Die Lotterie - und andere dunkle Erzählungen - Shirley Jackson - E-Book

Die Lotterie - und andere dunkle Erzählungen E-Book

Shirley Jackson

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Beschreibung

Die Vorstadt hat etwas Böses an sich, die liebende Ehefrau verbirgt mörderische Gedanken und der besorgte Bürger könnte ein berüchtigter Serienmörder sein … Tauchen Sie ein in die beunruhigende Welt von Shirley Jackson, mit dieser Sammlung ihrer düstersten Kurzgeschichten. In der gespenstischen Welt von Shirley Jackson (1916–1965) ist nichts so, wie es scheint, und nirgendwo ist man sicher. Sie ist mehr als nur die »Queen of Horror« – sondern eine der wichtigsten amerikanischen Schriftstellerinnen und literarisches Vorbild für viele moderne Autoren, etwa Stephen King oder Neil Gaiman. Donna Tartt: »Shirley Jacksons Geschichten gehören zu den schauerlichsten, die je geschrieben wurden.« Neil Gaiman: »Eine erstaunliche Autorin ... Wenn du sie nicht gelesen hast, hast du etwas Wunderbares verpasst.« Joyce Carol Oates: »Shirley Jackson ist eine dieser höchst eigenwilligen, unnachahmlichen Schriftstellerinnen, deren Werke einen bleibenden Zauber ausüben.«  

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EPUB
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Seitenzahl: 399

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Aus dem Amerikanischen von Martin Ruf

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Dark Tales

erschien 2016 im Verlag Penguin Books.

Copyright: Dark Tales © Laurence Hyman, J. S. Holly, Sarah Hyman DeWitt, and Barry Hyman, 2016

Copyright: ›The Lottery‹ © Shirley Jackson 1948, 1949, © renewed Laurence Hyman, Barry Hyman, Sarah Webster and Joanne Schnurer 1967, 1977

Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Der Übersetzer dankt dem Freundeskreis zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen e. V. für die freundliche Unterstützung seiner Arbeit.

Titelbild: Kim Isaak

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-088-5

www.Festa-Verlag.de

Inhalt

Die Lotterie

Die Möglichkeit des Bösen

Louisa, bitte komm nach Hause

Paranoia

Mrs. Smiths Flitterwochen

Die Geschichte, die wir immer erzählt haben

Der Zauberlehrling

Jack the Ripper

Der schöne Fremde

Sie sagte nichts als Ja

Welch ein Gedanke

Der Bus

Familienschätze

Ein Besuch

Die gute Ehefrau

Der Mann im Wald

Nach Hause

Die Sommergäste

Die Lotterie

Der Morgen des 27. Juni war klar und sonnig, mit der frischen Wärme eines Hochsommertags; überall blühten die Blumen und das Gras war von einem satten Grün. Gegen zehn Uhr fingen die Leute des Dorfs an, sich auf dem Platz zwischen Post und Bank zu versammeln; in einigen Orten gab es so viele Menschen, dass die Lotterie zwei Tage dauerte und am 26. Juni beginnen musste. Doch in diesem Dorf, wo nur etwa 300 Menschen wohnten, dauerte die ganze Lotterie weniger als zwei Stunden, weshalb sie um zehn Uhr morgens anfangen konnte und trotzdem pünktlich zu Ende war, damit die Dorfleute zum Mittagessen nach Hause gehen konnten.

Die Kinder kamen natürlich zusammen. Vor Kurzem hatte die Schule wegen des Sommers geschlossen, und angesichts der plötzlichen Freiheit war den meisten von ihnen ein wenig unbehaglich zumute; häufig versammelten sie sich zunächst eine Weile ruhig, bevor sie in lärmende Spiele ausbrachen, und ihre Unterhaltungen drehten sich noch immer um den Unterricht und die Lehrer, um Bücher und Ermahnungen. Bobby Martin hatte sich bereits die Taschen mit Steinen gefüllt, und die anderen Jungen folgten schon bald seinem Beispiel, indem sie die glattesten und rundesten Steine auswählten. Bobby und Harry Jones und Dickie Delacroix – dessen Namen die Dorfleute »Dellacroy« aussprachen – fügten die Steine schließlich in einer Ecke des Platzes zu einem großen Haufen zusammen und bewachten ihn gegen Raubzüge anderer Jungen. Die Mädchen standen abseits, unterhielten sich nur miteinander und sahen über die Schulter nach den Jungen, und die ganz kleinen Kinder rollten im Staub herum oder hielten ihre älteren Geschwister bei der Hand. Schon bald begannen die Männer, sich zu versammeln, wobei sie ihre eigenen Kinder im Auge behielten und über Aussaat und Regen, Traktoren und Steuern sprachen. Sie standen etwas entfernt vom Steinhaufen in der Ecke beieinander und machten nur leise Witze und lächelten eher, anstatt zu lachen. Die Frauen, die verblasste Hauskleider und Pullover trugen, kamen kurz nach ihren Männern. Sie grüßten einander und tauschten ein wenig Tratsch aus, während sie zu ihren Männern gingen. Nachdem die Frauen neben ihre Männer getreten waren, fingen sie schon bald damit an, ihre Kinder zu rufen, und die Kinder kamen so widerwillig, dass die Mütter ihre Rufe vier- oder fünfmal wiederholen mussten. Bobby Martin duckte sich weg unter dem Griff seiner Mutter und rannte lachend zum Steinhaufen zurück. Sein Vater ermahnte ihn in scharfem Ton, und Bobby kam rasch wieder und nahm seinen Platz zwischen seinem Vater und seinem ältesten Bruder ein.

Wie Squaredance-Veranstaltungen, der Teenage-Club und das Programm zu Halloween wurde die Lotterie von Mr. Summers geleitet, der über Zeit und Energie verfügte, die er gemeinschaftlichen Aktivitäten widmen konnte. Er war ein rundgesichtiger, jovialer Mann, der das Kohlegeschäft unter sich hatte, und er tat den Leuten leid, denn er hatte keine Kinder und seine Frau war eine wahre Xanthippe. Als er mit der schwarzen Holzkiste auf dem Platz ankam, begannen die Dorfbewohner einander zuzuraunen, und er hob winkend die Hand und rief: »Ich bin heute ein bisschen spät dran, Leute.« Mr. Graves, der Postmeister, folgte ihm mit einem dreibeinigen Hocker in der Hand, und dann wurde der Hocker in die Mitte des Platzes gestellt, und Mr. Summers stellte die schwarze Kiste darauf ab. Die Dorfleute achteten darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen und stets genügend Platz zwischen sich und dem Hocker zu lassen, und als Mr. Summers sagte: »Könnte mir vielleicht jemand helfen?«, zögerten zunächst alle, bis zwei Männer, Mr. Martin und sein ältester Sohn Baxter, vortraten und die Kiste auf dem Hocker festhielten, während Mr. Summers die Papierstreifen, die sich darin befanden, durchmischte.

Die ursprünglichen Requisiten der Lotterie waren schon vor langer Zeit verloren gegangen, und die schwarze Kiste, die jetzt auf dem Hocker ruhte, war bereits in Gebrauch genommen worden, bevor der alte Warner, der älteste Mann im Ort, geboren wurde. Oft sprach Mr. Summers mit den Dorfleuten darüber, eine neue Kiste anzufertigen, aber niemand mochte auch nur in einem solch bescheidenen Umfang gegen die Tradition verstoßen, die die schwarze Kiste repräsentierte. Man erzählte sich sogar, dass bei der Herstellung der gegenwärtigen Kiste einige Teile der vorhergehenden verwendet worden waren – jener Kiste, die angefertigt worden war, als die ersten Menschen sich hier niederließen und das Dorf gründeten. Jedes Jahr nach der Lotterie begann Mr. Summers wiederum, von einer neuen Kiste zu sprechen, doch jedes Jahr ließen die Leute das Thema schließlich auf sich beruhen, ohne dass irgendetwas unternommen worden wäre. Die schwarze Kiste wurde jedes Jahr schäbiger, und inzwischen war sie nicht einmal mehr überall schwarz, sondern ihre Farbe war an einer Seite stark abgesplittert, wodurch das ursprüngliche Holz sichtbar wurde, und an einigen Stellen war sie verblasst oder fleckig.

Mr. Martin und sein ältester Sohn Baxter hielten die schwarze Kiste auf dem Hocker fest, bis Mr. Summers die Papierstreifen gründlich mit seiner Hand durchmischt hatte. Weil so große Teile des Rituals vergessen oder aufgegeben worden waren, hatte Mr. Summers durchsetzen können, dass Papierstreifen die Holzstücke ersetzten, die viele Generationen hindurch benutzt worden waren. Die Holzstücke, hatte Mr. Summers argumentiert, waren angemessen gewesen, solange das Dorf noch sehr klein war, aber jetzt, da die Bevölkerung auf mehr als 300 Einwohner angewachsen war und wohl auch noch weiterwachsen würde, war es notwendig geworden, etwas zu benutzen, das leichter in die schwarze Kiste passte. In der Nacht vor der Lotterie hatten Mr. Summers und Mr. Graves die Papierstreifen angefertigt und in die Kiste gelegt, und dann war die Kiste in den Safe von Mr. Summers’ Kohlebetrieb gebracht und dort eingeschlossen worden, bis Mr. Summers bereit war, sie am nächsten Morgen auf den Platz zu bringen. Für den Rest des Jahres wurde die Kiste irgendwo verstaut, manchmal an einem Ort, manchmal an einem anderen; ein Jahr hatte sie in Mr. Graves’ Schuppen verbracht und ein weiteres Jahr unter dem Fußboden im Postamt, und manchmal wurde sie in eines der Regale im Lebensmittelgeschäft der Martins geschoben und dort stehen gelassen.

Es gab eine Menge zu erledigen, bevor Mr. Summers die Lotterie eröffnen konnte. Listen mussten angefertigt werden – von den Oberhäuptern aller Familien, den Haushaltsvorständen aller Familien und den Mitgliedern jedes Haushalts jeder Familie. Mr. Summers als Leiter der Lotterie legte gegenüber dem Postmeister einen förmlichen Eid ab; früher, so erinnerten sich einige Leute, gab es eine Art Vortrag, der vom Leiter der Lotterie gehalten wurde, ein flüchtiger, tonloser Sprechgesang, der jedes Jahr der Form halber heruntergerattert worden war; einige meinten, dass der Leiter der Lotterie dabei an einer bestimmten Stelle stand, während er sprach oder sang; andere glaubten, dass er dabei zwischen den Leuten umherzugehen hatte, doch schon viele Jahre zuvor ließen Leute zu, dass dieser Teil des Rituals übersprungen wurde. Ebenso hatte es früher eine rituelle Form der Begrüßung gegeben, die der Leiter der Lotterie gegenüber jedem benutzen musste, der vortrat, um einen Papierstreifen aus der Kiste zu ziehen, doch auch das hatte sich mit der Zeit geändert, weshalb man es inzwischen nur noch für nötig hielt, dass der Leiter der Lotterie mit jedem sprach, der herantrat. Mr. Summers war sehr gut in all diesen Dingen; in seinem weißen Hemd und seinen Bluejeans, die eine Hand lässig auf der schwarzen Kiste ruhend, wirkte er sehr korrekt und wichtig, während er sich scheinbar endlos mit Mr. Graves und den Martins unterhielt.

Gerade als Mr. Summers das Gespräch schließlich beendete und sich den versammelten Dorfleuten zuwandte, kam Mrs. Hutchinson den Weg entlang zum Platz geeilt; sie hatte ihren Pullover über die Schulter geworfen und suchte sich eine Stelle hinten in der Menge. »Hab doch glatt vergessen, welcher Tag heute ist«, sagte sie zu Mrs. Delacroix, die neben ihr stand, und beide lachten leise. »Ich dachte, mein Mann ist irgendwo hinter dem Haus, um Holz zu hacken«, fuhr Mrs. Hutchinson fort, »und als ich aus dem Fenster gesehen habe und die Kinder verschwunden waren, ist mir eingefallen, dass heute der 27. ist, und ich bin so schnell wie möglich hergekommen.« Sie trocknete ihre Hände an ihrer Schürze ab, und Mrs. Delacroix sagte: »Aber Sie haben es noch rechtzeitig geschafft. Die reden da vorn immer noch.«

Mrs. Hutchinson reckte ihren Hals, um durch die Menge zu spähen, und sah, dass ihr Mann und die Kinder fast ganz vorn standen. Sie tippte Mrs. Delacroix zum Abschied auf den Arm und begann, durch die Menge zu gehen. Die Leute machten ihr gutmütig Platz, und zwei oder drei von ihnen sagten gerade so laut, dass man sie in der Menge hören konnte: »Hier kommt deine Missus, Hutchinson« und »Sie hat es doch noch geschafft, Bill«. Mrs. Hutchinson erreichte ihren Mann, und Mr. Summers, der gewartet hatte, sagte gut gelaunt: »Ich dachte schon, wir müssten ohne dich anfangen, Tessie.« Mrs. Hutchinson sagte grinsend: »Du würdest doch nicht wollen, dass ich mein Geschirr einfach in der Spüle stehen lasse, oder, Joe?«, und ein leises Gelächter hallte durch die Menge, während die Leute wieder an ihre Plätze rückten, nachdem Mrs. Hutchinson angekommen war.

»Nun«, sagte Mr. Summers in nüchternem Ton, »ich glaube, wir sollten besser anfangen und die Sache hinter uns bringen, damit wir wieder an die Arbeit gehen können. Fehlt irgendjemand?«

»Dunbar«, sagten mehrere Leute. »Dunbar, Dunbar.«

Mr. Summers konsultierte seine Liste. »Clyde Dunbar«, sagte er. »Stimmt. Er hat sich das Bein gebrochen, nicht wahr? Wer zieht für ihn?«

»Ich vermutlich«, sagte eine Frau, und Mr. Summers wandte sich ihr zu. »Die Frau zieht für ihren Ehemann«, sagte Mr. Summers. »Hast du keinen großen Jungen, der das für dich erledigen kann, Janey?« Obwohl Mr. Summers und auch jeder sonst im Dorf die Antwort kannten, war der Leiter der Lotterie verpflichtet, solche formellen Fragen zu stellen. Mr. Summers wartete mit einer Miene höflichen Interesses, während Mrs. Dunbar antwortete.

»Horace ist dieses Jahr noch keine 16«, sagte Mrs. Dunbar bedauernd. »Ich vermute, ich muss dieses Jahr für den alten Herrn einspringen.«

»Stimmt«, sagte Mr. Summers. Er machte eine Notiz auf der Liste, die er in der Hand hielt. Dann fragte er: »Zieht der Watson-Junge dieses Jahr?«

Ein großer Junge in der Menge hob die Hand. »Hier«, sagte er. »Ich ziehe für meine Mutter und für mich.« Er blinzelte nervös und senkte den Kopf, als mehrere Stimmen in der Menge Dinge sagten wie: »Bist ein guter Junge, Jack« und »Schön, dass deine Mutter jetzt einen Mann hat, der das für sie macht.«

»Nun«, sagte Mr. Summers, »ich glaube, damit wären wir vollzählig. Hat es der alte Warner geschafft?«

»Hier«, sagte eine Stimme, und Mr. Summers nickte.

Plötzlich senkte sich Schweigen über die Menge, als Mr. Summers sich räusperte und einen Blick auf seine Liste warf. »Alle bereit?«, rief er. »Ich werde jetzt die Namen vorlesen – die Familienoberhäupter zuerst –, und dann kommen die Männer nach vorn und ziehen einen Papierstreifen aus der Kiste. Haltet euer Papier gefaltet in der Hand, ohne es anzusehen, bis jeder an der Reihe war. Alles klar?«

Die Leute hatten das alles schon so oft getan, dass sie seinen Anweisungen nur halb zuhörten; die meisten von ihnen schwiegen, befeuchteten ihre Lippen und sahen nicht umher. Dann hob Mr. Summers die Hand und sagte: »Adams.« Ein Mann löste sich aus der Menge und kam nach vorn. »Hi, Steve«, sagte Mr. Summers, und Mr. Adams sagte: »Hi, Joe.« Sie grinsten einander humorlos und nervös an. Dann griff Mr. Adams in die schwarze Kiste und nahm einen gefalteten Papierstreifen heraus. Er hielt ihn sicher an einer Ecke fest und ging hastig zurück an seinen Platz in der Menge, wo er ein wenig abseits von seiner Familie stehen blieb, ohne nach unten auf seine Hand zu sehen. »Allen«, sagte Mr. Summers. »Anderson … Bentham.«

»Es scheint überhaupt keine Zeit mehr zu vergehen zwischen all den Lotterien«, sagte Mrs. Delacroix zu Mrs. Graves in der hinteren Reihe. »Es kommt einem so vor, als hätten wir die letzte erst vergangene Woche gemacht.«

»Die Zeit vergeht wirklich schnell«, sagte Mrs. Graves.

»Clark … Delacroix.«

»Da geht mein alter Herr«, sagte Mrs. Delacroix. Sie hielt den Atem an, als ihr Mann vortrat.

»Dunbar«, sagte Mr. Summers, und Mrs. Dunbar ging mit festem Schritt zu der Kiste, während eine der Frauen sagte: »Los, Janey« und eine andere: »Da geht sie.«

»Wir sind die Nächsten«, sagte Mrs. Graves. Sie sah zu, wie Mr. Graves von der Seite her an die Kiste trat, Mr. Summers mit ernster Miene grüßte und sich für einen Papierstreifen aus der Kiste entschied. Inzwischen standen überall in der Menge Männer, die ein kleines Stück Papier zusammengefaltet in ihren großen Händen hielten, das sie nervös hin und her drehten. Mrs. Dunbar stand zusammen mit ihren beiden Söhnen; Mrs. Dunbar hielt das Stück Papier in der Hand.

»Harbut … Hutchinson.«

»Na los, Bill«, sagte Mrs. Hutchinson, und die Leute in ihrer Nähe lachten.

»Jones.«

»Einige behaupten«, sagte Mr. Adams zu dem alten Warner, der direkt neben ihm stand, »dass sie drüben im Norddorf darüber reden, die Lotterie aufzugeben.«

Der alte Warner schnaubte. »Nichts als ein Haufen verrückter Narren«, sagte er. »Hören auf die jungen Leute; denen ist nichts gut genug. Als Nächstes werden wir uns anhören müssen, dass sie wieder in Höhlen hausen wollen, keiner mehr Lust zu arbeiten hat und sie eine Zeit lang genau so leben möchten. Früher hieß es noch: ›Im Juni Lotterie gemacht, hat guten Mais stets eingebracht.‹ Als Nächstes werden wir erleben, dass wir alle Sternmiere und Ahorn essen werden. Die Lotterie hat es schon immer gegeben«, fügte er schmollend hinzu. »Es ist schon schlimm genug, mitansehen zu müssen, wie der junge Joe Summers mit jedem herumalbert.«

»Einige Orte haben die Lotterie bereits aufgegeben«, sagte Mr. Adams.

»Das bringt einem nichts als Scherereien ein«, sagte der alte Warner unerschütterlich. »Ein Haufen junger Narren.«

»Martin.« Und Bobby Martin sah zu, wie sein Vater nach vorn ging.

»Overdyke … Percy.«

»Ich wünschte, sie würden sich beeilen«, sagte Mrs. Dunbar zu ihrem älteren Sohn. »Ich wünschte, sie würden sich beeilen.«

»Sie sind fast fertig«, sagte ihr Sohn.

»Mach dich bereit, zu Dad zu laufen und ihm Bescheid zu sagen«, erwiderte Mrs. Dunbar.

Mr. Summers rief seinen eigenen Namen auf, trat gemessenen Schrittes nach vorn und wählte einen Papierstreifen aus der Kiste. Dann rief er: »Warner.«

»77 Jahre bin ich jetzt bei der Lotterie dabei«, sagte der alte Warner, während er durch die Menge ging. »Das 77. Mal.«

»Watson.« Der große Junge kam verlegen durch die Menge. Jemand sagte: »Du brauchst nicht nervös zu sein, Jack«, und Mr. Summers sagte: »Lass dir Zeit, Sohn.«

»Zanini.«

Danach gab es eine lange Pause, eine atemlose Pause, bis Mr. Summers seinen Papierstreifen hoch in die Luft hielt und sagte: »In Ordnung, Leute.«

Einen Augenblick lang rührte sich niemand, und dann wurden alle Papierstreifen aufgefaltet. Plötzlich begannen alle Frauen gleichzeitig zu reden und sagten: »Wer ist es?«, »Wer hat es?«, »Sind es die Dunbars?«, »Sind es die Watsons?« Dann sagten die Stimmen: »Es ist Hutchinson. Es ist Bill.«, »Bill Hutchinson hat es.«

»Gib deinem Vater Bescheid«, sagte Mrs. Dunbar zu ihrem älteren Sohn.

Die Leute begannen, sich nach den Hutchinsons umzusehen. Bill Hutchinson stand stumm da und starrte auf das Stück Papier in seiner Hand. Plötzlich schrie Tessie Hutchinson Mr. Summers an: »Du hast ihm nicht genügend Zeit gegeben, damit er genau das Stück Papier ziehen konnte, das er wirklich wollte. Ich habe dich gesehen. Das war nicht fair.«

»Stell dich nicht so an, Tessie«, rief Mrs. Delacroix, und Mrs. Graves sagte: »Jeder von uns hatte die gleiche Chance.«

»Halt die Klappe, Tessie«, sagte Bill Hutchinson.

»Nun, Leute«, sagte Mr. Summers, »bisher ging alles ziemlich schnell, aber jetzt müssen wir uns noch ein wenig mehr beeilen, damit wir pünktlich fertig werden.« Er konsultierte seine nächste Liste. »Bill«, sagte er, »du hast für die Familie Hutchinson gezogen. Gibt es bei den Hutchinsons noch irgendeinen anderen Haushalt?«

»Es gibt Don und Eva«, schrie Mrs. Hutchinson. »Gib denen eine Chance.«

»Töchter ziehen mit der Familie ihrer Ehemänner, Tessie«, sagte Mr. Summers sanft. »Du weißt das genauso gut wie alle anderen.«

»Es war nicht fair«, sagte Tessie.

»Es geht wohl wirklich nicht, Joe«, sagte Bill Hutchinson bedauernd. »Meine Tochter zieht mit der Familie ihres Mannes, und das ist nur fair. Und ich habe keine andere Familie außer den Kindern.«

»Dann ist es deine Aufgabe, was das Ziehen für die Familie betrifft«, erklärte Mr. Summers, »und was das Ziehen für den Haushalt betrifft, bist das ebenfalls du. Richtig?«

»Richtig«, sagte Bill Hutchinson.

»Wie viele Kinder, Bill?«, fragte Mr. Summers der Form halber.

»Drei«, sagte Bill Hutchinson. »Da wären Bill junior, Nancy und der kleine Dave. Sowie Tessie und ich.«

»Gut, in Ordnung«, sagte Mr. Summers. »Hast du ihre Zettel zurückbekommen?«

Mr. Graves nickte und hielt die Papierstreifen hoch. »Dann leg sie in die Kiste«, wies ihn Mr. Summers an. »Nimm den von Bill und leg ihn dazu.«

»Ich finde, wir sollten ganz von vorn anfangen«, bemerkte Mrs. Hutchinson, so leise sie konnte. »Ich sage dir, das war nicht fair. Du hast ihm nicht genügend Zeit zum Auswählen gelassen. Alle haben das gesehen.«

Mr. Graves hatte die fünf Papierstreifen ausgewählt und in die Kiste gelegt, und dann ließ er alle anderen Papierstreifen zu Boden fallen, wo der Wind zwischen sie fuhr und sie davontrug.

»Hört mir alle zu«, sagte Mrs. Hutchinson zu den Leuten um sie herum.

»Bist du bereit, Bill?«, fragte Mr. Summers, und nach einem kurzen Blick auf seine Frau und seine Kinder nickte Bill Hutchinson.

»Vergesst nicht«, sagte Mr. Summers, »ihr nehmt einen Papierstreifen und lasst ihn so lange gefaltet, bis jeder von euch einen hat. Harry, du hilfst dem kleinen Dave.« Mr. Graves nahm die Hand des kleinen Jungen, der bereitwillig mit ihm zur Kiste ging. »Nimm ein Stück Papier aus der Kiste, Davy«, sagte Mr. Summers. »Harry, du hältst es für ihn.« Mr. Graves nahm die Hand des Kindes und zog das gefaltete Papier aus der Faust, die es umklammerte, und hielt es fest, während Dave neben ihm stand und fragend zu ihm aufsah.

»Nancy ist die Nächste«, sagte Mr. Summers, und ihre Schulfreundinnen atmeten schwer, als sie vortrat, ihr Kleid glatt strich und anmutig einen Papierstreifen aus der Kiste zog. »Bill junior«, sagte Mr. Summers, und Billy, mit rotem Gesicht und übergroßen Füßen, hätte beinahe die Kiste umgeworfen, als er einen Papierstreifen herauszog. »Tessie«, sagte Mr. Summers. Sie zögerte einen Augenblick lang und sah sich herausfordernd um. Dann kniff sie die Lippen zusammen und ging zur Kiste. Rasch zog sie ein Stück Papier heraus und hielt es hinter sich.

»Bill«, sagte Mr. Summers, und Bill Hutchinson griff in die Kiste, tastete darin herum und zog schließlich seine Hand mit dem letzten Stück Papier darin heraus.

Die Menge schwieg. Ein Mädchen flüsterte: »Ich hoffe, dass es nicht Nancy ist«, und der Klang ihres Flüsterns drang bis an den Rand der Menge.

»Es ist nicht mehr so wie früher«, sagte der alte Warner mit klarer Stimme. »Die Leute sind nicht mehr wie früher.«

»In Ordnung«, sagte Mr. Summers. »Faltet das Papier auf. Harry, du faltest es für den kleinen Dave auf.«

Mr. Graves öffnete das Stück Papier, und ein allgemeines Seufzen ging durch die Menge, als er es hochhob und alle sehen konnten, dass es leer war. Nancy und Bill junior falteten ihre Papierstreifen gleichzeitig auf, und beide strahlten und lachten, wandten sich der Menge zu und hielten die Papierstreifen hoch über ihre Köpfe.

»Tessie«, sagte Mr. Summers. Eine Pause entstand, und dann sah Mr. Summers zu Bill Hutchinson, und Bill faltete seinen Papierstreifen auf und zeigte ihn allen. Er war leer.

»Es ist Tessie«, sagte Mr. Summers, und seine Stimme klang gedämpft. »Zeig uns ihr Papier, Bill.«

Bill Hutchinson ging zu seiner Frau und nahm ihr gewaltsam das Stück Papier aus der Hand. Es befand sich ein schwarzer Punkt darauf, jener Punkt, den Mr. Summers in der Nacht zuvor mit einem dicken Bleistift im Büro seines Kohlebetriebs gemacht hatte. Bill Hutchinson hob das Papier hoch, und ein Raunen ging durch die Menge.

»In Ordnung, Leute«, sagte Mr. Summers. »Bringen wir es rasch zu Ende.«

Obwohl die Dorfleute das Ritual vergessen und die ursprüngliche schwarze Kiste verloren hatten, erinnerten sie sich noch immer daran, wie die Steine benutzt wurden. Der Steinhaufen, den die Jungen zuvor angelegt hatten, war bereit. Auf dem Boden lagen Steine, gegen die der Wind die Papierstreifen aus der Kiste geweht hatte. Mrs. Delacroix wählte einen Stein, der so groß war, dass sie ihn mit beiden Händen aufheben musste, und wandte sich an Mrs. Dunbar. »Los«, sagte sie. »Beeil dich.«

Mrs. Dunbar hatte kleine Steine in beiden Händen, und sie sagte, nach Atem ringend: »Ich kann überhaupt nicht rennen. Geh du vor, und ich komme dann nach.«

Die Kinder hatten ihre Steine bereits, und einige von ihnen gaben dem kleinen Davy Hutchinson ein paar Kiesel. Tessie Hutchinson stand in der Mitte des inzwischen geräumten Platzes und streckte ihre Hände verzweifelt den Dorfleuten entgegen, die langsam näher kamen. »Es ist nicht fair«, sagte sie. Ein Stein traf sie seitlich am Kopf.

Der alte Warner sagte: »Los, los, alle zusammen.« Steve Adams stand in der vordersten Reihe der Dorfleute, und Mrs. Graves stand direkt neben ihm.

»Es ist nicht fair, es ist nicht richtig«, schrie Mrs. Hutchinson, und dann stürzten sie sich auf sie.

Die Möglichkeit des Bösen

Mit zierlichen Schritten kam Miss Adela Strangeworth auf ihrem Weg zum Lebensmittelhändler die Main Street entlang. Die Sonne schien, die Luft war frisch und klar, nachdem es in der Nacht heftig geregnet hatte, und alles in Miss Strangeworths kleiner Stadt strahlte, als hätte man es gewaschen. Miss Strangeworth holte tief Luft und dachte, dass es nichts auf der Welt gab, das einem duftenden Sommertag glich.

Natürlich kannte sie jeden in der Stadt; gern erzählte sie Fremden – Touristen, die manchmal durch die Stadt fuhren und anhielten, um Miss Strangeworths Rosen zu bewundern –, dass sie in ihrem ganzen langen Leben nie mehr als einen Tag außerhalb dieser Stadt verbracht hatte. Miss Strangeworth erzählte den Touristen, dass sie 71 Jahre alt war, und dabei erschien ein hübsches kleines Grübchen neben ihrer Lippe, und manchmal ertappte sie sich bei dem Gedanken, dass die Stadt ihr gehöre. »Mein Großvater hat das erste Haus in der Pleasant Street gebaut«, pflegte sie zu sagen, und ihre blauen Augen wurden aus Verwunderung darüber immer größer. »Dieses Haus, genau an dieser Stelle. Meine Familie wohnt seit über 100 Jahren hier. Meine Großmutter hat diese Rosen gepflanzt, und meine Mutter hat sich darum gekümmert, genau wie ich jetzt. Ich habe meine Stadt wachsen sehen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie Mr. Louis senior das Lebensmittelgeschäft eröffnet hat, und an das Jahr, in dem der Fluss die Hütten im unteren Teil der Straße überflutet hat, und an die Aufregung, als einige junge Leute den Park an die Stelle verlegen wollten, an der sich heute das Postamt befindet. Sie wollten eine Statue von Ethan Allen aufstellen« – hier pflegte Miss Strangeworth die Stirn zu runzeln und einen strengen Ton anzuschlagen – »aber es hätte eher eine Statue meines Großvaters sein sollen. Ohne meinen Großvater und seine Sägemühle gäbe es hier überhaupt keine Stadt.«

Nie verschenkte Miss Strangeworth eine ihrer Rosen, obwohl die Touristen sie oft darum baten. Die Rosen gehörten in die Pleasant Street, und es bedrückte Miss Strangeworth, wenn sie daran dachte, dass die Leute sie davontragen und in fremde Städte und fremde Straßen bringen wollten. Als der neue Pfarrer kam und die Damen Blumen zusammenstellten, um die Kirche zu schmücken, schickte Miss Strangeworth einen großen Korb Gladiolen; wenn sie überhaupt irgendwelche Rosen pflückte, so nur, um sie in Schalen und Vasen zu geben, die in dem Haus standen, das ihr Großvater gebaut hatte.

Während sie an einem Sommermorgen die Main Street entlangging, musste Miss Strangeworth alle paar Minuten stehen bleiben, um jemanden zu grüßen oder sich nach jemandes Gesundheit zu erkundigen. Als sie in das Lebensmittelgeschäft kam, wandte sich ein halbes Dutzend Leute von den Regalen und Verkaufstheken ab, um ihr zuzuwinken oder einen Gruß zuzurufen.

»Einen guten Morgen auch Ihnen, Mr. Lewis«, sagte Miss Strangeworth schließlich. Die Familie Lewis wohnte fast schon so lange in der Stadt wie die Strangeworths, doch seit dem Tag, an dem der junge Lewis die High School verließ, um im Lebensmittelgeschäft mitzuarbeiten, nannte Miss Strangeworth ihn nicht mehr Tommy, sondern nur noch Mr. Lewis, und er nannte sie nicht mehr Addie, sondern nur noch Miss Strangeworth. Sie waren zusammen auf der High School gewesen und hatten gemeinsam Picknickausflüge unternommen und Tanzveranstaltungen und Basketballspiele besucht, aber jetzt stand Mr. Lewis hinter der Theke im Lebensmittelgeschäft, und Miss Strangeworth wohnte allein im Strangeworth-Haus in der Pleasant Street.

»Guten Morgen«, sagte Mr. Lewis und fügte höflich hinzu: »Schöner Tag heute.«

»Es ist ein sehr schöner Tag«, sagte Miss Strangeworth, als wäre sie eben erst zum Schluss gekommen, dass der Tag sich sehen lassen konnte. »Ich hätte gern ein Kotelett, ein kleines mageres Kalbskotelett bitte, Mr. Lewis. Sind diese Erdbeeren aus dem Garten von Arthur Parker? Sie sind dieses Jahr wirklich früh.«

»Er hat sie heute Morgen gebracht«, sagte Mr. Lewis.

»Ich nehme eine Kiste«, sagte Miss Strangeworth. Mr. Lewis wirkte besorgt, so schien es ihr, und einen Augenblick lang zögerte sie, doch dann kam sie zum Schluss, dass er gewiss nicht wegen der Erdbeeren besorgt sein konnte. Er sah in der Tat sehr müde aus. Normalerweise war er so aufgeweckt, dachte Miss Strangeworth, und fast hätte sie eine Bemerkung darüber gemacht, aber es war ein viel zu persönliches Thema, als dass man es mit Mr. Lewis hätte anschneiden können, weshalb sie nur sagte: »Und eine Dose Katzenfutter und eine Tomate, denke ich.«

Wortlos stellte Mr. Lewis ihre Bestellung auf die Theke und wartete. Miss Strangeworth sah ihn neugierig an und sagte dann: »Es ist Dienstag, Mr. Lewis. Sie haben vergessen, mich daran zu erinnern.«

»Wirklich? Tut mir leid.«

»Stellen Sie sich vor, Sie vergessen, dass ich am Dienstag immer meinen Tee kaufe«, sagte Miss Strangeworth in sanftem Ton. »Ein Viertelpfund Tee bitte, Mr. Lewis.«

»Wäre das dann alles, Miss Strangeworth?«

»Ja, vielen Dank, Mr. Lewis. Es ist so ein schöner Tag heute, nicht wahr?«

»Wunderschön«, sagte Mr. Lewis.

Miss Strangeworth machte einen Schritt beiseite, damit Mrs. Harper an die Theke treten konnte. »Guten Morgen, Adela«, sagte Mrs. Harper, und Miss Strangeworth sagte: »Guten Morgen, Martha.«

»Ein schöner Tag«, sagte Mrs. Harper, und Miss Strangeworth sagte: »Ja, wunderschön«, und Mr. Lewis nickte unter Mrs. Harpers Blick.

»Der Zucker für meinen Tortenguss ist mir ausgegangen«, erklärte Mrs. Harper. Ihre Finger zitterten ein wenig, als sie ihre Handtasche öffnete. Miss Strangeworth warf ihr einen raschen Blick zu und fragte sich, ob sie sich auch genügend um sich selbst kümmerte. Martha Harper war nicht mehr so jung wie früher, dachte Miss Strangeworth. Wahrscheinlich wäre ein gutes, kräftiges Stärkungsmittel eine Hilfe für sie.

»Martha«, sagte sie, »du siehst nicht gut aus.«

»Mit mir ist alles vollkommen in Ordnung«, sagte Mrs. Harper knapp. Sie reichte Mr. Lewis das Geld, nahm ihr Wechselgeld und ihren Zucker entgegen und ging ohne ein weiteres Wort zu verlieren davon. Miss Strangeworth sah ihr nach und schüttelte leicht den Kopf. Martha sah definitiv nicht gut aus.

Eine kleine Tüte mit ihren Einkäufen unter dem Arm, trat Miss Strangeworth aus dem Laden hinaus in das strahlende Sonnenlicht, hielt inne, beugte sich hinab und lächelte das Baby der Cranes an. Von allen Eltern, die sie kannte, gehörten Don und Helen Crane eindeutig zu denjenigen, die ganz besonders vernarrt in ihr Kind waren, dachte sie nachsichtig, als sie das fein gestickte Babymützchen und die spitzenbesetzte Decke im Kinderwagen sah.

»So, wie die Kleine aufwächst, wird sie ihr ganzes Leben lang Luxus erwarten«, sagte sie zu Helen Crane.

Helen lachte. »Wir wollen, dass sie sich genauso fühlt«, sagte sie. »Wie eine Prinzessin.«

»Eine Prinzessin kann einem manchmal eine Menge Probleme machen«, sagte Miss Strangeworth trocken. »Wie alt ist Ihre Hoheit jetzt?«

»Sechs Monate nächsten Dienstag«, sagte Helen Crane und sah staunend und hingerissen auf ihr Kind. »Aber ich mache mir ihretwegen Sorgen. Finden Sie nicht, sie sollte sich mehr bewegen? Zum Beispiel versuchen, sich aufzusetzen?«

»Wenn es um echte und eingebildete Sorgen geht«, sagte Miss Strangeworth, »braucht man sich nur an eine Frau zu wenden, die gerade Mutter geworden ist.«

»Sie kommt mir einfach so – langsam vor«, sagte Helen Crane.

»Unsinn. Jedes Baby ist anders. Einige entwickeln sich viel schneller als andere.«

»Das sagt meine Mutter auch«, bemerkte Helen Crane lachend, wobei sie aussah, als schämte sie sich ein wenig.

»Ich vermute, Sie haben Don völlig verrückt gemacht, weil seine Tochter bereits sechs Monate alt ist und noch nicht angefangen hat, tanzen zu lernen.«

»Ich habe es ihm gegenüber gar nicht erwähnt. Ich vermute, sie ist etwas so Kostbares, dass ich mir die ganze Zeit über Sorgen um sie mache.«

»Nun, dann sollten Sie sich sofort entschuldigen«, sagte Miss Strangeworth. »Wahrscheinlich macht sie sich Sorgen, weil Sie die ganze Zeit über so unruhig sind.« Vor sich hin lächelnd und ihren alten Kopf schüttelnd folgte sie der sonnenbeschienenen Straße, wobei sie einmal kurz stehen blieb und sich fragte, warum der kleine Billy Moore nicht draußen war und in Daddys funkelndem neuen Auto saß, und dann unterhielt sie sich ein paar Minuten lang vor der Bibliothek mit Miss Chandler, der Bibliothekarin, über die neuen Romane, die mit den Mitteln, die der Bibliothek jährlich zugewiesen wurden, bestellt und bezahlt werden sollten. Miss Chandler wirkte geistesabwesend, und es sah so aus, als dächte sie über etwas anderes nach. Miss Strangeworth fiel auf, dass Miss Chandler sich heute Morgen keine besondere Mühe mit ihrem Haar gegeben hatte, und seufzte. Miss Strangeworth hasste Nachlässigkeit.

Viele Leute wirkten in letzter Zeit verstört, dachte Miss Strangeworth. Erst gestern war Linda, die 15 Jahre alte Tochter der Stewarts, weinend die Auffahrt zu ihrem Haus hinab- und den ganzen Weg bis zur Schule gerannt, ohne darauf zu achten, wer sie vielleicht dabei sah. Die Leute in der Stadt dachten, sie hätte sich mit dem Harris-Jungen gestritten, aber die beiden erschienen wie üblich nach der Schule zusammen im Café, wo sie grimmig und düster dreinblickten. Probleme zu Hause, schlossen die Leute und seufzten angesichts der Schwierigkeiten, heutzutage Kinder zu erziehen.

Schon auf halber Höhe des Blocks konnte Miss Strangeworth den schweren Duft ihrer Rosen riechen, und sie ging ein wenig schneller. Der Duft der Rosen bedeutete ihr Zuhause, und ihr Zuhause bedeutete Strangeworth House in der Pleasant Street. Miss Strangeworth blieb vor ihrem Tor stehen, wie sie das immer tat, und betrachtete mit tiefem Genuss ihr Haus, wo die roten, rosafarbenen und weißen Rosen in üppiger Fülle den schmalen Rasen säumten, sowie die Kletterrose, die sich die Veranda entlangzog; und die hübschen, unglaublich gepflegten Linien des schlanken Hauses selbst mit seinen weiß getünchten Mauern. Jedes Fenster funkelte, jeder Vorhang hing steif und gerade herab, und sogar die Steine des Wegs durch den vorderen Garten waren gefegt und sauber. Die Leute in der Stadt fragten sich, wie die alte Miss Strangeworth es schaffte, dass das Haus so aussah, wie es aussah, und eine Legende behauptete, dass ein Tourist es einst für das örtliche Museum gehalten hatte und durch alle Zimmer gegangen war, ohne seinen Irrtum zu erkennen. Aber die Stadt war stolz auf Miss Strangeworth und ihre Rosen und ihr Haus. Sie alle waren zusammen aufgewachsen.

Miss Strangeworth stieg die Stufen zum Eingang hoch, schloss die Tür auf und ging in die Küche, wo sie ihre Einkäufe wegräumte. Sie dachte daran, eine Tasse Tee zu trinken, kam jedoch zum Schluss, dass es fast schon Zeit war, zu Mittag zu essen, und sie keinen Appetit auf ihr kleines Kotelett haben würde, wenn sie jetzt Tee trank. Stattdessen ging sie in das lichte, reizende Wohnzimmer, welches das Werk der Hände ihrer Mutter und ihrer Großmutter noch immer mit Glanz erfüllte, da die beiden dort die Stühle mit hellem Chintz bedeckt und die Gardinen aufgehängt hatten. Es gab nur einige wenige funkelnde Möbel, und die runden, mit kleinen Haken am Boden befestigten Teppiche waren das Werk von Miss Strangeworths Großmutter und ihrer Mutter. Miss Strangeworth hatte eine Schale mit ihren roten Rosen auf den niedrigen Tisch am Fenster gestellt, und der Duft der Blumen erfüllte das Zimmer.

Miss Strangeworth ging zu dem kleinen Schreibtisch in der Ecke und schloss ihn mit ihrem Schlüssel auf. Sie wusste nie, wann sie Lust hatte, Briefe zu schreiben, weshalb sie ihr Notizpapier darin aufbewahrte und den Schreibtisch verschlossen hielt. Miss Strangeworths übliches Schreibpapier war schwer und cremefarben und oben mit den Worten STRANGEWORTH HOUSE bedruckt, doch wenn sie das Bedürfnis hatte, einen ihrer anderen Briefe zu schreiben, benutzte sie einen Block mit verschiedenfarbigem Papier, das sie im örtlichen Zeitschriftenladen kaufte. Es war fast ein Witz, dieses verschiedenfarbige Papier, dessen einzelne Lagen rosa und grün und blau und gelb waren; jeder in der Stadt kaufte es und nutzte es manchmal für formlose Notizen und Einkaufslisten. Gewöhnlich äußerten die Leute, dass der Betreffende bald einen neuen Block brauchen würde, wenn sie eine Nachricht auf blauem Papier erhielten – und genau dort war sie jetzt bereits angelangt, bei dem blauen Papier. Jeder benutzte die passenden Umschläge, um darin Rezepte, irgendwelche Kleinigkeiten oder sogar Kekse in einer Lunchbox für die Schule aufzubewahren. Mr. Lewis gab sie manchmal den Kindern, damit sie die Süßigkeiten, die sie für einen Penny gekauft hatten, nach Hause bringen konnten.

Obwohl Miss Strangeworths Schreibtisch einen angespitzten Federkiel enthielt, der ihrem Großvater gehört hatte, sowie einen Füllfederhalter mit vergoldeter Feder, der ihrem Vater gehört hatte, benutzte sie für ihre Briefe stets einen stumpfen Bleistiftstummel und schrieb sie in kindlichen Druckbuchstaben. Obwohl sie die Formulierungen in ihrem Brief schon auf ihrem Nachhauseweg in ihrem Hinterkopf gehabt hatte, dachte sie jetzt einen Augenblick lang nach, bevor sie auf ein rosafarbenes Blatt schrieb: Haben Sie vorher noch nie ein Idiotenkind gesehen? Manche Menschen sollten einfach keine Kinder bekommen, finden Sie nicht auch?

Sie war zufrieden mit dem Brief. Es gefiel ihr, die Dinge genau richtig zu machen. Wenn ihr ein Fehler unterlief, was gelegentlich vorkam, oder die Wörter nicht im richtigen Abstand auf der Seite standen, musste sie das verdorbene Blatt sogleich in die Küche tragen und es dort im Ofen verbrennen. Miss Strangeworth schob niemals etwas auf, das erledigt werden musste.

Nachdem sie einen Augenblick lang nachgedacht hatte, fühlte sie, dass sie gern einen weiteren Brief schreiben würde, vielleicht an Mrs. Harper, damit er den Briefen folgen würde, die sie bereits abgeschickt hatte. Diesmal wählte sie ein grünes Blatt und schrieb rasch: Haben Sie inzwischen gehört, dass alle über Sie gelacht haben, nachdem Sie am Donnerstag den Bridgeclub verlassen hatten? Oder ist die Ehefrau wirklich immer die Letzte, die irgendetwas mitbekommt?

Miss Strangeworth gab sich nie mit irgendwelchen Fakten ab; alle ihre Briefe bewegten sich auf dem weitaus unsichereren Terrain des bloßen Verdachts. Mr. Lewis hätte sich nie auch nur einen Augenblick lang vorstellen können, dass sein Enkel Kleingeld aus der Ladenkasse stahl, hätte er nicht einen von Miss Strangeworths Briefen erhalten. Miss Chandler, die Bibliothekarin, und Linda Stewarts Eltern hätten weiterhin ein Leben ohne jedes Misstrauen geführt und nie vermutet, dass das Böse möglicherweise in ihrer Nähe lauerte, hätte Miss Strangeworth ihnen keine Briefe geschickt, die ihnen die Augen geöffnet hatten. Miss Strangeworth wäre aufrichtig schockiert gewesen, wenn tatsächlich etwas zwischen Linda Stewart und dem Harris-Jungen vorgefallen wäre, aber solange sich das Böse ungehindert in der Welt bewegte, war es Miss Strangeworths Pflicht, dafür zu sorgen, dass ihre Stadt ihm gegenüber wachsam blieb. Es war bei Weitem vernünftiger, wenn sich Miss Chandler fragte, woran Mr. Shelleys erste Frau wirklich gestorben war, als ahnungslos ein Risiko einzugehen. Es gab so viele bösartige Menschen auf der Welt und nur noch eine Strangeworth in dieser Stadt. Außerdem gefiel es Miss Strangeworth, diese Briefe zu schreiben.

Nachdem sie einen Augenblick lang nachgedacht hatte, adressierte sie den Umschlag an Don Crane, wobei sie sich neugierig fragte, ob er den Brief seiner Frau zeigen würde; dabei benutzte sie einen rosafarbenen Umschlag, der zu dem rosafarbenen Papier passte. Dann adressierte sie einen zweiten, grünen Umschlag an Mrs. Harper. Plötzlich hatte sie eine Idee, wählte ein blaues Blatt aus und schrieb: Bei Ärzten weiß man nie, woran man ist. Denken Sie immer daran, dass Ärzte auch nur Menschen sind und Geld brauchen wie wir alle. Stellen Sie sich vor, das Messer rutscht zufällig ab. Würde Doktor Burns trotzdem sein Honorar und vielleicht sogar noch ein wenig obendrauf von Ihrem Neffen bekommen?

Sie adressierte den blauen Umschlag an die alte Mrs. Foster, die nächsten Monat operiert werden musste. Sie dachte daran, einen weiteren Brief zu schreiben, und zwar an den Leiter der Schulbehörde, den sie fragen wollte, wie es sein konnte, dass ein Chemielehrer wie Billy Moores Vater in der Lage war, sich ein neues Cabrio zu leisten, doch plötzlich hatte sie das Briefeschreiben müde gemacht. Die drei, die sie geschafft hatte, wären genug für einen Tag. Sie konnte morgen weiterschreiben; es war ja nicht so, dass alles sofort erledigt werden musste.

Sie hatte das ganze zurückliegende Jahr über Briefe geschrieben – manchmal in einer Woche zwei oder drei pro Tag, manchmal nicht mehr als einen einzigen im Monat. Natürlich erhielt sie nie irgendwelche Antworten, denn sie unterzeichnete ihre Briefe nicht mit ihrem Namen. Hätte man sie gefragt, hätte sie gesagt, dass ihr Name, Adela Strangeworth, ein Name, der in der Stadt seit so langer Zeit in Ehren gehalten wurde, nicht auf einen solchen Schmutz gehörte. Man musste dafür sorgen, dass die Stadt, in der sie wohnte, sauber und rein blieb, aber die Menschen waren überall lüstern und böse und verkommen, und man musste sie im Auge behalten; die Welt war so groß, und es gab nur noch eine einzige Strangeworth darin. Miss Strangeworth seufzte, schloss ihren Schreibtisch ab und legte die Briefe in ihre große, schwarze Lederhandtasche; sie würde sie auf ihrem Abendspaziergang einwerfen.

Sorgfältig briet sie ihr kleines Kotelett, schnitt eine Tomate dazu und bereitete sich eine große Tasse Tee; dann setzte sie sich zu ihrer Mittagsmahlzeit im Esszimmer an den Tisch, den man ausziehen konnte, sodass 22 Personen daran Platz fanden; falls nötig, konnte man einen zweiten Tisch im Flur dazustellen. Während sie im warmen Sonnenlicht saß, das durch die hohen Fenster im Esszimmer fiel, das feine, fast durchsichtige Porzellan vor sich, und das Silberbesteck in den Händen hielt und die Fülle der Rosen im Garten betrachtete, war Miss Strangeworth zufrieden; es gab nichts, das sie lieber getan hätte. Eine gewisse Kultiviertheit gehörte schließlich zum Leben, dachte sie und nippte an ihrem Tee. Danach, als Teller, Tasse und Untertasse gewaschen, abgetrocknet und wieder ins Regal geräumt waren, wo sie hingehörten, und das Silberbesteck wieder in der Silberkiste aus Mahagoni lag, ging Miss Strangeworth die elegante Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, das sich an der Vorderseite des Hauses über den Rosen befand und einst das Zimmer ihrer Mutter und ihrer Großmutter gewesen war. Ihre Crown-Derby-Frisierkommode und ihre Pelze hatten sich einst darin befunden, dazu ihre Fächer und Haarbürsten mit der silbern verzierten Rückseite der Griffe und ihre eigenen Rosenschalen; Miss Strangeworth selbst hatte eine Schale weißer Rosen auf dem Nachttisch stehen. Sie zog die Jalousien herunter, nahm die Tagesdecke aus rosafarbenem Satin vom Bett, streifte Kleid und Schuhe ab und legte sich müde hin. Sie wusste, dass weder Türklingel noch Telefon läuten würden, denn niemand in der Stadt würde es wagen, Miss Strangeworth während ihres Nachmittagsschlafs zu stören. Vom schweren Duft der Rosen umhüllt schlief sie ein.

Nachdem sie ausgeschlafen hatte, arbeitete sie ein wenig im Garten, wobei sie sich der Hitze wegen schonte, und dann ging sie zu ihrer Abendmahlzeit wieder ins Haus. Sie aß Spargel aus ihrem eigenen Garten, dazu Buttersoße und ein weich gekochtes Ei, und während sie aß, hörte sie in ihrem kleinen Radio die Abendnachrichten und dann ein klassisches Musikprogramm. Nachdem das Geschirr gespült und die Küche in Ordnung gebracht war, nahm sie ihren Hut – Miss Strangeworths Hüte waren sprichwörtlich in der Stadt; die Leute nahmen an, sie hatte sie von ihrer Mutter und ihrer Großmutter geerbt –, verriegelte die Haustür hinter sich und brach, die Handtasche unter dem Arm, zu ihrem Abendspaziergang auf. Sie nickte Linda Stuarts Vater zu, der an diesem angenehm kühlen Abend sein Auto wusch. Sie fand, er sah besorgt aus.

Es gab nur einen Ort in der Stadt, an dem sie ihre Briefe aufgeben konnte, und das war das neue Postamt, ein funkelndes Gebäude aus rotem Backstein und mit einer Aufschrift aus Silberbuchstaben. Obwohl Miss Strangeworth nicht allzu viele Gedanken daran verschwendet hatte, achtete sie immer darauf, ihre Briefe insgeheim zu verschicken; es wäre natürlich unklug gewesen, hätte jemand gesehen, wie sie sie aufgab. Deshalb trat sie ihren Abendspaziergang so an, dass sie das Postamt genau dann erreichte, wenn die einsetzende Dunkelheit anfing, die Umrisse der Bäume und die Gesichter der Menschen zu verhüllen, obwohl natürlich niemand jemals Miss Strangeworth mit ihrem zierlichen Gang und ihren rauschenden Röcken verwechseln konnte.

Immer hielten sich junge Leute in der Nähe des Postamts auf, die allerjüngsten von ihnen fuhren mit ihren Rollschuhen auf der Zufahrt, die das Gebäude umrundete und die einzige glatte Straße der Stadt war; die etwas Älteren wussten bereits, wie man sich zu kleinen Gruppen zusammenfand und plauderte und lachte und große, aufregende Pläne darüber machte, dass man in ein, zwei Minuten in das Café auf der anderen Straßenseite gehen würde. In Gegenwart von Kindern war Miss Strangeworth nie befangen. Sie nahm überhaupt nicht wahr, wenn eines sie anstarrte oder gern über sie gelacht hätte; es wäre überaus verwerflich gewesen, wenn Eltern zugelassen hätten, dass ihre Kinder sich über Miss Strangeworth aus der Pleasant Street lustig gemacht hätten. Die meisten Kinder traten respektvoll beiseite, als Miss Strangeworth an ihnen vorbeiging, wobei sie in ihrer Gegenwart kurz verstummten, und einige der älteren Kinder grüßten sie und sagten in nüchternem Ton: »Hallo, Miss Strangeworth.«

Miss Strangeworth lächelte sie an und ging rasch weiter. Die Jahre, in denen sie den Namen jedes Kindes in der Stadt gekannt hatte, waren längst vergangen. Der kleine Briefschlitz befand sich in der Tür des Postamts. Die Kinder hielten sich abseits, als Miss Strangeworth sich ihm näherte, und schienen überrascht, dass irgendjemand vom Postamt Gebrauch machen sollte, nachdem dieses für den Abend offiziell geschlossen hatte und den Kindern überlassen worden war. Miss Strangeworth stand vor der Tür und öffnete ihre schwarze Handtasche, um die Briefe herauszuholen, als sie eine Stimme hörte, die, wie sie sofort erkannte, Linda Stewart gehörte. Die arme kleine Linda weinte wieder, und Miss Strangeworth hörte aufmerksam zu. Immerhin war das ihre Stadt, und es waren ihre Leute, und wenn jemand von ihnen in Schwierigkeiten steckte, musste sie das wissen.

»Ich kann es dir nicht sagen, Dave«, sagte Linda – sie sprach also wirklich mit dem Harris-Jungen, wie Miss Strangeworth vermutet hatte –, »ich kann es einfach nicht. Es ist so widerlich.«

»Aber warum will dein Vater nicht mehr, dass ich vorbeikomme? Was um alles in der Welt habe ich getan?«

»Ich kann es dir nicht sagen. Ich würde es dir niemals sagen. Für so etwas musst du wirklich schmutzige, schmutzige Gedanken haben.«

»Aber irgendetwas muss doch passiert sein. Du weinst die ganze Zeit, und dein Vater ist wütend. Warum darf ich nichts darüber erfahren? Gehöre ich etwa nicht so gut wie zur Familie?«

»Nicht mehr, Dave, nicht mehr. Du darfst nicht mehr in die Nähe unseres Hauses kommen, hat mein Vater gesagt. Er sagte, er würde dir eins mit der Reitpeitsche überziehen. Das ist das Einzige, was ich dir sagen kann: Du darfst nicht mehr in die Nähe unseres Hauses kommen.«

»Aber ich habe doch überhaupt nichts getan.«

»Trotzdem. Mein Vater hat gesagt …«

Miss Strangeworth seufzte und wandte sich ab. Es steckte so viel Böses in den Menschen. Sogar in einer so bezaubernden kleinen Stadt wie dieser steckte immer noch so viel Böses in den Menschen.

Sie schob ihre Briefe in den Schlitz, und zwei fielen nach innen.

Der dritte blieb an der Kante hängen und fiel nach draußen auf den Boden zu Miss Strangeworths Füßen. Sie bemerkte es nicht, denn sie fragte sich, ob ein Brief an den Vater des Harris-Jungen nicht dabei helfen konnte, ihm die mögliche Bösartigkeit aus dem Leib zu peitschen. Erschöpft wandte Miss Strangeworth sich um, denn sie wollte in ihr ruhiges Bett in ihrem wunderschönen Haus zurückkehren, und sie hörte nicht, wie der Harris-Junge ihr nachrief, dass sie etwas verloren hatte.

»Die alte Miss Strangeworth wird langsam wirklich taub«, sagte er und sah ihr nach mit dem Brief in der Hand, den er aufgehoben hatte.

»Wen interessiert das schon?«, sagte Linda. »Wen interessiert das überhaupt noch?«

»Dieser Brief, er ist für Don Crane«, sagte der Harris-Junge. »Sie hat einen Brief fallen lassen, der an Don Crane adressiert ist. Ich kann ihn genauso gut selbst rüberbringen. Wir kommen ohnehin an seinem Haus vorbei. Vielleicht befindet sich ein Scheck oder so etwas darin und er ist froh, ihn heute noch zu bekommen und nicht erst morgen.«

»Was du dir so vorstellst – die alte Miss Strangeworth sollte irgendjemandem einen Scheck schicken«, sagte Linda. »Wirf ihn ein. Warum irgendwem einen Gefallen tun?« Sie schniefte. »Ich glaube nicht, dass sich hier irgendjemand um uns kümmert«, sagte sie. »Warum sollten wir uns dann um irgendjemanden kümmern?«

»Ich bringe ihn trotzdem vorbei«, sagte der Harris-Junge. »Vielleicht sind es gute Nachrichten für sie. Vielleicht brauchen auch sie heute Abend etwas Gutes, genau wie wir.«

Einander traurig bei der Hand haltend gingen sie durch die dunkle Straße davon, und der Harris-Junge trug Miss Strangeworths rosafarbenen Umschlag in der anderen Hand.

Miss Strangeworth erwachte am nächsten Morgen von einem tiefen Glücksgefühl erfüllt, und einen Augenblick lang fragte sie sich, warum. Dann fiel ihr ein, dass an diesem Morgen drei Menschen ihre Briefe öffnen würden. Zuerst wäre es vielleicht bitter für sie, aber Bösartigkeit ließ sich niemals leicht verbannen und nur ein geprüftes Herz war ein reines Herz. Sie wusch ihr weiches, altes Gesicht und putzte die Zähne, die trotz ihrer 71 Jahre noch gesund waren, und zog sorgfältig ihre angenehme, weiche Kleidung und ihre geknöpften Schuhe an. Als sie nach unten ging und dachte, eine kleine Waffel zum Frühstück im sonnigen Esszimmer wäre vielleicht ganz angenehm, sah sie die Post auf dem Boden des Flurs. Sie bückte sich und hob sie auf. Eine Rechnung, die Morgenzeitung, ein Brief in einem grünen Umschlag, der ihr merkwürdig vertraut vorkam. Einen Augenblick lang stand Miss Strangeworth vollkommen reglos da, während sie den grünen Umschlag musterte, der mit Bleistift in Druckbuchstaben beschriftet war, und dachte: Er sieht aus wie einer meiner eigenen Briefe. Ist einer meiner Briefe zurückgeschickt worden? Nein, denn niemand konnte wissen, wer ihn abgeschickt hatte. Wie ist dieser dann hierhergekommen?

Miss Strangeworth war eine Strangeworth aus der Pleasant Street. Ihre Hand zitterte nicht, als sie den Umschlag öffnete und das kleine grüne Blatt darin entfaltete. Sie begann, leise zu weinen über die Bösartigkeit der Welt, als sie die Worte las: Schauen Sie nach draußen auf das, was früher einmal Ihre Rosen waren.

Louisa, bitte komm nach Hause

»Louisa«, erklang die Stimme meiner Mutter aus dem Radio; einen Augenblick lang hatte ich schreckliche Angst. »Louisa«, sagte sie, »bitte komm nach Hause. Es ist drei lange Jahre her, dass wir dich das letzte Mal gesehen haben; Louisa, ich verspreche dir, dass alles gut werden wird. Wir vermissen dich so sehr. Wir wollen dich wiederhaben. Louisa, bitte komm nach Hause.«