Die leuchtenden Toten - Caitlin Starling - E-Book

Die leuchtenden Toten E-Book

Caitlin Starling

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Beschreibung

Eine Höhlenforscherin muss auf einem fremden Planeten um ihr Überleben kämpfen. Gyre Price dachte, sie würde auf dieser Expedition Mineralien untersuchen und ihre größten Probleme wären Höhlenzusammenbrüche. Sie dachte auch, der fette Gehaltsscheck bedeutet, dass ihr ein qualifiziertes Team beiseite steht. Stattdessen bekommt sie Em. Em sieht nichts Falsches darin, Gyres Körper mit Drogen zu optimieren, um ›einen reibungslosen Betrieb‹ zu gewährleisten. Em weiß alles über Gyres gefälschte Anmeldeunterlagen. Doch Em hat ebenfalls Geheimnisse … Allein und desorientiert irrt Gyre durch die Dunkelheit und muss sich den Geistern in ihrem eigenen Kopf stellen. Und sie ist sich sicher, dass sie verfolgt wird … Erschreckend. Ein Thriller im Stil von Der Marsianer und Gravity, aber viel unheimlicher.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 630

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Aus dem Amerikanischen von Claudia Rapp

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Luminous Dead

erschien 2019 im Verlag Harper Voyager.

Copyright © 2019 by Caitlin Starling

Copyright © dieser Ausgabe 2021 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Caitlin Starling.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur ­Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-905-3

www.Festa-Verlag.de

Für meine Mutter

1

Sie war noch nie so tief hinabgestiegen.

Gyre wand ihren gepanzerten Körper einen weiteren Zentimeter in die Felsspalte hinein und manövrierte dann ihre Tasche mit der Ausrüstung hinter sich her. Die Panzerung der Rückseite ihrer Wade schabte über den Stein, und das Geräusch ließ sie zusammenzucken. Niemand hatte sie gewarnt, dass die Öffnung zum unteren Höhlensystem so schmal war – oder so leer. Genau genommen hatte sie auch sonst kaum eine Vorwarnung oder Vorbereitung bekommen. Sie war zu begierig darauf gewesen, unter die Oberfläche zu gelangen, um sich zu fragen, ob es nicht mehr hätte geben sollen als die knappe Einführung, die sie bekommen hatte.

Dennoch, als sie sich für die Expedition gemeldet hatte, war sie von drei Dingen ausgegangen:

Erstens, dass es ein Team gab, das ihr zur Seite stand, aus der Ferne die Ablesungen ihres Anzugs beobachtete, ihr wenn möglich Karten zur Verfügung stellte und ihr im schwächer werdenden Licht Gesellschaft leistete, während sie in die Tiefe hinabstieg.

Zweitens, dass sie durch ein riesiges Bohrloch in ein Bergbau-Camp absteigen und dort Pause machen würde, bevor sie sich tiefer in den Untergrund vorarbeitete.

Und drittens, dass der Geldbetrag, den man ihr geboten hatte, Rückschlüsse darauf zuließ, wie durchdacht und aufwendig die Expedition wäre.

Und doch befand sie sich nun ganz allein hier in einer winzigen Felsspalte an einer unbekannten Stätte, und die Lautsprecher ihres Helms blieben stumm.

»Hier Caver«, meldete sie zum fünften Mal. »Ich wüsste Kontaktaufnahme wirklich zu schätzen, Basis.«

Zum fünften Mal erhielt sie keine Antwort. Die einzigen Geräusche waren ihr eigener Atem im Innern des Helms, das weich pulsierende Warnsystem, das vor ihrem Gesicht angezeigt wurde, und das Ächzen ihres Anzugs, der sich gegen den Fels stemmte, als sie ihr Rückgrat verdrehte, um sich ein paar weitere Zentimeter voranzuarbeiten.

Gyre hielt inne, stemmte sich gegen die gekrümmte Wand der Spalte. Vielleicht sollte sie zurück. Vielleicht funktionierte ihr Anzug nicht richtig. Als er ihr im Krankenhaus angepasst wurde, hatte sie die reguläre, zweimalige Überprüfung aller Systeme durchlaufen, inklusive der Kommunikationsübertragung. Dort war noch alles in Ordnung gewesen, und da sie ein Jahr lang anderen Höhlenkletterern in ähnliche Anzüge hineingeholfen hatte, war sie sicher, dass alle Systeme fehlerfrei liefen. Aber sie war nicht lebensmüde, und ohne Verbindung weiterzugehen wäre Selbstmord. Ihr Blick huschte erneut über die Anzeigen in ihrem Anzug.

Alles normal.

Dennoch wandte sie sich an die Leere und meldete: »Ich befürchte langsam, der Anzug ist durch. Bereite mich auf Abbruch vor.«

Endlich kam eine Reaktion aus den Lautsprechern in ihrem Helm. »Negativ. Nicht abbrechen. Caver, gehen Sie weiter.« Die Stimme klang weiblich, knapp und bestimmt. Vor allem aber klang sie echt – keine rechnergestützte Antwort.

Na, immerhin eine Reaktion. Gyre verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. »Roger«, murmelte sie und schob sich einige Zentimeter weiter hinab.

Nach etwa einem weiteren halben Meter wurde die Spalte abrupt breiter, und Gyre stolperte aus der Enge hinaus, begann aus Reflex, sich den Staub abzuklopfen. Aber da schabte lediglich Carbon-Polymer auf Carbon-Polymer, als frustrierende Erinnerung daran, dass sie in den kommenden Wochen – oder gar Monaten – nicht in der Lage sein würde, ihre eigene Haut zu spüren oder etwas zu ertasten. Sie schüttelte den Kopf.

Anfängerin.

Der Anzug war ihre neue Haut, voller Sensoren und unterstützender Funktionen. Er dämpfte ihre Körperwärme und verstärkte ihre auch so schon kräftigen Muskeln mit einem ausgeprägten Exoskelett, das darauf ausgerichtet war, das Klettern so natürlich wie möglich zu halten. Sie würde den Helm nicht einmal zum Essen oder Schlafen abnehmen. Ihr Dickdarm war verlegt worden, um Abfallstoffe so zu sammeln, dass sie leicht entfernt werden konnten, und vor zehn Tagen war ihr durch die Bauchdecke eine Magensonde implantiert worden. Ein Zugang auf der Außenseite des Anzugs konnte mit Nahrungsbehältern verbunden werden. Jegliche flüssigen Ausscheidungen würde der Anzug wiederverwerten, während feste Exkremente komprimiert und auf die Umgebungstemperatur heruntergekühlt wurden, um dann entweder von ihr mitgenommen oder unterwegs zwischengelagert und auf ihrem Rückweg eingesammelt zu werden. Alles war sorgfältig und umfassend gestaltet, um sie vor … Dingen in der Höhle zu schützen.

Und währenddessen würden ihre Betreuer ihre Vitalwerte im Blick behalten und ihre Umgebung für sie inspizieren und vermessen. Gyres Aufgabe bestand darin, sich vorwärtszubewegen, zu klettern und die Höhle zu erforschen; die Aufgabe ihrer Betreuer war es, das alles zu dokumentieren.

»Caver, gehen Sie weiter«, wiederholte die Frauenstimme von vorhin.

Gyre machte ein finsteres Gesicht, richtete sich dann auf und sah sich in der Höhle um. Ihr Anzug verwendete eine Kombination aus Infrarot- und Echolot-Impulsen, um die Topografie ihrer Umgebung abzulesen und abzubilden, sie als gut ausgeleuchtete, aber farblose Szene auf dem Bildschirm vor ihr darzustellen. Im Notfall ließe sich diese Rekonstruktion abschalten und stattdessen ein Licht einschalten, aber es war nicht ratsam, eine Lampe brennen zu lassen, die Hitze abstrahlte und die Aufmerksamkeit der kalten Dunkelheit unten in den Höhlen auf sich zog.

Es gab schließlich einen guten Grund dafür, dass Höhlenkletterer ausreichend Geld verlangen konnten, um nach zwei, vielleicht drei Gängen in der Lage zu sein, die Welt zu verlassen.

Zu viele Caver überlebten nicht lange genug.

Und das war nur einer der vielen Gründe, wieso Gyre es mit einem einzigen Höhlengang schaffen würde.

»Gehe weiter«, meldete sie, hielt aber zunächst inne, um diesen Ort richtig wahrzunehmen. Die Decke wölbte sich hoch über ihr, der Untergrund war eben und trocken. Aus weiter Ferne glaubte sie Wasser zu hören. Auf der Oberfläche herrschte beinahe konstant Dürre, seit sie ein Kind war, aber durch die meisten der tiefen Höhlen in dieser Gegend floss nach wie vor Wasser. Sie wurden regelmäßig geflutet, wenn die brutalen, plötzlichen Stürme kamen, die Siedlungen zerstörten und den Mutterboden sowie Bauwerke auf der Oberfläche hinwegschwemmten. Dies war das erste Mal, dass sie selbst eine so tief gelegene Kammer betrat.

Es war wunderschön.

Es war außerdem nervenaufreibend.

Sie arbeitete sich bis zu einer Markierung vor, die auf ihrem Blickfelddisplay aufblinkte, kraxelte eine breite Naturtreppe hinunter, ihren Seesack voller Ausrüstung und Nahrungsmittel über die Schulter geschlungen.

»Wo ist die Mine, Basis?«, fragte sie, als sie über einen der tieferen Abhänge hinabglitt und im aufgewirbelten Staub landete. »Ist das hier Neuland oder nur ein neuer Zugang?« Die Basis blieb natürlich wieder stumm.

Vielleicht war das ja normal. Von den erfahrenen Kletterern, mit denen sie gesprochen hatte, hatte sie nie etwas über schweigsame Support-Teams gehört, aber sie hatte ja auch keinen Zutritt zu den Kommandoräumen über Tage gehabt. Das Problem war, falls dieses Vorgehen tatsächlich normal war, erwartete das Team, dass sie das wusste.

Denn die wussten ja nicht, dass es ihr erstes Mal hier unten war.

Gyre erreichte den Rand eines weiteren, tieferen Absatzes. Ebenso wie bei den fünf, die sie hinabgestiegen war, um zu der schmalen Felsspalte zu gelangen, befanden sich auch hier ein Anker am oberen Rand sowie ein frisches Seil von guter Qualität, das nach unten führte. Hier waren bereits andere Kletterer gewesen, und das erst vor Kurzem.

»Basis, ich bitte um eine Suche über Tage«, meldete sie, während sie das Seil in Augenschein nahm. »Bestätigen Sie, dass sich keine weiteren Caver vor mir befinden. Ich sehe Anzeichen von …«

»Es gibt keine Mine und auch keine anderen Caver«, schnitt ihr die Frau das Wort ab. »In Erwartung Ihres Abstiegs wurden Ausrüstung bereitgestellt und Zwischenlager eingerichtet.«

Na gut. Dass es keine Mine gab, war nicht ideal, aber auch nicht beispiellos; ihr Boss suchte offenbar lediglich nach Ablagerungen in neuen Bodengebieten und schickte die Leute einen nach dem anderen hinunter. Das war dieser Tage nicht üblich, weil der Großteil des Landes bereits durchsucht worden war, aber bei einer solchen echten Expedition waren im Vorfeld bestückte Zwischenlager eine gute Idee. Wenn man die Bezahlung für diese Mission und die Qualität ihrer Ausrüstung bedachte, handelte es sich offensichtlich um ein hochrangiges Vorhaben, und doch …

Und doch konnte sie bisher nur eine Person sicher im Supportraum wissen, und die Techniker, die geholfen hatten, ihren Anzug zu justieren, waren weder gesprächig gewesen noch hatten sie das Logo eines der großen Bergbaukonzerne getragen. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass diese Expedition von einer Einzelperson geleitet wurde, und damals hatten das Geld und die Qualität der Ausstattung alle anderen Aspekte in den Schatten gestellt. Sie waren es wert gewesen, ihre Referenzen hier und da zu fälschen, um als felderprobt dazustehen. Sie waren es wert gewesen, eine Chirurgin anzuheuern, die ihre Gedärme für einen Monat umleitete – etwas, das sie sich eigentlich nicht leisten konnte, aber die Bezahlung für diesen Job würde das locker abdecken –, nur damit sie die passenden Narben vorweisen konnte, wenn die für die Expedition zuständigen Ärzte sie aufschnitten.

Aber nun, da sie unter der Erde war, begann sie sich zu fragen, ob sie einen Riesenfehler gemacht hatte.

Natürlich war es durchaus möglich, dass oben fünf oder zehn Techniker saßen. Vielleicht waren die alle schüchtern. Vielleicht war die Frau mit dem Mikrofon auch eine kontrollsüchtige Idiotin. Das war möglich.

Wenn das der Fall war, musste sie bloß bis zum Schichtwechsel weitermachen.

In der Zwischenzeit beruhigte sie sich damit, dass Expeditionen immer kopflastig waren. Das durften sie auch sein, mussten es sogar. Sie standen auf einer regelrechten Münzprägeanstalt tief unter der Oberfläche von Cassandra-V, der einzigen Sache, die die Kolonie nach wie vor halbwegs tragfähig machte, und Jahrzehnte des Rohstoffabbaus hatten dafür gesorgt, dass sie einige Dinge gelernt hatten.

Da war zum Beispiel die Tatsache, dass die ersten Mannschaften, die hinabgestiegen waren, um Minen einzurichten oder Proben zu entnehmen, draufgingen. Große Gruppen, kleine Gruppen, einzelne Erforscher … Es spielte keine Rolle. Irgendetwas brachte sie jedes Mal um.

Irgendetwas brachte sie jedes Mal um, bis jemand clever genug oder verzweifelt genug war, es in einem Trockenanzug zu versuchen. Allein in eine Höhle hinab im Taucheranzug. Selbst jetzt war niemand ganz sicher, ob es daran lag, dass so ein Anzug die Körperwärme abschirmte oder den Geruch oder etwas anderes, aber eine einzelne Person in einem geschlossenen Anzug konnte überleben. Allerdings brauchte eine einzelne Person Hilfe; jemanden, der Wache hielt, während sie schlief, und dann wurden die Anzüge immer aufwendiger, um immer längere Erkundungsmissionen zu ermöglichen. Heute gehörten mindestens fünf oder zehn Techniker über Tage zu solchen Missionen. Das hatte sie mit eigenen Augen gesehen, als sie bei zwei mittelgroßen Operationen im Support gearbeitet hatte. Vor einem Jahr hatte sie ihrem ersten Caver in einen ganz ähnlichen Anzug hineingeholfen – einem Kerl, der es draufhatte, der bereits zwei Expeditionen gemeistert hatte –, und der war nicht annähernd so gut ausgestattet und hoch technisiert gewesen wie ihrer jetzt. Der war ein Spitzenmodell und bedurfte sicher einer noch größeren Crew.

Wo waren die also alle?

Das Vernünftigste wäre, die Mission abzubrechen und zurück nach draußen zu klettern, solange sie noch konnte. Aber sie hatte so viel geopfert, um bis hierher zu gelangen, so tief hinunter, mit so viel Geld auf dem Spiel.

Sie wollte das alles nicht noch einmal durchmachen. Beim nächsten Mal würde die von ihr ausgeschmückte Liste ihrer Berufserfahrung einer Überprüfung vielleicht nicht standhalten. Und wenn sie sich täuschte, wenn es ein Team gab und sie die Sache abbrach? Niemand würde eine Caverin einstellen, die einmal Vertragsbruch begangen hatte. Nicht wenn es so viele andere gab, die darauf warteten, ausgewählt zu werden.

Nicht wenn es hundert weitere junge Menschen gibt, die ebenso verzweifelt sind wie ich.

Gyre ließ die Schultern nach hinten kreisen, um sich zu sammeln, klinkte sich dann auf Hüfthöhe an das Seil und befestigte den Seesack an ihrem Anzug. Es war der erste von mehreren, die sie heute transportieren würde. Der Rest wartete ordentlich gestapelt auf der anderen Seite der engen Felsspalte, durch die sie hereingekommen war. Sie griff hinter sich und bekam den Höcker aus hartem Carbon zu fassen, der quer über ihren Schultern saß. Ihre gesamte Ausrüstung steckte im Anzug, alles hatte seinen Platz, und die Aufbewahrung auf ihrem Rücken stand beinahe wie ein Schulranzen heraus. Als sie mit ihren Fingern über die Freigabesensoren geisterte, zeigte ihr das Blickfelddisplay, was sie dort aufbewahrte. Ihr Sicherungs-Rack zum Abseilen befand sich griffbereit, wo es sein sollte. Sie löste es aus seinem Steckplatz, hakte es dann vorn an ihrem Anzug ein und fädelte das Seil durch die Stäbe. Sobald alles sicher saß, blickte sie erneut über die Kante hinab.

Ihr Sichtanzeige-Display blinkte, während es die Entfernung bis zum Boden mit einigen Schallimpulsen maß: 70 Meter. Im Licht einer Lampe wäre es unten am Grund pechschwarz geblieben, aber die Darstellung auf ihrem Blickfelddisplay zeigte ihr den Boden in allen Einzelheiten, so als wäre er nur wenige Meter entfernt. Sie ging in die Hocke, um den Anker zu überprüfen, auch wenn sie das schon Hunderte Male geübt hatte, seit sie für dieses Projekt angeheuert hatte.

Bei einer Höhlenexpedition sollte man nichts auf Autopilot tun.

Alles sah in Ordnung aus. Sie war darin geschult worden – oder hatte sich vielmehr selbst beigebracht –, jedes Mal ihre eigenen Anker zu setzen, aber die anderen, kürzeren Abhänge, die sie bereits hinter sich gebracht hatte, waren alle korrekt geankert gewesen.

Die Basis hatte ihr bestätigt, dass dieser hier für sie gesetzt worden war.

»Caver, gehen Sie weiter«, sagte ihre Betreuerin mit ausdrucksloser Stimme. Emotionslos.

Gyre richtete sich auf, überprüfte ihr Sicherungsgerät ein letztes Mal und machte dann einen Schritt über die Felskante hinaus.

2

Ihr erstes Camp befand sich knapp 250 Meter von der Einstiegsspalte entfernt und etwa 500 Meter unter der Oberfläche. Wie ihre Betreuerin gesagt hatte, fand sie ein gefülltes Zwischenlager vor, aber zusätzlich wären immer noch frische Vorräte notwendig. Auch wenn es sich um hoch verdichtete, kompakte Nährmittel-Büchsen handelte, würde sie mehr davon brauchen als die paar, die hier gebunkert waren, wenn sie länger als einen Monat unter Tage bleiben und dann den Rückweg antreten wollte.

Sie verbrachte zwei Tage damit, dreimal an die Oberfläche zurückzukehren, um den Rest der Ausrüstung herabzuholen. Die Basis über Tage sagte nach dem Beginn des zweiten Aufstiegs nichts mehr. Zunächst war Gyre erleichtert; die Frau am anderen Ende der Leitung, die ihren bisher einzigen Kontakt darstellte, klang kalt und abweisend. Ihr Schweigen gab Gyre den Raum, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Das empfand sie einige Stunden lang als beruhigend, so als wäre der Job genau wie all ihre Übungsdurchgänge, die sie allein bestritten hatte. Aber dann wurde die erdrückende Stille zu schwer. 500 Meter Fels trennten sie von jedwedem menschlichen Kontakt, und das spürte sie bis in die Knochen. Sie war noch nie zuvor mehr als einen Tag allein unter Tage gewesen – eins der vielen kleinen Details, die sie unterschlagen hatte, als sie anheuerte.

Also murmelte sie vor sich hin, sang sich etwas vor, versuchte, ihre Nerven zu beruhigen. Nichts davon drang aus dem Käfig ihres Helms nach draußen, als sie am Ende des zweiten Tages das Camp bezog. Das war schnell erledigt. Kein Feuer, kein Schlafsack, kein Kochen. Stattdessen überprüfte sie kurz die Umgebung, verabreichte sich das Abendessen und versuchte dann, es sich bequem zu machen.

Der Anzug war innen teilweise mit Polsterung und Verstärkung ausgestattet; er diente als mitdenkende Campingmatte ebenso wie als Rüstung und strukturelle Verstärkung. Aber ebenso gut könnte man behaupten, dass ein metallener Hocker ein Möbelstück und damit auch einem Bett gleichwertig sei. Sie lagerte sich so bequem es eben ging, arretierte den Panzer, um die Belastung ihrer Muskeln zu verringern, und fuhr die Anzeige in ihrem Helm herunter.

»Basis, ich werde jetzt schlafen. Sie achten auf mich?«, wollte sie von der schwarzen Leere wissen.

»Positiv.«

Dieselbe Frau. Sie war – wahrscheinlich – die ganze Zeit da gewesen. Kein Schichtwechsel.

Kein Team.

Großartig.

»Hat die Basis einen Namen?«, fragte Gyre, während sie versuchte, die Alarmglocken zu ignorieren, die in ihrem Kopf schrillten.

Nichts.

Sie versuchte, ihre Stimme unbekümmert klingen zu lassen, als sie fragte: »Möchte die Basis mir vielleicht erklären, wieso eine so kostspielige Expedition mir keine komplette Crew zur Seite stellt?« Es war ein riskanter Vorstoß; wenn ihre Betreuerin wütend wurde, wäre Gyre am Arsch.

»Sie erhalten adäquaten Support«, sagte die Frau.

»Aber das sind nur Sie, richtig?«

Stille. Dann: »Ja.«

»Das stand nicht in meinem Vertrag.«

»Ihr Vertrag«, blieb die Frau fest, »versprach ›bedarfsgerechten Support‹.«

Gyre zuckte, und ihre Kiefermuskeln spannten sich. Sie atmete durch die Nase und zählte stumm bis zehn. »Das ist sehr unüblich«, stellte sie dann fest. »Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich wüsste, dass Sie da oben Entlastung haben.« Die Betreuerin sagte nichts.

Was Gyre erneut vor dieselbe Wahl stellte wie schon zuvor: schlau sein und gehen oder bleiben und es irgendwie hinkriegen.

Sie sollte es nicht riskieren zu bleiben. Aber sie konnte es nicht riskieren zu gehen.

»Basis, haben Sie vielleicht Musik, die Sie einspeisen können, oder ein Buch, das ich lesen kann?«, fragte sie widerwillig.

»Gehen Sie schlafen, Caver«, erwiderte ihre Betreuerin. »Ich werde Wache halten.«

Ja, dachte Gyre mit finsterer Miene, bis du selbst aus den Latschen kippst, weil du da oben keine Ablösung hast.

Aber die Biologie siegte wider besseres Wissen. Sie war erschöpft, die Muskeln schmerzten und der Verstand war wie vernebelt, da dauerte es nicht lange, bis ihre Gedanken zu wandern begannen. Als sie damals angefangen hatte, die durch Wasser erodierten Schluchten und Pseudohöhlen in der Nähe ihres Zuhauses zu erkunden, war sie bloß ein zwölfjähriges Mädchen gewesen, das keine Mühen gescheut hatte, um aus dem Haus zu kommen und seinem Dad aus dem Weg zu gehen. Für die Pseudohöhlen, die beinahe ebenso tief hinabreichen konnten wie die, in der sie sich gegenwärtig befand, benötigte man keinen Anzug. Sie hielten die üblichen Risiken bereit: Verbrüche, Springfluten, Stürze, nicht genug Proviant. Einige von ihnen waren schwer zu navigieren und erforderten hochrangiges Geschick. Aber zwei oder drei Leute konnten ohne Anzug den Tag über hinabsteigen, oder, wenn sie sich echte Sorgen machten, in einem einfachen, altmodischen Trockenanzug ohne die Umleitung ihres Darms oder Katheter. Nichts würde aus der Dunkelheit kommen und sie umbringen. Aber in den Pseudohöhlen gab es auch keine Minerale. Sie besaßen keinerlei wirtschaftlichen Nutzen und waren normalerweise leer.

Also hatte sie in ihnen gespielt, zunächst zum Spaß, dann um die Fertigkeiten zu entwickeln, die sie brauchen würde, um bei einer echten Höhlenexpedition anzuheuern und genug Geld zu verdienen, um von diesem Planeten wegzukommen.

Sie erinnerte sich noch lebhaft an den Tag, an dem sie sich bei einem Sturz fast die Beine gebrochen hätte. Das war kurz vor ihrem 13. Geburtstag gewesen. Sie war in pechschwarzer Dunkelheit hinabgeklettert, weil ihre Stirnlampe durch die Spritzer eines frühen, aus den Regengüssen resultierenden Wasserfalls erloschen war, der einen weit größeren Teil der Höhle ausfüllte als normalerweise. Sie war zu arrogant gewesen, um ihren Abstieg an jenem Tag abzubrechen oder eine andere Lampe zu verwenden, und überzeugt davon, dass sie den Rest allein mithilfe ihres Tastsinns und ihrer Erinnerung bestreiten konnte.

Und das war ihr auch gelungen, bis etwa sechs oder sieben Meter über dem Grund – nahe genug, dass sie in keiner lebensbedrohlichen Gefahr schwebte, aber doch weit genug entfernt, um Probleme zu machen, wenn etwas schiefging. Das Brüllen des Wasserfalls war lauter geworden, und sie hatte angenommen, dass das bedeutete, dass sie sich dem Boden näherte. Sie konnte ja nicht sehen, dass die jüngsten Regenfälle einiges an Felsgestein gelöst hatten und der Wasserfall dadurch seinen Verlauf gerade so weit geändert hatte, dass sie in dem donnernden Sturzbach landete, als sie sich – zu schnell, viel zu schnell – einen weiteren Meter hinabließ. Das Abseil-Rack war ihrem Griff entglitten, und sie war am Seil hinabgerutscht, von der Kraft des Wassers mitgerissen, ohne die Sicherung wieder arretieren zu können.

Aber dann endete die Rutschpartie mit einem harten Ruck. Ihre Füße weniger als einen halben Meter vom Grund entfernt, das Rack an einem Knoten hängen geblieben, der dort nicht sein sollte, der nur da war, weil sie ihre Ausrüstung nicht ordentlich gepackt hatte. Ohne diesen Knoten wäre sie auf dem Boden aufgeschlagen und hätte sich die Knöchel verdreht oder die Beine gebrochen. Sie spuckte keuchend aus, als ihre Hände das Metall endlich wieder zu fassen bekamen und fest zudrückten, wie besessen, während ihr Herz wild hämmerte. Das Wasser floss immer noch über sie hinweg und durchnässte sie bis ins Mark. Vom Adrenalin war sie ganz aufgedreht; sie hatte gerade ihre erste Begegnung mit dem Tod überlebt.

Als sie die Oberfläche endlich wieder erreichte, waren nur ihre Haare noch feucht. Die manische Energie war ebenso verflogen wie die Aufgeregtheit; geblieben waren lediglich blaue Flecken auf der Brust, wo ihr Gurt sie mit einem Ruck zurückgehalten hatte, und erschöpfte, zitternde Muskeln. Sie war in den Ort zurückgehumpelt, zurück zu ihrem Haus im westlichen Abschnitt bei den steilen Felsen, und in der Küche zusammengeklappt, unterkühlt und innerlich noch im Griff der Nachwirkungen des Adrenalins, die alles verdrehten. Ihr Vater war nicht zu Hause gewesen.

Es war niemand da, mit dem sie hätte reden können. Also starrte sie zu dem Foto ihrer Mutter hinauf, das an der Wand in der Küche hing. Du bist schuld, dachte sie immer und immer wieder. Ihre Mutter hatte sie zu dem gemacht, was sie war. Deine Schuld, hatte sie gedacht.

Deine Schuld.

Gyre zuckte, fluchte dann und riss ihre Augen auf. Ihre Helmanzeige leuchtete mit voller Helligkeit, und ihr Herz hämmerte, genau wie damals im Wasserfall. Weißes Rauschen dröhnte in ihren Ohren. Eine Sekunde später löste sich die Arretierung ihres Anzugs, und sie richtete sich auf, hastig und umständlich, kam auf die Füße.

Aber da war keine rot blinkende Sichtanzeige, und als sie vollends wach war, wurde das Rauschen schwächer und die Beleuchtung des Displays fuhr auf normale Helligkeit herunter.

»Guten Morgen, Caver«, sagte ihre Betreuerin. »Zeit, an die Arbeit zu gehen.«

Gyre fluchte.

»Ihr heutiges Ziel lautet«, fuhr die Frau fort und ignorierte Gyres Schimpfwort, »Camp Zwei zu erreichen. Ich habe Ihre Anzeige angepasst, um Ihnen den Weg zu zeigen. Eine Strecke dauert mit Ausrüstung grob drei Stunden. Ohne Ballast zurück jeweils etwa zwei. Ihr Zeitplan sieht drei Tage für diesen Abschnitt vor.«

Das waren die meisten Worte, die sie bisher an sie gerichtet hatte, aber das war Gyre egal. Sie presste die Hände gegen ihre Brust und bemühte sich, ihr Herz dazu zu bringen, nicht mehr ganz so heftig zu schlagen. »Leck mich doch«, zischte sie.

»Die zügigste Methode, die Epinephrin-Injektion zu verarbeiten, ist Gehen, Caver.«

Epinephrin-Injektion? »Die ist nur für Notfälle gedacht!«

Ihre Anzeige blinkte. Dann rollte ein Textfeld darauf vorbei, zu schnell zum Lesen, bis es an einem Abschnitt anhielt, in dem stand:

Die Caverin stimmt zu, für die Dauer der Expedition ihre körperliche Selbstbestimmung an das Expeditionsteam abzutreten, um den reibungslosen Ablauf der Expedition zu ermöglichen und das Wohlergehen der Caverin zu gewährleisten. Es liegt dabei im Ermessen des Expeditionsteams, die folgenden, nicht ausschließlichen Aufgaben zu verrichten:

Verabreichung bestimmter Hormone und Neurotransmitter, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Adrenalin, Dopamin und Melatonin.

Verabreichung bestimmter Pharmazeutika, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Antibiotika, Schmerzmittel auf Opioid-Basis …

Dann rollte der Text weiter, bis er bei ihrer Unterschrift angekommen war.

»Um den reibungslosen Ablauf der Expedition zu ermöglichen«, wiederholte Gyre mit zusammengebissenen Zähnen.

»Caver, bitte machen Sie sich für Ihren ersten Abstieg zum Camp Zwei bereit.«

Gyre zögerte noch einen weiteren, widerständigen Moment, begann aber dann, den ersten Seesack am Anzug zu befestigen.

Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie tat das hier fürs Geld, für ihre Mutter. Daran würde auch ein Arschloch im Machtrausch ohne Verstärkung dort oben nichts ändern.

Es bedeutete lediglich, dass sie auf Zack bleiben und besser darin werden musste, ihren Zorn hinunterzuschlucken.

Der Vertrag entsprach mehr oder weniger dem Standard. Es spielte keine Rolle, wie oft ihr ein neuer, bissiger Kommentar einfiel, den sie ihrer nun wieder schweigsamen Betreuerin entgegnen wollte, denn an dieser Tatsache führte kein Weg vorbei. Das Höhlenklettern war lukrativ, aber letztendlich eine furchtbare Arbeit, die du maximal ein paar Jahre betreiben konntest, bevor du zu schwer verletzt warst, um weiterzumachen. Oder bevor du die Isolation und den Druck nicht mehr aushieltest. Oder bevor die Höhle dich direkt umbrachte. Die Cleveren ließen sich rechtzeitig ausbezahlen, sodass sie mit dem Gehaltsscheck und ihrer intakten Gesundheit da rauskamen. Aber immer lockten auch die fetten, noch lukrativeren, gefährlicheren Jobs. Diese Verlockung zog sie alle an und ließ sie nur schwer wieder los.

Dieser Tage waren die meisten Caver jung, meist unter 25, einige sogar noch jünger als sie. Sie alle waren in dieser Kolonie aufgewachsen, wo jede Arbeit miserabel und die generelle Lebenserwartung niedrig war, gemessen an den Standards anderer, ›zivilisierterer‹, besser gestützter Welten. Knochenarbeit und schlechte Bezahlung waren die Regel. Wenn du die notwendigen Fähigkeiten besaßest, wieso solltest du deine körperliche Selbstbestimmung nicht mal eben gegen ausreichend Geld eintauschen, um deine Familie zu ernähren oder ein neues Leben zu beginnen?

Wieso solltest du dich nicht damit abfinden, nur eine einzige Betreuerin zu haben, wenn du selbst gelogen hast, um diesen Job zu bekommen, und wenn die angebotene Bezahlung so hoch ist, dass du nur diesen einen Job zu machen brauchst?

Kompromisse. Abwägungen. Immer.

Statt also all die bissigen Kommentare laut auszusprechen, die in ihr hochkochten, versuchte Gyre es mit einem anderen Ansatz, als sie den zweiten Abstieg zum Camp Zwei unternahm. Ihre Muskeln brannten, und ihre Gedanken summten in der Dunkelheit.

»Basis, sind das immer noch Sie?«

Nichts. Sie ignorierte die fehlende Antwort.

»Denn wenn Sie noch immer da sind, dann hoffe ich, dass Sie bald etwas Schlaf bekommen. Bei dem, was die mir zahlen, können die sich doch auch ein paar Schichtwechsel leisten. Ich will nicht, dass Sie womöglich genau dann einschlafen, wenn mich ein Tunnelbauer angreift.«

Sie hoffte, dass das die Frau zum Lächeln brachte. Oder dass sie die Brauen zusammenzog. Ehrlich gesagt hoffte sie einfach darauf, die Frau zu irgendeiner Reaktion zu bewegen.

Sie manövrierte sich auf einer schmalen Felskante entlang, den Bauch gegen die Höhlenwand gepresst.

»Aber wenn es dort nur Sie gibt, dann sollten wir uns besser kennenlernen«, fuhr sie fort, während sie die gegliederten Zehen ihres Anzugs bewegte, um besseren Halt zu finden und sich mitsamt ihrem Gepäck an dem Seil entlangzuschwingen, an dem sie eingeklinkt war. »Haben Sie einen Namen?«

Immer noch nichts. Gyre kämpfte den aufflackernden Zorn nieder.

»Moeller hat mir nicht viel über Sie erzählt, als er mich angeheuert hat.« Moeller war der Eigner der Expedition. Sie war ihm zweimal begegnet: einmal beim Vorstellungsgespräch und einmal im Krankenhaus, wo man sie gründlich untersucht und dann für die Operation in Narkose versetzt hatte, bevor sie passend für ihren Anzug mit neuer Anordnung ihrer Eingeweide aufgewacht war. Er war weniger schmierig rübergekommen als die anderen Expeditionseigner, mit denen sie gesprochen hatte. Kam nicht von dieser Welt, besaß ausreichend Beteiligungen auf anderen Planeten, sodass in der Kolonie für ihn nicht allzu viel auf dem Spiel stand. Das passte ihr besser; er wollte keinen Schuldknecht, keine Schuldmagd, er wollte eine Caverin. Das konnte sie von den meisten der anderen männlichen Eigner nicht behaupten. Sie hatte sich glücklich geschätzt.

Nun begann sie allerdings zu befürchten, manipuliert worden zu sein. Sie hatte sich davon einlullen lassen, dass er so freundlich aussah. Gute Kleidung, sanfte Stimme. Grau meliertes Haar. Und doch ließ er sie mit einer einzigen Betreuerin allein – warum? Wieso die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass es schiefging? War das irgendein obskures Steuerhinterziehungsmodell? Oder ging ihm vielleicht einer dabei ab, wenn er einer Frau zusah, wie sie hilflos im Dunkeln umherirrte und ums Überleben kämpfte?

Nein, das passte nicht zusammen; er hatte die Kohle für die Technik und ihr Gehalt lockergemacht, wenn auch nicht für die Crew über Tage. Niemand würde so viel Geld ausgeben, nur um sie draufgehen zu sehen.

Richtig?

»Im Grunde«, sagte sie, ihre Neugier nun echt und ein wenig verzweifelt, »hat er mir überhaupt nichts über Sie erzählt. Hat gar nicht erwähnt, dass ich kein komplettes Team bekommen würde. Er sprach über den Hightech-Anzug, hat aber verschwiegen, dass es sich hierbei nicht um ein existentes Höhlensystem handelt. Macht er das immer so?«

»Häufig«, erwiderte ihre Betreuerin endlich.

Gyre erschauerte und spürte, wie ein Schwall Endorphine sie als Folge der Furcht und Erleichterung, die diese Stimme in ihr auslöste, durchströmte. Ihre Betreuerin war immer noch da. Sie hakte sich am nächsten Anker ein, als sie zu einem neuen, nach unten führenden Seil wechselte. Nur ein paar Meter hinab zum nächsten Absatz.

»Ist er da oben bei Ihnen?«

»Nein, ist er nicht«, erwiderte sie. »Er bleibt nie lange.«

»Ist das normal?«, wollte Gyre wissen, als sie sich mit ein paar schnellen, einfachen Abstößen abseilte. »Ich hatte den Eindruck, dass für ihn persönlich nicht viel auf dem Spiel steht, aber es geht ja um eine Menge Geld.«

»Es ist nicht sein Geld.«

Die Stimme ihrer Betreuerin klang, als stünde sie direkt neben ihr, und Gyre hatte den Eindruck, dass sie amüsiert klang, so als hätte Gyre gerade einen mäßig lustigen Witz gemacht. Einen Witz, den sie selbst nicht verstand.

»Reicher Papa?«, probierte Gyre es mit Raten.

»Reiche Auftraggeberin.«

Gyre zog die Brauen zusammen, während sie ihren Ausrüstungssack hochhievte und sich am Rand eines alten Durchbruchs entlang vorarbeitete, dabei die Felsbrocken umging. »Die meisten Expeditionseigner arbeiten ungern für irgendjemanden außer sich selbst, meiner Erfahrung nach«, stellte sie fest, ohne darauf einzugehen, dass ihre ›Erfahrung‹ sich auf das Assistieren bei zwei Expeditionen und das Mitanhören von sehr viel Müll-Gelaber in irgendwelchen Kneipen beschränkte.

Sie blickte sich um. Es war noch ein weiterer, kurzer Abstieg bis zum Camp Zwei, aber ganz in der Nähe entdeckte sie einen schön breiten, flachen Stein, also stellte sie ihren Sack ab, rutschte hinauf und ließ sich für eine Pause nieder. »Und wer hält dann den Schlüssel zur Kasse in der Hand?«

Am anderen Ende der Leitung blieb es erneut still, und Gyre machte ein finsteres Gesicht. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass sie bei der anderen Frau endlich einen Schritt weiterkam – und sie hatte nicht viel riskiert, indem sie über Moeller sprach. Über den Chef zu tratschen war ihr immer wie eine menschliche Konstante erschienen.

Gyre streckte sich auf dem Rücken aus, während sie auf eine Antwort wartete. Der Höcker im Rücken bot ihr Stütze, und sie zog die Knie an, bevor sie die Panzer-Arretierung auslöste und so eine harte Couch schuf, auf der sie sich ausruhen konnte. Sie stöhnte, als ihre Muskeln sich millimeterweise entspannten.

Gyre zog gerade ein kurzes Nickerchen in Betracht, als ihre Helmanzeige blinkte – Aktivität auf dem Kommunikationskanal. Erwartungsvoll atmete sie tief ein.

Ohne Einleitung erklärte ihre Betreuerin: »Mr. Moeller empfängt von mir seinen Lohn. Ebenso wie Sie.«

Der Atemzug kam als verwirrtes Wimmern aus ihrer Kehle, und sie stellte ihre Seite der Kommunikationsverbindung hastig stumm, während sie prustend die Arretierung löste und sich aufsetzte.

Oh.

Diese Möglichkeit hatte sie nie in Betracht gezogen.

»Caver?«

»Hier«, meldete sie sich, nachdem sie die Stummschaltung wieder deaktiviert hatte. »Und ich heiße Gyre. Nennen Sie mich Gyre, Chefin.«

»Em reicht völlig«, gab die Frau zurück, und wieder hörte sie eine Spur Amüsiertheit heraus. »Und jetzt stehen Sie auf.«

»Ich bin doch ordentlich vorangekommen, schneller als geplant«, protestierte Gyre.

Auf der linken Seite ihrer Helmanzeige begann etwas zu leuchten, und Gyre drehte den Kopf, bis sie es mittig vor sich hatte. Es war keine Zielmarkierung und lag auch nicht direkt auf dem Weg zum Camp Zwei. Die Neugier wog stärker als ihre Verärgerung, und sie erhob sich, griff dann nach ihrem Seesack.

»Den können Sie stehen lassen«, meldete sich Em wieder zu Wort.

Gyre zog die Brauen zusammen und ließ die Hand sinken. »Wofür ist diese Markierung?«

»Für etwas, das Ihnen gefallen wird, Ihrer Akte nach zu urteilen«, erwiderte sie.

Gyre stellte sich die Frau vor, die oben auf ihrem Posten saß. War sie schick angezogen? Trug sie einen Pyjama? Sie klang nicht viel älter als Gyre. Ihre Stimme war weder kratzig noch quietschte sie; stattdessen besaß sie eine dunkle, weiche Fülle. Es war die Art Stimme, bei der sich Gyre in einer Bar nach der Sprecherin umgedreht hätte.

Mit einem Akzent von einem anderen Planeten. Gebildet.

Gyre zögerte noch einen Moment länger, ließ die Markierung auf ihrem Display brennen, bevor sie nachgab. Die Kletterpartien der letzten beiden Tage waren zwar nicht hart gewesen, wohl aber konstant, und sie hatte lange nicht so viel erkunden können, wie sie sich gewünscht hätte. Sie sprang von der Felsplatte, auf der sie gerastet hatte, und bewegte sich auf die leuchtende Markierung zu.

Die führte sie zu einer der Höhlenwände und wurde schwächer, als sie näher kam. Die Abbildung auf ihrem Schirm veränderte sich, die Farben ähnelten mehr dem, was sie sähe, wenn sie eine richtige Lampe benutzen würde.

An der Wand wuchs eine kleine, blassweiße Pflanze mit beträchtlichen, durchscheinenden Stielen. Auf deren Spitzen saß etwas, das wie winzige, leuchtende Blüten aussah, und sie ging in die Hocke, um besser sehen zu können. Die endlose Trockenzeit über Tage hatte zur Folge, dass der allergrößte Teil der lokalen Flora aus widerstandsfähigen, stacheligen Gewächsen mit harter Rinde bestand. Blumen und Blüten waren selten. Und selten hübsch.

Das hier dagegen sah aus wie etwas, das sie auf Bildern und in Videos aus den Gartenkolonien gesehen hatte.

Em hatte recht gehabt. Gyre konnte fühlen, wie sie voll Staunen lächelte. Das hier hatte sie dazu gebracht, tiefer und tiefer in diese Pseudohöhlen hinabzusteigen. Das war weit über den Wunsch, ihrem Dad aus dem Weg zu gehen, hinausgegangen und hatte lange vor dem Gedanken daran, Cassandra-V zu verlassen, angefangen.

Damals hatte sie etwas Besonderes sehen wollen. Sie wollte stark genug, clever genug werden, um Orte zu erreichen, von denen andere nur träumen konnten. Irgendwann war daraus etwas Verdrehtes geworden und sie nur noch auf den Erfolg und das Geld und die Möglichkeit, den Planeten zu verlassen, bedacht, aber dieser ursprüngliche Antrieb lebte nach wie vor in ihr.

»Worauf wächst es denn?«, fragte sie. »Hier unten gibt es doch nur Stein.«

»Es ist ein Pilz. Ähnliche Vegetationsformen finden sich überall in diesem System, besonders weiter unten. Im Wasser der Hohlräume gibt es Lebewesen, und manchmal werden die angeschwemmt und sterben«, erläuterte Em. »Hier oben fliegen manchmal Insekten hinein. Und wenn die Regengüsse kommen, spülen die Erde und alles, was sich in der Erde befindet, hier hinab. Der da wächst allerdings schon seit mehreren Monaten, also wird er seinen Wirt wahrscheinlich bald aufzehren und absterben.«

»Dann wird er nicht mehr da sein, wenn ich auf dem Rückweg hier vorbeikomme?«

Em zögerte, bevor sie antwortete. »Womöglich.«

Womöglich. Weil sie glaubte, dass Gyre womöglich bald verschwinden würde, oder weil sie eine Perfektionistin war und es nicht genau ausgerechnet hatte? Gyre hatte nicht vor zu verschwinden, also beugte sie sich näher heran und streckte die Hand aus, um das Gewächs zu berühren.

»Das würde ich Ihnen nicht raten«, warnte Em. »Ich habe keinerlei Daten über eine mögliche Interaktion seiner Sporen mit Ihrem Anzug.«

»Darf ich ein Bild davon machen?«, bat sie, in der Bewegung erstarrt.

»Ich habe bereits eins gemacht.«

Ihr Lächeln schwand. Mr. Moeller mochte ja kein Voyeur sein, aber Em genoss es ganz offensichtlich, ihren Anzug von ihrem Platz da oben zu kontrollieren. Soweit sie das von den Veteraninnen und Veteranen erfahren hatte, überließen die meisten Expeditionen ihre Caver sich selbst, außer in Notfällen – so wie auch die Adrenalin-Injektion nur für den Notfall gedacht gewesen war. Selbst wenn die Verträge den Einsatz erlaubten, wurden solche Mittel normalerweise nicht dafür benutzt, die Caverin morgens zu wecken, wenn ihre Betreuerin bereit war und wollte, dass sie sich in Bewegung setzte.

»Na gut«, sagte Gyre und richtete sich auf. »Na dann, danke.«

Em antwortete nicht, sondern tippte wahrscheinlich in den Feeds diverser Metriken herum, die von ihrem Anzug übertragen wurden, oder las vielleicht einen Roman. Es war Gyre auch egal. Was für eine Verbindung das auch sein mochte, die sie aufzubauen begonnen hatten, sie war bereits wieder durchtrennt. Sie stolzierte zu ihrem Seesack hinüber, hievte ihn hoch und machte sich dann auf das letzte Stück Weg zum Camp Zwei.

3

Im Verlauf zweier Tage brauchte sie mehrere Touren, um all die benötigte Ausrüstung ins Camp Zwei zu schleppen. Der Abstieg war lang, aber relativ einfach und forderte sie kaum heraus, nachdem sie sich einmal an die Bewegungen im Anzug und das Manövrieren der Seesäcke gewöhnt hatte. Am dritten Tag bekam sie von Em die Anweisung, Camp Zwei nicht zu verlassen. Es gab keine Erklärung. Sie wachte einfach von selbst auf, ohne dass Em sich gemeldet hatte, und als sie nach dem ersten Seesack griff, unterbrach Em sie mit einem knappen »Kein Transport heute«.

Und das war alles.

Wahrscheinlich sollte sie heute einfach einen Ruhetag einlegen. Sie war dem Zeitplan voraus, und längere Expeditionen strapazierten den Körper, auch mit der Verstärkung, die der Anzug bot. Eine gute Betreuerin hätte nach Gyres Einschätzung gefragt oder ihre eigenen Gedankengänge dargelegt, aber sie waren ja bereits übereingekommen, dass Em alles andere als eine gute Betreuerin war.

Das machte es auch nicht gerade leichter, den plötzlichen Wechsel der Routine zu akzeptieren. Ihr Verstand spielte hastig verschiedene Szenarien durch. Und bei einem blieb sie unwillkürlich hängen:

Vielleicht stimmte etwas mit ihrem Anzug nicht, und Em arbeitete an der Behebung des Fehlers.

Ihr Magen krampfte, als sie ihre Nährmittel-Büchse für den Morgen aufsteckte, und sie bildete sich ein, dass ihre Kanüle gestaucht war, versuchte das aber zu ignorieren. Es war viel wahrscheinlicher, dass ein kleiner Riss in ihrem Anzug Hitze nach außen abgab. Tod durch Infektion oder durch Tunnelbauer – beide Vorstellungen sandten scharfe Stiche der Angst durch ihre Eingeweide.

Sie marschierte nervös auf und ab, weigerte sich zuzulassen, dass die Luft um sie herum wärmer wurde.

Aber es änderte sich nichts. Ems Ende der Kommunikationsverbindung war immer noch still, und ihre Messwerte blieben grün und stabil.

Nach der ersten Stunde begann die Angst sich leer und sinnlos anzufühlen. Ermüdend. Und so irre sie auch war, Em hätte etwas gesagt, wenn Gyre in Gefahr wäre. Selbst diese Frau konnte kaum so abgestumpft sein.

Wahrscheinlich jedenfalls.

Gyre schob diese Gedanken ebenso wie die Angst beiseite und begann, die Umgebung von Camp Zwei zu erkunden. Ein verzweifelter Versuch, beschäftigt zu bleiben.

In diesem Bereich der Höhle gab es hoch aufragende Stalagmiten, und als sie die Geräuschabnahme justierte, konnte sie schwach das Tröpfeln von Wasser weiter entfernt hören. Ihr Camp lag auf einem weiten Plateau, auf zwei Seiten von übereinandergefallenen Felsbrocken eines Einbruchs umgeben, auf einer von einem nahezu senkrechten Abfall und auf der letzten von einem leicht zu bewältigenden Anstieg, der hinauf zum Camp Eins führte. Sie richtete den Blick nacheinander zu den noch unbekannten drei Seiten, bis ihre Echolot-Daten ein besseres Bild der Höhle aufbauten, und versank geradezu in der ungeheuren Ausdehnung der Kammer, als sich die demütig machende Anhäufung der natürlichen Architektur rings um sie erhob.

Dann rief sie die Markierung für Camp Drei auf.

Da tauchte nichts auf.

»Em? Haben Sie mir die Route zum Camp Drei aufgespielt?«

»Sie gehen noch nicht zum Camp Drei«, erwiderte Em. Nun, zumindest war sie da. Sie schlief nicht. Sie war auch nicht aus, um mit einem Investor schick zu Mittag zu essen.

Sie hat mich hier nicht zum Sterben zurückgelassen.

Gyre war nicht sicher, ob sie erleichtert oder genervt war.

»Ich werde hier nicht den ganzen Tag faul auf meinem Hintern sitzen«, sagte Gyre. Die konstante, unnachgiebige Gegenwart ihres Anzugs machte das rein körperlich unmöglich. Wenn sie ein Bett, einen Stuhl oder auch nur ein Video gehabt hätte, mit dem sie sich die Zeit vertreiben könnte, wäre das etwas anderes. Aber mit nichts als ihrem Anzug – keine Annehmlichkeiten, keine Ablenkungen – würde sie auf keinen Fall einfach nur geduldig hier herumsitzen, bis es Schlafenszeit wäre. »Ich werde Proben und Messungen vornehmen. Sie haben doch vor, diese Route an eine Bergbaufirma zu verkaufen, oder?«

»Sicher.«

Em klang abgelenkt, unverbindlich. Gyre spürte ein Prickeln auf der Haut, eine Mischung aus Frustration und Unbehagen, die ihr schon allzu vertraut wurde, wie das Kneifen in schlechten Stiefeln, die ihr Blasen ins Fleisch rieben.

Wenn du die Route nicht verkaufst, was zur Hölle mache ich dann hier unten?

Sie öffnete den Mund, um bei Em weiter nachzubohren, besann sich dann aber. Sie war immer noch nahe genug an der Oberfläche und konnte herausgeholt und zurückbeordert werden. Wenn sie zu sehr auf Antworten drängte, wenn sie Em sauer machte, konnte diese ihr den Stecker ziehen. Em mochte eine schlechte Betreuerin sein, aber sie war außerdem die Geldbörse, die Regie, die Diktatorin.

Doch es gab keine Möglichkeit, eine solche Expedition zu finanzieren – auch nicht, wenn man die komplette Crew auf der Oberfläche wegließ –, ohne zumindest vorzuhaben, die Möglichkeiten zum Abbau von Mineralen zu untersuchen und die Ergebnisse an den Höchstbietenden zu verkaufen. Das war der Zweck des Ganzen. Daher kam doch das Geld. Niemand setzte so viel Kapital ein, um eine Erkundung aus reiner Neugier zu organisieren. Woher also sollte ihr Gehalt kommen?

Der Gedanke, dass all das hier umsonst sein könnte, dass sie beim Herauskommen erfahren würde, dass die gesamte Mission bankrott war, brachte ihre Wangen zum Brennen. Das wäre typisch. Sie war eine Närrin gewesen, zu hoffen und zu glauben, dass dieser Job kein fauler Schwindel war.

Dennoch, selbst dann führte der beste Weg da hinaus hindurch. Sie musste den Job zu Ende bringen, denn dann wäre sie in der Lage, sich bei einer richtigen, seriösen Expedition vorzustellen, und könnte tatsächlich Erfahrung vorweisen.

Solange Em mich nicht draufgehen lässt.

Gyre versuchte, sich zu beruhigen, indem sie an dem Felsbrockenhaufen des Einbruchs entlangkraxelte. Ihre langen Arme und Beine erwiesen sich als hilfreich, als sie über die großen, abgerundeten Felsen glitt und ihre Finger in die winzigen Erosionsvertiefungen auf der Oberfläche grub. Die Carbon-Plattierung in den Handflächen ihrer Handschuhe war reliefiert und wurde niemals rutschig vom Schweiß, während ihre Haut im Innern von einem reaktiven Gel in Körpertemperatur überzogen war, das ihr einen besseren Griff verschaffte, der sich fast natürlich anfühlte.

Sie ließ sich zu einem weiteren Brocken hinuntergleiten und begann dann, sich an der Felswand des Blocks, von dem sie gerade heruntergekommen war, voranzuschlängeln, um an anderer Stelle weiter abzusteigen. Sie drückte sich flach gegen den Fels und konnte nicht hinabschauen, konnte nicht sehen, wie sie auf ihren Zehen den schmalen Felsvorsprung entlangbalancierte. Sie tastete sich weiter vor, schob sich Schritt für Schritt voran, von dem Gedanken verfolgt, dass sie an die Oberfläche zurückkehren und womöglich nichts für ihre Mühen bekommen würde. Wenn Ems Firma dichtmachte –

Ihr Fuß glitt ab.

Sie rutschte die allzu glatte Felswand hinab und griff nach dem Vorsprung. Ihre Finger bekamen ihn einmal, zweimal zu fassen, glitten aber wieder ab, und auch mit ihren Zehen oder Knien fand sie keinen Halt. Ihr Anzug schabte kreischend über den Fels und hörte dann abrupt auf, Geräusche zu machen.

Sie fiel ins Leere.

Gyre krümmte sich, versuchte, sich zu schützen, aber sie schlug mit der Hüfte gegen einen Brocken und wurde herumgeschleudert. Dann traf sie mit dem Rücken auf. Auch wenn die Abschirmung und Stabilisierung, die der Anzug bot, dafür sorgten, dass ihr Rückgrat nicht brach, konnte das die Schmerzen des Aufpralls kaum dämpfen. Sie brüllte auf, rollte weiter und rutschte von einem weiteren Block hinunter. Ein leises, mahlendes Geräusch erfüllte die Luft. Es kam von oberhalb, und sie fluchte, stieß ihre Finger in einen Spalt, hielt sich verzweifelt daran fest. Dann wuchtete sie sich nach rechts weg, als sich auch schon einer der Brocken über ihr mit lautem Getöse löste und mehrere Meter hinabstürzte.

Er hätte sie um ein Haar getötet.

»Caver!«

Auf Ems Bildschirm blinkten ihre Vitalwerte zweifellos gerade wild, während ihr eigener Schirm absolut klar anzeigte und ihr Blickfeld mit maximaler Helligkeit wiedergab.

Gyre zog sich stöhnend hoch und fing dann an, ihre Panzerung zu überprüfen. Einige oberflächliche Kratzer, aber nichts Gravierendes. Sie lehnte sich zurück und fühlte, wie die Erleichterung sie durchströmte, als ihre Anzeige wieder in den Normalmodus wechselte. »Gyre!« Em klang nicht besorgt, überlegte Gyre.

Nur sauer.

»Es geht mir gut, danke der Nachfrage«, zischte sie hervor. Sie ließ die Augen noch einen Moment lang geschlossen, setzte sich dann auf und sah sich von ihrer neuen Position aus in der Kammer um.

Unter ihr war etwas, auf der nächstgelegenen ebenen Fläche. Etwas Weißes. Hinter dem Felshaufen des Einbruchs. Sie zog die Brauen zusammen: Da lag etwas Weißes, und was ihre Sensoren ablasen, schien unmöglich.

Dann verschwand es.

Sie blinzelte hastig. Aber es blieb verschwunden.

»Gyre, kehren Sie zum Camp Zwei zurück.« Ems Stimme dröhnte harsch in ihren Ohren. Befehlston. Definitiv nicht um ihre Gesundheit besorgt.

Gyre ignorierte sie, ließ sich vorsichtig an einigen weiteren Blöcken hinabgleiten, näherte sich der ebenen Fläche. Sie schaltete zwischen den Modi ihrer Helmanzeige hin und her. Nichts. Was immer sie gesehen hatte, war fort.

Fort.

Das war kein … Das konnte es nicht gewesen sein …

»Caver, das war ein Befehl.«

»Ich habe etwas gesehen«, gab sie zurück, halb zu sich selbst.

»Ihre Sensordaten wurden durch den Sturz durcheinandergebracht«, sagte Em. »Ich habe sie zurückgesetzt. Da unten ist nichts. Ich wiederhole, kehren Sie zum Camp Zwei zurück.«

Von wegen, dachte Gyre und spürte, wie der Zorn sie übermannte. Sie würde nicht länger mitmachen, ohne die Dinge zu hinterfragen. Sie sprang den letzten halben Meter hinunter auf die ebene Fläche. Dann schaltete sie mit immer noch rasendem Herzen die Sichtanzeige aus und die Stirnlampe ein.

Die Höhle sah der Rekonstruktion bemerkenswert ähnlich. Der Unterschied zwischen realer Sicht und rekonstruierter Darstellung war minimal; ihr Sehfeld war ein wenig reduziert und einige Feinheiten ihrer Umgebung konnte sie nicht mehr wahrnehmen. Die Farben, die sie sah – ein schmutzig-blasses Grau für den Stein, mit unterschiedlich schimmernden, kringeligen Einschlüssen, und die sie umgebende, beklemmende Dunkelheit –, waren anders, aber die Linien waren dieselben. Die Züge und Formen.

Nichts hatte sich verändert.

Abgesehen von dem Leichnam vor ihren Füßen.

Sie starrte auf den Trümmerhaufen hinab. Der Anzug war halb zerquetscht worden. Die Maske war fort, gab den Blick frei auf leere Höhlen, wo die Augen gewesen waren, und vertrocknete Haut, die sich straff über ein vorstehendes, männliches Kinn spannte. Der Brustkorb des Cavers war aufgebrochen, und aus dem Loch wuchsen fadenartige weiße Pilze. Seine Beine verschwanden unter einem Felsblock, der von dem Haufen herabgestürzt war, ganz ähnlich dem, der Gyre beinahe getötet hätte.

In ihrer Kehle spürte sie bittere Galle aufsteigen und wandte sich ab.

Das war es, was sie auf ihrer Helmanzeige gesehen hatte. Das Weiße, die merkwürdigen Daten, die auf eine hohe Konzentration von Kohlenstoff vor ihr hindeuteten – und Em hatte es vor ihr verborgen.

Ihr Magen verkrampfte sich, und sie wandte sich noch weiter ab, stützte sich auf den nächstbesten Felsblock. Sie presste die Augen fest zusammen und kämpfte gegen den Brechreiz an.

»Gyre?«

Ständig gingen Caver drauf. Auf bewährten Routen gingen ständig Caver drauf. Sie war nur knapp demselben Schicksal entronnen, das diesen Mann ereilt und umgebracht hatte.

Es war gar nichts Merkwürdiges daran, einen toten Kletterer zu finden.

Es war nichts Merkwürdiges daran, einen toten Kletterer zu finden – aber es war merkwürdig, dass die Eignerin der Expedition ihre Sichtanzeige manipulierte, Dinge vor ihr verbarg, ihr einfach Adrenalin injizierte, um sie morgens zum Aufbruch zu nötigen.

Und ihr viel zu viel bezahlte.

»Gyre? Gyre, antworten Sie.«

»Was zur Hölle wollen Sie?«, krächzte sie.

»Gyre, kehren Sie zum Camp Zwei zurück.«

»Sie können mich mal.«

Das war es nicht wert. Sosehr sie von diesem Planeten wegmusste, das war es nicht wert. Es würde andere Expeditionen geben, andere Möglichkeiten. Em konnte ruhig versuchen, sie auf die schwarze Liste zu setzen, weil sie diese Expedition nicht zu Ende gebracht hatte – Gyre hatte sich schon so lange um so viele Hindernisse herumgelogen, sie würde einen Weg finden, auch um dieses herumzukommen. Gyre fluchte erneut und begann, sich wieder den Einbruchhügel hinaufzuschleppen, weigerte sich aber, auf die rekonstruierte Ansicht umzuschalten.

Sie würde zum Camp Zwei zurückkehren. Und dann würde sie einfach weitergehen, zum Camp Eins.

»Ich stehe gar nicht darauf, belogen zu werden«, zischte sie an Em gerichtet, während sie sich hochhievte. Den Felsblock, der sich gelöst hatte, umging sie und hielt zu diesem gesamten Abschnitt so viel Abstand wie möglich.

»Ich wollte Sie nicht verstören.«

»Einen Teufel wollten Sie tun!«, schimpfte Gyre, als sie den Rand von Camp Zwei erstieg. Sie richtete sich auf, packte einen der Seesäcke und durchsuchte ihn nach einer Nahrungsbüchse. Sie fand eine und stopfte sie in den Zugang. Das sollte eigentlich mit Umsicht und langsam geschehen. Es war ihr egal, und sie löste eine schnelle Abfüllung aus, zuckte dann heftig zusammen, als die Paste in ihren Bauch strömte, als ihr Magen sich verkrampfte und die eindringende Masse einen Würgereiz auslöste. Erneut schluckte sie gegen die bittere Gallenflüssigkeit an. Dann folgte das unangenehme Völlegefühl, denn diese Mahlzeit kam zu rasch nach der Morgennahrung, aber sie hatte nicht vor, noch einmal haltzumachen, bevor sie draußen war. Sie brauchte die Kalorien.

Em blieb die ganze Zeit stumm.

Übersatt warf sie die Büchse beiseite. Sie kullerte einen Haufen Felsblöcke hinunter, als sie sich in Richtung Camp Eins aufmachte und die entsprechende Markierung ihrer Helmanzeige aufrief. Dann wartete sie darauf, dass diese über dem Lichtkreis erschien, den ihre Stirnlampe ins Dunkel warf.

Die Markierung blieb aus.

»Ich bin fertig!«, brüllte Gyre. »Ich habe genug! Diese Expedition ist vorbei.«

Em sagte nichts, und die Markierung erschien immer noch nicht auf ihrem Bildschirm. »Markierung!« Nichts.

Gyre war auf hundertachtzig, und der Drang zuzuschlagen, Em einen Hieb zu verpassen, ließ ihre Muskeln beben. Sie beugte sich vornüber und kämpfte darum, nicht auszurasten. »Em«, flüsterte sie. »Em, zeigen Sie mir die Markierung an.« Nichts.

Sie schloss die Augen, atmete noch einmal tief und langsam ein, bevor sie versuchte, sich aufzurichten.

Ihr Anzug bewegte sich keinen Millimeter.

»Em, was machen Sie da?«

Gyre versuchte, ihre Finger zu bewegen, nur ihre Finger, aber nichts geschah. Dann versuchte sie zu treten, spannte die Muskeln ihres Oberschenkels an und ließ das Bein mit aller Kraft vorschnellen. Der Anzug ächzte nicht einmal.

Ihre Stirnlampe ging aus.

Sie hatte noch nie Platzangst verspürt, nicht einmal damals, als sie eine Nacht in einer tiefen Felsspalte gefangen gewesen war. Aber jetzt spürte sie, wie sie zu zittern begann. Ihr Verstand raste. »Em«, flüsterte sie. »Tun Sie das nicht.«

»Wir sollten reden«, gab Em zurück.

»Entsperren Sie meinen Anzug.«

»Noch nicht.«

»Em, das ist ein Sicherheitsrisiko. Was, wenn ein Tunnelbauer … oder sonst irgendwas … Was, wenn hier etwas einbricht …«

»In meinen Messdaten deutet nichts darauf hin.«

»Und Sie erwarten, dass ich Ihnen glaube?«

Einen Augenblick lang reagierte Em nicht, dann schnaubte sie in ihr Mikrofon. Das war der stärkste Ausdruck irgendeiner Emotion, den Gyre bisher von ihr gehört hatte, und das ließ sie nur noch panischer werden.

»Em, entsperren Sie meinen Anzug. Bitte.«

»Ich will nicht, dass Sie zum Camp Eins zurückkehren«, erklärte Em. »Die Zwischenlager, die ich hier eingerichtet habe, dazu der Inhalt Ihrer Seesäcke, das sollte für mindestens zwei Monate reichen, aber dabei sind Unfälle oder sonstige Notfälle nicht mit eingerechnet. Jede unnötig zurückgelegte Strecke könnte bedeuten, dass Sie unser Ziel nicht erreichen.«

»Unser Ziel? Und wie lautet dieses Ziel? Ich kann mich nicht erinnern, über unser Ziel unterrichtet worden zu sein, bevor Sie mich hier heruntergeschickt haben!«

»Beruhigen Sie sich, Gyre. Ihre Herzfrequenz und Ihr Blutdruck steigen auf gefährliche Werte. Ich würde Ihnen lieber kein Anxiolytikum verabreichen.«

»Dann sagen Sie mir, worin Ihr verdammtes Ziel besteht. Denn wenn es um Mineralvorkommen geht, kann ich Ihnen garantieren, dass wir schon mindestens an zwei oder drei Adern vorbeigekommen sind.«

»Einer Caverin, die bezüglich ihrer Erfahrung gelogen hat, brauche ich mich nicht zu erklären.«

Es dauerte einen Moment, bis sie den Sinn dieser Worte erfasst hatte. Sie weiß Bescheid. Aber statt sich nun Sorgen zu machen, verspürte Gyre Erleichterung – und Zorn. Zumindest musste sie nicht länger um die Wahrheit herumtänzeln. Sie bleckte wütend die Zähne. »Dann haben Sie doch umso mehr Grund, mich gehen zu lassen.«

»Sie haben umso mehr Grund, sich zu beruhigen. Ich bin gewillt, Sie weiterzubeschäftigen, anstatt Sie wegen falscher Angaben zu verklagen.«

Gyre hörte auf, gegen den Anzug zu kämpfen, und rührte sich nicht. Verdammt. Ein Eintrag auf schwarze Listen war schlimm genug. Wenn sie verklagt würde, bedeutete das, dass sie dazu noch das wenige verlieren würde, was sie hatte. Man würde sie vor Gericht zerren und öffentlich durch die Hölle gehen lassen, und danach würde ihr niemals wieder jemand vertrauen, nicht einmal für die am schlechtesten bezahlten Kletterpartien. Diesen Makel würde sie nie wieder los.

Und sie würde hier niemals wegkommen.

Sie schloss die Augen, während Zorn und Hoffnungslosigkeit in ihrer Brust aufloderten.

»Sie müssen mir nicht vertrauen, Gyre«, sagte Em. »Sie müssen nur klettern. Und zumindest das können Sie, wenn ich von dem ausgehe, was ich über Sie verifizieren konnte.«

»Ich muss Ihnen vertrauen können«, insistierte Gyre wütend. »Denn wenn ich das nicht kann, dann will ich nicht hier unten sein. Ich will nicht Ihretwegen draufgehen.« Ihr Atem ging schnell und keuchend in der schwarzen Enge ihres Anzugs. Sie wusste, dass Em das auf ihren Anzeigebildschirmen beobachtete, dass Em alles sehen konnte, was sie betraf.

Sie hätte sich am liebsten den Anzug vom Leib gerissen.

»Das … Das mit dem Adrenalin tut mir leid«, sagte Em endlich, aber die Worte klangen unbeholfen aus ihrem Mund.

Sie schaltete die Stirnlampe wieder ein.

»Danke«, spie Gyre. Das Licht dämpfte ihre Panik ein wenig, nicht aber ihren Zorn. »Entschuldigung nicht angenommen.«

In der Leitung kratzte Ems frustriertes Knurren. Gyre hoffte, dass sie sich beim Gedanken daran, den Vertrag aufzulösen und noch einmal ganz von vorn beginnen zu müssen, die Haare raufte.

»Es bereitet mir kein Vergnügen, Menschen da hinunterzuschicken«, erklärte Em schließlich.

Gyre schnaubte. »Worum geht es denn dann?«

»Jemand muss für mich ganz tief in dieses Höhlensystem hinabsteigen«, sagte Em langsam, so als wählte sie jedes Wort mit Bedacht. »Es ist eine harte, strapaziöse Partie, härter als die meisten Expeditionen, und es wird viel länger dauern, mit weniger Support von hier oben. Damit ist es auch automatisch gefährlicher, und deswegen brauche ich, wenn schon nicht Ihr Vertrauen, dann doch zumindest Ihre Erlaubnis, in Ihrem Interesse einzugreifen. Mehr als das bei den meisten Expeditionen der Fall wäre.«

Gyre blickte zu dem Gewölbe hinauf, das sich über ihr spannte, und versuchte sich zu überlegen, wie sie darauf antworten sollte. Ems Drohung hallte immer noch in ihrem Kopf nach wie ein Messer im Rücken, das sie vorwärtstrieb. Sie zwang sich zuzustimmen, Em zu vertrauen, sich auf sie zu verlassen.

Sie hatte wohl kaum eine Wahl, oder?

»Mir wäre weitaus wohler bei der Sache, wenn ich wüsste, was ich dort unten finden soll«, sagte Gyre.

»Und mir wäre weitaus wohler, wenn Sie sich auf die Höhle konzentrieren würden. Behandeln Sie es als eine Erkundungsmission. Wenn alles gut geht, werden Sie Dinge sehen, die noch niemand zuvor je gesehen hat.«

Diesen Köder würde Gyre nicht schlucken. Em äffte eine der Fragen zur Persönlichkeit und Motivation nach, die sie beantwortet hatte, als sie sich für diesen Job beworben hatte, und zwar mit fast demselben Wortlaut. Das war hinterhältig und diente nur der Ablenkung.

Wie so vieles, was sie tat.

»Wenn die Partie so hart ist, hätten Sie mich einweisen sollen, bevor ich abgestiegen bin. Hätten die Herausforderungen mit mir durchgehen sollen.«

»Die kenne ich selbst nicht alle.«

»Aber Sie kennen diesen Teil. Die Zwischenlager, die Anker …«

»Im Gegensatz zu Ihnen«, schnitt Em ihr das Wort ab, »habe ich das schon mal gemacht. Ich weiß, was ich tue. Ich möchte außerdem anmerken, dass Sie nicht um eine Einweisung gebeten haben.«

Gyre hatte nicht darum gebeten, weil sie nicht daran gedacht, sondern angenommen hatte, dass man ihr die Einweisung schon irgendwann geben würde, und dann war es zu spät gewesen. Aber wenn Sie tatsächlich über die Erfahrung verfügen würde, die sie vorgetäuscht hatte …

Nein. Es ging hier nicht um sie. Es ging um Em, um diese Höhle und darum, dass sie ›das schon mal gemacht‹ hatte. Gyre schluckte. Sie war nicht die Einzige, die etwas verborgen hatte.

»Dieser Leichnam, den ich gesehen habe?«

»Ein misslungener Versuch vor etwa vier Monaten, zu Beginn der Saison.«

»Wie hieß er?«

Em antwortete nicht.

»Em, entsperren Sie meinen Anzug und sagen Sie mir seinen Namen, damit ich … ihn beerdigen kann. Oder so was in der Art.«

Sie hörte Em scharf einatmen, und dann löste sich die Arretierung.

Erleichtert ließ sich Gyre auf die Knie sinken und genoss das Gefühl, als der Anzug mit ihr nach unten sackte. Sie bog jeden ihrer Finger und drehte ihre Hüfte. Es fühlte sich an, als könnte sie wieder atmen. Dann stand sie auf, ging zur Kante des Plateaus hinüber und starrte zu der Leiche hinab.

Sie hat das schon mal gemacht.

»Wie lautete sein Name?«, fragte sie noch einmal.

Wieder nur Schweigen. Dann räusperte Em sich. »Ich müsste in seinem Vertrag nachsehen.«

Ihr Mut sank; das Herz schien sich in ihrer Brust zu krümmen. »Sie erinnern sich nicht einmal an ihn.«

»Wir waren nicht bis zu den Vornamen gekommen«, gab Em leise zurück. Immerhin klang das weder wie eine Drohung noch wie ein Versprechen, dass Gyre etwas Besonderes sei.

Gyre war ziemlich sicher, dass sie überhaupt nichts Besonderes war.

Sie war sich ziemlich sicher, dass sie nur eine weitere Person in einem Anzug war, ein Körper, der womöglich als Leiche enden würde.

»Wenn das alles vorbei ist«, sagte Em, und ihre Stimme klang sanfter als je zuvor, »dann schicke ich Sie auf meine Kosten von diesem Planeten fort. Auf eine Ihrer bevorzugten Gartenwelten. Zusätzlich zu Ihrer Bezahlung.«

Gyre schloss die Augen und presste die Hände gegen den Helm. Für einen kurzen Moment sah sie es vor sich. Überall Blattwerk, sanfte Regenfälle, ein anderes Leben. Aber das war nicht genug. Sie wünschte, sie könnte sich die Augen reiben. Ihre Finger glitten über die Sichtfläche und die Delle ihrer Lampe, und dann verließ sie der Mut, als ihr aufging, dass ihre Stirnlampe seit … wie lange schon Wärme und sichtbares Licht abstrahlte? Zehn, 15 Minuten? Sie schaltete sie aus und rief endlich die Rekonstruktion wieder auf.

Die Leiche war noch da, die Sicht unverändert. Es war eine Geste, zweifellos eine kalkulierte, aber sie zeigte Wirkung.

Vertrau mir, sagte sie. Das sollte sie nicht, konnte sie nicht, und doch … Und doch hatte sie keine andere Wahl.

»Wir sollten von hier verschwinden«, stellte Gyre mit einer Grimasse fest. »Bevor irgendwas der Wärme meiner Lampe folgt.«

»Das Begräbnis …«

»Darum kümmere ich mich auf dem Rückweg«, sagte sie und hob einen Seesack vom Boden auf, wollte nicht innehalten, um sich zu fragen, wieso das Em nun plötzlich wichtig schien. »Und ich habe keine bevorzugte Gartenwelt.«

»Ihre Akte …«

»Meine Mutter ist auf eine der Gartenwelten gegangen. Das ist alles. Also fange ich einfach dort an, sie zu suchen.«

Em antwortete nichts darauf.

»Die Markierung für Camp Drei«, verlangte Gyre mit unnachgiebiger Stimme.

»Sie wollen … Sie gehen tatsächlich weiter?«, wollte Em wissen und besaß immerhin den Anstand, schockiert zu klingen.

»Sie lassen mir ja kaum eine Wahl«, stellte Gyre fest. »Aber so wie ich das sehe, ist Ihnen wichtig, dass ich mich ins Zeug lege, mich engagiere. Also habe ich jetzt ein paar Grundregeln für Sie: Sie übernehmen nicht mehr die Kontrolle über meinen Anzug, es sei denn, es ist ein Notfall. Sie injizieren mir nichts, außer im Notfall oder wenn ich Sie darum anflehe. Denn wenn Sie eins von beidem noch einmal machen, weil es Ihren Absichten oder Ihrem Zeitplan zupasskommt, dann öffne ich meinen Helm und lasse mich vom Tunnelbauer holen. Das war’s dann mit Ihrer Mission. Ich verstehe, dass Sie hier unten die Kontrolle brauchen, aber Sie haben mich ja nicht ohne Grund angeheuert.«

»Ja, weil Sie bereit waren, einen weniger verbrieften Job anzunehmen«, erwiderte Em. »Sie waren bereit zu lügen, um ihn zu bekommen.«

»Für diese Bezahlung würde das fast jeder tun. Das wissen Sie sicher besser als ich.«

Em sagte nichts darauf.

»Sie übernehmen nicht wieder die Kontrolle über meinen Anzug, und Sie lügen