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Ein ungewöhnliches Ermittlerduo enthüllt die Abgründe eines Dorfes: Der Skandinavien-Thriller »Die letzte Welle« von Cecilia Sjögren als eBook bei dotbooks. Im Altenheim »Ömheten« geschehen seltsame Dinge: Ein mysteriöser Einbruch, gefolgt von einem Todesfall weckt den Verdacht des pensionierten Polizisten Tore Lindahl. Ist sein Heimnachbar Viking wirklich auf natürliche Weise gestorben? Wer ist der Fremde, der vor dem Heim herumschleicht? Und warum will das Pflegepersonal all das geheim halten? Währenddessen hofft Veronika Wiklund bei der örtlichen Zeitung auf die große Story. Wenn sie nicht bald einen aufsehenerregenden Artikel abliefert, verliert sie den Job. Als sie von Tores Verdacht hört, sieht die Journalistin ihre Chance gekommen. Gemeinsam beginnen die beiden zu ermitteln. Ihre Recherche deckt ein weit verzweigtes kriminelles Netzwerk auf. Musste Viking sterben, weil er davon wusste? Oder liegt die Wahrheit weiter zurück – im Inferno des Zweiten Weltkriegs, dem auch der kleine Fischerort Grisslehamn nicht entgehen konnte? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der abgründige Schweden-Krimi »Die letzte Welle« von Cecilia Sjögren wird Fans von Camilla Läckberg und Kristina Ohlsson begeistern! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 689
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Über dieses Buch:
Im Altenheim »Ömheten« geschehen seltsame Dinge: Ein mysteriöser Einbruch, gefolgt von einem Todesfall weckt den Verdacht des pensionierten Polizisten Tore Lindahl. Ist sein Heimnachbar Viking wirklich auf natürliche Weise gestorben? Wer ist der Fremde, der vor dem Heim herumschleicht? Und warum will das Pflegepersonal all das geheim halten? Währenddessen hofft Veronika Wiklund bei der örtlichen Zeitung auf die große Story. Wenn sie nicht bald einen aufsehenerregenden Artikel abliefert, verliert sie den Job. Als sie von Tores Verdacht hört, sieht die Journalistin ihre Chance gekommen. Gemeinsam beginnen die beiden zu ermitteln. Ihre Recherche deckt ein weit verzweigtes kriminelles Netzwerk auf. Musste Viking sterben, weil er davon wusste? Oder liegt die Wahrheit weiter zurück – im Inferno des Zweiten Weltkriegs, dem auch der kleine Fischerort Grisslehamn nicht entgehen konnte?
»Die letzte Welle« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.
Über die Autorin:
Cecilia Sjögren ist Wirtschaftswissenschaftlerin und Autorin. Mit dem Schreiben von Spannungsromanen begann sie, als sie zum vierzigsten Geburtstag einen Krimikurs geschenkt bekam. Ihr Roman »Die letzte Welle« gewann 2022 den Krimiwettbewerb von SAGA Egmont.
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eBook-Neuausgabe September 2023
Die schwedische Originalausgabe erschien erstmals 2022 unter dem Originaltitel »Svallvåg« bei SAGA Egmont, Kopenhagen.
Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2022 by Cecilia Sjögren, SAGA Egmont.
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2023 SAGA Egmont.
Copyright © der eBook-Ausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Karol Kinal unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ys)
ISBN 978-3-98690-827-0
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Cecilia Sjögren
Die letzte Welle
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Christine Heinzius
dotbooks.
Mallorca einen Monat zuvor
Irgendwie hatte sie wohl geahnt, dass es passieren würde. Dass die Wahrheit herauskäme und Dunkelheit verbreiten würde. Trotzdem hatte sie ihre Lüge gelebt – was niemand wissen durfte.
Die dichten Jahresringe des Lebens hatten ihr Geheimnis verborgen. Ein verräterisches Gefühl der Sicherheit. Sein Besuch gestern hatte alles verändert.
Señora Orjeda drückte die Zigarette direkt auf der Fensterbank aus und zog den fleckigen Malerkittel fester um ihren dünnen Körper. Unruhig spähte sie aus dem Fenster in den Garten. Hinter der selbst gebauten Trockenmauer voller Bougainvillea breiteten Pinien ihre riesigen Kronen aus. Stolze, gerade Bäume, die die schicke Aveguida de Rossegada einrahmten. Ein krasser Gegensatz zu den kauernden Krüppelkiefern ihrer Kindheit.
Der Gedanke an Zuhause ließ ihre Hand zittern. Ihre Finger glitten mechanisch durch das graue Haar, in dem Reste einer rotgoldenen Farbe vom Schöpfungsmorgen erzählten. Ihr Blick irrte umher.
Auf der anderen Seite lag das Mittelmeer und wogte im Frühlingsabend. Die Luft satt von Salz und Pinien. Sie liebte es, hier zu stehen und das zu betrachten, was ihr ein und alles geworden war. Zitrus- und Mandelbäume in der Mitte des Gartens, Hibiskus und Lavendel, die über die Kalksteinkante der Beete wucherten. Die weiße Villa mit ihrem geräumigen Patio, in der sie heute die Fensterläden zum Gewölbe hin geschlossen hatte, um die Hitze draußen zu halten.
Señora Orjeda unterdrückte ein Gähnen. Sie war heute früh aufgestanden. Schon bevor die Sonne ihre Strahlen über den zackigen Kamm des Tramuntanagebirges geschickt hatte. Schlaflos hatte sie sich in die Türöffnung des Patios gestellt, um zu warten. Denn sie hatte sich entschieden zu bleiben, endlich alles zu erzählen. Wenn es überhaupt eine Entscheidung war, denn sie sah keinen anderen Ausweg.
Jetzt wurde es Abend, und er war immer noch nicht gekommen. Vielleicht hatte er seine Meinung geändert?
Señora Orjeda ließ den Blick zur Straße schweifen. Das Viertel lag ganz verlassen in seiner umwerfenden Schönheit.
Heute hatte sie die Nachbarn gar nicht gesehen. Vielleicht hatten sie sich vor der Hitze verzogen oder vielleicht waren sie einfach nicht da. Wohlhabende Ausländer, die nach Hause verschwanden, wenn die Hitze und die Touristen die Insel übernahmen. Eine Möglichkeit, dem auszuweichen, was ihnen nicht gefiel.
Nicht einmal Sergio, der ihr mit allem Praktischen im Haus half, hatte sich heute blicken lassen. Er hatte versprochen, die Mauer im Patio heute ganz freizulegen, aber offensichtlich war ihm etwas dazwischengekommen.
Verdammte Spanier, dachte sie.
Denn trotz ihrer sechzig Jahre auf der Insel fiel es ihr immer noch schwer, zu begreifen, dass eine abgesprochene Uhrzeit kein Versprechen war. Sie hätte seine Anwesenheit heute als Ablenkung gebraucht, um die Nervosität zu dämpfen, die sie nun innerlich auffraß. Langsam strich sie mit der Hand über das abgegriffene, von Ruß und dem Leben selbst ganz verfleckte Wachstuchheft. Darin stand die Geschichte, die sie heute erzählen wollte, wenn er kam.
Behutsam legte sie das Heft auf den alten Beistelltisch am Fenster. Die dünnen Finger folgten dem Mosaik auf der Tischplatte, Azurblau auf sandfarbener Terrakotta. Eine halbvolle Cavaflasche stand auf dem Tisch, deren Etikett sie dieses Jahr mit einem ihrer Werke hatte schmücken dürfen. Regionaler Wein, regionale Künstlerin. Der krönende Abschluss einer beeindruckenden Produktion. Mit 85 Jahren konnte sie sich immer noch finanziell mit ihrer Malerei über Wasser halten. Doch das, was sie heute Morgen gemalt hatte, würde sich nicht verkaufen lassen.
Mit zitternden Händen hatte sie die Farbe über die weiß gekalkte Wand fließen lassen. Für Uneingeweihte ein Plagiat eines der Größten der Insel: Miró. Für denjenigen, der verstand – ein angsterfüllter Ausdruck des Unterdrückten, von dem sie geglaubt hatte, sie hätte es nur mit den Toten und dem Meer geteilt.
Erreicht man jemals einen Punkt, an dem man das Recht hat, wieder zu leben, fragte sie sich. An dem das, was man aus seinem Leben verbannt hat, als Bezahlung gilt? Vielleicht war es trotz allem möglich, überlegte sie weiter und ließ den Blick noch einmal über die Nachbarschaft streifen.
Auf der anderen Straßenseite flankierten gepflegte Beete den Weg zu den verschiedenen Bauten des Hotels Bendinat.
Ein leises Motorengeräusch hörte man von der Straße. Langsam, aber sicher wurde es lauter. Sie hielt den Atem an. Das Mittelmeer lag wie eine Fata Morgana in der zitternden Hitze. Der Duft des Lavendels wurde immer schwerer.
Das Auto hielt am Tor. Der Motor lief weiter. Das anhaltende Geräusch drang durchs Fenster. Señora Orjeda trat einen Schritt näher und stieß dabei die Flasche auf dem Tisch um. Die Bläschen des Cava schäumten auf dem Stein. Er floss weiter und machte das Heft nass. Erschrocken hob sie es hoch und trocknete das Wachstuch am Malerkittel.
Der Sekt floss weiter über die Tischkante und tropfte auf den Steinboden, zu ihren Füßen bildete er eine kleine Pfütze. Ein Duft nach Birne und Zitrone erfüllte den Patio.
Durch das Fenster sah sie, wie das Auto auf den Hotelparkplatz gegenüber fuhr. Der Motor wurde ausgeschaltet. Er, auf den sie den ganzen Tag gewartet hatte, stieg aus und blieb auf dem Parkplatz stehen, den wässrigen Blick auf das Gebäude geheftet. Mit einer verärgerten Bewegung strich er sich das Haar aus der Stirn.
In der Ferne, am Horizont, sank die Sonne in die Stille des Meeres.
Señora Orjeda umklammerte das Heft. Die Wahrheit war ihr immer zu schwierig gewesen. Der Weg der Lüge war so viel leichter. Es hätte so weitergehen können, wäre er nicht gekommen. Schon jetzt machte die bevorstehende Lüge ihren Mund trocken. Ihr Besucher lenkte den Blick zur Straße und ging auf das Haus zu. Sie verfolgte seine Bewegungen durch das Tor und über den ordentlich geharkten Weg. Der Garten ruhte still im Sonnenuntergang.
Er klopfte an die Tür.
Señora Orjeda stand wie festgewachsen im Cava. Der Mut verließ sie, und sie konnte die Tür nicht öffnen.
Es klopfte noch einmal und der Riegel klackte. Im schwachen Licht des Patios sah sie ihn die Türschwelle überschreiten.
»Hallo? Bist du zu Hause?« Sein Blick fiel auf die Wandmalerei von heute Morgen.
Sie schluckte. »Du bist also zurückgekommen«, sagte sie. Schweiß floss aus ihren Achseln den Malerkittel entlang.
Er drehte sich um. »Ja, so hatten wir es ja beschlossen.«
»So hatten wir es beschlossen«, wiederholte sie.
Es lag ein Schatten auf seinem Gesicht.
»Komm, setzen wir uns in den Salon und trinken Kaffee«, sagte sie mit leicht zittriger Stimme.
»Nein danke.« Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos.
»Es ist eine lange Geschichte«, begann sie zögernd. »Die kann man nicht mal eben erzählen.«
»Ich bin nicht gekommen, um mir deine Lügen anzuhören.« Er trat einen Schritt näher.
»Wieso bist du dann gekommen?«, fragte sie und umklammerte das Heft.
»Um dich vor Angst gelähmt zu sehen.«
»Du bist gekommen, um das Glas zu leeren?«
»Nenn es wie du willst.«
Sie machte einen Schritt zurück und erkannte zu spät, dass sie sich dadurch den Fluchtweg abschnitt. Hinter ihr lag die weiß gekalkte Mauer, dick und undurchdringlich.
»Hast du wirklich geglaubt, dass du davonkommst?«, fragte er, und ihr fiel auf, dass er zum ersten Mal lächelte.
»Es muss eine Zeit geben, in der Vergebung möglich ist«, sagte sie. Die Angst stieg in ihre Brust.
»Zeit.« Er schnaubte. »Das Einzige, das die Zeit bei dieser Geschichte geleistet hat, ist, dass du dummdreist geworden bist. Du hast Spuren hinterlassen. Deine Sphäre wurde zu eng. Keine Überraschung, denn du hast immer mehr gewollt, als das Leben dir bot.«
»Du weißt nichts über mich«, sagte sie unsicher. Die Stimme klang fremd.
»Mehr, als du glaubst«, erwiderte er. »Deine Werke verbreiten sich durch die Touristen. In unserer Zeit kann man sich vor niemandem verstecken. Ein Bild von Mallorca hängt plötzlich an einer Wand in Roslagen. Das Versteckte und Vergessene erwacht zum Leben.«
Roslagen. Vor ihrem inneren Auge sah sie die dichten Kronen der Kiefern. Sah sich selbst durchs Gestrüpp laufen, in die vermoderte Schwärze des Waldes hinein.
Sie war weitergelaufen, ohne sich umzusehen. Denn sie wusste, dass sie durch einen Blick zurück weich würde. Die Angst pochte in ihren Schläfen, in einem anderen Takt als ihr Puls.
Büsche und Sträucher hatten ihr Arme und Beine zerkratzt. Die Handtasche presste sie fest an den Körper. Darin befanden sich die Tickets, der Schlüssel zu ihrem neuen Leben. Das Schreckliche tief im Meer begraben.
All die Jahre hatte sie sich eingeredet, dass es so gewesen war. Bis die Briefe kamen. Sie hätte damals viel kraftvoller handeln sollen, das erkannte sie jetzt.
Durch die Erinnerung verließ sie alle Stärke. Aus der Angst war eine unüberwindliche Müdigkeit geworden. Sie war es müde, alle an der Nase herumzuführen. Eine verbitterte Lügnerin mit einer Lebensgeschichte aus lauter Geheimnissen und Leerräumen.
»Hast du je an das gedacht, was du hinter dir gelassen hast?«, fragte er und trat einen Schritt näher.
»Jeden Tag«, sagte sie. »Du hast keine Ahnung.«
»Trotzdem hast du nichts dagegen getan?«
»Nein«, flüsterte sie und faltete die zitternden Hände. Mit schwacher, eintöniger Stimme betete sie den Rosenkranz:
»Herr erbarme dich. Christus erbarme dich. Herr erbarme dich. Christus höre uns. Christus erhöre uns ...«
»Für Gebete ist es etwas zu spät«, unterbrach er. »Du kannst nicht länger vor der Wahrheit fliehen. Die Vergangenheit wurde zum Leben erweckt.«
Ihr Blick ging zur kurzen Seite des Patios, dorthin, wo Sergio die ursprüngliche Mauer freigelegt hatte. Ihr Körper zuckte.
»Es wohnen keine Geister in den Wänden«, flüsterte sie. Genauso sehr, um sich selbst zu überzeugen, wie ihn. »Das ist nur ein alter, spanischer Aberglaube.«
»Mag sein. Und doch lassen dich die Toten nachts schlecht schlafen, oder?«
Ein Schweißtropfen fiel von seiner Stirn. Ihre Blicke trafen sich erneut, und da sah sie es, das Absolute in seinen Augen. Eine Sturheit, die man nur bei jemandem findet, der bereit ist, zu töten. Mit unheimlicher Klarheit erinnerte sie sich, wann sie sie das letzte Mal gesehen hatte.
Das Sichtfeld wurde enger, in ihren Ohren ein Rauschen, aber noch etwas anderes. Irgendwo, weit weg in der Ferne, ein Motorengeräusch. Ein wohlbekanntes Stottern.
Sergios alter Ford, vorn und hinten nach unvorsichtigen Parkmanövern völlig verbeult. Eine Hoffnung regte sich, aber wurde genauso schnell erstickt. Aus dem Augenwinkel sah sie das erhobene Messer. Sergio käme zu spät.
Sie spürte den Schmerz des Messerstichs. Einer, zwei, dann entschwebte sie. Ein Tunnel, Dunkelheit. Ein langsam ansteigendes Lachen, dem Wahnsinn nahe. Eine morbide Freude darüber, keine Angst mehr haben zu müssen, weil bald sowieso alles vorbei war.
Sie sah ihren Körper von oben und den Mann, der durch die Tür des Patios verschwand.
Stille.
Dann änderte sich die Szene. Sergio war da, und sie sah wehmütig, wie er sich über sie beugte. Er hob ihren Kopf an, küsste ihre Stirn.
»Wer hat Ihnen das angetan?«, flüsterte er.
Seine Bestürzung erfüllte sie erneut mit dem Drang, erzählen zu wollen, wie es war. Eine Sekunde lang verließ sie ihren Platz da oben und kam in seinen Schoß, spürte, wie er sie streichelte und seine Tränen auf ihrer Haut.
»Señora Orjeda, wer?«, schniefte er.
Mit ihren letzten Kräften flüsterte sie in sein Ohr. Sah die Schärfe in seinem Blick, wie er versuchte, die einzelnen Fragmente, die über ihre Lippen kamen, zusammenzusetzen.
»Qué?«
Sie lächelte ihn ein letztes Mal an. Morgen würde er die Mauer wieder zumauern, und alles wäre wieder wie üblich. Die Wellen würden sich im Meer erheben und auf die zerklüfteten Klippen schlagen. Die Tauben würden wie immer die Kühle in den Kronen der Pinien suchen.
Die Angst verließ endlich ihre Schultern, und sie ließ los. Ließ sich vom sanft wehenden Wind über das glatte Meer führen.
Tore Lindahl schlug verschlafen die Augen auf und strich über den grauen Haarkranz. Licht fiel schwach durch die kleinen Löcher im Gewebe des Rollos, scharfe Lichtpunkte auf dem dunkelblauen Boden. Die Standuhr im Wohnzimmer schlug. Reglos lag er im Bett und lauschte. Ein Geräusch außerhalb des Traums hatte ihn geweckt. Da war er sich sicher.
Er wachte jeden Morgen genau zur selben Zeit, kurz bevor die Standuhr sechs Mal schlug, auf. Er lag still und sah das erste Licht des Morgens aus dem Nebenzimmer in den Flur fallen. Erneut lauschte er. In der Wohnung herrschte absolute Stille.
Beschwerlich setzte Tore sich auf. Das Bett knarrte unter seinem Gewicht, als er sich nach der kleinen Lampe auf dem Nachttisch streckte, etwas ungeschickt, so dass der Radiowecker zu Boden fiel. Die neonfarbenen Ziffern blinkten ärgerlich in der Dunkelheit. 04:30 Uhr. Irritiert stützte er sich mit der gesunden Hand an der Bettkante ab. Stand auf verschlafenen Beinen auf und griff nach der Krücke. Um ihn herum Dunkelheit.
Man sollte mit fünfundsiebzig nicht in einem Altenheim wohnen, dachte er und schickte seiner Tochter Anna einen bösen Gedanken. Es war egal, dass Ömheten ein schönes Heim war, das zentral in Norrtälje lag. Er wollte nach Hause, in sein Haus auf Singö.
Langsam ging er auf die Krücke gestützt zum Fenster und zog das Rollo hoch.
Da draußen ruhte der Hof in der Morgendämmerung. Ein stiller Regen fiel aus dem wolkigen Himmel, so dass das Licht schummrig zwischen die Bäume im dahinter liegenden Waldstück fiel. Er öffnete das Fenster und spürte, wie kühler Wind ins Zimmer wehte.
In der Ferne heulte eine Eule. Unten im Wald bewegte sich etwas. Genau dort, wohin er nicht mehr sehen konnte. Ein golden leuchtender Schein.
Die Brille lag auf dem Fensterbrett, und er streckte sich danach. Jetzt sah er scharf. Ein paar schmale, gelbliche Augen, darüber spitze Ohren.
Im Waldstück stand ein Schäferhund an eine Tanne gebunden. Direkt hinter der Birke, die der Blitz erst vor wenigen Wochen gespalten hatte. Das Tier duckte sich und wartete, das Fell regennass.
Eine Sekunde überlegte Tore, ob er ihm helfen sollte, entschied dann aber, es bleiben zu lassen. Es war unnötig, sich einem solchen Risiko auszusetzen. Vielleicht gehörte der Hund einem Drogenabhängigen? Das wusste man heutzutage ja nie.
Der Boden unter seinen Füßen wurde kalt. Er schloss das Fenster und tappte zum Herrendiener, vor dem ordentlich die Pantoffeln standen. Er schlüpfte hinein und zog eine Strickjacke über den Schlafanzug, denn er hatte keine Lust, sich genau zu Mittsommer eine Erkältung einzufangen.
Sein Blick fiel auf den Spiegel. Inzwischen glich sein Gesicht einer Maske. Der Mund war in einem schiefen und dämlichen Lächeln erfroren, das nie die Augen erreichte. Der rechte Arm hing nutzlos herunter.
In guten Momenten fand er sein delphinartiges Aussehen komisch, in düsteren eine allzu deutliche Erinnerung an den körperlichen Verfall. Das war ein Paradox, denn nie hatte er das Leben so klar gesehen wie heute.
Tores Gedanken wurden von einem Geräusch im Korridor unterbrochen. Ja, da draußen war jetzt ganz sicher auch jemand. Ein Kratzen war zu hören. Dass man nie richtig Ruhe hatte, gehörte zu den schlimmsten Dingen, wenn man mit anderen zusammenwohnte. Langsam schlurfte Tore zur Tür und schaute durch den Spion.
Ein krummer Rücken stand an der Nachbartür über das Schloss gebeugt. Er schwankte im Neonlicht der Nachtbeleuchtung des Flurs vor und zurück.
Die Nachbartür ging auf, und der Eindringling verschwand in der Wohnung.
»Verdammt, was ist da los?«, dachte er, griff nach dem Alarmknopf am Handgelenk und drückte.
Tore konnte bis fünfhundertdreiundsiebzig zählen, bevor die Nachtpflegerin im dunklen Korridor auftauchte. Er hatte sie schon mal gesehen, Inez. Eine der Aushilfen von der Personalvermittlung. Das lange, krause Haar wippte widerspenstig.
Er hörte schon an ihrem Schritt, dass sie davon ausging, dass er mal wieder etwas angestellt hatte. Die Sohlen schmetterten auf dem Linoleum, die Absätze hieben extra fest auf den blank gescheuerten Boden. Genervter als sonst, dachte er.
»Was sind denn das für Sachen«, sagte sie zur Begrüßung. »Mitten in der Nacht zu klingeln.«
Tore antwortete nicht. In seiner Welt hatte so etwas keine Antwort verdient. Sie war vor ihm stehen geblieben. Die Arme in die viel zu breite Taille gestemmt. Den Mund fest nach oben gezogen.
Sie war, was man üppig nannte. Höchstwahrscheinlich hätte ihr diese Beschreibung nicht gefallen.
»Wieso haben Sie geklingelt?«, fragte sie sauer.
»In Vikings Wohnung ist jemand«, flüsterte er.
»Sie sollen nicht unnötig klingeln«, sagte sie. Offensichtlich immer noch davon überzeugt, dass er den Alarm missbraucht hatte.
»Nicht so laut.« Tore legte einen Finger vor den Mund. »Da ist jemand in der Wohnung.«
Demonstrativ drückte sie auf den Lichtschalter, so dass der Korridor hell erstrahlte. Sie ging zu Vikings Wohnung und öffnete die Tür.
»Sie sollten vielleicht den Nachtwächter rufen«, versuchte er matt.
»Unnötig«, erwiderte sie knapp und rief in die dichte Dunkelheit der Wohnung: »Hallo? Ist da jemand?«
Tore blieb in seiner eigenen Tür stehen und betrachtete die Szene missmutig. Das grelle Licht brannte in seinen Augen. Ein Stück entfernt warf eine blinkende Neonröhre das Licht stoßweise an die gelblichen Flurwände.
»Ist da jemand?«, wiederholte Inez und fummelte nervös an der Türklinke. Keine Antwort.
Die Dunkelheit strömte aus der Wohnung in den Korridor zu ihnen beiden.
Das hätte ich allein besser hingekriegt, dachte Tore und schielte auf das gerahmte Foto von sich selbst im Flur. Er hatte das Gefühl, dass sein junges Ich, der Polizist mit der tief in die Stirn gezogenen Schirmmütze, ihn mitleidig ansah.
»Sehen Sie«, sagte sie triumphierend. »Da drinnen ist niemand. Und jetzt legen Sie sich wieder hin und stören Sie uns heute Nacht nicht mehr.«
Inez drehte sich auf dem Absatz um und verschwand mit schnellen Schritten. Ihr Hintern schwang unter dem zu engen Kittel hin und her, als sie durch den Flur ging und im Treppenhaus verschwand.
Tore wartete, bis das Birkenstock-Geklapper nicht mehr zu hören war. Konnte er sich wirklich so sehr getäuscht haben?
Die Beleuchtung war erloschen und nur das schwache Licht der Notausgangsschilder warf einen blassen Schein auf die Nachbartür.
Mit schlurfenden Schritten ging Tore über den Linoleumboden im Korridor und betrat die dunkle Wohnung. Ein schwacher Duft nach alten Zigarren. Jahre des Rauchens hingen in den Wänden.
Die Dunkelheit der Wohnung wurde durch ein Rechteck aus farbigem Licht von der Flurkommode gebrochen. Ein digitaler Fotorahmen projizierte in regelmäßigen Abständen Bilder, die das Glas mit dem Gebiss und eine Packung Tabletten daneben anstrahlten.
Tore tappte in seinen Filzpantoffeln weiter. Er schaute ins Wohnzimmer. Es war leer. Ging weiter in die Küche, ebenfalls leer.
Zögernd ging er weiter Richtung Schlafzimmer, hatte das Gefühl, sich aufzudrängen, die Grenze zur Intimität zu überschreiten. Sie kannten einander nicht sonderlich gut, er und Viking.
Im Schlafzimmer war es still, zu still. Ein langer Lichtstrahl fiel durch die zugezogenen Gardinen auf das Bett. Ein eisiger Wind ging durch die Seele. Eiskalte Präsenz. Und doch nicht. Nur zu bekannt.
Tore tastete nach dem Lichtschalter. Er fand ihn und gelbes Licht von einer Alabasterlampe breitete sich im Schlafzimmer aus und bestätigte, was er bereits begriffen hatte.
Viking lag leblos im Bett, die eisblauen Augen starrten ins teuer eingerichtete Zimmer. Die Haut war blass.
Auf dem Boden daneben lag ein unvollendetes Sudoku. Training bis zuletzt, dachte er und spürte, wie ein Anflug von Sinnlosigkeit durch seinen Körper zog. Ein methodischer Ansatz, um das Gehirn am Laufen zu halten. Was hatte all die Mühe genutzt? Neben dem Sudoku lag ein Anhänger an einem Lederband und ein Rahmen. Das Glas, das das Foto schützte, war gesprungen.
Tore hob den Blick und betrachtete noch einmal seinen toten Nachbarn. Irgendwie sah es aus, als wäre er geschrumpft, wie er da leblos unter einer Decke im Bett lag. Das braune Flanellhemd, das er gestern Abend getragen hatte, als sie zusammen Bridge gespielt hatten, trug er immer noch. Ein weicher Stoff und ein Kleidungsstück, das meilenweit von dem entfernt war, was der frühere Direktor Holbach jemals angezogen hätte, bevor seine eleganten Harvie & Hudson-Hemden mit den Klamotten der anderen Kunden im gemeinsamen Waschservice vermischt wurden. Das weiße Haar hing ihm in Strähnen in die Stirn.
»Wenn die Demenz zuschlägt, dann will ich, dass du mich erledigst. Hörst du?«, hatte Viking ihm einmal anvertraut. Tore hatte diesen Wunsch weder bestätigt noch abgelehnt, sondern ihn einfach als eine weitere fixe Idee von Viking ad acta gelegt.
Viking hatte seine Routinen gehabt. Jeden Morgen hatte er das Kreuzworträtsel in der Frankfurter Allgemeinen gelöst, um dann den restlichen Vormittag seinen Studien zu französischer Literatur zu widmen. Eine kurze Unterbrechung für seinen Vormittagstee im Freien war die einzige Pause gewesen. Dort hatte er dann seinen extra bestellten Earl-Grey-Tee von Harrods getrunken und die Welt mit seinem analytischen Blick über den Brillenrand betrachtet, und das jeden Tag, zumindest in den Monaten, die Tore ihn kannte.
Der Leichengeruch drang bereits durch. Er musste direkt nachdem er nach Hause gekommen war gestorben sein. Hatte ein letztes Sudoku gemacht und war eingeschlafen. Tore fasste sich an die Nase. Wie viele waren im letzten Monat eigentlich hier im Heim gestorben? Mindestens drei. Clark erst vor einer Woche. Er hatte gehört, dass der Tod an solchen Orten manchmal in Serie auftrat. Tore ging zum Nachttisch, hob den Telefonhörer und wählte die Nummer des Bereitschaftsdiensts.
»Viking Holbach ist tot«, sagte er, ohne sich vorzustellen.
»Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen sich ins Bett legen?«
Wieder Inez.
»Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe? In Wohnung drei:zwölf liegt ein toter Kunde.« Er spuckte das blöde Wort aus.
Es wurde still am anderen Ende. Der Regen schlug gegen das Fenster. »Ich schicke sofort jemanden hin«, antwortete sie matt.
»Gut.«
Tore ging in die Küche, um nach einer Kerze und Streichhölzern zu suchen. Schließlich fand er ein Teelicht und zündete es an. Er stellte es auf den Nachttisch neben Viking, ging zum Fenster und zog die Gardinen auf. Da draußen schien ein dicker Mond zwischen den Regenwolken hervor. Tore betrachtete den Hof und glaubte für eine Sekunde zu sehen, wie sich der Boden hob, der auf den dämmernden Himmel mit dem Mond als Lichtpunkt traf. Ein Wegweiser für Vikings schwebende Seele.
Er schaute noch einmal zu Viking. Die Kerzenflamme flackerte sanft und warf Schatten auf den faltigen Hals, auf die Schwellung der Augenlider, die die Wimpern niederdrückte. Waren es die Konturen des Todes, die er in Vikings sonst so scharfem Blick zuletzt gesehen hatte? Ein verschwindendes Dasein? Eine Ankündigung?
Tore kniff die Augen zusammen und versuchte sich den jungen Viking vorzustellen, einen Mann, den er nie gekannt hatte. Er ahnte die scharfen, klaren Züge, die hervorstehende Kinnpartie und die gerade Nase. Vielleicht war das weiße Haar, das jetzt am Kopf klebte, blond gewesen, vielleicht auch aschblond.
Er ließ den Blick wieder auf den Boden gleiten. Ein deutlicher Fußabdruck befand sich neben dem kaputten Foto. Der Abdruck eines Halbschuhs, vielleicht einer Ledersohle, dachte er und hob den zerbrochenen Rahmen hoch.
Er hörte gleichzeitig wie draußen im Korridor der Aufzug ansprang. Blitzschnell steckte er das Foto in die Tasche seiner Strickjacke. Dann richtete er sich auf und ging langsam zurück in den Korridor, um die Nachtschicht zu empfangen.
»Das Pflegeunternehmen hat in einem Schreiben an die Gemeinde auf die Vorwürfe geantwortet.«
Örjan Svanberg, Redaktionsleiter bei der Zeitung Norrtelje Tidning, schob seine Brille auf die Stirn.
Am anderen Ende des Konferenztischs saß Veronika Wiklund. Die hellen Haare hingen gerade um das kleine, eckige Gesicht, das allzu oft rote Flecken bekam, als hätte sie sich gekratzt.
Bitte gib mir diesen Auftrag, dachte sie und spürte, wie sie rot wurde. Sie strich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und versuchte, seinen Blick zu erwischen. Doch flüchtig wie eine Fliege glitt der an ihr vorbei und über den halbleeren Redaktionsraum, irrte dort eine Weile über die Arbeitsplätze aus hellem Birkenholz, bevor er wieder an den Tisch zurückkehrte und auf einem Kollegen mit pechschwarzem, struppigem Haar landete.
»Sie meinen, das Problem liegt nicht in Carings Unternehmensführung, sondern in der Zusammenarbeit mit dem Medizin-Unternehmen, das für den medizinischen Aspekt des Pflegeheims verantwortlich ist«, sagte er und lehnte sich im Bürostuhl zurück.
»Ich vermute, dass du willst, dass wir das weiter untersuchen«, erwiderte Veronikas punkige Kollegin Carina. Sie schob vorsichtig eine Portion Kautabak unter die Lippen, die zur Feier des Tages heute pflaumenblau waren.
Wir. Ein Hoffnungsschimmer, vielleicht gab es doch noch eine Chance.
»Ich habe Zeit«, warf Veronika ein und versuchte, sich ins Spiel zu bringen, doch ihre Worte fielen spurlos ins Redaktionsmeer und wurden von einer Welle des Schweigens verschluckt.
In solchen Momenten fragte sie sich, was sie überhaupt hier machte und wieso er darauf bestand, dass sie an Planungstreffen teilnahm. Denn es schien bereits beschlossen zu sein, dass sie mit den echten Nachrichten nichts zu tun hatte. Ihr oblag es stattdessen, die Bewohner von Norrtälje nach der besten Eisdiele zu befragen und im Anhänger hinter einem Traktor her zu rumpeln, für eine tiefgehende Reportage über die erste Kuhsafari des Jahres der Väddö Molkerei. Sie war zwar Praktikantin, aber sie konnte deutlich mehr. Wenn er ihr denn bloß eine Chance geben würde.
Veronika blickte in Richtung des Eingangs, wo die himmelblaue Wand über den Recyclingmülleimern voller gerahmter Zeitungsseiten war. Die besten Schlagzeilen – wie eine Art Ruhmeshalle.
Der Chefredakteur lehnte an einem Behälter und unterhielt sich mit einem Kollegen, hohläugig, die nicht angezündete Zigarette wie üblich in einem Mundwinkel. Das faltige Jackett saß schlecht auf den fallenden Schultern und war zu kurz, um seinen Bauch zu verbergen. Er nickte ihr aufmunternd zu.
Hatte er Örjans Spiel bemerkt? Wahrscheinlich nicht, es war zu subtil. Manchmal fragte sie sich, ob es das nur bei ihr gab.
Es ärgerte sie, denn allein der Gedanke an all das rieb sie auf, wie es Gedanken tun, an die man nicht denken will. Örjans Aufgabe war, ihr zu helfen, nicht, ihr Steine in den Weg zu legen. Sie hatte noch die Worte des Chefredakteurs im Ohr, als er sie vor gut einem Monat einander vorgestellt hatte: »Er wird dein Mentor, hilft dir im Redaktionsleben, so dass du so schnell wie möglich in den Job reinkommst.« Bisher war er eher eine Fußfessel. Wenn sie nur verstehen würde, wieso.
»Also, was tun wir?«, fragte sie und ignorierte alles zwischen den Zeilen.
»Konfrontation«, antwortete er. »Ich will den Verantwortlichen auf die Finger schauen, sowohl Ömhetens Servicefirma als auch dem Besitzer, dem Pflegeunternehmen Caring. Antworten verlangen, einfach aus Prinzip tief graben. Es würde mich nicht wundern, wenn man in dieser Geschichte auch noch Boni und anderen Mist findet.«
Sie fasste sich ein Herz.
»Und das Medizin-Unternehmen?«
Er schüttelte den Kopf, und ein paar Schuppen fielen auf seine Schultern. Durch die dünnen Haare leuchtete die Kopfhaut.
»Aber ...«, sie schluckte, dann erkannte sie, dass Widerspruch ihr wohl kaum aus ihrer redaktionellen Pattsituation helfen würde. »Was möchtest du denn, was sollen wir tun?«, fragte sie stattdessen mit erzwungener Fröhlichkeit.
»Du kümmerst dich weiter um deine Artikelserie über Persönlichkeiten in der Väddö-Region.«
Ihr wurde kurz schwindlig. Was hatte sie geglaubt? Dass er eine Praktikantin an DIE Story des Monats setzen würde? Trotzdem breitete sich die Enttäuschung in ihr aus. Ihre Sicht trübte sich, Wörter und Wut saßen in der Brust.
»Wir müssen hier die Gunst verteilen«, sagte er, als hätte er ihre Unzufriedenheit ausnahmsweise mal bemerkt.
Sie nickte und stand auf. Hoffentlich merkte niemand, wie nah sie den Tränen war.
»Wir sind noch nicht fertig.«
Sie tat so, als hörte sie nicht. Trat demonstrativ fest mit den Absätzen auf, als sie den Raum verließ. Auch das ohne jede Wirkung, da all ihre Wut vom Teppichboden gedämpft und zu nichts wurde. Aus der Entfernung hörte sie, wie Örjan die Gestaltung des begehrten Interviews diskutierte. Trotzig ging sie in die kleine Küche am anderen Ende der Redaktion.
Wer bist du, Örjan Svanberg, dachte sie. Ein bedeutender Depp, der seine Unvollkommenheit an einer Sommeraushilfe auslassen muss.
Sie holte sich einen Kaffee und ein paar Kekse aus einer Packung, die jemand auf der Arbeitsfläche vergessen hatte, dann ging sie zurück an ihren Platz. Eine Putzfrau stand ein paar Meter entfernt und wischte auf einer der unzähligen Plastikpalmen Staub. Durch das Licht, das durchs Fenster fiel, sah er wie Zucker aus.
Veronika blies auf den heißen Kaffee und spähte zum Konferenztisch.
Örjan saß dort noch mit Carina. Sie überlegte, was sie tun sollte. Eigentlich hatte sie heute keinen Stress. Sie biss in einen Keks und öffnete Facebook. Fünf neue Beiträge, zwei von ihrer besten Freundin, Martela Escobar.
Die morgendliche Konferenz nagte noch an ihr.
Sie klickte sich durch die Bilder: Martela, die in einer dunklen Bar einen Mojito schlürft. Wände bedeckt von Erinnerungsstücken und Gekritzel. Sie lächelt in die Kamera, ihre dunkle Mähne um ihr herzförmiges Gesicht. Der tiefe Ausschnitt des schwarzen Kleides entblößt die sonnengebräunte Haut und groben Silberschmuck am Lederband. Freundinnen. Wie Pech und Schwefel während der gesamten Journalistenausbildung, trotz ihrer Gegensätze im Aussehen und Temperament.
Martela hatte eine Stelle beim Mallorca Daily Bulletin bekommen. Dadurch wirkte Veronikas eigenes Praktikum hier in Norrtälje ziemlich langweilig.
»Wie geht’s dir?«
Veronika zuckte zusammen und schloss Facebook. Ihre Finger auf der Tastatur waren feucht. Sie hatte Carina nicht kommen gehört.
»Gut«, antwortete sie langsam.
Carina nickte. »Du«, sagte sie. »Er meint das nicht böse.«
Dann war es ihr also auch aufgefallen.
»Nee.«
»Er testet dich, merkst du das nicht?« Der Lippenstift war ein bisschen verschmiert und unter der lila Schicht konnte man den echten Amorbogen erahnen.
»Testen? Er macht mich fertig. Ich weiß nicht, was ich getan habe, um das zu verdienen.« Ihr stiegen Tränen in die Augen. Sie konnte nichts dagegen tun.
Veronika wandte den Blick ab, in Richtung des Fensters, das sich nicht öffnen ließ und durch dessen triste, graue Gardinen das Licht fiel.
»Wahrscheinlich gar nichts«, sagte Carina nüchtern. »So ist er einfach. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, wenn du hier eine Zukunft haben willst.«
Zukunft? Hier? Sie hatte auf keinen Fall vor, in diesem Kaff zu bleiben.
»Und, hast du heute viel zu tun oder kommst du mit ins Ömheten?«
»Persönlichkeiten in der Väddö-Region«, antwortete sie seufzend. »Ein Altenheim klingt nach dem perfekten Ort für die Recherche.«
»Aber ...«
»Er merkt nichts, und ich brauche Hilfe.«
Veronika schaute zu Örjans Glaskasten. Er saß zurückgelehnt in seinem Stuhl, tief in seiner eigenen Welt versunken, die Hände in den Taschen des dunkelgrünen Jacketts. Immer dasselbe Jackett, dachte sie. Der Cord war abgetragen, in den ursprünglich hohen Längsrippen befanden sich kleine Lücken.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Du tust dir keinen Gefallen, wenn du hier rumsitzt und dir selbst leidtust, weißt du.«
Sie spürte, wie Carinas graugrüne Augen sie festnagelten.
»Außerdem, wenn du mal mit ein paar richtigen Aufträgen unterwegs bist, wirst du merken, dass dieses Kaff nicht so schlimm ist, wie du glaubst.«
»Was …«
»Du zeigst, was du denkst«, sagte sie und deutete auf den Block.
Hingeschmiert, aber leider vollkommen leserlich stand verdammtes Kaff auf dem Papier. Sie spürte, wie ihre Wangen rot wurden.
»Ich meinte nicht, ...«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich komme auch nicht von hier. Norrtälje kam in meinem Lebensplan eigentlich nicht vor. Ich bin als Praktikantin hierhergekommen, genau wie du.« Sie lächelte.
Veronika riss die Seite aus dem Block und knüllte sie zusammen. »Ich komme mit«, sagte sie und stand auf.
Es hatte zwei Stunden gedauert, bis die ersten Polizisten ankamen.
Verdammt lang, aber was konnte man schon erwarten, dachte Tore und trat in den Kies. Er selbst hatte diese lange Wartezeit jedenfalls gut genutzt. Er hatte seine Beobachtungen zusammengefasst, um der Polizei schnell und präzise Auskunft geben zu können: Eine genaue Uhrzeit für den Einbruch, eine Täterbeschreibung und eine Zeitspanne, innerhalb der Viking sein irdisches Leben verlassen hat. Er hatte auch den Fußabdruck am Bett gesichert und festgestellt, dass es einen anderen auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer gab. Diese Tatsache hatte ihn gewundert. Daher hatte er auch das Beet darunter untersucht, wo er Abdrücke von Turnschuhen fand, während die, die er neben dem Bett gesehen hatte, sich nur in der Wohnung fanden. Daraus hatte er geschlossen, dass der Eindringling in Turnschuhen, den er selbst durch den Spion gesehen hatte, vor Aufregung durch das Fenster geflohen war.
Er hatte den Polizisten auch den Bilderrahmen zeigen wollen, doch als er ihnen die Situation beschreiben wollte, hatten die ihm nur sanft auf die Schulter geklopft und waren dann direkt in die Wohnung gegangen, dabei zerstörten sie einige der Indizien. Da wurde ihm klar, dass es keine Rolle spielte. Er war wütend, weil man ihn nicht ernstnahm.
Sein Blick wanderte in die Wolken, die Norrtälje heute bedeckten. Er war es so leid, ein weiteres Mal schlecht behandelt zu werden. Denn er hatte bereits einen Anpfiff bekommen, weil er 112 angerufen und die Polizei eingeschaltet hatte.
In diesem Land herrscht eine verdammte Altersdiskriminierung, dachte er und änderte seine Position auf der Gartenbank, direkt unter Vikings Fenster, vor der polizeilichen Absperrung. Aber er würde allen zeigen, dass er, Tore Lindahl, niemand war, auf dem man herumtrampelte.
Er klopfte auf die Brusttasche seiner Jacke, in der der kleine Silberrahmen sicher lag. Den hätten sie durchaus haben können, aber wenn sie nicht auf einen ehemaligen Kollegen hören wollten …
Nach dem Regen in der Nacht war die Bank nass und seine Baumwollhose wurde feucht. Die Kälte zog bis in die Unterhose. Jetzt werde ich mich auf jeden Fall erkälten, dachte er und trat mit den Pantoffeln auf den lehmigen Kies. Oben am Himmel zogen die Wolken immer schneller vorbei.
Die Birke hinten am Waldstück bewegte sich, nur ein bisschen. Merkwürdig, dachte er. Ein Baum konnte sich ja nun schlecht von allein bewegen?
Auf die Krücke gestützt stand Tore auf und ging zum Wald. Dass er noch nicht früher daran gedacht hatte. Vielleicht habe ich doch etwas abgebaut, überlegte er und überquerte den Hof.
Unterm Baum lagen ein paar abgebrochene Äste. Der Boden darum war platt getreten, und es lagen zwei Kippen dort. Über ihm der bedrohliche Himmel, in der Luft der Geruch von Verwesung.
Verdammte Schlamperei, dachte er. Was hatte die Polizei überhaupt gemacht?
Tiefer im Wald hörte man einen leisen Ton. Eine Störung der kompakten Stille.
So vorsichtig wie möglich schlich Tore weiter in Richtung des Lauts. Ein Ton kam zum anderen und wurde zu einer Melodie, die ganz woandershin gehörte. Die Präsenz wurde immer stärker. Mittsommer, dachte er. Kommt Lilien und Akelei, kommt …
Die Krücke traf auf einen Stein. In der Birke erhob sich eine Elster in die Luft und verschwand krächzend zum Wasser. Die Musik hörte auf. Schritte, die sich schnell entfernten, waren zu hören. Die Warnung des Waldes. Tore trat gegen die Krücke. Verdammte Krankheit, die ihn zu einem Krüppel gemacht hatte. Im Wäldchen war es wieder still.
Enttäuscht drehte er sich zum Hof um, wo die Heimleiterin Anita Lindberg gerade aus dem Hauptgebäude trat und auf das Auto von Besuchern zuging.
Tore dachte nach. Er war sich eben noch so sicher gewesen, dass er die Fiedel gehört hatte, aber selbst sein Gedächtnis ließ ihn heute im Stich. Er hob das blau-weiße Absperrband hoch und setzte sich wieder auf die feuchte Bank.
Anita war inzwischen bei dem Auto und öffnete die Beifahrertür.
»Es war heute nicht einfach, dich hierher zu holen.« Die Stimme war hoch und schrill. Sie hallte an den Hauswänden rund um den Hof wider, wodurch ihr Ärger öffentlicher wurde, als sie selbst ahnte.
Tore richtete sich erwartungsvoll auf der feuchten Bank auf und wartete auf die Fortsetzung.
Anita war bald sechzig. Das dauergewellte Haar kurz und dunkelrot gefärbt, das Gesicht voller kleiner, schmaler Falten. Er sah, wie ihr Kiefer mahlte, die Lippen fest zusammengebissen.
Der Motor wurde ausgeschaltet und die Ärztin des Pflegeheims, Sissela Franzén, stieg aus dem Wagen. »Ich hatte einen Decubitus, der Priorität hatte«, antwortete sie kühl. Sie war deutlich größer als Anita. Das scharfe Profil, das dunkle, elegant gewellte Haar, die harten Falten, alles strahlte eine Art hochgeborene Sicherheit aus, die alle in ihrer Nähe zusammenschnurren ließ.
Anita verzog den Mund.
»Wo ist er denn?«, fuhr Sissela fort, ohne sich um Anitas ablehnende Begrüßung zu kümmern.
»Erdgeschosswohnung drei:zwölf.« Die Stimme war durchdringend.
»Ist das nicht neben Clark, der letzte Woche gestorben ist?«
»Ja, die Polizei müsste inzwischen fertig sein. Du kannst also hinein«, antwortete sie.
»Die Polizei?« Diese Information brachte die Ärztin zum Lächeln. Hinter den eleganten, rot geschminkten Lippen blitzte eine weiße, makellose Zahnreihe auf.
»Ja, ein Bewohner hat sie angerufen.«
»Wieso das denn?«
»Es war der alte Polizist aus der Nachbarwohnung. Er glaubt, dass er immer noch im Dienst ist, der Arme. Er ist davon überzeugt, dass jemand eingebrochen ist. Inez war da, als er zum ersten Mal in der Nacht Alarm geklingelt hat, aber sie hat nichts gesehen.«
Was für eine Erniedrigung, dachte Tore und wand sich. Wie sehr er es hasste, alt zu werden.
»Viking Holbach ist also der Tote, oder wie?«
»Ja.«
»Du weißt, dass er der Onkel des Geschäftsführers von Curas war.«
»Ja.«
»Wann ist er gestorben?«
»Ich dachte, es ist deine Aufgabe, das herauszufinden.«
»Also, wenn du es lieber so haben willst …«
»Irgendwann heute Nacht.«
»Es wäre angesichts der Verwandtschaftsverhältnisse vielleicht sinnvoll gewesen, etwas engagierter zu reagieren.«
Anita atmete tief ein und sah die Ärztin an. »Sissela«, sagte sie, »muss ich dich daran erinnern, dass du und nicht ich der Angelegenheit eine niedrigere Priorität gegeben hast. Außerdem zählt Vitamin B durch familiäre Beziehungen zur Leitung des Medizin-Unternehmens hier nicht.«
»Das ist rein theoretisch vielleicht richtig, aber Viking war zu seiner Zeit eine herausragende Unternehmerpersönlichkeit und sein Neffe ist es heute. Das könnte dem Heim negative Aufmerksamkeit bringen.«
»Was willst du damit andeuten?«
»Nichts.«
»Viking ist gestorben, weil er alt war. Punkt. Niemandem ist damit gedient, es aufzublasen, nicht mal dir.«
Sissela Franzén lächelte und zeigte ihre geraden Zähne. »Das sehen wir ja dann«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Endloses Distanzieren.
Ein stummer Machtkampf. Viking unverschuldet in dessen Epizentrum. Oder wackelte die Welt jetzt um ihn herum? Verlegen kratzte Tore sich am Kopf, konnte diesen Gedanken aber nicht weiter nachgehen, da im Hof ein schrilles Telefonklingeln zu hören war. Anita nahm schnell ihr Handy aus der Kitteltasche. Sie trat ein paar Schritte von der Ärztin weg, näherte sich Tores Bank. Ins Gespräch vertieft, den Blick auf den Kies gerichtet, blieb sie nur wenige Meter neben ihm stehen. Das Licht fiel auf die Falten in ihrem Gesicht, sie weiteten sich und zogen sich zusammen.
Sie wird auch alt, dachte er. Die Haut über dem geblümten Kittel hing schon, aber anders als bei den Bewohnern des Heims, ahnte man in ihren symmetrischen Zügen immer noch Schönheit.
Langsam hob sie den Kopf und strich ihre Haare zurück.
»Es wissen nur eine Handvoll Leute«, sagte sie. »Ich habe mit allen gesprochen. Keinerlei Mitteilung an die Presse, damit sind sie einverstanden.«
Mit mir hat niemand gesprochen, dachte er. Andererseits gibt es mich in ihrer Welt gar nicht.
Sie sehen durch mich hindurch, als wäre ich transparent.
»Die Tür ist immer abgeschlossen, aber natürlich kann man nachts mit einem Schlüssel hineinkommen, der Empfang ist dann nicht besetzt«, fuhr Anita fast flüsternd am Telefon fort.
Transparent?, dachte er. So durchsichtig wie die Folie, die ich jeden Morgen über den Käse spanne.
»Natürlich könnten sie es so drehen. Ich werde mein Bestes tun, sie draußen zu halten«, beendete Anita das Gespräch und legte auf. Langsam ging sie zurück zu Sissela. Den Körper stark gebeugt.
Etwas musste geschützt werden. Die an der Macht? Vielleicht sogar ihre eigene Haut?
»Wie gesagt hoffe ich, dass wir hierbei zusammenarbeiten können«, sagte sie zu Sissela. »Kein Wort zu den Medien.« Sie richtete sich auf, als fiele ihr gerade ein, dass sie die Heimleiterin war und man von ihr erwartete, die Situation zu regeln.
»Sie sind bereits hier. Ich habe den Wagen der Norrtelje Tidning ein Stück von der Einfahrt entfernt parken gesehen.«
Sissela deutete mit einem langen, schmalen Finger in Richtung Straße. »Wenn nur eine Handvoll Bescheid wissen, sollte es leicht sein, herauszufinden, wer angerufen hat.«
Anita schwieg. War das Angst in ihrem Gesicht?
»Ist dir je in den Sinn gekommen, dass Zusammenarbeit auf Gegenseitigkeit beruht? Warum sind die hier?«, hakte Sissela nach.
»Ich habe zusammen mit dem Arbeitsschutzbeauftragten auf deine Anklagen gegenüber der Gemeinde geantwortet. NT will Kommentare von mir«, erwiderte Anita.
»Es wäre wohl eine gute Idee, das in dieser Situation abzusagen.«
»Ich begreife, dass dir das gut passen würde. Das Interview ist seit langem geplant. Es jetzt abzusagen würde nur zu Nachfragen führen.« Anitas Stimme wurde härter. »Wenn du dich jetzt um deine Sachen kümmern würdest«, fuhr sie fort, »dann kümmere ich mich um meine. Den Weg kennst du ja.«
Sie ging zurück ins Verwaltungsgebäude, das Handy fest umklammert.
Sissela Franzén zuckte mit den Schultern. Sie überquerte die Boulebahnen mit Blick auf die Bucht von Norrtälje, ging in Richtung der Wohnungen und verschwand im Gebäude.
Eine Frau mit Autorität, dachte Tore mit aufrichtiger Bewunderung. Es gab nicht viele, die Anita aus der Ruhe bringen konnten.
Ihm war klar, dass es unterschiedliche Ansichten darüber gab, wie das Heim betrieben werden sollte. So diametral unterschiedliche Standpunkte, dass die Ärztin sich zuletzt als Waffe an die Medien gewandt hatte. Sie hatte einen offenen Brief geschrieben, zu all dem, was ihrer Meinung nach im Pflegeheim verkehrt lief. Sie kritisierte, dass man das Personal verringert hatte, nicht zuletzt in der Abteilung für Demenzkranke. Er selbst war überrascht gewesen, als er den Brief in der Zeitung gelesen hatte, denn er hatte davon nichts bemerkt. Sicher gehörte er nicht zu den Patienten im Heim, die richtige Pflege benötigten, aber dennoch.
Direkt über seinem Kopf wurde heftig ein Fenster geöffnet. Jemand beugte sich vor und rotzte ins Beet, nicht weit von seinem Nacken entfernt. Die Kehrseite der Transparenz, dachte er und wollte gerade wieder in seinen Grübeleien versinken, als er Sisselas Stimme klar und deutlich über sich hörte.
»Es scheint, als wärst du die Letzte, die ihn lebend gesehen hat.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ich habe im Berichtsbuch gesehen, dass du hier gewesen bist.«
»Ja, er hat geklingelt. Hatte Schmerzen im Bein. Ich habe ihm eine Alvedon gegeben, bin eine Weile sitzen geblieben und habe mit ihm gesprochen. Als ich ging, war alles in Ordnung. Wieso fragst du?«
»Eine Routinefrage.«
»Unsinn. Ist irgendwas nicht in Ordnung?«
Die Stimmen verschwanden ins Zimmer, so dass er sie nicht mehr hörte. Tore trat gegen einen Stein und verfluchte sein Pech. Er hatte den Platz unterm Fenster mit Bedacht gewählt.
Die Polizisten, die das Absperrband gespannt hatten, forderten ihn auf, dort wegzugehen, aber er hatte nur den Kopf geschüttelt, sein Alter vorgeschoben und war einfach sitzen geblieben. Er hatte mit den Pantoffeln auf den Kies getrampelt, um das Bild eines unzurechnungsfähigen Alten zu verstärken. Schließlich hatten sie aufgegeben und das blau-weiße Band um die Bank herum gespannt. Auf gewisse Weise war er jetzt rein technisch ein Teil des Tatorts.
Die Konturen des Todes und die gleitende Abwesenheit. Erledige mich, wenn nötig. Hatte jemand vom Personal Viking beim Wort genommen? Er verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war.
»Ich habe gehört, was passiert ist.«
Tore wurde aus seinen Gedanken gerissen und schaute auf. Josef, das Faktotum des Pflegeheims, stand auf dem Kies und sah ihn mit seinen braunen Augen an. Die grauen Haare lockten sich an seinen Schläfen.
»Jesses, hast du mich erschreckt.« Tore fasste sich an die Brust und spürte den Rand des Silberrahmens.
»Entschuldige.« Josef kam ein paar Schritte näher. »Was tust du hier?«
Tore zuckte mit den Schultern. »Ich sitze schon den ganzen Morgen auf dieser Bank«, sagte er.
»Hat die Polizei nichts dagegen, dass du hinter der Absperrung sitzt?«
»Ein Privileg für denjenigen, der zur Truppe gehört. Ich sehe es als rückwirkendes Personalrecht.«
Josef lachte. »Willst du nicht lieber mitkommen und eine Tasse Kaffee trinken, anstatt hier herumzusitzen und zu frieren?«
»Danke, aber mir geht es hier gut.«
»Mach, was du willst, die Einladung steht, solltest du deine Meinung ändern.«
»Danke.«
Josef blinzelte. Er blieb stehen, als wartete er auf eine Fortsetzung, fuhr sich über die Adlernase.
»Versuch gar nicht erst, mich zu überreden.«
»Okay, aber nur damit du es weißt, in diesen Pantoffeln siehst du wie ein Verrückter aus. Da besteht die Gefahr, dass sie mit einer Zwangsjacke kommen«, sagte er, drehte sich auf dem Absatz um und ging Richtung Eingang.
»Du, Josef …«
»Ja?«
»Danke, dass du dich kümmerst.«
»Keine Ursache. Du weißt, wo du mich findest.« Damit verschwand er.
Josef, Ömhetens gute Seele. Jemand, der sich wirklich um die Alten sorgte. Er war für die Alltagsaktivitäten zuständig, wie es so schön hieß. Vorlesen, Kreuzworträtsel und Gesellschaftsspiele. Würstchengrillen am ersten Mai, die Lucia-Feier vor Weihnachten. Aktivitäten, über die Tore die Nase gerümpft hatte, als seine Tochter Anna sie ihm aus der Hochglanzbroschüre vorgelesen hatte, um ihn davon zu überzeugen, die Wohnung anzunehmen.
Für Tore klang das wie Reklame für eine Vorschule, aber mit Josef am Steuer wurde alles mit einer erwachsenen Würde veranstaltet.
Mit seinem Alter fiel der liebe Josef auf. Er musste bald sechzig sein. Er ließ den Stress, den das restliche Personal spürte, nicht an sich heran und nahm sich immer Zeit zum Reden. Aber da gab es noch etwas bei Josef, eine Tiefe und Zurückhaltung in seinem traurigen Blick. Als säße die Schwermut des Lebens in ihm fest.
Der Kies im Hof knirschte schon wieder und ein Auto mit dem Logo von Norrtelje Tidning auf der Seite bremste vor der Einfahrt. Keine Medien, dachte er fröhlich.
Zwei junge Frauen stiegen aus dem Wagen. Die eine erkannte Tore sofort. Ihre schwarzen Haare standen in alle Richtungen wie nach einer schlechten Nacht. Die andere war jünger. Ein süßes, blondes Mädchen, das er noch nie gesehen hatte.
Die Reporterinnen sahen sich um, dann richteten sie ihre Schritte schnell auf das Verwaltungsgebäude, ohne ihn auch nur zu bemerken. Hättet ihr meine Existenz auch nur bemerkt, hätte ich euch vielleicht das ein oder andere erzählt, dachte Tore. Eine Sekunde lang genoss er es, missverstanden zu werden. Dann erinnerte er sich an das Gespräch zwischen Sissela und Anita und änderte seine Meinung. Hier galt es, seinen Feind zu wählen. Eine Einsicht, die ihn zum Lächeln brachte. Er würde ihnen schon zeigen, dass der alte Mann noch Feuer hatte.
Rentner zu interviewen, stellte sich als dämliche Arbeit heraus. Intellektuell auf demselben Niveau wie Veronikas frühere Aufträge.
Berichte aus erster Hand über den tatsächlichen Zustand der Vernachlässigung und der knappen Ressourcen oder besser gesagt keine Berichte, denn Veronika holte nicht viel aus ihnen heraus. Intensives Suchen in den Irrwegen des Gedächtnisses und gerunzelte Stirnen brachte nicht viel mehr als Beschwerden über die Öffnungszeiten der Fußpflege und Enttäuschung darüber, dass es nie Kohlrouladen gab. Also nichts Schwerwiegendes, dabei hatte sie sich wirklich bemüht.
Stattdessen war der Handyspeicher jetzt voller ausschweifender Geschichten von früher. Glasklare Erzählungen, die trotz der vergangenen Zeit und dem nachlassenden Kurzzeitgedächtnis immer noch präzise waren.
Veronika seufzte und betrat den Gemeinschaftsraum des Heims.
Der Regen war wieder heftiger geworden und schlug an die Fensterscheiben. Rinnsale flossen über das schmutzige Glas. Sie sah sich im hell erleuchteten Zimmer um.
An einem der Tische saß ein Mann im gammeligen Morgenmantel und schob ein Wirrwarr an Puzzleteilen über die Tischplatte. Er drückte geduldig die Kanten der Teile aneinander. Das graue, schüttere Haar ließ die raue Kopfhaut sehen, die Stirn in tiefe Falten gelegt.
»Tore Lindahl?«, fragte sie vorsichtig.
Der Mann sah auf und schüttelte den Kopf, dann kehrte er zu seinem Himmelsbau zurück. Sie setzte sich aufs Sofa, um zu warten. Ein letztes Interview, außerhalb des ursprünglichen Plans, ohne den wachsamen Blick der Leitung. So hatte sie es jedenfalls verstanden. Ein Funken Hoffnung. Der Mann hatte darauf bestanden, sie zu treffen. Er hatte Josef geschickt, einen älteren Angestellten, um es zu arrangieren, und sie gebeten, hier zu warten.
Sie sah sich im Zimmer um. Es war sauber. An den Wänden standen Billyregale von Ikea voller alter, zerlesener Taschenbücher. Durch das Fenster sah man den Garten, in dem die Rentner nachmittags Kaffee tranken, wenn das Wetter es zuließ. So hatte man es ihr jedenfalls erzählt.
In einer Ecke stand ein Fernseher und plapperte vor sich hin. Es war eine Diskussion über Pflege mit geladenen Gästen auf dem Studiosofa. Wie passend, dachte sie und warf einen Blick auf den Bildschirm.
Als direkte Folge der zuletzt öffentlich gewordenen Missstände in privatwirtschaftlichen Pflegeheimen...
Sie hatte keinen Nerv, zuzuhören, wusste ja, was danach kommen würde. Eine Geschichte über gewogene Windeln und Verwahrlosung. Effektiv herausgearbeitetes rhetorisches Pulver, alle Nuancen weggespült, potentielle Auswege verschlossen.
Ich bin auch nicht besser, überlegte sie und schloss die Augen, um sich zu sammeln. Ein leichter Tannennadelduft lag im Zimmer, er blieb in der Nase. Die Suche nach einem unterschwelligen Geruch, der um jeden Preis verborgen werden soll?
Sie ließ die letzten Stunden Revue passieren.
Schwarze Bretter mit Werbung für Thai-Chi-Stunden und Vorträge. Personal in gesunden Schuhen, gemusterte Kittel, der Name stand auf kleinen Metallschildern an der Brust. Örjan würde nicht zufrieden sein. Ich muss etwas finden, dachte sie. Sonst darf ich nie wieder mitkommen.
Ein letztes Interview. Dringend, hatte Josef es genannt. Tore Lindahl. Ich hoffe, dass du wenigstens klar im Kopf bist, dachte sie und strich ihre Haare hinters Ohr.
Am anderen Ende des Raums saß eine Frau zusammengesunken auf einem Stuhl und strickte. Die deformierten Hände bewegten sich langsam durch das Zopfmuster. Die Zopfnadel schlug bei jeder Bewegung gegen die anderen zwei. Drei einsame Maschen rutschten immer näher und näher ans Ende. Millimeter um Millimeter, bis die Stricknadel schließlich auf den Boden fiel. Die Frau stand mühsam auf. Ihre Brüste, die unter dem weißen T-Shirt zu sehen waren, hingen schwer und bildeten einen Wulst am Bauch. Sie beugte sich waghalsig vor, um die Nadel zu erreichen.
Veronika lief vor. »Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
Die alte Dame strahlte sie an. »Danke, meine Liebe«, sagte sie und ihre knochige Hand berührte Veronikas. »Willst du mich besuchen?«
»Nein, Barbro, das ist Tores Besuch.« Josef, der gerade den Raum betreten hatte, kam zu ihnen und half der Frau wieder auf den Stuhl.
»Tore kommt sofort«, sagte er an Veronika gewandt.
»Nie für mich«, meinte Barbro bitter. Ihre Haare waren grau, strähnig und hatten einen Topfschnitt.
Veronika wandte den Blick ab. Sie schämte sich, dass sie ihr Hoffnung auf ein Gespräch gemacht hatte.
»Wer sind Sie eigentlich?«, fuhr Barbro fort. »Sie haben ihn bisher noch nie besucht, oder?« Der milde Tonfall war verschwunden.
Es war offensichtlich, dass Barbro sie nicht so leicht gehen lassen würde.
»Ich komme von der Zeitung, Norrtelje Tidning.«
»Er hat doch nicht viel zu erzählen. Wenn Sie über etwas Spannendes schreiben wollen, dann sollten Sie mich interviewen.«
Veronika wand sich und fragte sich, wie sie aus diesem Gespräch herauskommen konnte, ohne unverschämt zu werden.
»Jetzt erinnere ich mich«, verkündete Barbro triumphierend. »Sie kommen von der Norrtelje Tidning, stimmt’s?«
Veronika nickte und lächelte die Frau matt an. Ein durchlässiges Gedächtnis.
»Ich erinnere mich an alles. Niemand glaubt, dass Barbro sich erinnert«, murmelte die Frau, als hätte sie Veronikas Gedanken gelesen.
»Barbro …«, schaltete Josef sich ein. »Veronika muss jetzt arbeiten.«
Barbro verzog den Mund. »Ja, ja, da will ich nicht stören.«
»Vielleicht ein anderes Mal«, sagte Veronika als Versuch, die Wogen zu glätten. Aber Barbro antwortete nicht. Sie nahm ihr Strickstück wieder auf und zählte hochkonzentriert die Maschen.
»Heute redest du nur noch Müll, aber das ist auch egal«, murmelte der Mann mit dem Puzzle und drückte noch ein blaues Stück in den weiter wachsenden Himmel.
»Halt die Klappe«, erwiderte Barbro, ohne den Blick von ihren Nadeln zu wenden.
»Na, sieh mal an, da ist ja Tore«, rief Josef erleichtert.
Ein dünner Mann betrat den Raum. Die eine Gesichtsseite hing, die Hose hatte feuchte Flecken. Inkontinenz, dachte sie, oder vielleicht auch nur Regen?
»Ich denke, jetzt kommen Sie auch alleine klar«, meinte Josef. »Ich bin auf dem Handy zu erreichen, sollte etwas sein«, ergänzte er.
Tore blieb stehen.
»Sind Sie die Journalistin?«, fragte er misstrauisch, schob die Brille auf die Glatze und trocknete sich die Augen mit dem Handrücken. Seine scharfen Eichhörnchenaugen musterten sie von oben bis unten.
»Ich dachte, sie würden Eklund schicken«, fuhr er enttäuscht fort.
»Das haben sie nicht.«
Das ist schon merkwürdig, überlegte sie, dass alle hier vom Kriminalreporter der NT interviewt werden wollten. Einem Schürzenjäger mit Hang zur Flasche, dessen umfassende Affären seinem ansonsten ziemlich mittelmäßigen Journalismus Antrieb zu verleihen schienen.
»Ich kenne dich«, fuhr er fort.
»Das glaube ich nicht.« Veronika merkte, wie ihr Ärger anstieg, sie hatte wirklich keine Lust, sich qualifizieren zu müssen, um diesen Alten zu interviewen.
»Märta und Einars Enkelin«, sagte er, nahm ein Taschentuch und wischte mit der gesunden Hand über seine Glatze. »Als du klein warst, kamst du immer zu Besuch nach Grisslehamn.«
Sie wurde weich, dachte an all die Kaffeekränzchen, zu denen ihre Oma sie mitgenommen hatte. Anscheinend auch zu diesem Mann.
»Wie konnten Sie mich wiedererkennen? Das muss doch schon ewig her sein.«
»Aus meiner Warte noch nicht so lange«, meinte er und lächelte schief mit seinem Delphingesicht.
»Mein Opa ist im Herbst gestorben«, sagte sie.
»Das tut mir leid. Wie geht es Märta?«, fragte er versöhnlich.
»Sie hat sich noch nicht an die Einsamkeit gewöhnt. Sie ist nicht mehr so gern in ihrem Haus.«
»Märta macht Theater«, summte Barbro in ihrer Ecke vor sich hin und hob eine gefallene Masche.
»Nein, das braucht Zeit, weiß Gott«, antwortete Tore. Er ignorierte Barbros Singsang. »Meine Frau ist vor ein paar Monaten gestorben.« Er blickte zum Fenster, an das der Regen immer heftiger klatschte, und in die regenschweren Wolken.
»Marta Theater …«
»Jetzt halt doch mal die Klappe«, brüllte der Alte im Morgenmantel und warf eine Handvoll Puzzleteile nach Barbro.
Tore schaute Veronika an. »Komm«, sagte er. »Gehen wir zu mir, da haben wir Ruhe.«
»Können wir die beiden denn allein lassen? Sollten wir nicht Josef rufen?«
»Jan und Barbro? Die sind die besten Freunde, und das schon von Kindheit an.«
»Das merkt man nicht.«
»Es ist nicht alles so, wie es aussieht.«
»Nein«, meinte sie nachdenklich.
Sie verließen den Aufenthaltsraum und gingen zum Treppenhaus. Er führte sie durch den Korridor, dessen gelbbeige Wände in den gleichfarbigen Linoleumboden übergingen. Der Boden war abgelaufen und jedes Muster schon seit langem verschwunden. Tore schlurfte in seinen Filzpantoffeln vor ihr her. Die Sohlen quietschten vor Feuchtigkeit. Aus einer Tür raus, durch eine andere rein. Die Krücke schlug auf den Boden. Veronika musste lächeln, der alte Mann war durchaus sympathisch.
Sie gingen durch noch einen Korridor und blieben schließlich vor einer Reihe Türen stehen. Tore steckte den Schlüssel ins Schloss und betrat seine Wohnung. Er führte sie in die Küche.
Das Fenster zum kleinen Waldstück stand einen Spaltbreit auf und füllte die Wohnung mit sauerstoffreicher Luft. Die Möbel waren alt, aber gut erhalten. Die Resopalarbeitsplatte passte schlecht zur modernen Kücheneinrichtung.
Die Spüle glänzte, es stand kein Abwasch darin.
»Setz dich«, sagte er und zeigte auf die blau gestrichenen Windsor-Stühle. Er selbst nahm an der Spüle Platz und holte eine Kaffeepackung aus dem Regal.
»Wohnen Sie schon lange hier?«, fragte sie vorsichtig.
Er schüttelte den Kopf. »Ein paar Monate«, antwortete er und schaltete mit dem gesunden Arm die Kaffeemaschine an. »Schlaganfall«, fuhr er fort und deutete auf seine schlapp hängende Seite. »Nach dem Tod meiner Frau konnte ich nicht mehr allein zu Hause wohnen.«
»Fühlen Sie sich hier wohl?«
»Nein«, sagte er und warf einen Löffel Kaffeepulver so heftig in den Filter, dass der Inhalt sich auf der Arbeitsfläche verteilte. »Ich vermisse mein Haus in Singö, zum Teufel noch mal, entschuldige den Ausdruck. Seit ich hier bin, frage ich mich immer häufiger, was es für einen Sinn macht, hier zu sitzen und darauf zu warten, mich zu meinen Freunden auf dem Friedhof in Väddö zu gesellen.«
Was antwortet man auf sowas, überlegte sie. Sie sah die Grabreihen vor sich. Unter jedem Stein ein Schicksal, eine Geschichte und im Leben zurückgelassen die trauernden Angehörigen.
»Unsere Zeit ist begrenzt, aber das ist schwer zu verstehen, wenn man ein junges Mädchen ist wie du.«
Er reichte ihr eine Tasse mit Untertasse. Reinweißes Porzellan mit klassischem, kobaltblauem Dekor, erhabene, kleine Trauben. Genau wie bei Oma. Dazu kleine, zierliche Kaffeelöffel. Jetzt fehlt nur noch das Likörglas, dachte sie und deckte den Tisch.
Tore goss den heißen Kaffee ein und setzte sich Veronika gegenüber.
Er öffnete eine Dose mit Himbeerkeksen und legte sie auf einen Teller.
»Tunk die ordentlich in den Kaffee.« Er schob sie zu Veronika.
»Danke. Haben Sie die gebacken?«
»Nein, mit dem hier geht das nicht mehr.« Er zeigte auf die unbrauchbare Hand und tunkte einen Keks in den Kaffee. »Mein Schwiegersohn hat sie mir gestern gebracht. Sie sind von Veras in Grisslehamn.«
Veronika biss ein großes Stück ab, die Marmelade füllte ihren Mund. »Super lecker«, sagte sie und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. »Da muss ich hin und auch welche kaufen. Sollen wir anfangen?«
Er nickte und sie nahm den Notizblock und das Handy aus dem Rucksack und legte sie vor sich auf den Tisch.
»Ich werde Ihnen ein paar Fragen zum Service stellen und ob Sie sich im Heim wohlfühlen.«
»Nein«, erwidert er.
»Was?«
Im Zimmer herrschte ein merkwürdiges Licht.
Er senkte die Stimme: »Ich werde dir etwas erzählen.« Die Eichhörnchenaugen blinzelten, wodurch das halb gelähmte Gesicht richtig lebendig aussah. Er blickte sich in der Küche um, als wollte er sich versichern, dass die Wände nicht lauschten.
»Kann ich dir genauso vertrauen wie Eklund?«
Als ob man dem Säufer vertrauen könnte, dachte sie. »Ja, Sie können mir vertrauen.«
»Jemand hat meinen Nachbarn um die Ecke gebracht.«
»Um die Ecke?«
»Ermordet.« Sie konnte sehen, wie sehr er sich wünschte, Eklund säße jetzt vor ihm.
»Ich weiß schon, was das bedeutet«, antwortete sie, strich mit dem Finger sanft über das Display ihres Handys und drückte auf Aufnahme. »Erzählen Sie«, sagte sie.
Und das tat er, von den Geschehnissen der Nacht im Detail und vom Gespräch zwischen Sissela und Anita.
»Wieso sind Sie sich so sicher, dass er ermordet wurde?«, fragte sie, als er fertig war. »Er war doch sicher alt? Vielleicht ist er einfach nur im Schlaf verstorben?«
»Die verbergen etwas, das weiß ich. Nenn es alten Polizeiinstinkt, wenn du willst.«
»Sie waren also Polizist«, stellte sie fest.
