«, meldete sich die schöne Radiostimme des Ersten Offiziers Ohlsen. »Ich hoffe, Sie haben eine angenehme Fahrt zur einzigen deutschen Hochseeinsel Helgoland.« Dann folgten die üblichen Informationen zur Insel, ein bisschen Historisches und die Hinweise auf das »umfangreiche gastronomische Angebot der Reederei«. Ohlsen schloss mit dem Hinweis, dass voraus bereits Helgoland in Sicht kam und sie in etwa 30 Minuten ihr Ziel erreichen würden. Anschließend dudelte wieder leise Loungemusik.
Sünje räumte das Geschirr in die Spülmaschine. Als sie damit fertig war, hörte sie, wie sich ein Passagier laut über »diese lahmarschige Bedienung« beschwerte.
Scheinbar ein Kind. Sie konnte nur einen blonden Haarschopf erkennen. Aber diese tiefe Stimme? Jetzt bewegten sich der Schopf und ein Stuhl, von dem sie nur die Lehne sehen konnte. Das Kind stieg nun auf die Sitzfläche und es erschien der Kopf eines Erwachsenen! Wirres Haar über einem markant männlichen Gesicht. Vollbart. Der Kleinwüchsige grinste über beide Ohren, als er Sünje ansah.
»Entschuldigen Sie bitte, aber könnte ich jetzt mein Bier bekommen, das ich vor 20 Minuten bestellt hatte? Oder muss ich meinen Ausweis vorzeigen?« Weiße Zähne blitzten auf, als er lachte.
»Welche Sorte möchten Sie denn?« Sünje schmolz dahin, als sie in seinen stahlblauen Augen versank.
»Ein Flens hätte ich gerne. Wenn’s nichts ausmacht.«
»Klar. Kalt?«
»Eiskalt, bitte.«
»Tschuldigung …«, murmelte Sünje, als sie ihm das Bier gab.
»Ja, ich weiß«, unterbrach er sie und zuckte mit den Schultern. Eine kräftige Pranke griff sich die Flasche, eine andere knallte einen Fünf-Euro-Schein auf die Theke. »Stimmt so«, murmelte er und sprang vom Stuhl. Sünje beugte sich über die Theke und sah ihm hinterher. Klein, aber oho! Jeans, halbhohe Wanderschuhe und darüber eine blaue Daunenjacke. Der Typ setzte sich, nein, berichtigte sie sich, er bestieg einen der drehbaren Sessel, die an den Panoramafenstern standen. Er sah zu ihr herüber und prostete ihr mit der Flasche zu. Etwas verlegen wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Um ihn herum war sein Gepäck verteilt. Ein Trecking-Rucksack und zwei große Sporttaschen.
Onne seufzte und genoss das Bier und die absolute Weite der Nordsee. Er freute sich auf seinen neuen Job auf Helgoland. Nachdem das Hotel auf Grienoog vergangenes Jahr im November saisonbedingt in den Winterschlaf ging, war er ganz froh, endlich echten Urlaub machen zu können. Auf der Hallig war es im Sommer zwar ganz nett, aber irgendwann wollte er mal woanders hin. Er konnte es sich leisten, für einige Monate in Schobüll einfach mal herumzuhängen oder für zwei Wochen eine Rundreise in Vietnam zu machen. Als Künstler hatte er erstaunlicherweise gutes Geld mit seinen Werken gemacht. Und seine alte Villa hatte er gut verkaufen können. Nach seiner Scheidung hatte er sich ein kleines Häuschen gekauft und mit viel Liebe instand gesetzt. Ihm ging es optimal, fand er. Und nun der neue Job. Helgoland stand schon länger auf seiner Liste. Dass es nun geklappt hatte, war für ihn nicht weiter erstaunlich, denn er konnte ziemlich hartnäckig sein. Das Hotel »Rote Kante« hatte vergangenen Herbst einen Rezeptionisten gesucht, der auch für die Bar zuständig sein sollte. In den Wintermonaten auf der Insel kein schwieriger Job. Und er hatte sicher Zeit, das eine oder andere Bild zu malen.
Er lehnte sich zurück und genoss die Aussicht.
Ein Deck tiefer saß ein großer Mann an einem der Tische, die an den futuristisch gestylten Bullaugen der Schiffsaußenwand aufgereiht waren. Kurze schwarze Haare, Dreitagebart. Seine Gore-Tex-Winterjacke hing an einem der Stuhllehnen. Schwarzes Hemd und schwarze Schuhe vervollständigten den düsteren Eindruck. Ein kleiner schwarzer Kaffee stand vor ihm, an dem er nur kurz genippt hatte, daneben lag eine dunkle Sonnenbrille. Alles an diesem Mann war dunkel. Sogar der Blick mit den zusammengekniffenen Augen, mit dem er den sonnigen Vormittag auf der Nordsee betrachtete, kam scheinbar aus einer dunklen Seele.
Hinter ihm tobten Kinder im Gang zwischen den Tischen herum, immer wieder von den Eltern ermahnt, nicht so laut zu sein. Sie stritten sich um einen Tennisball, den der kleine Bursche nicht hergeben wollte. Seine etwa gleichaltrige Schwester kreischte empört, als ihr Bruder den Ball mit einer Armbewegung wegschleuderte. Der Mann in Schwarz zuckte nur einmal kurz, als das Geschoss von seiner Schläfe abprallte und in der Kaffeetasse landete. Sie war eh halb leer, sodass alles trocken blieb. Mit zwei Fingern der rechten Hand nahm er den Ball aus der Tasse und legte ihn in seine linke Handfläche. Er schloss sie zur Faust. Der Ball verschwand komplett in der großen Pranke. Dann konnte man sehen, wie er seine Arm- und Handmuskeln anspannte. Nach genau zwei Sekunden öffnete er die Faust. Der Ball war verschwunden!
Die beiden Kinder rissen ihre Augen auf. Die Eltern hatten den ganzen Vorgang auch gesehen und applaudierten. »Seht mal, Kinder! Ein Zauberer!« rief die Mutter. Der Mann in Schwarz grinste, und seine Augen blitzten, als er die Kinder ansah. Er stand auf und verbeugte sich theatralisch.
Jetzt klatschen auch die Kinder begeistert in ihre Hände und wollten mehr Zaubertricks sehen. »Kannst du meine doofe Schwester verschwinden lassen?«, wollte der Junge wissen. »Aber Jonas! Das sagt man nicht« wies ihn sein Vater zurecht.
Der Mann in Schwarz hatte bis jetzt kein Wort gesagt. Schweigend setzte er sich wieder und nahm einen Schluck Kaffee. Mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck stand er auf und nahm den Tennisball, der plötzlich auf der Sitzfläche lag, und warf ihn dem Jungen zu. Mit einem entschuldigenden Achselzucken nahm er Jacke, Sonnenbrille und die leere Tasse, verbeugte sich wieder und ging in Richtung Treppe zum Außendeck.
Er zog sich die Jacke über, setzte die Sonnenbrille auf und stellte sich draußen an die Reling. Helgoland kam jetzt in Sicht. Er sah auf seine Uhr. Pünktlich wie immer, dachte er und zündete sich eine Zigarette an.
Nachdem das Schiff angelegt und sich die Passagiere wie eine große ratternde Lawine in Richtung Unterland verteilt hatten, kehrte Stille ein auf dem modernsten Schiff der »Weißen Flotte«. Reinigungsteams tauchten auf, gingen an Bord und begannen, die »MS Helgoland« von den Hinterlassenschaften der Fahrgäste zu befreien. Müll wurde an Land gebracht, und neue Lebensmittel und Getränke verschwanden im Bauch des Schiffes.
Im Binnenhafen wurden jetzt die Börteboote klargemacht. Es waren nicht mehr so viele wie in den 70er-Jahren. Obwohl zum »Immateriellen Weltkulturerbe« ernannt, waren die Tage dieser traditionellen Passagierbeförderung gezählt. Die meisten Schiffe, die Helgoland ansteuerten, legten seit mehr als 20 Jahren im Hafen an. Nur wenige Gäste ließen sich noch von den auf Reede liegenden Schiffen in ehemals als Fischerboote genutzten Nussschalen zur Insel fahren. Und immer mehr kamen in den vergangenen Jahren vom Festland mit dem Flugzeug zur vorgelagerten Düne.
Onne saß am Südstrand auf einer Bank, hinter sich Pensionen und Hotels, die im Sonnenlicht strahlten. Einige hatten bereits ihre Terrassen geöffnet, auf denen in Decken gehüllte Gäste saßen und sich ihre Hände an einem Pharisäer oder einer »Toten Tante« wärmten. Er selbst hatte sich einen Kaffee besorgt und betrachtete jetzt mit dem warmen Becher in der Hand das Treiben. Es war noch etwas Zeit, bevor er sich bei seinem neuen Arbeitgeber melden musste. Was er sah, gefiel ihm. Und die wärmende Sonne gefiel ihm auch. Und diese tolle Seeluft, die so ganz anders war als die im nordfriesischen Wattenmeer!
Plötzlich fiel ihm ein bekanntes Gesicht auf. Gibt’s doch nicht! Larsson? Eindeutig! Aber wieso hat der sich die Haare schwarz gefärbt? Larsson war als leicht exzentrisch bekannt, aber das, was Onne sah, war so schräg, dass er fast lachen musste. Schwarze Hose, schwarze Jacke, alles war schwarz. Er stand auf und rief: »Hey, Larsson!« Keine Reaktion. Einige Menschen drehten sich nach ihm um und winkten zurück. Der Mann in Schwarz ignorierte ihn und schlenderte mit den Händen in den Taschen weiter in Richtung Hummerbuden. Onne rief jetzt lauter: »Larsson! Hallo!«
Jetzt blieb der Mann stehen, sah zu ihm hinüber und nahm seine Sonnenbrille ab. Er hob fragend beide Arme und deutete auf sich. »Meinen Sie mich?«, fragte er. Jetzt war sich Onne nicht mehr so sicher, wen er vor sich hatte. Die Stimme war rau und klang nicht wie sein Freund von der Husumer Kripo. Falsche Augenfarbe, ging es Onne durch den Kopf. Und die Stimme war irgendwie anders.
»Äh, sorry! Hab Sie verwechselt«, entschuldigte er sich. »Kann passieren«, murmelte der Fremde, setzte seine Brille wieder auf und ging zügig weiter.
Hatte Larsson einen Zwillingsbruder? Onne setzte sich und schlürfte nachdenklich am Kaffee. Er nahm sein Smartphone zur Hand und rief Larsson an.
»Moin Larsson, Onne hier! Ich bin gerade auf Helgoland … Ja … Sonne satt … was ich dich fragen wollte …« Larsson ließ ihn nicht zu Wort kommen! »Kannst du mal eben die Klappe halten? Hast du eigentlich einen Zwilling? Nicht?« Er berichtete seinem Freund in Husum von seiner seltsamen Begegnung mit dem »Mann in Schwarz«.
Larsson hatte keinen Zwillingsbruder. Es kam eben immer wieder vor, dass es irgendwo auf der Welt einen verblüffend ähnlichen Menschen gab. Sie redeten noch ein bisschen übers Wetter und über Nichtigkeiten, die man so am Telefon austauschte. Als sie sich auf norddeutsche Art mit einem »Hol di« und einem »Jo« verabschiedet hatten, war es Zeit für Onne, sich zu seinem neuen Arbeitsplatz zu begeben.
Das Hotel »Atoll« war ein moderner, riesiger Stahl-Glas-Würfel auf dem Unterland, direkt am alten Zollgebäude. Noch in den 70er-Jahren musste hier jeder Besucher durch den Zoll, der die Insel verlassen wollte. Heute, da man auch direkt vom Schiff auf die Insel konnte, hatte es keine Bedeutung mehr.
Im unteren Bereich des Hotels lagen sowohl die Rezeption als auch das Restaurant. Die Bar war in der obersten Etage des Glaswürfels über einen Fahrstuhl oder die Treppe erreichbar. Die Zimmer lagen alle an der Ostseite in einem langen Gebäude. Jedes mit großen Fenstern und großzügigen Balkonen mit Blick auf die Düne.
Onnes Aufgaben waren überschaubar. Ab 19 Uhr war er verantwortlich für die Bar, in der die Gäste bis Mitternacht Gelegenheit hatten, Getränke und die Aussicht zu genießen.
Da alles bereits per Videokonferenz und E-Mail mit dem Chef des Hotels geregelt war, auch seine Zimmerkarte hatte er per Post bekommen, meldete er sich an der Rezeption, wo man ihn mit einem »Ach! SIE sind der Neue?« begrüßte. Das war er gewohnt. Jeder, der mit ihm telefonierte, ahnte nicht, wer sich hinter der tiefen Reibeisenstimme verbarg. Selbst Videokonferenzen gaben auch nur das Gesicht und den Oberkörper preis.
Viele waren überrascht, wenn sie ihm begegneten, reagierten aber nie ablehnend, was Onne auf seinen proportionalen Körperbau zurückführte. Außerdem gehörte er mit einer Größe von 150 Zentimetern eher zu den größeren der Kleinwüchsigen. Das verschaffte ihm einige Vorteile gegenüber anderen Menschen mit Kleinwuchs im Alltag. Kleidung war fast kein Problem, und nur bei Barhockern hatte er manchmal Probleme.
»Aha. Dann kommen Sie mal mit.« Die junge Frau von der Rezeption führte ihn zu einem Büro, das einen super Blick auf die Düne hatte. Jetzt herrschte Hochbetrieb auf dem Wasser. Das kleine Fährboot zur Düne war gerade auf dem Weg zurück zur Hauptinsel und musste einem Börteboot ausweichen, das, voll besetzt mit Touristen, den Anleger ansteuerte.
»Aha, Sie sind also Herr Onne! Schön, dass wir uns noch sehen. Herzlich willkommen auf Helgoland!«, meldete sich eine männliche Stimme hinter ihm. Onne drehte sich um und sagte: »Onne genügt.« Er reichte dem Chef Ütersen seine Hand. Ütersen war etwa 40 Jahre alt und gekleidet, als ob er gerade vom Golfplatz käme. Krauses blondes Haar, wie vom Wind zerzaust, über einem sommersprossigen Gesicht, blaue Augen.
»Ich muss jetzt zur Düne rüber, einen wichtigen Geschäftspartner treffen.« Ütersen deutete auf die Düne. »Aber meine Vertreterin Frau Steensen ist jederzeit für Ihre Probleme zuständig.« Er sah auf seine Uhr. »Sie können sich immer bei ihr melden, falls Sie Fragen haben. Jetzt muss ich aber …« Er lächelte kurz zum Abschied, verließ das Büro und verschwand im Fahrstuhl.
Onne nahm seine Taschen und suchte sein Zimmer. Es lag im Angestelltenbereich des Erdgeschosses. Ein helles, weißes Zimmer mit einfacher Einrichtung. Nur das Nötigste. »Basic«, wie es oft bezeichnet wurde. Ein Bett, ein Schrank und eine Sitzgruppe mit Designer-Möbeln und Stühlen, denen man erst auf dem zweiten Anblick ansah, dass es Stühle waren. An der Wand gegenüber dem Bett ein Flachbildschirm.
Keine »intelligente« Dusche mit Sprachsteuerung, sondern eine, über die man die volle Kontrolle hatte. Seine Gedanken gingen zurück zur Hallig Grienoog, wo er zusammen mit seinem neuen Freund, Hauptkommissar Kollerup, ermitteln durfte. Dort hatte jedes Bad eine sprachgesteuerte Dusche, mit der man sogar kurze Dialoge führen konnte.
An der Wand über dem Bett ein Luftbild der Felseninsel mit Düne.
Vor seinem Fenster standen niedrige Büsche, die jetzt im März die Aussicht auf die Promenade kaum behinderten, aber auch den Blick ins Zimmer erlaubten. Und wenn schon, dachte Onne. Er räumte seine Sachen in den Schrank, zog seine »Dienstkleidung« an, die erstaunlicherweise die richtige Größe hatte, und begab sich zu seinem Arbeitsplatz.

Helgoland-Oberland, Donnerstag, 11:30 Uhr

In der Pension »Knieper« war Hochbetrieb. Die neuen Gäste standen an der Theke der Rezeption Schlange. Die Besitzerin Käthe Rickels, seit 50 Jahren im Geschäft, hatte aber alles im Griff. Sie kannte ihr Metier und nahm sich für jeden Gast Zeit. Geduldig erklärte sie, wo das Zimmer zu finden war, und beantwortete jede Frage. Sie kannte alle Fragen, die immer gestellt wurden. Auch dem großen, ganz in Schwarz gekleideten Herren, der jetzt vor ihr stand, erklärte sie geduldig Frühstückszeiten, wo die Zimmer lagen und die Attraktionen Helgolands. Komischer Kauz, aber sehr ansehnlich, dachte sie bewundernd, als der Mann wortlos die Handvoll Infozettel, zwei Broschüren, einen Plan von Helgoland sowie seinen Zimmerschlüssel entgegennahm und sich mit einem Lächeln auf den Weg zu seinem Zimmer im ersten Stock machte. Hach, seufzte sie ihm innerlich hinterher, wenn ich nur 30 Jahre jünger wäre …
Ein ungeduldiges Hüsteln ließ sie wieder in die Realität zurückkehren. Mit einem freundlichen Gesichtsausdruck entschuldigte sie sich. »Tine!«, rief sie nach hinten ins Büro. Dort saß ihre Enkelin und erledigte den täglichen Papierkram.
»Kannst du mal eben kommen und weitermachen?«
»Klar, ähm …«, der Enkelin fiel noch rechtzeitig ein, dass ihre Oma es nicht gerne hatte, als solche bezeichnet zu werden, und setze neu an: »Aber ja doch, Käthe!« In der Frage war Frau Rickels sehr eigen. Mit ihren 71 Jahren war sie absolut keine Oma! Sie sah sportlich aus, färbte sich nicht die kurzen grauen Haare und wenn, dann nur, um das Grau hervorzuheben. Und, das fand sie selbst seltsam, sie trug nie einen einzigen Kleidungsfetzen in der seniorengerechten Farbe »hell-beige«. Also sagte sie sich, dass »Oma« absolut unpassend war. Nur ihr vor zehn Jahren verstorbener Mann durfte das. Das war etwas völlig anderes.
Als Tina sie abgelöst hatte, musste sie unbedingt ihrer Nachbarin bei einem Kaffee erzählen, welchen geheimnisvollen Gast sie hatte. Zwei Wochen wollte er bleiben.
Schade, ihre Nachbarin war scheinbar nicht zu Hause. Unschlüssig stand sie vor der Tür in der schmalen Gasse, in der vereinzelt Touristen schlenderten. Ungewöhnlich, dass kein Zettel an der Tür befestigt war, fand Käthe. Sonst hing immer ein Schild am Türgriff mit der Aufschrift »Bin gleich wieder da« oder »Bin mal eben einkaufen«.
Wird da vielleicht etwas passiert sein? Jetzt klopfte sie energisch und laut an die Holztür. Nichts rührte sich. Sie seufzte enttäuscht und ging zwei Querstraßen weiter zum Palm Café, wo sie sich auf die Außenterrasse in die Sonne setzte.
Hier hatte man einen schönen Blick über den kleinen Nordosthafen zur Düne hinüber. Und die Sonne war hier sehr angenehm. Trotzdem sie März hatten, war es fast windstill und überhaupt nicht kalt.
Malte, der Besitzer des Cafés, kam an ihren Tisch.
»Na, Käthe? Kaffee? Wie immer mit Schuss?«
»Ja, aber nicht so laut«, erwiderte sie trocken. Das alte Spiel zwischen ihnen. »Und bitte nicht wieder mit der Schrotknarre!«
Malte lachte und »schoss« mit dem Zeigefinger auf sie.
Ihr Handy meldete sich. Tina war dran. »Hey, ich hab wohl gesehen, wie du den Typen angeschaut hast!« Ohne Vorwarnung. Käthe war es gewohnt, dass ihre Enkelin so mit ihr redete. Das durfte sie auch, schließlich waren sie gemeinsame Besitzerinnen der Pension. Und wer weiß, vielleicht würde Tina irgendwann alles übernehmen.
Sie lachte ins Telefon: »Ja kann man denn nicht mal ein kleines Geheimnis haben?«
»Klar doch«, kam die schnippische Antwort.
»Ist was?«, wollte Käthe wissen.
»Ja also …«, Tina zögerte.
»Nu mal raus damit!«
»Ja also, dieser Typ in Schwarz ist scheinbar ein Zauberer!«
»Wie Zauberer?«
»Ich war eben in seinem Zimmer …«
»Tina!«, unterbrach Käthe sie empört.
»Lass mich doch mal ausreden! Ich war also in seinem Zimmer und habe ihm Handtücher gebracht! Mensch, was denkst du denn, was ich da wollte?«
»Und wie kommst du darauf, dass er Zauberer ist?«
»Weil der so komische Seile hat.«
»Seile?«
»Ja, so Seile für Seiltricks.«
»Vielleicht will er auf Helgoland Seilhüpfen …«
»Käthe!« Jetzt unterbrach Tina.
»Warum ist jemand Zauberer, nur weil er Seile dabei hat?«
»Naja, er hat nicht nur Seile dabei. Auch so komische Spielkarten, die alle gleich sind und viele Tücher und so Kram. Zaubererkram eben!«
»Sieh mal einer an!«
Tina triumphierte: »Ja, sieh mal an! Bitte sehr!«

Flughafen Hamburg-Fuhlsbüttel, Donnerstag, 11 Uhr

Gut gelaunt bestieg ein Mann mit einem Aktenkoffer auf dem Hamburger Flughafen seinen Privatjet. Rune Reimers, ein 60-jähriger Millionär, freute sich auf das Treffen auf Helgoland. Als er die kurze Treppe zu dem Flugzeug hochging, sah er auf seine Uhr. Passt ja, dachte er. Er würde gerade rechtzeitig auf der Insel eintreffen, wenn die MS Helgoland auch anlegen würde. Er hatte in den nächsten Tagen einiges auf der Felseninsel zu regeln. Der Steward begrüßte ihn, nahm ihm den Aktenkoffer ab und verstaute ihn über den Sitzen. Im Cockpit saß sein Pilot und nickte ihm kurz zu, als Reimers ihn mit einem gut gelaunten »Morgen, Fiete!« begrüßte. Sie kannten sich schon viele Jahre. Reimers schätzte seine professionelle Art und hielt ihn für den besten Piloten, den man bekommen konnte. Als Kind und Jugendlicher litt er unter Flugangst, trotzdem seine Eltern ihn ständig auf ihren Reisen mitschleppten. Dann bekam er immer irgendein Medikament, das ihn schläfrig machte.
Erst als er sich selbst einen Jet und einen eigenen Piloten leisten konnte, verflog seine Angst. Und das war jetzt auch bereits einige Jahrzehnte her. Er mochte diese kleinen schnellen Jets. Genauso wie seine kleine schnelle Privatjacht. Große Flugzeuge und große Schiffe waren nicht sein Ding.
Sie rollten jetzt auf die Startbahn und hoben kurz danach ab. Kaum in der Luft und die Reisehöhe erreicht, bekam Reimers wie immer seinen Scotch vom Steward gereicht, wenn er sich auf einem Flug entspannen wollte. Vorbereiten musste er sich nicht auf das lange geplante Treffen auf Helgoland. So hatte er Zeit, den kurzen Flug zu genießen. So wie das Wetter heute aussah, konnten sie mit einer Flugzeit von etwa 15 Minuten rechnen. Er hatte die Politiker auf der Insel lange genug durch Telefonate und Videokonferenzen bearbeitet. Heute würde er Nägel mit Köpfen machen und den ersten Schritt zur Verwirklichung seines Traumes zurücklegen.
Er nippte an seinem Drink, zündete sich eine Havanna an und lehnte sich zurück. Das Leben war schön, ging es ihm durch den Kopf.
20 Minuten später landeten sie auf der Helgoländer Nebeninsel, Düne genannt. Ganz in der Nähe standen kleine moderne Gebäude mit flachen Dächern, die ihn an einen Supermarkt erinnerten. Große Glasflächen, hinter denen sich wenige Menschen befanden. Als Reimers ausstieg, landete gerade eine kleine Sportmaschine hinter ihm. Er mochte diesen kleinen Sandhaufen, wie er die Nebeninsel spöttisch nannte, weil sie ihn an eine Südseeinsel erinnerte, auf der er vor Jahren Urlaub gemacht hatte. Gerade mal so groß, dass eine Startbahn Platz hatte. Aber er fand, dass die Helgoländer was daraus gemacht hatten. Wenn er an die 70er-Jahre dachte, musste er sich innerlich schütteln. Diese Häuser damals! Die reinste Gartenkolonie! Jetzt standen seit einigen Jahren helle, luftige Häuschen auf der Düne, die einigen Komfort zu bieten hatten. Gut, etwas teurer in der Miete für Gäste, aber schließlich leben wir im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts und nicht mehr in den 50ern des 20. Jahrhunderts.
Durch eine der großen Glasflächen winkte ihm ein Typ zu. Billige Golfklamotten und eine Daunenjacke in einem Neongrün, das in den Augen weh tat. Ütersen vom Hotel. Prima, freute sich Reimers, dann kann es ja losgehen. An diesem sonnigen, glasklaren Märzmorgen waren nur wenige Touristen auf der Helgoländer Düne unterwegs. Bepackt mit ihren wetterfesten Gore-Tex-Rucksäcken, die über wetterfesten Gore-Tex-Jacken getragen wurden, und Kameras um den Hals, die mit ihren Objektiven protzen, stolperten sie zwischen den herumliegenden Robben und Seehunden herum. Als Reimers mit Ütersen in Richtung des Anlegers der Dünenfähre ging, kamen sie an den neuen Ferienhäusern vorbei. Helle, nach skandinavischer Art gebaute Häuser, die außen mit Holz verkleidet waren. Für exakt die Zielgruppe gebaut, die sich Reimers wünschte. Touristen mit Geld und Zeit. Nichts für diese Klientel, die sich noch in den 90ern hier herumgetrieben hatte. Reimers schnaufte verächtlich, als er an den Charme einer heruntergekommenen Gartenkolonie dachte, die hier bis vor einigen Jahren noch vorherrschte. Sogar mit Gemeinschaftsdusche! Er musste sich beherrschen, nicht vor Ekel zu erschaudern.
Die ganze Zeit plapperte Ütersen und scharwenzelte wie ein Hündchen um ihn herum. Der Millionär hörte nur scheinbar aufmerksam zu und nickte zwischendurch. Es war ihm egal, was Ütersen sagte. Schließlich wurde der Hotelier von ihm dafür bezahlt, dass man ihn mit dem Kleinkram in Ruhe ließ, und letztendlich musste Ütersen das machen, was verlangt wurde.
Mit einer Handbewegung verschaffte er sich Ruhe und blieb stehen. »Wie läuft es denn mit unserem Projekt?«, wollte Reimers wissen und sah sich vorsichtig nach Mithörern um.
»Es gibt da ein kleines Problem. Unser Mann …« Reimers unterbrach ihn. »Kümmern Sie sich verdammt noch mal darum! Demnächst steht das nächste Bürgerbegehren an und bis dahin will ich die ganze Insel auf meiner Seite wissen! Klar?«
»Klar, Herr Reimers. Aber es ist eher ein Problem, um das Sie sich persönlich kümmern müssen. Sie verstehen?«
Reimers winkte ab. »Wenn es um meine Tochter geht, kann ich auch nichts machen. Lassen Sie sich etwas einfallen.«
Ütersen gab auf. »Natürlich, Herr Reimers.«
»Und, Ütersen …«, der Millionär deutete auf die Häuser, die hier besonders schön in der tief stehenden Märzsonne aussahen, »nehmen Sie sich ein Beispiel. Genau so sieht die Zukunft aus.«
Zwei Männer, offensichtlich Einheimische, die anhand der üblichen Helgoländer Alltagskleidung, Strickmütze, leichte Windjacke und halbhohe Winterstiefel zu erkennen waren, kamen vorbei, blieben stehen und grüßten die beiden. »Moin, Ütersen! Na? Wieder hohen Besuch?« Neugierige Blicke streiften Reimers. Helgoländer waren oft sehr direkt. Meistens schweigsam gegenüber Fremden, untereinander allerdings wurde kein Blatt vor den Mund genommen. Ütersen galt als »Helgoländer«, weil seine Vorfahren bereits auf Helgoland lebten.
Reimers selbst war zuletzt als Kind in den 60er-Jahren mit seinen Eltern hier gewesen. Somit kannte ihn niemand von den hier Lebenden persönlich. Sein Name war allerdings bekannt. Vor 13 Jahren war er in aller Munde, als er das Projekt »Vereinte Insel« ins Leben gerufen hatte, um beide Teile miteinander zu verbinden. Es wäre ihm auch egal gewesen, hätte ihn jemand erkannt. Ütersen erwiderte mit Blick auf den Millionär: »Nur ein Geschäftsfreund. Er ist Gast im Hotel.«
»Naja Ütersen, dann wollen wir mal nicht stören«, sagte einer der beiden, hob grüßend einen Zeigefinger, und die beiden schlurften weiter durch den Sand der Düne.
Nach der kurzen, schweigsamen Überfahrt mit der Dünenfähre fuhren sie mit einem kleinen offenen Elektrofahrzeug zum Hotel.
Auf der Promenade am Südhafen kamen immer mehr Tagesgäste und auch solche an, die einige Zeit hierbleiben wollten. Sie kamen nur langsam voran, weil sie immer wieder Menschen ausweichen mussten, die scheinbar noch nie Elektrofahrzeuge gesehen hatten. Alles auf der Insel wurde damit abgewickelt - Gepäcktransport, Post und Lieferungen für die Läden. Mittags und abends war immer Rushhour auf Helgoland. Gäste kamen und gingen, Waren und Müll wurden transportiert. Man konnte die Uhr danach stellen.
Zu Fuß wären wir schneller gewesen, dachte Reimers. Nach zehn Minuten hielten sie am Haupteingang des Hotels »Atoll«. Ein Angestellter spurtete zu ihnen und nahm das Gepäck. »Moin, Herr Reimers. Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug. Ihr Koffer wird dann aufs Zimmer gebracht. Ich mach das schon.« Und weg war er auch schon.
Ohne die lästige Prozedur an der Rezeption begab sich Reimers auf sein Zimmer, während Ütersen alles für das heutige Treffen in der Hotelbar mit den Leuten der Initiative »Vereinte Insel« arrangierte.

Helgoland-Düne, Donnerstag, 12 Uhr

Faxe Farmsen wurde vom Geräusch eines landenden Jets geweckt. Er wälzte sich zum Wecker herum. Meine Güte, stöhnte er. Gerade mal Mittag! Nützt ja nichts. Er schwang sich aus dem Bett und warf sich aus dem Stand auf seine Arme. Zehn Liegestützen, wie immer nach dem Aufstehen. Danach ging er ins Bad und sah sich im Spiegel an. Mann, Faxe. Du wirst auch nicht jünger! Nach dem Zähneputzen, und was ein etwa 40-jähriger Mann sonst noch im Bad zu tun hatte, trank er einen Kaffee und schaltete das Radio ein. Natürlich »Felsenfunk«. Er war Chef und Moderator des privaten Helgoländer Radiosenders, der nur im Internet zu empfangen war. Gerade lief seichter Pop der 80er-Jahre, »Sweet Dreams«. Musik seiner Kindheit. Er biss in einen trockenen Toast, schlürfte Kaffee und ging seinen Tagesplan durch. Sein Dienst würde erst um 18 Uhr beginnen, aber vorher hatte er einen vollen Plan. Bürokram erledigen, Werbekunden anrufen und Redaktionskonferenz. Nach dem Frühstück ging er auf die Veranda, die jetzt von der Mittagssonne erwärmt wurde, und zündete sich eine Zigarette an. Er mochte es nicht, wenn im Haus geraucht wurde. Er hatte gerne frische Luft. Ein Widerspruch für viele Nichtraucher, wenn ein Raucher vor die Tür ging, um »frische Luft« zu schnappen und sich einen Glimmstängel anzündete.