Die Leute auf Hemsö - August Strindberg - E-Book

Die Leute auf Hemsö E-Book

August Strindberg

0,0

Beschreibung

Brilliant schildert der schwedische Schriftsteller die Geschichte seines Protagonisten Carlsson, der als Städter nur scheinbar in die Phalanx der seltsamen Schärenbewohner eindringt. Und bald entsteht aus der scheinbaren Eintracht ein unfassbares Chaos ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 235

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Leute auf Hemsö

August Strindberg

Inhalt:

August Strindberg – Biografie und Bibliografie

Die Leute auf Hemsö

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Die Leute auf Hemsö, A. Strindberg

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849637262

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

August Strindberg – Biografie und Bibliografie

Schwedischer Schriftsteller, geb. 22. Jan. 1849 in Stockholm, verstorben am 14. Mai 1912 ebenda.War zuerst einige Zeit Lehrer, studierte dann Medizin, besuchte die Theaterschule, jedoch ohne auftreten zu dürfen, und nahm seine Studien 1870–72 wieder auf. Das interessante Drama »Meister Olof« wurde 1872 vom Publikum abgelehnt. Die Enttäuschung fand bitteren Widerhall in den Schilderungen aus dem Stockholmer Künstlerleben »Das rote Zimmer« (1879), das die realistisch-naturalistische Literaturbewegung in Schweden einleitet. Es rief einen Sturm der Entrüstung hervor. S. antwortete mit der bitterbösen Satire »Das neue Reich« (1882). In rascher Folge erschienen jetzt die Schauspiele »Frau Margit« und »Glückspeter«, die satirisch-agitatorischen Gedichte »Wundfieber«, »Schlafwandeln« (1883) u. a. In seiner ersten Periode stellt er die Frau und die Liebe als die tragenden Mächte des Lebens dar; in der zweiten Periode, nach einer europäischen Reise 1883, wird die Frau als der Quälgeist des Mannes geschildert; die aristokratische Kultur gilt ihm als verfehlt, und er tritt als der Verfechter des Utilitarismus auf (»Ehegeschichten«, 1884–85, 2 Tle.; »Die Inselbauern«, 1887; »Unter französischen Bauern«, 1889; die Schauspiele »Kameraden«, 1888; »Fräulein Julie«, 1888; »Der Vater«, 1889, mit einer Vorrede von Zola; »Gläubiger«; »Samum« und seine sehr offenherzige Selbstanalyse »Der Sohn einer Magd«, 1887). Dem Gleichheitsfanatismus folgte alsbald unter Nietzsches Einfluss die Reaktion als Übermenschenkultus (»Tschandala«. 1889; »Am offnen Meer«, 1890). Nach einer Periode von chemischen und alchimistischen Studien (»Gedrucktes und Ungedrucktes«, 1890; »Antibarbarus«, 1894) erschienen die psychologisch verworrenen und verwirrenden Schriften: »Die Beichte eines Toren« (1893), »Inferno« (1897), »Legenden« (1898), die Dramen »Nach Damaskus« (1898–1904, 3 Tle.), »Vor höherem Recht« (1899) u. a. Strindbergs unbarmherzige Kritik richtet sich mit ihrem Vergrößerungsglas jetzt gegen ihn selbst und er analysiert sein Leben, die quälende Kindheit »einer schüchternen und hungrigen Natur«, die gärenden Jugendjahre in Armut und Unverständnis, die Verzweiflung und Zanksucht des Mannes, die Ohnmacht des Alternden, alles, was die Tragödie des Stimmungsmenschen ausmacht. Weder als Gefühlsmensch der ersten Periode noch als Intelligenzaristokrat der zweiten hatte er eine befriedigende Lebenslösung finden können; jetzt sucht er einen dritten Erklärungsgrund und wird Mystiker. Die historischen Schauspiele: »Die Folkunger«, »Gustav Wasa«, »Erik XIV.«, »Gustav Adolf II.«, »Christine«, »Karl XII.«, »Gustav III.« und »Die wittenbergische Nachtigall« (gesammelt 1906–07) drücken den Gedanken aus, dass die Welt von höheren, übersinnlichen Mächten geleitet wird. In seinen späteren Werken entfaltet der frühere Naturalist eine Fülle von romantischer Poesie (»Advent«, »Ostern«, »Mittsommer«, um 1900; »Märchen«, 1903; »Einsam«, 1903; »Historische Miniaturen«, 1905). S. ist in der modernen schwedischen Literatur der größte Spracherneuerer, der kühnste, eigenartigste Geist. Als rücksichtsloser Anbahner hat er mehr Widerspruch und Anfeindung erregt, als seiner überempfindlichen Natur heilsam war. Seine Romane erschienen in schwedischer Volksausgabe 1899 ff., seine Dramen 1903–05, 2 Serien; unter Mitwirkung von E. Schering veranstaltete S. selbst eine deutsche Gesamtausgabe Berlin 1901 ff., 33 Bde. Vgl. Levertin, Diktare och drömmare (Stockh. 1898); H. Lindgren, Skalder och tänkare (das. 1900); D. Sprengel, De nya poeterna (das. 1902); Eßwein, August S. (Münch. 1907).

Die Leute auf Hemsö

Erstes Kapitel

Carlsson tritt seinen Dienst an und wird als Gauner charakterisiert.

Er kam wie ein Gewitter am Aprilabend, mit einer Feldflasche an einem Riemen über der Schulter. Klara und Lotte waren nach Dalaröbroen hinübergefahren, um ihn mit dem Segelboot abzuholen; aber es währte lange, bis sie in das Boot kamen. Sie sollten zum Kaufmann gehen, um eine Tonne Teer zu bestellen, und in die Apotheke, um graue Salbe für das Ferkel zu holen; dann mußten sie auf die Post, um eine Freimarke zu bekommen, und schließlich wollten sie Fia Löfström im Krug besuchen und den Haushahn gegen ein halbes Liespfund Zwergmöwen, die als Köder zum Angeln benutzt wurden, leihen; endlich aber strandeten sie im Gasthofe, wohin Carlsson sie auf Kaffee und Weizenbrot eingeladen hatte. Zu guter Letzt kamen sie denn in das Boot; aber Carlsson wollte steuern, und das konnte er nicht, denn er hatte noch niemals ein Boot mit einem Rahsegel gesehen und riet, das Focksegel zu hissen, während ein solches gar nicht vorhanden war.

Und auf der Zollbudenbrücke standen Lotsen und Matrosen und lachten über diese Anstalten, als die Jolle über Stag ging und nach Saltsäcken zu abwärts trieb.

"Holla du! Du hast ein Loch im Boden!" schrie ein angehender junger Lotse gegen den Wind an. – Und während Carlsson nach dem Loch suchte, stieß ihn Klara beiseite und ergriff das Steuer, und vermittels der Ruder gelang es Lotte, die Jolle wieder vor den Wind zu bringen, so daß sie jetzt mit guter Fahrt in der Richtung nach Aspösund zu glitt.

Carlsson war ein kleiner, vierschrötiger Mensch, mit einer Nase, die so krumm war wie ein Angelhaken. Lebhaft, voll lustiger Einfälle und neugierig war er, aber vom Seewesen verstand er nicht das geringste; deshalb sollte er in Hemsö auch nur die Sorge für die Felder und das Vieh übernehmen – eine Arbeit, zu der niemand Lust hatte, seit der alte Flod ins Jenseits gegangen und seine Witwe allein auf dem Hofe saß.

Als aber Carlsson anfangen wollte, die Mägde nach den Verhältnissen zu Hause auszuforschen, erhielt er nur ausweichende Antworten: "Ja, das weiß ich wirklich nicht!" "Nein, davon verstehe ich gar nichts!" "Ach ja, das mag Gott wissen!"

Aus ihnen konnte er also nichts herausbringen.

Das Boot glitt zwischen Inseln und Klippen dahin, während die Eisente, die hinter den Felsenriffen verborgen saß, schnatterte und der Auerhahn im Dickicht des Tannenwaldes schrie. Es ging hinweg über Bucht und Strom, bis die Dämmerung hereinbrach und die Sterne am Himmel glänzten. Dann ging es hinaus über das große Wasser, wo das Leuchtfeuer schien. Zuweilen kam man an einem Merkpfahl vorüber, zuweilen an einem weißen Seezeichen, das wie ein Gespenst aussah. Hier leuchteten Überreste vom Schneetreiben gleich Leinwand, die zum Bleichen gelegt ist; dort tauchten Garnbojen aus dem schwarzen Wasser auf und scharrten gegen den Kiel, wenn man darüber hinsegelte. Eine schlaftrunkene Möwe fuhr von ihrer Felsenklippe auf und erweckte durch ihr Geschrei die schlafenden Gefährten, die kreischend und lärmend über das Wasser dahinschossen. Und ganz hinten, wo die Sterne in die See hinabstiegen, erblickte man das rote und das grüne Auge eines großen Dampfers, der eine lange Reihe runder Lichter, die durch die Kajütenfenster strahlten, mit sich schleppte.

Carlsson war alles neu, und er fragte nach allem; und jetzt erhielt er so viele Antworten, daß er deutlich fühlte, nun sei er auf ein fremdes Gebiet geraten.

›Er war aus dem Innern des Landes‹, was ungefähr dasselbe bedeutet, wie im Gegensatze zu Städter ›vom Lande‹ sein.

Dann glitt die Jolle in einen Sund und kam in Lee, so daß man die Segel wieder streichen und rudern mußte. Und als sie gleich darauf abermals in einen andern Sund kamen, erblickten sie ein Licht, das aus einem zwischen Fichten und Erlen gelegenen Hause schien.

"Jetzt sind wir daheim," sagte Klara, und das Boot schoß in eine schmale Bucht. Eine Rinne war durch das Röhricht gehauen, das rasselnd gegen das Boot schlug und einen Hecht aufscheuchte, der sinnend einen Angelhaken umkreiste.

Der Hofhund fing an zu bellen, und man gewahrte oben beim Hause eine Laterne, die sich bewegte.

Inzwischen wurde die Jolle am Brückenende befestigt, und das Löschen begann. Das Segel wurde auf der Rahe zusammengerollt, der Mast herausgenommen und die Stange mit den Pardunen umwickelt; die Teertonne wurde an Land gerollt, und bald lagen Bütten, Flaschen, Körbe und Bündel auf der Brücke.

Carlsson blickte im Halbdunkel um sich und entdeckte lauter neue, ungewohnte Dinge. Draußen vor der Brücke lag das Hütfaß, und an der Brücke entlang lief ein Geländer, das mit Wimpeln, Vertauungen, Bootsankern, Bleiloten, Angelschnüren und Haken behängt war. Auf der Brücke selber standen Heringsfässer, Tröge, Waschkübel und Aalkörbe.

Am Kopf der Brücke befand sich eine Art von Speicher, der mit Lockvögeln überfüllt war: zur Strandjagd ausgestopfte Eidergänse, Fischenten, Schreienten und andere Vögel; und unter dem Dachfirst lagen auf Stützen: Segel, Masten, Ruder, Bootshaken, Ruderdollen, Schöpfkellen, Eisäxte und Keulen. Und am Ufer standen Garnstangen mit Heringsnetzen, die so groß waren wie Kirchenfenster und durch deren Maschen man einen Arm stecken konnte, und andere mit Barschnetzen, so neu und weiß wie die schönsten Schlittennetze; am Ausgang der Brücke aber ragte gleichsam eine Schloßallee von zwei Reihen Pfählen empor, zwischen denen große Heringsnetze ausgespannt waren. Und ganz oben in der Allee brannte die Laterne und warf einen Schein über den Sand, der von Muschelschalen und getrockneten Fischkiemen funkelte, und in den Netzen blitzten die hängengebliebenen Fischschuppen gleich dem Reif, der über Spinnengeweben liegt. Aber die Laterne beleuchtete auch das Antlitz einer alten Frau, das der Wind eingetrocknet zu haben schien, sowie ein Paar kleiner, freundlicher Augen, die unter dem Herdfeuer zusammengeschrumpft waren. Und vor der Alten stand der Hund, ein struppiges Tier, das im Wasser ebensogut zu Hause war wie auf dem Land.

"Nun, kommt ihr jetzt nach Hause, Kinderchen," begrüßte die Alte sie, "und habt ihr den Knecht mitgebracht?"

"Ja, da sind wir, und hier ist Carlsson, Mutter," antwortete Klara.

Die Frau trocknete ihre rechte Hand an der Schürze und reichte sie ihm.

"Willkommen, Carlsson, möge Er sich wohl bei uns fühlen. Habt ihr Kaffee und Zucker mitgebracht, Kinder, und sind die Segel im Schuppen? Dann kommt nur herauf, damit wir etwas zu essen bekommen."

Und dann gingen sie den Berg hinan, Carlsson still, neugierig, voller Erwartung, wie sich sein Leben hier an dem neuen Platze gestalten werde.

Drinnen im Hause flackerte ein helles Feuer im Ofen, und über dem weißen Klapptisch lag ein reines Tischtuch. Auf dem Tisch stand eine Branntweinflasche, die in der Mitte einen Knick hatte gleich einer Sanduhr, und rings herum Gustersberger Tassen mit Rosen und Vergißmeinnicht, ein frischgebackener Stollen, hartgedörrte Zwiebäcke; ein Butterteller, Zuckerschale und Rahmguß vervollständigten die Anrichtung, die Carlsson höchst opulent erschien, wie er es hier, so fern von jeglicher Zivilisation, nicht erwartet hatte. Aber auch das Haus selber sah nicht übel aus, als er es beim Schein des flackernden Feuers betrachtete, das, einen Gegensatz zu dem bleichen Schein des Talglichts im Messingleuchter bildend, sich in der bereits ein wenig blind gewordenen Politur des Mahagonisekretärs widerspiegelte, in dem lackierten Gehäuse und dem Messingperpendikel der Wanduhr aufblitzte, die Silberverzierungen an den damaszierten Läufen der langen Vogelflinten dahinglitt und seinen Glanz auf die vergoldeten Buchstaben warf, mit denen die Rücken der Postillen, Gesangbücher, Kalender und Hausratbücher ausgestattet waren.

"Komm Er jetzt näher, Carlsson," sagte die Alte; und Carlsson, der ein Kind der Zeit war, ließ sich nicht lange nötigen, sondern folgte sofort der Aufforderung und setzte sich auf eine Bank, während die Mädchen sich mit seiner Kiste zu schaffen machten und sie in die Küche trugen, die auf der anderen Seite der Diele lag.

Die Frau nahm die Kaffeekanne vom Feuer, klärte den Kaffee, setzte ihn abermals auf und ließ ihn noch einmal aufkochen, worauf sie ihre Aufforderung wiederholte, diesmal mit dem Zusatze, daß Carlsson sich an den Tisch setzen solle.

Carlsson nahm Platz, drehte die Mütze zwischen den Fingern hin und her und beobachtete, von welcher Seite der Wind wehe, um danach seine Segel stellen zu können – denn er war sich klar darüber, daß er sich mit der Betreffenden gut stellen wolle; da er aber nicht wußte, ob die Alte zu der Art gehöre, die es duldet, daß man ein Wort mitredet, wollte er seiner Zunge keinen Spielraum gönnen, ehe er das Terrain genügend sondiert hatte.

"Ist das aber ein schöner Sekretär!" begann er und fingerte an den Messingrosetten herum.

"Hm," sagte die Alte, "es ist nur leider nicht viel drin."

"Ach was," schmeichelte Carlsson und steckte den kleinen Finger in das Schlüsselloch der Klappe, "etwas Silberzeug wird schon da drin sein!"

"Ja, früher lag dort ein hübscher Schilling; aber Flod mußte begraben werden, und Gustav sollte dienen, und seitdem ist hier auf dem Hofe keine rechte Ordnung mehr gewesen. Und dann hatte Flod noch obendrein das neue Haus gebaut, das zu nichts taugt, und da ging es bergab. Nehm Er nur Zucker, Carlsson, und trink Er eine Tasse Kaffee!"

"Soll ich anfangen?" fragte der Knecht und wollte Umstände machen.

"Ja, da noch niemand zu Hause ist," erwiderte die Frau. "Der liebe Junge ist mit der Flinte draußen auf See, und dann nimmt er Norman mit, folglich wird hier zu Hause nichts geschafft. Wenn sie nur hinauskommen und einen Vogel schießen können, lassen sie gern die Fischerei und das Vieh zum Teufel gehen. Und das ist der Grund, weshalb Er hierhergekommen ist, Carlsson; Er soll hier Ordnung in diesen Sachen schaffen, und deshalb soll Er sich auch ein wenig besser halten und ein wachsames Auge auf die Jungen haben. Will Er nicht einen Zwieback nehmen, Carlsson?"

"Ja, Mutter, wenn es so ist, daß ich gleichsam ein wenig mehr sein soll, damit die anderen mir gehorchen, dann müssen die Sachen geordnet werden, und ich muß einen Grund haben, auf den ich mich stützen kann – denn ich kenne die Burschen – wenn man ihr Duzbruder und Kamerad sein soll," antwortete Carlsson. Er fing jetzt an, sich zurechtzufinden, und fühlte sich in seinem Fahrwasser.

"Was die Seegeschichten anbetrifft, in die mische ich mich nicht hinein, denn darauf verstehe ich mich nicht, aber auf dem Lande bin ich zu Hause, und da werde ich schon fertig."

"Ja, das wollen wir morgen alles ordnen, dann ist Sonntag, und da können wir bei Tageslicht darüber reden. Jetzt muß Carlsson noch einen Schluck nehmen, und dann soll Er hingehen und sich schlafen legen."

Die Alte füllte die Tasse wieder, und Carlsson nahm die "Sanduhr" und goß einen tüchtigen Schuß in den Kaffee. Nachdem er einen Schluck getrunken, empfand er große Lust, das Gespräch, das ihn auf das angenehmste berührt hatte, fortzusetzen. Aber die Frau hatte sich erhoben, um das erlöschende Feuer wieder anzufachen, die Mädchen liefen ein und aus, und der Hund draußen im Hofe fing an zu bellen, so daß die Aufmerksamkeit darauf hingelenkt wurde.

"So, jetzt kommen die Jungen nach Hause," sagte die Frau.

Es wurden nun draußen Stimmen hörbar, auf den Steinen erklang das Rasseln der Hufeisen unter den Stiefelabsätzen, und durch die Balsaminen am Fenster gewahrte Carlsson draußen im Mondschein zwei männliche Gestalten mit Flintenläufen über den Schultern und Gepäck auf dem Rücken.

Der Hund bellte auf der Diele, und gleich darauf öffnete sich die Tür. In seinen Wasserstiefeln und seiner Friesjacke kam der Sohn angestiegen, und mit dem bewußten Stolz eines glücklichen Jägers warf er seine Jagdtasche sowie ein Bund Eidergänse auf den Tisch.

"Guten Abend, Mutter, da hast du Fleisch," begrüßte er die Alte, ohne den Neuangekommenen zu bemerken.

"Guten Abend, Gustav, ihr seid lange fortgewesen," erwiderte die Alte seinen Gruß, indem sie gegen ihren Willen mit befriedigtem Blick die prächtigen Eidergänse in ihren kohlschwarzen und kreideweißen Federkleidern mit der rosenroten Brust und dem meergrünen Nacken musterte. "Ihr habt, wie ich sehe, eine gute Jagd gehabt. Nun, und hier ist Carlsson, den wir heute erwarteten." Ein forschender Blick, der halb von den rotblonden Wimpern verdeckt wurde, blitzte in den kleinen, scharfen Augen des Sohnes auf. Der Ausdruck des Gesichts veränderte sich sofort. Vorhin war er offen gewesen, jetzt wurde er verschlossen.

"Guten Abend, Carlsson," sagte er kurz, mit scheuer Miene.

"Guten Abend," erwiderte der Knecht und schlug einen ungezwungenen Ton an, bereit, in einen überlegenen überzugehen, sobald er sich über den Ankömmling im klaren sein würde.

Gustav setzte sich auf den erhöhten Platz am Fenster, stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett und ließ sich von der Mutter eine Tasse Tee reichen, in die er sofort Branntwein goß; während er trank, betrachtete er verstohlen Carlsson, der sich an die Vögel herangemacht hatte und sie untersuchte.

"Es sind prächtige Tiere," sagte Carlsson und befühlte die Brüste, um zu sehen, ob sie fett seien. "Er ist ein tüchtiger Schütze, wie ich sehe, der Schuß sitzt gerade auf der rechten Stelle."

Gustavs ganze Antwort bestand in einem verschmitzten Lächeln; er hörte sofort heraus, daß der Knecht sich nicht auf Jagd verstand, denn er lobte die Schüsse, die so getroffen hatten, daß sie den Balg als Lockvogel unbrauchbar machten.

Carlsson aber fuhr unverdrossen fort zu reden; er lobte die Seehundfelltaschen, fand die Flinten ausgezeichnet und machte sich selbst so klein wie möglich, so unerfahren, wie er in Wirklichkeit im Seewesen war, und ein klein wenig darüber.

"Wo ist denn nun aber Norman geblieben ?" fragte die Alte, die anfing müde zu werden.

"Er trägt die Sachen in den Bootschuppen hinauf," antwortete Gustav, "aber er muß gleich kommen."

"Und Rundquist hat sich schon schlafen gelegt; nun, es wird auch Zeit; und Carlsson, der von der Reise kommt, wird auch nachgerade müde sein. Ich will Ihm sein Lager zeigen, wenn Er mir folgen will."

Carlsson wäre gern sitzen geblieben, um die "Sanduhr" auslaufen zu sehen; aber der Wink war zu deutlich, er konnte keinen Einspruch dagegen erheben. So geleitete die Frau ihn denn in die Küche hinaus, kam aber gleich zu dem Sohn zurück, dessen Züge jetzt wieder ihren gewöhnlichen offenen Ausdruck angenommen hatten.

"Nun, wie findest du ihn?" fragte die Alte. "Er sieht mir so aus, als wäre er reell und willig."

"Nein!" lautete Gustavs langgezogene Antwort. "Der nimmt mir den Mund zu voll, der Gaudieb!"

"Wie du nur sprichst! Er kann sehr ordentlich sein, wenn er auch ein wenig redselig ist."

"Glaube mir, Mutter, das ist ein Gauner, mit dem wird es noch was absetzen. Aber das schadet nichts. Er soll sich sein Brot schon verdienen, und mir soll er nicht zu nahe kommen. Ja, du glaubst nie, was ich sage, aber du wirst es schon sehen! Und dann, wenn es zu spät ist, bereust du es! Wie wars denn mit dem alten Rundquist! Der konnte auch so schön reden, aber mit der Arbeit wars nichts, und nun sitzen wir da mit dem Krüppel und müssen ihn bis an sein seliges Ende durchfüttern. Solche Maulhelden verrichten ihre Heldentaten nur bei der Grützschüssel. Darauf kannst du dich verlassen!"

"Ja, Gustav, du bist akkurat wie dein Vater; du traust niemandem was Gutes zu und forderst das Unmögliche! Rundquist ist auch kein Seemann, er ist aus dem Binnenlande; aber er kann vielerlei, wovon wir nicht das geringste verstehen, und richtige Seeleute bekommen wir nirgends mehr, die gehen zur Marine, zum Zoll- oder Lotsenwesen – hier heraus kommen nur Landleute. Ja, siehst du, man muß eben nehmen, was man kriegen kann."

"Freilich, es ist eine bekannte Sache, daß niemand mehr als Knecht dienen will; sie ziehen alle den Dienst des Königs vor – und nun gar hier draußen! Hier sammelt sich aller Ausschuß aus dem Binnenlande an. Man muß nicht glauben, daß ordentliche Leute hier zwischen die Schären hinausziehen, wenn sie nicht einen triftigen Grund dazu haben, und deshalb wiederhole ich nur meine Warnung von vorhin: Halt die Augen offen und gib acht!"

"Ja, Gustav, du solltest die deinen öffnen und dein Hab und Gut zusammenhalten; denn einmal wird doch alles dein Eigentum. Du solltest zu Hause bleiben und nicht den ganzen Tag auf der See liegen, wenigstens nicht die Leute von der Arbeit abhalten, wie du es tust."

Gustav zupfte ein wenig an einem der erbeuteten Vögel und erwiderte:

"Ach ja, Mutter, aber du magst doch auch gern einen Braten auf dem Tisch haben, nachdem es den ganzen Winter nichts als gesalzenes Schweinefleisch und Klippfisch gegeben hat; deshalb solltest du kein Wort darüber verlieren. Und übrigens gehe ich nicht in den Krug, und ein wenig Vergnügen muß doch der Mensch auf dieser Welt haben. Wir haben ja genug zu essen, und einen Sparpfennig besitzen wir auch auf der Bank, und das Haus verfault nicht; sollte es abbrennen, nun meinetwegen, es ist ja gut versichert."

"Nein, das Haus verfault nicht, das weiß ich wohl, aber alles andere verkommt. Die Zäune müssen ausgebessert werden, die Gräben bedürfen der Reinigung; das Scheunendach ist so undicht, daß das Wasser auf das Vieh herabströmt; nicht eine einzige Brücke ist mehr heil, die Boote sind mürbe wie Zunder, die Netze müssen geflickt und der Milchkeller muß gedeckt werden. Und – ach ja – da ist so vielerlei, was geschehen sollte, was aber nicht geschieht. Wir wollen einmal sehen, ob die Sache jetzt nicht anders wird, jetzt, wo wir einen bekommen haben, der nichts anderes tun soll, als diese Sachen in Ordnung zu bringen. Wer weiß, vielleicht ist Carlsson der Mann danach."

"Nun, dann laß ihn das besorgen!" sagte Gustav in ärgerlichem Ton und strich mit der Hand durch sein kurzgestutztes Haar, so daß es wie ein Stoppelfeld in die Höhe stand. "Na, da ist Norman! Komm nun, Norman, und trink einen Schluck!"

Norman, ein kleiner, breitschulteriger, blondhaarige Bursche mit blondem, sprossendem Schnurrbart und blauen Augen, trat jetzt in das Zimmer und ließ sich, nachdem er die Alte begrüßt hatte, bei seinem Jagdkameraden nieder. Als dann die beiden Helden ihre kurzen Tonpfeifen aus den Westentaschen genommen und gestopft hatten, fingen sie auf Jägerweise beim Kaffeepunsch an, Schuß für Schuß alle ihre Großtaten draußen am Meeresufer durchzugehen. Und die Vögel wurden mit den Fingern in den Schußwunden untersucht, die Schrotkörner geteilt, unentschiedene Geschäfte zum Abschluß gebracht und neue Pläne zu weiteren Ausflügen geschmiedet. –

Indessen war Carlsson in die Küche hinausgekommen, wo sich sein Nachtlager befand.

Es war dies ein Raum ohne Decke, so daß man bis in die Dachsparren hinaufsehen konnte, ein Raum, der große Ähnlichkeit mit einer Schute hatte, die kieloben auf der aus allerhand Dingen bestehenden Ladung schwamm. Ganz oben, unter dem schwarzgeräucherten Dachrücken, hingen Netze und Fischereigerätschaften an den Balken, darunter waren Bretter und Bootplanken zum Trocknen verstaut; Flachs und Hanf, Werg, Schmiedeeisen, Zwiebelbunde, Talglichte, Proviantkisten; auf einem Querbalken lagen in langer Reihe frisch ausgestopfte Lockvögel; über einen andern war ein Schaffell geworfen, von einem dritten baumelten Seestiefel, gestrickte Jacken und Strümpfe herab, und zwischen den Balken lagen Stangen mit Knackbrot, Stöcke mit Aalhaut, Aalgabeln mit Angelleinen und Haken.

Am Giebelfenster stand der Eßtisch von rohem Holz, und an den Wänden entlang drei vollständige Bettstätten mit reinen, aber groben Laken.

In einer der Bettstätten hatte die Alte Carlsson einen Platz angewiesen, und nachdem sie mit dem Licht verschwunden war, stand der Neuangekommene da im Halbdunkel, das nur schwach erhellt wurde von dem Kohlenfeuer auf dem Herd und einem kurzen Mondstreif, der, durchbrochen von den Leisten des Fensterrahmens, sich auf dem Fußboden abzeichnete. Aus Anstandsrücksichten wurde beim Zubettegehen kein Licht gewährt, denn auch die Mägde hatten ihre Schlafstellen in der Küche, und so begann Carlsson, sich im Halbdunkel zu entkleiden. Er zog den Rock und die Stiefel aus und nahm die Uhr aus der Westentasche, um sie beim Schein des Herdfeuers aufzuziehen. Er hatte den Schlüssel in das Loch gesteckt und fing an, ihn mit ziemlich ungewandter Hand herumzudrehen – denn die Uhr ging nur an Sonn- und Festtagen –, als er vom Bette her eine tiefe knurrende Stimme vernahm:

"Nein, sieh doch einer, der Bursche hat sogar eine Uhr."

Carlsson stutzte, sah scharf nach dem Bett hinüber und entdeckte jetzt beim schwachen Schein der Kohlen ein Paar blinzelnder Augen und einen struppigen Kopf, der gleichsam zwischen zwei behaarten Armen hing, auf die er sich stützte.

"Juckt dich was, du?" fragte er, um zu zeigen, daß er auch nicht auf den Mund gefallen sei.

"Wenn es mich juckte, da wüßte ich schon ein gutes Mittel; wem es juckt, der kratze sich," antwortete der Kopf. "Aber Er ist wohl ein flotter Gesell, hat Er doch gar Saffian an den Stiefelschäften?"

"Ja, das will ich meinen, und Galoschen habe ich auch vielleicht, wenn es darauf ankommt."

"Herr Jesus, ja! Galoschen hat Er auch! Dann kann Er am Ende einen Schluck spendieren?"

"Ja, wenn es sein muß, so kann er auch das," erwiderte Carlsson und griff nach der Feldflasche. "Hier, nehmt vorlieb damit."

Er zog den Pfropfen ab, trank selbst einen Schluck und reichte die Flasche nach dem Bett hinüber.

"Gott vergelts Ihm! Ich glaub gar, das ist Branntwein. Prosit also und willkommen hierzulande! Jetzt nenne ich dich du, Carlsson, und du sagst ›toller Rundquist‹ zu mir, denn so heiß ich für gewöhnlich."

Und dann kroch er wieder unter seine Bettdecke.

Carlsson entkleidete sich inzwischen und stieg ins Bett, nachdem er seine Uhr an das Salzfaß gehängt und seine Stiefel mitten auf den Fußboden gestellt hatte, damit die roten Saffiankeile ordentlich zu sehen seien. Es war still in dem Raum, nur aus der Nähe des Herdes erklang Rundquists Schnarchen. Carlsson lag wach und dachte an die Zukunft. Die Worte der Frau, daß er gleichsam mehr als die anderen sein und Ordnung in die ganze Wirtschaft bringen sollte, saßen ihm wie ein Nagel im Kopf.

Und um diesen Nagel riß und zog es, als habe er ein Geschwür im Kopf. Wie er so dalag, mußte er an den Mahagonisekretär denken, an das rote Haar des Sohnes und an seine mißtrauischen Augen. Er sah sich selber mit einem großen Bund Schlüssel an einem Stahlring gehen und damit in der Hosentasche rasseln, und dann kommt jemand und bittet ihn um Geld; hierauf hebt er die Lederschürze, schüttelt das rechte Bein, steckt die Hand abermals in die Tasche, fühlt die Schlüssel gegen die Lende, dreht das Bund hin und her, und wenn er den kleinsten gefunden hat, der zur Klappe paßt, steckt er ihn ins Schlüsselloch, geradeso wie er es heute abend mit dem kleinen Finger gemacht hat; aber das Schlüsselloch, das so aussah wie ein Auge mit einer Pupille, wird rund und groß und schwarz, wie die Öffnung eines Flintenlaufes, und am anderen Ende des Laufes erblickt er die roten Fischaugen des Sohnes, die ihn scharf und mißtrauisch anstarren, als wolle er sein Geld verteidigen.

Jetzt knarrte die Küchentür, und Carlsson fuhr aus seinem Halbschlummer auf. Mitten im Zimmer, wo der Reflex des Mondes lag, standen zwei weißgekleidete Gestalten, die gleich darauf in ein Bett untertauchten, das gewaltig krachte, gleich einem Boot, das gegen eine morsche Brücke läuft; dann machte sich leises Reden und Gekicher, ein Gewühl in den Kissen vernehmbar, und darauf wurde alles still.

"Gute Nacht, ihr Mädchen," ertönte Rundquists ersterbende Stimme. "Träumt von mir, dann seid ihr brav."

"Das sollt uns auch noch einfallen!" antwortete Lotte.

"St! antwort doch dem gräßlichen alten Kerl nicht," warnte Klara.

"Ihr seid – so gut – so gut! Wenn ich nur auch – so gut wäre – wie ihr!" seufzte Rundquist. "Ja, du lieber Gott, man wird alt, und tut man einem nicht mehr seinen Willen, dann taugt das Leben nicht mehr. Gute Nacht, Kinder, nehmt euch vor Carlsson in acht, denn der hat eine Uhr und Saffianstiefel! Ja, Carlsson, der ist glücklich, und wer das Glück hat, führt die Braut heim! – Was liegt ihr da hinten und kichert? – Hör mal, Carlsson, kann ich nicht noch einen Schluck aus der Flasche bekommen? Es ist hier so verdammt kalt, es zieht so vom Feuerherd her."

"Nein, nun bekommst du nichts mehr, denn jetzt will ich schlafen," sagte Carlsson barsch; er war in seinen Zukunftsträumen gestört worden, zu denen weder Branntwein noch Mädchen paßten – er hatte sich in seine Stellung als ›etwas mehr‹ hineingelebt.

Es ward wieder still; nur der gedämpfte Ton der Unterhaltung der beiden Jäger drang durch die Tür, und von Zeit zu Zeit vernahm man das leise Rütteln des Nachtwinds an dem Schloß.

Carlsson schloß abermals die Augen und hörte im Schlaf Lotte halblaut etwas auswendig hersagen, was er erst nicht recht begreifen konnte; schließlich verstand er jedoch die ganz ineinander gezogenen Worte: "Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel, denn Dein ist das Reich und die Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen. Gute Nacht, Klara! Schlaf gut!"