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Merricat lebt am Rande eines Dorfes im Schloss der Familie Blackwood, nur in Gesellschaft ihrer Schwester Constance und dem wunderlichen Onkel Julian, der an den Rollstuhl gefesselt ist. Alle anderen Familienmitglieder wurden vergiftet. Merricat liebt die Ruhe im Schloss. Aber seit Constance vor Gericht freigesprochen wurde, den Rest der Familie ermordet zu haben, lässt die Welt den Blackwoods keinen Frieden mehr. Und als Cousin Charles auftaucht, voller falschem Getue und dem verzweifelten Bedürfnis, an den Inhalt des Familiensafes zu kommen, muss Merricat alles in ihrer Macht Stehende tun, um das Schloss und seine Bewohner vor Schaden zu schützen … Selbstverständlich ist Shirley Jackson mehr als nur die 'Queen of Horror' – sie ist eine der wichtigsten Autorinnen der US-amerikanischen Literatur. Frankfurter Rundschau: 'Das Buch geht unter die Haut. Die gespenstische Atmosphäre, in der die beiden Schwestern und der halb verrückte Onkel leben, ist so beklemmend geschildert, dass man von der Lektüre nicht mehr loskommt.' Neil Gaiman: 'Eine erstaunliche Autorin. Wenn du sie nicht gelesen hast, hast du etwas Wunderbares verpasst.' Joyce Carol Oates: 'Ein Meisterwerk unter den unheimlichen Thrillern. Shirley Jackson ist eine dieser höchst eigenwilligen, unnachahmlichen Schriftstellerinnen, deren Werke einen bleibenden Zauber ausüben.' Donna Tartt: 'Ihr bestes Buch. zugleich skurril und erschütternd, mit der detailreichen Fantasie eines Miniaturmalers skizziert, der in einem Mausoleum sitzt. Wir fallen in Tiefen und Tiefen und blutrote Tiefen hinab, bis von der Realität nur noch ein unheimlicher, fast vergessener Schimmer hoch oben bleibt; und je tiefer wir sinken, desto tiefer wollen wir fallen.' Jonathan Lethem: 'Für mich ist dieses ungewöhnliche und traumartige Buch ihr Meisterwerk.' The New York Times: 'Ein verblüffendes Hexengebräu voller unheimlicher Kraft.'; FESTA MUST READ: Große Erzähler ohne Tabus. Muss man gelesen haben.
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Seitenzahl: 263
Veröffentlichungsjahr: 2019
Aus dem Amerikanischen von Eva Brunner
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe
We Have Always Lived in the Castle
erschien 1962 im Verlag Viking Press.
Copyright © 1962 by Shirley Jackson
Copyright renewed © Barry Hyman, Sarah Webster and
Joanne Schnurer, 1990
Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-710-3
www.Festa-Verlag.de
Für Pascal Covici
1
Ich heiße Mary Katherine Blackwood. Ich bin 18 Jahre alt und lebe mit meiner Schwester Constance zusammen. Ich habe oft gedacht, dass ich mit ein wenig Glück als Werwolf hätte auf die Welt kommen können, denn meine Mittel- und Ringfinger sind an beiden Händen gleich lang, aber ich muss mich mit dem zufriedengeben, was ich nun einmal bin. Ich wasche mich nur ungern, und ich mag weder Hunde noch Lärm. Ich mag meine Schwester Constance, Richard Plantagenet und Amanita phalloides, den Grünen Knollenblätterpilz. Alle anderen Familienmitglieder sind tot.
Als ich zuletzt einen Blick auf die Bibliotheksbücher im Küchenregal warf, war die Leihfrist fünf Monate überschritten, und ich habe mich gefragt, ob ich andere ausgesucht hätte, wenn ich gewusst hätte, dass es die letzten sein würden, die nun für immer in unserem Küchenregal stehen würden. Wir stellten nur selten etwas um. Die Blackwoods hatten als Familie nie viel für Unruhe und Aufregung übrig. Wir räumten zwar die kleinen vergänglichen Dinge an der Oberfläche um, die Bücher, Blumen und Löffel, aber alles beruhte stets auf einem festen Fundament beständiger Besitztümer. Wir legten die Dinge immer dorthin zurück, wo sie hingehörten. Wir kehrten unter den Tischen, Stühlen, Betten und Teppichen und wischten Staub auf Bildern und Lampen, aber wir ließen alles, wo es war. Die Toilettengarnitur aus Schildpatt auf der Frisierkommode unserer Mutter wurde nie auch nur um einen Millimeter verrückt. Die Blackwoods hatten schon seit jeher in unserem Haus gelebt und hielten es instand. Immer wenn eine neue Frau in die Familie einheiratete, wurde ein Platz für ihre Habseligkeiten gefunden, und so wurde unser Haus aus Schichten von Blackwood-Eigentum aufgebaut, was ihm gegen die Welt Stabilität verlieh.
Es war an einem Freitag Ende April, als ich die Bibliotheksbücher nach Hause brachte. Freitag und Dienstag waren schreckliche Tage, weil ich ins Dorf gehen musste. Irgendjemand musste in die Bibliothek und in den Lebensmittelladen. Constance ging nie weiter als in ihren Garten, und Onkel Julian konnte es nicht. Also war es nicht mein Stolz, der mich zweimal pro Woche ins Dorf führte, schon gar nicht Eigensinn, sondern der simple Bedarf an Büchern und Lebensmitteln. Obwohl es der Stolz gewesen sein könnte, der mich auf eine Tasse Kaffee zu Stella trieb, bevor ich mich auf den Heimweg machte. Ich redete mir ein, ich würde Stella aus Stolz nicht aus dem Weg gehen, auch wenn ich lieber zu Hause gewesen wäre, aber ich wusste auch, dass mich Stella, wenn ich sie nicht besuchte, vorbeigehen sehen und vermutlich denken würde, ich hätte Angst, und dieser Gedanke war unerträglich.
»Guten Morgen, Mary Katherine«, begrüßte mich Stella jedes Mal, während sie sich vorbeugte, um den Tresen mit einem feuchten Tuch abzuwischen. »Wie geht es dir heute?«
»Sehr gut, danke.«
»Und Constance Blackwood, geht es ihr gut?«
»Sehr gut, danke.«
»Und wie geht es ihm?«
»Den Umständen entsprechend. Einen schwarzen Kaffee bitte.«
Sollte jemand anderes hereinkommen und sich an den Tresen setzen, würde ich meinen Kaffee scheinbar ohne jede Eile stehen lassen und mich nickend von Stella verabschieden. »Mach’s gut!«, sagte sie jedes Mal automatisch, wenn ich ging.
Ich wählte die Bibliotheksbücher mit Sorgfalt aus. Natürlich hatten wir Bücher im Haus. Im Arbeitszimmer meines Vaters bedeckten die Bücher zwei Wände, aber ich mochte Märchen und Geschichtsbücher, während Constance gern Bücher über Ernährung las. Auch wenn Onkel Julian nie ein Buch in die Hand nahm, gefiel es ihm, wenn Constance abends las, während er an seinen Papieren arbeitete, und manchmal drehte er sich zu ihr um, sah sie an und nickte ihr zu.
»Was liest du, meine Liebe? Ein hübscher Anblick, eine Dame mit Buch.«
»Ich lese etwas mit dem Titel Die Kunst des Kochens, Onkel Julian.«
»Bewundernswert.«
Wir saßen natürlich nie lange still da, wenn Onkel Julian im Zimmer war, aber ich erinnere mich nicht, dass Constance und ich jemals die Bücher aus der Bibliothek aufgeschlagen hätten, die noch immer im Küchenregal stehen. Es war ein angenehmer Aprilmorgen, als ich aus der Bibliothek kam. Die Sonne schien, und überall stachen die herrlich falschen Versprechungen des Frühlings seltsam aus dem Schmutz des Dorfes hervor. Ich erinnere mich, wie ich mit den Büchern in der Hand auf den Stufen zur Bibliothek stand und über eine Minute lang das zarte, kaum angedeutete Grün an den Zweigen vor dem Himmel betrachtete und mir wie immer wünschte, ich könnte über den Himmel anstatt durch das Dorf nach Hause gehen. Von den Stufen der Bibliothek aus konnte ich direkt die Straße überqueren und auf der anderen Seite bis zum Lebensmittelladen gehen, was aber bedeutete, dass ich am Gemischtwarenladen und an den davor sitzenden Männern vorbeigehen musste. In diesem Dorf blieben die Männer jung und tratschten, während die Frauen vor griesgrämigem Überdruss früh alterten und schweigend darauf warteten, dass die Männer aufstanden und nach Hause kamen. Ich könnte die Bibliothek verlassen und auf dieser Seite die Straße entlanggehen, bis ich gegenüber dem Lebensmittelladen wäre, um dann rüberzugehen. Das zog ich vor, obwohl mich der Weg dann an der Post und am Rochester-Haus vorbeiführte, wo verrostetes Blech, kaputte Autos und leere Gasflaschen, alte Matratzen, Wasserrohre und Waschbottiche aufgestapelt waren, welche die Familie Harler sammelte und – das glaube ich wirklich – liebte.
Das Rochester-Haus war das schönste im Städtchen und hatte früher eine nussholzgetäfelte Bibliothek, im ersten Stock einen Ballsaal und eine mit Rosen überwachsene Veranda. Unsere Mutter war dort zur Welt gekommen, und von Rechts wegen hätte es Constance gehören müssen. Wie immer hielt ich es für sicherer, am Postamt und am Rochester-Haus vorbeizugehen, obwohl ich das Geburtshaus unserer Mutter nur ungern sah. Diese Straßenseite war morgens normalerweise menschenleer, da sie im Schatten lag, und nachdem ich im Lebensmittelladen gewesen war, würde ich sowieso am Gemischtwarenladen vorbeimüssen, um nach Hause zu gelangen, und auf dem Hin- und Rückweg daran vorbeizugehen war mehr, als ich ertragen konnte.
Außerhalb des Dorfes, an der Hill Road, an der River Road und in Old Mountain, hatten Leute wie die Clarkes und die Carringtons hübsche neue Wohnhäuser gebaut. Um zur Hill Road und zur River Road zu gelangen, mussten sie durch das Dorf, weil die Hauptstraße des Dorfes gleichzeitig die Überlandstraße war. Aber die Kinder der Clarkes und die Söhne der Carringtons gingen auf Privatschulen, und die Lebensmittel für die Küchen an der Hill Road kamen aus den Städten und aus der Großstadt. Die Post wurde per Auto vom Dorfpostamt in der River Road und in Old Mountain ausgefahren, aber die Leute von Old Mountain verschickten ihre Briefe in den Dörfern und die von der River Road ließen sich die Haare in der Großstadt schneiden.
Ich staunte immer wieder, dass die Dorfbewohner, die in schmutzigen kleinen Häusern an der Hauptstraße oder an der Creek Road wohnten, den Clarkes und den Carringtons zulächelten und winkten, wenn sie vorbeifuhren. Wenn Helen Clarke in Elberts Laden kam, um eine Dose Tomatensoße oder ein Pfund Kaffee zu kaufen, die ihr Koch vergessen hatte, dann begrüßten alle sie mit »Guten Morgen« und meinten, dass das Wetter heute besser sei. Das Haus der Clarkes war neuer, aber nicht schöner als das der Blackwoods. Unser Vater brachte das erste Klavier ins Haus, das jemals im Dorf gesehen wurde. Den Carringtons gehört die Papiermühle, aber den Blackwoods das ganze Land zwischen der Überlandstraße und dem Fluss. Die Shepherds von Old Mountain stifteten dem Dorf ein eigenes weißes Rathaus mit Spitzdach auf einem grünen Rasen mit einer Kanone davor. Es war darüber diskutiert worden, im Dorf Bebauungspläne einzuführen und die Bretterbuden an der Creek Road abzureißen, um das ganze Dorf passend zum Rathaus neu aufzubauen, aber niemand rührte einen Finger. Vielleicht befürchtete man, die Blackwoods würden in diesem Fall an den Gemeinderatssitzungen teilnehmen. Die Dorfbewohner erhalten im Rathaus ihre Jagd- und Angelscheine, und einmal im Jahr gehen die Clarkes, die Carringtons und die Shepherds zur Gemeinderatssitzung und stimmen feierlich für die Beseitigung von Harlers Schrottplatz an der Main Street sowie der Bänke vor dem Gemischtwarenladen, doch Jahr für Jahr werden sie von den Dorfbewohnern schadenfroh überstimmt. Links hinter dem Rathaus beginnt die Blackwood Road, mein Heimweg. Die Blackwood Road führt in einem großen Kreis um das Land der Blackwoods, von dem jeder Zentimeter von einem Drahtzaun eingefasst wird, der von unserem Vater errichtet wurde. Nicht weit hinter dem Rathaus steht der große schwarze Felsblock, der den Zugang zum Pfad markiert, wo ich das Tor auf- und hinter mir wieder zuschließe, bevor ich durch den Wald gehe und zu Hause bin.
Die Dorfbewohner haben uns schon immer gehasst.
Wenn ich einkaufen ging, machte ich jedes Mal ein Spiel. Ich dachte an diese Kinderspiele, bei denen das Brett in kleine Felder unterteilt ist und jeder Spieler entsprechend der gewürfelten Zahl vorankommt. Es gab immer Gefahren wie »Setze eine Runde aus« oder »Gehe vier Felder zurück« oder »Beginne von vorn« und kleine Hilfen wie »Rücke drei Felder vor« oder »Würfle noch einmal«. Die Bibliothek war mein Ausgangspunkt, und der schwarze Felsblock mein Ziel. Ich musste auf der einen Seite der Main Street hinuntergehen, sie überqueren und dann auf der anderen Seite wieder zurück, bis ich den schwarzen Felsblock erreichte, und dann hatte ich gewonnen. Ich hatte einen guten und sicheren Start entlang der leeren Seite der Main Street, und vielleicht wäre heute ein guter Tag. Manchmal hatte ich Glück, aber nicht oft an Frühlingsvormittagen. Sollte es ein sehr guter Tag werden, würde ich später aus Dankbarkeit ein Schmuckopfer bringen.
Anfangs ging ich schnell, holte tief Luft und blickte nicht auf. Ich musste die Bibliotheksbücher und meine Einkaufstasche tragen und blickte auf meine Füße, die sich abwechselnd bewegten. Zwei Füße in den alten braunen Schuhen unserer Mutter. Ich spürte, dass mich jemand aus dem Postamt beobachtete – wir nahmen keine Post an und hatten kein Telefon, denn beides war vor sechs Jahren unerträglich geworden –, aber wenn jemand kurz vom Postamt herüberstarrte, konnte ich es aushalten. Es war die alte Miss Dutton, die mich nie wie die anderen im Freien anstarrte, sondern nur durch Jalousien oder Vorhänge. Ich blickte nie zum Rochester-Haus. Die Vorstellung, dass unsere Mutter dort geboren worden war, war mir unerträglich. Manchmal fragte ich mich, ob den Harlers bewusst war, dass sie in einem Haus lebten, das eigentlich Constance gehört hätte. In ihrem Hof war immer so viel Blechgeklapper, dass sie mich nicht vorbeigehen hören konnten. Vielleicht dachten die Harlers, der ewige Lärm würde Dämonen vertreiben, oder sie waren musikalisch und fanden es angenehm. Vielleicht lebten die Harlers drinnen genauso wie draußen, saßen in alten Badewannen und aßen ihre Mahlzeiten von kaputten Tellern auf dem Gerüst eines alten Fords, klapperten beim Essen mit Dosen und brüllten sich beim Reden an. Vor dem Haus der Harlers lag stets eine Schmutzschicht auf dem Gehsteig.
Als Nächstes stand das Überqueren der Straße an (Setze eine Runde aus), um zum Lebensmittelladen direkt gegenüber zu gelangen. Ich zögerte wie immer, wartete verletzlich und ungeschützt auf der Straßenseite, ließ den Verkehr vorbeiziehen. Auf der Main Street war hauptsächlich Durchgangsverkehr unterwegs, die Autos und Lastwagen fuhren nur durchs Dorf, weil es die Überlandstraße war, und die Fahrer beachteten mich kaum. Ein Auto aus dem Ort konnte ich am kurzen bösen Blick des Fahrers erkennen, und ich fragte mich immer, was wäre, würde ich vom Bordstein auf die Straße treten. Würde er schnell, scheinbar unabsichtlich, auf mich zufahren? Nur um mich zu erschrecken, vielleicht um mich wegspringen zu sehen? Und dann Gelächter von allen Seiten, hinter den Jalousien des Postamts, von den Männern vor dem Gemischtwarenladen, von den Frauen am Eingang zum Lebensmittelladen, die alle schadenfroh zusehen würden, wie Mary Katherine Blackwood vor einem Auto flüchtete. Manchmal setzte ich zwei oder sogar drei Runden aus, weil ich so lange abwartete, bis die Straße in beiden Richtungen frei war, bevor ich sie überquerte.
Auf der Mitte der Straße trat ich aus dem Schatten in die helle, trügerische Aprilsonne. Im Juli wäre der Straßenbelag durch die Hitze aufgeweicht und meine Füße würden darin stecken bleiben, sodass die Überquerung noch gefährlicher wäre (Mary Katherine Blackwood blieb mit dem Fuß im Teer stecken und erschauderte, als ein Auto auf sie zusteuerte; kehre wieder an den Anfang zurück und beginne von vorn) und die Gebäude noch hässlicher. Das ganze Dorf war aus einem Guss, es war zur selben Zeit im selben Stil erbaut worden. Als würden die Bewohner die Hässlichkeit des Dorfes brauchen und davon zehren. Die Häuser und die Geschäfte schien man in Windeseile hochgezogen zu haben, um der Trostlosigkeit und allem Unangenehmen Unterschlupf zu bieten, während das Rochester-Haus, das Blackwood-Haus und selbst das Rathaus rein zufällig aus irgendeinem fernen Land, wo die Menschen in Würde lebten, hierher versetzt worden waren. Vielleicht waren die schönen Häuser mit Gewalt eingenommen worden – vielleicht um die Rochesters und die Blackwoods für ihre verborgenen schwarzen Seelen zu bestrafen? – und wurden im Dorf gefangen gehalten. Vielleicht war ihr schleichender Zerfall ein Sinnbild für die Hässlichkeit der Dorfbewohner. Die Ladenreihe entlang der Main Street war grau in grau. Die Ladeninhaber lebten darüber in Wohnungen mit verblichenen Vorhängen, die reglos an den immer gleichen Fenstern im ersten Stock hingen. Alles, was farbenfroh angedacht war, verlor in diesem Dorf schnell den Mut. Die Schande, die über dem Dorf lag, rührte bestimmt nicht von den Blackwoods her. Die Dorfbewohner gehörten hierher, und das Dorf war der einzig richtige Ort für sie.
Ich musste jedes Mal an Fäulnis denken, wenn ich mich der Ladenreihe näherte. Ich dachte an schwärende schwarze ekelhafte Fäulnis, die alles von innen auffraß und grauenhafte Schmerzen verursachte. Das wünschte ich dem Dorf.
Ich hatte eine Einkaufsliste für den Laden. Constance schrieb sie mir jeden Dienstag und Freitag, bevor ich aus dem Haus ging. Den Dorfbewohnern missfiel es, dass wir schon immer genug Geld hatten und uns alles kaufen konnten. Wir hatten unser Geld natürlich aus der Bank genommen, und ich wusste, dass sie über das Geld redeten, das wir in unserem Haus horteten, als wären es riesige Haufen Goldmünzen und als würden Constance, Onkel Julian und ich abends zusammensitzen, unsere Bücher längst vergessen, und mit dem Geld spielen, mit den Händen hindurchfahren, es zählen, aufeinanderschichten, wieder umwerfen und uns dabei über alle lustig machen. Vermutlich gab es viele verwesende Seelen im Dorf, die uns unsere Haufen von Goldmünzen neideten, aber sie waren Feiglinge und hatten Angst vor den Blackwoods. Mit dem Einkaufszettel nahm ich auch mein Portemonnaie aus der Tasche, damit Elbert im Laden gleich wusste, dass ich Geld dabeihatte, und sich nicht weigern konnte, mir etwas zu verkaufen.
Es spielte keine Rolle, wer noch im Laden war. Ich wurde stets sofort bedient. Mr. Elbert oder seine blasse gierige Frau ließen im Laden immer alles stehen und liegen, um mir das Gewünschte zu bringen. Wenn während der Schulferien manchmal ihr älterer Sohn aushalf, stürzten sie eilfertig herbei, damit nicht er mich bediente, und als sich mir einmal ein kleines Mädchen näherte – ein Kind, das natürlich im Dorf fremd war –, zerrte Mrs. Elbert es so grob weg, dass es schrie. Es folgte eine lange Minute des Schweigens, bis Mrs. Elbert tief Luft holte und fragte: »Sonst noch was?« Ich stand immer kerzengerade und steif da, wenn Kinder näher kamen, weil ich mich vor ihnen fürchtete. Ich hatte Angst, dass sie mich anfassen könnten und dass die Mütter dann wie ein Falkenschwarm mit scharfen Klauen über mich herfallen würden. Das war das Bild, das ich immer vor Augen hatte. Vögel, die herabstießen und mit rasiermesserscharfen Klauen klaffende Wunden rissen. Heute musste ich für Constance eine ganze Menge einkaufen, und ich war erleichtert, als ich sah, dass keine Kinder und nur wenige Frauen im Laden waren. Würfle noch einmal, dachte ich und sagte zu Mr. Elbert: »Guten Morgen.«
Er nickte mir zu. Er kam nicht umhin, mich zu grüßen, und dennoch schauten Frauen im Laden her. Ich kehrte ihnen den Rücken zu, aber ich spürte, wie sie hinter mir standen, eine Dose, eine halb volle Tüte Kekse oder einen Salatkopf in der Hand, nicht bereit, sich zu rühren, bevor ich wieder durch die Tür hinausgegangen war, woraufhin eine Woge plötzlich einsetzender Gespräche sie wieder ins Leben zurückspülen würde. Mrs. Donell stand irgendwo hinter mir. Ich hatte sie beim Hereinkommen gesehen und mich schon öfter gefragt, ob sie absichtlich immer dann kam, wenn sie wusste, dass ich auch kam, denn sie versuchte immer etwas zu sagen. Sie war eine der wenigen, die mit mir redeten.
»Ein Brathähnchen«, sagte ich zu Mr. Elbert, und am anderen Ende des Ladens öffnete seine gierige Frau die Kühlauslage, nahm ein Hähnchen heraus und machte sich daran, es einzuwickeln. »Eine kleine Lammkeule«, sagte ich, »Onkel Julian isst an den ersten Frühlingstagen am liebsten Lammbraten.« Das hätte ich nicht sagen sollen, das wusste ich, denn ein leises Stöhnen ging fast wie ein Schrei durch den Laden. Ich hätte sie wie Kaninchen in die Flucht schlagen können, wenn ich wirklich gesagt hätte, was mir auf der Zunge lag, aber dann würden sie sich draußen wieder versammeln und mir auflauern. »Zwiebeln«, las ich Mr. Elbert höflich vor, »Kaffee, Brot, Mehl, Walnüsse«, sagte ich, »und Zucker. Wir haben kaum noch Zucker.« Irgendwo hinter mir war ein kleines erschrockenes Lachen zu hören, und Mr. Elbert sah kurz an mir vorbei und richtete den Blick dann wieder auf die Waren, die er auf dem Ladentisch aufstellte. Gleich würde Mrs. Elbert mir das Hähnchen und das Fleisch bringen, alles eingepackt, und sie zu den anderen Sachen legen. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, bevor ich zum Gehen bereit war. »Zwei Liter Milch«, sagte ich. »Einen Viertelliter Sahne, ein Pfund Butter.« Vor sechs Jahren hatten die Harris aufgehört, uns mit Milchprodukten zu beliefern, und seitdem holte ich Milch und Butter aus dem Lebensmittelladen. »Und ein Dutzend Eier.« Constance hatte vergessen, Eier auf die Liste zu schreiben, aber wir hatten nur noch zwei zu Hause. »Eine Packung Erdnusskrokant«, sagte ich. Onkel Julian würde ihn heute Abend geräuschvoll über seinen Papieren knabbern und klebrig zu Bett gehen.
»Die Blackwoods haben schon immer Wert auf gutes Essen gelegt.« Das war Mrs. Donell, die es deutlich irgendwo hinter meinem Rücken sagte. Jemand kicherte, und jemand anderer machte: »Pst!« Ich drehte mich niemals um. Es genügte, sie im Rücken zu spüren, ich brauchte nicht in ihre flachen grauen Gesichter mit den hasserfüllten Augen zu blicken. Ich wünschte, ihr wärt alle tot, dachte ich und sehnte mich danach, es auch laut auszusprechen. Constance sagte immer »Lass dir niemals anmerken, dass es dir etwas ausmacht« und »Wenn du ihnen Aufmerksamkeit schenkst, werden sie nur noch schlimmer«, und wahrscheinlich hatte sie recht, aber ich wünschte trotzdem, sie wären tot. Es hätte mir gefallen, eines Morgens in den Lebensmittelladen zu kommen und sie dort alle, selbst die Elberts und die Kinder, vor Schmerzen weinen und sterben zu sehen. Dann würde ich mich selbst bedienen, über ihre Leichen steigen und mir alles nach Herzenslust aus den Regalen nehmen und nach Hause gehen, vielleicht vorher noch der auf dem Boden liegenden Mrs. Donell einen Fußtritt verpassen. Es tat mir niemals leid, wenn ich solche Gedanken hatte. Ich wünschte mir nur, sie würden wahr werden. »Es ist falsch, sie zu hassen«, sagte Constance, »es schwächt nur dich«, aber ich hasste sie trotzdem und wunderte mich, dass es überhaupt der Mühe wert gewesen sein sollte, sie zu erschaffen.
Mr. Elbert legte all meine Lebensmittel auf den Ladentisch, blickte über mich hinweg in die Ferne und wartete. »Das ist alles für heute«, sagte ich zu ihm, und ohne mich anzusehen schrieb er die Preise untereinander auf einen Zettel, zählte zusammen, reichte mir dann den Zettel, damit ich mich vergewissern konnte, dass er mich nicht betrogen hatte. Aus Prinzip sah ich mir seine Zahlen immer genau an, obwohl er nie einen Fehler machte. Ich hatte nur wenige Möglichkeiten, mich an ihnen zu rächen, aber ich tat mein Bestes. Die Lebensmittel füllten außer meiner Einkaufstasche noch eine zweite Tasche, und es blieb mir nichts anderes übrig, als sie allein nach Hause zu tragen. Natürlich hätte mir niemand Hilfe angeboten, und ich hätte sie auch nicht angenommen.
Setze zweimal aus. Wegen der Bücher aus der Bibliothek und der Einkäufe kam ich nur langsam voran und musste den Gehsteig entlang am Gemischtwarenladen vorbei zu Stella gehen. Ich blieb am Eingang zu Elberts Laden stehen und suchte in mir nach einem Gedanken, der mir Sicherheit geben würde. Hinter mir begann man sich zu räuspern und zu hüsteln. Gleich würden sie sich weiter unterhalten, und von einer Ecke des Ladens zur anderen warfen sich die Elberts vermutlich einen Blick der Erleichterung zu. Ich verzog keine Miene. Heute wollte ich daran denken, wie wir das Mittagessen in den Garten verlegten, und während ich die Augen nur so weit offen hielt, um zu erkennen, wo ich hintrat – die braunen Schuhe unserer Mutter bewegten sich Schritt für Schritt –, legte ich in Gedanken ein grünes Tuch auf den Tisch, stellte gelbe Teller und eine weiße Schüssel mit Erdbeeren darauf. Gelbe Teller, dachte ich und spürte im Vorbeigehen die Blicke der Männer auf mir. Und Onkel Julian wird ein weiches Ei mit Toast bekommen, und ich werde Constance daran erinnern, ihm einen Schal um die Schultern zu legen, denn der Frühling hat gerade erst begonnen. Ohne hinzusehen, bemerkte ich das Grinsen und die Gesten. Ich wünschte, sie wären alle tot und ich könnte über ihre Leichen gehen. Sie sprachen mich selten direkt an, redeten meist nur untereinander. »Das ist eins der Blackwood-Mädchen«, hörte ich einen von ihnen mit hoher, spöttischer Stimme sagen, »eins der Blackwood-Mädchen von der Blackwood-Farm.« »Wirklich schade um diese Blackwoods«, sagte ein anderer gerade laut genug, »schade um die armen Mädchen.« »Schöne Farm dort draußen«, sagten sie, »gutes Ackerland. Mit dem Blackwood-Land könnte man reich werden. Wenn einer eine Million Jahre Zeit und drei Köpfe hätte und wenn es ihm egal wäre, was dort wächst, dann könnte einer reich werden. Die Blackwoods halten ihr Land gut unter Verschluss.« »Da könnte einer reich werden.« »Zu schade um die Blackwood-Mädchen.« »Man kann nie wissen, was auf dem Blackwood-Land wachsen wird.«
Ich gehe über ihre Leichen, dachte ich, wir werden im Garten zu Mittag essen, und Onkel Julian trägt seinen Schal. Wenn ich hier entlangging, hielt ich meine Einkäufe immer gut fest, nachdem ich eines schrecklichen Morgens die Einkaufstasche hatte fallen lassen, sodass die Eier zerbrachen und die Milch verschüttet wurde. Ich sammelte alles ein, was noch zu retten war, während gejohlt wurde, sagte mir, dass ich auf gar keinen Fall weglaufen würde, stopfte hastig Dosen und Packungen und verschütteten Zucker in die Einkaufstasche zurück und sagte mir ständig, dass ich ja nicht weglaufen durfte.
Vor Stellas Café war ein Riss im Gehsteig, der wie ein ausgestreckter Finger aussah. Der Riss war schon immer dort gewesen. Andere Wahrzeichen wie der Handabdruck, den der Musiker Johnny Harris im Betonfundament des Rathauses hinterließ, und die Initialen des jungen Mueller im Vorbau der Bibliothek waren in Zeiten angebracht worden, an die ich mich erinnere. Ich ging in die dritte Klasse, als das Rathaus gebaut wurde. Aber der Riss im Gehsteig vor Stellas Café war schon immer da, genauso wie Stellas Lokal. Ich erinnere mich, wie ich versuchte, mit den Rollschuhen hinüberzugelangen, ohne darauf zu treten, weil es unserer Mutter das Kreuz gebrochen hätte, und wie ich hier mit fliegenden Haaren auf dem Fahrrad vorbeiradelte. Damals zeigten uns die Dorfbewohner ihre Abneigung noch nicht so offen, obwohl unser Vater sie trotzdem für Abschaum hielt. Unsere Mutter erzählte mir einmal, dass es den Riss schon gab, als sie noch als kleines Mädchen im Rochester-Haus wohnte, also muss er bereits da gewesen sein, als sie unseren Vater heiratete und auf die Blackwood-Farm zog. Und vermutlich war der Riss, der wie ein ausgestreckter Finger aussieht, schon zu der Zeit da, als man das Dorf aus altem grauem Holz erbaute und die hässlichen Menschen mit den bösen Gesichtern von einem unerträglichen Ort hierhergebracht und in die Häuser gesteckt wurden.
Als ihr Mann starb, kaufte Stella vom Geld der Versicherung die Kaffeemaschine und ließ den Marmortresen aufstellen. Davon abgesehen hatte sich in Stellas Café nichts verändert, soweit ich mich erinnern kann. Constance und ich waren nach der Schule immer hereingekommen, um unser Taschengeld auszugeben, und jeden Nachmittag holten wir die Zeitung für unseren Vater, damit er sie am Abend lesen konnte. Inzwischen kauften wir keine Zeitungen mehr, obwohl sie bei Stella weiterhin erhältlich waren, ebenso wie Zeitschriften, kleine Süßigkeiten und graue Ansichtskarten mit dem Rathaus drauf.
»Guten Morgen, Mary Katherine«, sagte Stella, als ich meine Taschen abstellte und mich an den Tresen setzte. Wenn ich manchmal allen Dorfbewohnern den Tod wünschte, dachte ich, dass ich Stella vielleicht verschonen würde, denn sie war noch am freundlichsten von allen und sie schaffte es als Einzige, sich etwas Farbe im Leben zu bewahren. Sie war rund und rosig, und wenn sie ein buntes Kleid trug, leuchtete es noch eine Weile, bis es wie die der anderen schmutzig grau wurde. »Wie geht es dir heute?«, fragte sie.
»Sehr gut, danke.«
»Und Constance Blackwood, geht es ihr gut?«
»Sehr gut, danke.«
»Und wie geht es ihm?«
»Den Umständen entsprechend. Einen schwarzen Kaffee bitte.« Eigentlich trank ich meinen Kaffee lieber mit Zucker und Sahne, weil er dann nicht so bitter war, aber da ich nur aus Stolz hierherkam, wollte ich mir symbolisch auch nur das Mindeste zugestehen.
Würde noch jemand während meiner Anwesenheit Stellas Café betreten, würde ich aufstehen und still gehen. Aber es gab Tage, an denen ich Pech hatte. An diesem Morgen hatte sie gerade meinen Kaffee vor mir auf den Tresen gestellt, als ich am Eingang einen Schatten sah. Stella blickte auf und sagte: »Guten Morgen, Jim.« Sie ging ans andere Ende des Tresens und ich wartete, dass er sich dort hinsetzte, damit ich unbemerkt gehen konnte, aber es war Jim Donell, und mir war sofort klar, dass ich heute Pech hatte. Einige Dorfbewohner hatten tatsächlich Gesichter, die ich kannte und individuell hassen konnte. Jim Donell und seine Frau gehörten zu ihnen, weil sie uns bewusst und nicht nur dumpf und aus Trägheit hassten wie die anderen. Die meisten Leute wären am anderen Ende des Tresens geblieben, wo Stella wartete, aber Jim Donell kam geradewegs auf mich zu, setzte sich auf den Hocker neben mir und rückte möglichst nah heran, weil er mir, das wusste ich, den Morgen verderben wollte.
»Man hat mir erzählt«, begann er, während er sich seitlich auf den Hocker setzte und mich direkt ansah, »man hat mir erzählt, dass ihr wegzieht.«
Ich wünschte, er würde nicht so nah bei mir sitzen. Stella kam hinter dem Tresen zu uns und ich wünschte, sie würde ihn bitten, sich woanders hinzusetzen, damit ich aufstehen und hinausgehen könnte, ohne mich an ihm vorbeiquetschen zu müssen. »Man hat mir erzählt, dass ihr wegzieht«, wiederholte er feierlich.
»Nein«, sagte ich, weil er auf eine Antwort wartete.
»Komisch«, sagte er und sah zu Stella und dann wieder zu mir. »Ich hätte schwören können, dass mir jemand erzählt hat, ihr würdet bald wegziehen.«
»Nein.«
»Kaffee, Jim?«, fragte Stella.
»Was meinst du, Stella, wer so ein Gerücht in die Welt gesetzt hat? Warum, meinst du, erzählt man mir, dass sie wegziehen, wenn das gar nicht der Fall ist?« Stella schüttelte den Kopf, bemühte sich aber, nicht zu lächeln. Ich sah, dass meine Hände an der Papierserviette auf meinem Schoß zerrten und eine kleine Ecke davon abrissen, und ich zwang mich, damit aufzuhören. Ich stellte mir eine Regel auf: Immer wenn ich einen Papierfetzen sah, wollte ich mich daran erinnern, netter zu Onkel Julian zu sein.
»Es ist schwer nachzuvollziehen, wie so eine Geschichte die Runde macht«, sagte Jim Donell. Vielleicht würde er bald sterben. Vielleicht verfaulte er bereits innerlich, was ihn umbringen würde. »Hast du jemals so viel Gerede wie in unserem Dorf gehört?«, fragte er Stella.
»Lass sie in Ruhe, Jim«, sagte Stella.
Onkel Julian war ein alter Mann, und bedauerlicherweise würde er bald sterben, und zwar mit Sicherheit vor Jim Donell und Stella oder sonst jemandem. Der arme alte Onkel Julian würde bald sterben, und ich nahm mir fest vor, netter zu ihm zu sein. Wir würden auf dem Rasen ein Picknick machen. Constance würde seinen Schal bringen und ihm um die Schultern legen, und ich würde mich aufs Gras legen.
»Ich belästige niemanden, Stella. Belästige ich jemanden? Ich möchte nur von Miss Mary Katherine Blackwood wissen, wie es kommt, dass alle im Dorf behaupten, sie und ihre große Schwester würden uns bald verlassen. Sie würden fortziehen, irgendwo anders leben wollen.« Er rührte in seinem Kaffee. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie sich der Löffel drehte und drehte und drehte, und ich hätte am liebsten gelacht. Es war etwas so Dämliches an diesem Löffel, der sich ständig drehte, während Jim Donell redete. Ich fragte mich, ob er aufhören würde zu reden, wenn ich die Hand ausstrecken und nach dem Löffel greifen würde. Sehr wahrscheinlich schon, sagte ich mir weise, sehr wahrscheinlich würde er mir den Kaffee ins Gesicht schütten.
»Irgendwo anders leben«, sagte er traurig.
»Hör auf damit«, sagte Stella.
Ich wollte aufmerksamer zuhören, wenn Onkel Julian seine Geschichte erzählte. Heute brachte ich ihm Erdnusskrokant mit. Das war immerhin etwas.
»Ich war schon sehr besorgt«, sagte Jim Donell, »dachte, das Städtchen würde eine seiner guten alten Familien verlieren. Das wäre doch wirklich schade.« Er schwang auf dem Hocker in die andere Richtung, weil noch jemand hereinkam. Ich blickte auf meine Hände im Schoß und drehte mich selbstverständlich nicht, um zu sehen, wer es war, aber dann sagte Jim Donell »Joe«, und ich wusste, dass es Dunham, der Tischler, war. »Joe, hast du schon mal so was gehört? Im ganzen Dorf erzählt man sich, dass die Blackwoods wegziehen, und nun sitzt Miss Mary Katherine Blackwood hier und behauptet steif und fest, es sei nicht der Fall.«
Es folgte kurzes Schweigen. Ich wusste, dass Dunham mürrisch zu Jim Donell, Stella und mir herübersah, über das Gehörte nachdachte, die Worte ordnete und bei jedem einzelnen festlegte, was es bedeutete. »Tatsächlich?«, sagte er schließlich.
»Hört zu, ihr beiden«, begann Stella, aber Jim Donell redete einfach weiter, mir den Rücken zugewandt, die Beine ausgestreckt, sodass ich nicht an ihm vorbei und nach draußen konnte. »Erst heute früh habe ich noch gesagt, wie schade es ist, wenn alte Familien fortgehen. Obwohl man zu Recht sagen könnte, dass eine stattliche Anzahl der Blackwoods bereits von uns gegangen ist.« Er lachte und klatschte mit der Hand auf den Tresen. »Bereits von uns gegangen«, wiederholte er. Der Löffel in seiner Tasse drehte sich nicht mehr, aber er redete weiter. »Ein Dorf verliert an Renommee, wenn die guten alten Familien wegziehen. Da könnte man ja denken«, sagte er langsam, »sie wären hier nicht erwünscht.«
»So ist es«, sagte Dunham und lachte.
»Die Art, wie sie auf ihrem feinen alten Privatgrundstück leben, mit ihren Zäunen, ihren privaten Wegen und ihrem vornehmen Lebensstil.« Er machte wie immer so lange weiter, bis er müde wurde. Wenn Jim Donell etwas einfiel, wiederholte er es so oft und auf so viele Arten wie möglich, vielleicht weil er nur wenige Ideen hatte und jede einzelne auswringen musste. Außerdem fand er es mit jeder Wiederholung noch witziger. Ich wusste, er konnte so weitermachen, bis er sich wirklich sicher war, dass niemand mehr zuhörte, und ich nahm mir vor: Fass einen Gedanken nie mehr als einmal, und ich legte meine Hände ruhig in den Schoß. Ich lebe auf dem Mond, sagte ich zu mir, auf dem Mond habe ich ein kleines Haus ganz für mich allein.